Metzinger · Subjekt und Selbstmodell - Cogprints

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23.10.2012 Aufrufe

140 2. Kapitel hat. Manchmal trägt sie Lippenstift und Make up auf aber nur auf die rechte Seite ihres Gesichtes. Die linke läßt sie völlig unbeachtet. Eine Behandlung dieses Fehlverhaltens ist fast unmöglich, denn man kann ihre Aufmerksamkeit nichtdarauflenken(...)undsieistsichkeinesFehlersbewußt.Intellektuell weiß und versteht sie, daß sie etwas falsch macht, und lacht darüber, aber es ist ihr unmöglich, es direkt zu erfahren. 238 Was die Patientin verloren hat, ist also gerade nicht der Begriff „links“ oder die Fähigkeit zur Aktivierung gewisser propositionaler Repräsentate und linguistischer Funktionen. Was ihr fehlt, ist der Präsentationsaspekt, das mentale Präsentat ihres linksseitigen Wahrnehmungsfeldes. Unab hängig von allen kognitiven Operationen verschwindet damit auch der qualitative und der Bewußtheitsaspekt der linken Hälfte ihres mentalen Modells der Welt. Um diesen Verlust zu kompensieren, kann die Patien tin jedoch andere Formen mentaler Repräsentation zu Hilfe nehmen: ...WennihrdiePortionenzukleinvorkommen,drehtsiesich,dieAugennach rechts gerichtet, rechts herum, bis die „fehlende“ Hälfte in ihr Blickfeld kommt; dann ißt sie diese, oder vielmehr die Hälfte davon, worauf sie sich weniger hungrig fühlt als zuvor. Aber wenn sie noch nicht satt ist oder über die Sache nachdenkt und den Eindruck gewinnt, sie könnte nur die Hälfte der fehlenden Hälfte gesehen haben, macht sie eine zweite Drehung, bis sie das verbleibende Viertel sieht, von dem sie wieder die Hälfte ißt. Das reicht ge wöhnlich aus, um ihren Hunger zu stillen immerhinhatsiejetztsiebenAchtel ihrer Mahlzeit verzehrt. Manchmal aber, wenn sie sehr hungrig oder besonders gründlich ist, führt sie noch eine dritte Drehung aus und ißt ein weiteres Sechzehntel ihrer Mahlzeit. (Dabei bleibt natürlich das linke Sechzehntel auf dem Teller unbemerkt.) „Es ist absurd“, sagt sie. „Ich komme mir vor wie Zenons Pfeil: Ich erreiche nie das Ziel. Mag sein, daß es komisch aussieht, aber was bleibt mir unter diesen Umständen anderes übrig?“ 239 Daß die aus der Beobachterperspektive augenfällige Diskontinuität menta len Gehalts subjektiv nicht erlebt wird, daß Abwesenheit von Information nicht dasselbe ist wie Information über eine Abwesenheit, wird von mate rialistischen Philosophen immer wieder betont: „...,theabsenceofrepre sentation is not the same as the representation of absence. And the represen tation of presence is not the same as the presence of representation.“ 240 Auch Patricia Churchland hat darauf hingewiesen, daß wir alle naiverweise an nehmen, visuelles Bewußtsein unterliege keinerlei räumlichen Begrenzun gen241 wenn wir visuell bewußt sind, sind wir eben visuell bewußt. Wir erleben den nicht repräsentierten Teil der Welt hinter unserem Rücken nicht als ein phänomenales Loch in unserer subjektiven Wirklichkeit. Ähn lich wie vielen Neglekt Patienten erscheint uns die Welt trotz dieses Defi 238 Vgl. Sacks 1987: 111. 239 Vgl. Sacks 1987: 112. 240 Vgl. Dennett 1991: 359. 241 Vgl. Churchland 1988: 289.

Mentale Repräsentation und phänomenale Zustände 141 zits als durchaus komplett. Philosophisch interessant ist deshalb an dem hier geschilderten pathologischen Fall, daß auch eine starke räumliche Einschränkung des phänomenalen Modells der Welt nicht mit einem phä nomenalen Bewußtsein der Eingeschränktheit einhergehen muß. 242 Diese Tatsache zeigt einmal mehr, was phänomenale Unhintergehbarkeit heißt: Das Subjekt kann die phänomenale Welt nur propositional transzendieren niemals phänomenal. (3) Blindsicht Von besonderem theoretischen Interesse sind Störungsbilder, die eine Dis soziation funktionaler und phänomenaler Zustände zur Folge haben. Da mit sind all jene Situationen gemeint, in denen die funktionale Analyse eines Systems bzw. der interne Informationsfluß bis hin zum motorischen Output weitgehend unverändert bleibt, es auf der Ebenedes phänomenalen Modells der Wirklichkeit jedoch zu Ausfällen oder Umstrukturierungen kommt. Blindsicht stellt ein solches Phänomen dar. Bei Patienten mit einer Läsion innerhalb der geniculostriatalen Projek tion des visuellen Cortex läßt sich ein Skotom nachweisen, ein „blinder Fleck“ in dem korrespondierenden Bereich ihres Sehfeldes. In diesem Be reich des visuellen Modells befindet sich, so könnte man sagen, ein phäno menales Loch: Es gibt keine visuellen Bewußtseinsinhalte in bezug auf diesen Bereich 243 der Welt. Trotzdem können solche Patienten, wie sich experimentell und unter Einsatz nicht verbaler Techniken zeigen läßt, komplexe visuelle Informationsverarbeitung durchführen. Sie können mit erstaunlichem Erfolg die Präsenz oder Abwesenheit von Zielobjekten „er raten“ oder innerhalb des Skotoms präsentierte Farben und Muster unter scheiden. All diese Leistungen werden nach den Berichten der Patienten erbracht ohne daß es zu einem subjektiven Seherlebnis kommt daher der Name dieser Störung. Manche der Versuchspersonen beschreiben die in nere Erfahrung, die sie während erfolgreicher Versuche „nicht erlebnisbe gleiteten Sehens“ durchleben, als Raten, andere dagegen protestieren sogar bei den Versuchsleitern gegen eine vermeintliche Aufforderung zur Lü ge. 244 Die philosophische Interpretation dieses empirischen Materials ist nicht einfach, zumal manche Patienten über „Ahnungen“ oder diffuse emotio nale Bewußtseinsinhalte vor einem erfolgreichen Akt des „Ratens“ berich ten. Sicher scheint, daß es in den fraglichen Bereichen zu weitreichender perzeptueller Verarbeitung bei gleichzeitiger Abwesenheit phänomenalen Bewußtseins kommt. Diese Möglichkeit einer Dissoziation von intentiona lem und phänomenalem Gehalt des entsprechenden mentalen Modells 242 Vgl. Bisiach 1988. 243 Vgl. zum Beispiel Bodis Wollner 1977, Cowey 1979, Cowey ⁄ Stoerig 1991b, Pöppel et al. 1973, Stoerig et al. 1985, Stoerig⁄ Cowey 1990, 1991a, 1992, 1993 Weiskrantz et al. 1974, Weiskrantz 1986, Werth 1983, Zihl 1980. 244 Vgl. Weiskrantz 1988: 188f.

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hat. Manchmal trägt sie Lippenstift <strong>und</strong> Make up auf aber nur auf die rechte<br />

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nichtdarauflenken(...)<strong>und</strong>sieistsichkeinesFehlersbewußt.Intellektuell<br />

weiß <strong>und</strong> versteht sie, daß sie etwas falsch macht, <strong>und</strong> lacht darüber, aber es ist<br />

ihr unmöglich, es direkt zu erfahren. 238<br />

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Modells der Welt. Um diesen Verlust zu kompensieren, kann die Patien<br />

tin jedoch andere Formen mentaler Repräsentation zu Hilfe nehmen:<br />

...WennihrdiePortionenzukleinvorkommen,drehtsiesich,dieAugennach<br />

rechts gerichtet, rechts herum, bis die „fehlende“ Hälfte in ihr Blickfeld<br />

kommt; dann ißt sie diese, oder vielmehr die Hälfte davon, worauf sie sich<br />

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Sache nachdenkt <strong>und</strong> den Eindruck gewinnt, sie könnte nur die Hälfte der<br />

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wöhnlich aus, um ihren Hunger zu stillen immerhinhatsiejetztsiebenAchtel<br />

ihrer Mahlzeit verzehrt. Manchmal aber, wenn sie sehr hungrig oder besonders<br />

gründlich ist, führt sie noch eine dritte Drehung aus <strong>und</strong> ißt ein weiteres<br />

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dem Teller unbemerkt.) „Es ist absurd“, sagt sie. „Ich komme mir vor wie<br />

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Daß die aus der Beobachterperspektive augenfällige Diskontinuität menta<br />

len Gehalts subjektiv nicht erlebt wird, daß Abwesenheit von Information<br />

nicht dasselbe ist wie Information über eine Abwesenheit, wird von mate<br />

rialistischen Philosophen immer wieder betont: „...,theabsenceofrepre<br />

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Patricia Churchland hat darauf hingewiesen, daß wir alle naiverweise an<br />

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gen241 wenn wir visuell bewußt sind, sind wir eben visuell bewußt. Wir<br />

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nicht als ein phänomenales Loch in unserer subjektiven Wirklichkeit. Ähn<br />

lich wie vielen Neglekt Patienten erscheint uns die Welt trotz dieses Defi<br />

238 Vgl. Sacks 1987: 111.<br />

239 Vgl. Sacks 1987: 112.<br />

240 Vgl. Dennett 1991: 359.<br />

241 Vgl. Churchland 1988: 289.

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