Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints

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23.10.2012 Aufrufe

144 2. Kapitel menschlichen Gehirnen nicht automatisch zu einer Änderung des Selbst modells. Funktionale Blindheit kann gleichzeitig bestehen mit einem erleb nismäßig unhintergehbaren Modell des Selbst als einer sehenden, visuell unversehrten Person möglicherweise ein Hinweis darauf, daß die zugrun deliegenden Mechanismen der Informationsverarbeitung weitgehend ent koppelt sind. Bisher haben wir phänomenal eingeschränkte Realitätsmodelle betrach tet. Es gibt jedoch auch eine große Anzahl hypertropher Realitätsmodelle, d. h. repräsentationaler Gesamtzustände, die eine meist unerwünschte und unkontrollierbare Ausdehnung oder Erweiterung der phänomenalen Welt mit sich bringen. (4) Halluzinationen Für menschliche Systeme ist ein wichtiges Kriterium ihrer „psychischen Gesundheit“ das Verhältnis von mentaler Repräsentation und mentaler Simulation. Eine Reihe devianter Bewußtseinszustände wird nun gerade dadurch ausgelöst, daß das System intern von einer großen Anzahl menta ler Simulate überschwemmt wird, was zu einer drastischen Verschiebung der Ratio von Repräsentation und Simulation in dem so enstehenden hypertrophen mentalen Modell der Welt führt. Überwiegend sind die in solchen Zuständen entstehenden mentalen Simulate reine Artefakte: Sie sind nicht Elemente eines kognitiven Prozesses im engeren Sinne, d. h. sie erfüllen keine Funktion für das System. Allerdings kann man andererseits gerade komplexe Halluzinationen und Wahngebilde als den verzweifelten Versuch eines mit unkontrollierbaren internen Signalquellen und repräsen tationalen Artefakten konfrontierten Systems interpretieren, auch in einer solchenSituation noch ein möglichstkonsistentes und gehaltvollesinternes Modell der Welt zu konstruieren. Eine wichtige Unterscheidung ist in diesem Zusammenhang diejenige zwischen Halluzinationen und Pseudo Halluzinationen. EchteHalluzina tionen sind unhintergehbar: Die meist akustischen Halluzinationen unter denen Schizophrene leiden, wenn sie Stimmen hören oder ihnen „fremde Gedanken gesendet“ werden, sind möglicherweise vom auditorischen Cor tex erzeugte Simulate, welche auf der phänomenalen Ebene als Repräsenta te kodiert werden. Das System ist aufgrund eines pathologischen Gesamt zustands nicht mehr in der Lage, die Tatsache zu erkennen, daß die mentalen Modelle durch interne Ursachen aktiviert werden. Aus echten Halluzinationen kann sich das psychologische Subjekt unter anderem des wegen nicht mehr befreien, weil der Mechanismus, durch den die das System überflutenden Artefakte irrtümlicherweise als (durch die Standard Kausalketten ausgelöste) Repräsentate interpretiert werden, seinerseits er stens nicht in Form eines bewußten mentalen Modells intern gegeben ist und zweitens durch höhere kognitive Operationen wie begriffliches Denken nicht penetriert werden kann. Das bösartige Flüstern höhnischer Geistwe sen oder die Engelschöre aus höheren Ebenen der Wirklichkeit stellen für

Mentale Repräsentation und phänomenale Zustände 145 den Schizophrenen eine aufgezwungene und unkontrollierbare Erweite rung seiner phänomenalen Welt dar, gegen die er sich als phänomenales Subjekt nicht wehren kann. Das ist deshalb so, weil das die phänomenale Welt erzeugende Gehirn partiell die Fähigkeit verloren hat, zwischen men taler Simulation und ihrem eingeschränkten Sonderfall, mentaler Reprä sentation, zu unterscheiden. Auch wenn dem System diese Unterscheidung gelingt, kann es sich in einer Situation wiederfinden, in der Teile der für mentale Simulation ver antwortlichen Hirnfunktionen außer Kontrollegeraten und temporär auto nomgewordensind.InsolchenFällenkanndassubjektiverlebteWeltmo dell durch eine Flut mehr oder weniger stabiler phänomenaler Artefakte angereichert werden. Sie können zwar vom System auch auf der Ebene phänomenaler Modellierung als afunktionale Simulate, man kann sagen: als überflüssige mentale Strukturen ohne funktionale Rolle in der psychi schen Ökonomie des Systems, erkannt werden. Trotzdem sind auch Pseu do Halluzinationen (die vom psychologischen Subjekt als solche erkannt werden) in ihrem phänomenalen Gehalt unhintergehbar. Werden Halluzinationen durch pharmakologische Stimuli ausgelöst (etwa durch die Einnahme von LSD, Meskalin oder DMT), dann kommt es in unterschiedlichen Hirnbereichen zu einer weitgehend unspezifischen Enthemmung der neuronalen Aktivität. 251 Dies führt unter anderem dazu, daß der pure Signalaspekt der Verarbeitung unter Umständen extrem ver stärkt wird was auf der phänomenalen Ebene zur Intensivierung vieler Formen von qualitativem Gehalt führt. Gleichzeitig erhöht sich die Ge schwindigkeit höherer mentaler Operationen bis hin zu Gedankenflucht und Desorientiertheit. Nimmt die Zahl und die Aktivierungsgeschwindig keit der das System überschwemmenden mentalen Simulate so stark zu, daß es sie nicht mehr zu einem einzigen Modell der Welt und des Selbst integrieren kann (indem es die verschiedenen Halluzinationen zu einer „Geschichte“ zusammenfaßt), dann kann es zu phänomenalen Spaltungs zuständen kommen, welche wir üblicherweise als „psychotisch“ zu bezeich nen pflegen. In solchen Fällen könnte man sagen, daß das mentale Reali tätsmodell mit soviel phänomenalem Gehalt überfrachtet worden ist, daß es sich aufzulösen oder zu spalten beginnt. Ein wichtiger Punkt scheint in diesem Zusammenhang zu sein, daß phä nomenale Hypertrophie nicht gleichbedeutend ist mit epistemischer Ex pansion. Wenn die in ein Realitätsmodell eindringenden zusätzlichen men talen Simulate, die wir „Halluzinationen“ nennen, tatsächlich afunktionale Artefakte sind 252 , dann wird das System als Ganzes zwar um phänomenalen 251 Vgl. Aghajanian et al. 1968, 1970, 1975; Jacobs⁄ Trulson 1979; Siegel 1975. 252 Diese Frage muß von Einzelfall zu Einzelfall sorgfältig und differenziert entschieden werden. Die moderne halluzinogen unterstützte Psychotherapie zum Beispiel hat gute katam nestische Resultate vorzuweisen, was als ein Indiz dafür gelten kann, daß es sich hier nicht nur um die Auslösung epistemisch leerer Prozesse handelt. Vgl. Leuner 1981.

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2. Kapitel<br />

menschlichen Gehirnen nicht automatisch zu einer Änderung des Selbst<br />

modells. Funktionale Blindheit kann gleichzeitig bestehen mit einem erleb<br />

nismäßig unhintergehbaren Modell des Selbst als einer sehenden, visuell<br />

unversehrten Person möglicherweise ein Hinweis darauf, daß die zugrun<br />

deliegenden Mechanismen der Informationsverarbeitung weitgehend ent<br />

koppelt sind.<br />

Bisher haben wir phänomenal eingeschränkte Realitätsmodelle betrach<br />

tet. Es gibt jedoch auch eine große Anzahl hypertropher Realitätsmodelle,<br />

d. h. repräsentationaler Gesamtzustände, die eine meist unerwünschte<br />

<strong>und</strong> unkontrollierbare Ausdehnung oder Erweiterung der phänomenalen<br />

Welt mit sich bringen.<br />

(4) Halluzinationen<br />

Für menschliche Systeme ist ein wichtiges Kriterium ihrer „psychischen<br />

Ges<strong>und</strong>heit“ das Verhältnis von mentaler Repräsentation <strong>und</strong> mentaler<br />

Simulation. Eine Reihe devianter Bewußtseinszustände wird nun gerade<br />

dadurch ausgelöst, daß das System intern von einer großen Anzahl menta<br />

ler Simulate überschwemmt wird, was zu einer drastischen Verschiebung<br />

der Ratio von Repräsentation <strong>und</strong> Simulation in dem so enstehenden<br />

hypertrophen mentalen Modell der Welt führt. Überwiegend sind die in<br />

solchen Zuständen entstehenden mentalen Simulate reine Artefakte: Sie<br />

sind nicht Elemente eines kognitiven Prozesses im engeren Sinne, d. h. sie<br />

erfüllen keine Funktion für das System. Allerdings kann man andererseits<br />

gerade komplexe Halluzinationen <strong>und</strong> Wahngebilde als den verzweifelten<br />

Versuch eines mit unkontrollierbaren internen Signalquellen <strong>und</strong> repräsen<br />

tationalen Artefakten konfrontierten Systems interpretieren, auch in einer<br />

solchenSituation noch ein möglichstkonsistentes <strong>und</strong> gehaltvollesinternes Modell der Welt zu konstruieren.<br />

Eine wichtige Unterscheidung ist in diesem Zusammenhang diejenige<br />

zwischen Halluzinationen <strong>und</strong> Pseudo Halluzinationen. EchteHalluzina<br />

tionen sind unhintergehbar: Die meist akustischen Halluzinationen unter<br />

denen Schizophrene leiden, wenn sie Stimmen hören oder ihnen „fremde<br />

Gedanken gesendet“ werden, sind möglicherweise vom auditorischen Cor<br />

tex erzeugte Simulate, welche auf der phänomenalen Ebene als Repräsenta<br />

te kodiert werden. Das System ist aufgr<strong>und</strong> eines pathologischen Gesamt<br />

zustands nicht mehr in der Lage, die Tatsache zu erkennen, daß die<br />

mentalen Modelle durch interne Ursachen aktiviert werden. Aus echten<br />

Halluzinationen kann sich das psychologische <strong>Subjekt</strong> unter anderem des<br />

wegen nicht mehr befreien, weil der Mechanismus, durch den die das<br />

System überflutenden Artefakte irrtümlicherweise als (durch die Standard<br />

Kausalketten ausgelöste) Repräsentate interpretiert werden, seinerseits er<br />

stens nicht in Form eines bewußten mentalen Modells intern gegeben ist<br />

<strong>und</strong> zweitens durch höhere kognitive Operationen wie begriffliches Denken<br />

nicht penetriert werden kann. Das bösartige Flüstern höhnischer Geistwe<br />

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