Medizinische Entscheidungen nach Aktenlage Ein ... - baemayr.net
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Dr. med. Argeo Bämayr<br />
<strong>Medizinische</strong> <strong>Entscheidungen</strong> <strong>nach</strong><br />
<strong>Aktenlage</strong><br />
<strong>Ein</strong> straf-, zivil- und berufsrechtlich<br />
unzulässiger Entzug<br />
der medizinischen Entscheidungskompetenz<br />
<strong>Ein</strong>e kritische Abhandlung<br />
über eine<br />
menschenverachtende Praxis der Medizinalbürokratie<br />
Coburg<br />
2003
<strong>Medizinische</strong> <strong>Entscheidungen</strong> <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong><br />
<strong>Ein</strong> straf-, zivil- und berufsrechtlich<br />
unzulässiger Entzug<br />
der medizinischen Entscheidungskompetenz<br />
Lag die medizinische Entscheidungskompetenz in den letzten Jahrzehnten wieder in den Händen<br />
sachautoritär wirkender Ärzte, sollen erneut - politisch bestimmt - bürokratische Institutionen<br />
(Krankenkassen) medizinische <strong>Entscheidungen</strong> übernehmen, indem sie Ärzte in<br />
„medizinalbürokratischen“ Institutionen (MDK) zwingen, ihren in der Praxis arbeitenden Kollegen<br />
die medizinische Entscheidungskompetenz mittels amtsautoritärer <strong>Entscheidungen</strong> zu entziehen. Da<br />
diesen gutachtenden Ärzten eine persönliche Untersuchung des Patienten zunehmend verweigert<br />
wird, werden diese Ärzte förmlich genötigt, Gutachten ausschließlich <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> zu erstellen.<br />
<strong>Ein</strong>ige Ärzte, insbesondere bestellte „freie“ Gutachter, übernehmen die medizinische<br />
Entscheidungskompetenz <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> auch freiwillig, ohne die straf-, zivil- und berufsrechtlichen<br />
Folgen zu bedenken.<br />
Die zunehmende Unsitte medizinischer Entscheidung <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> bedarf einer Aufdeckung der<br />
Ursachen, einer Untersuchung der Methoden und Auswirkungen, einer rechtlichen <strong>Ein</strong>schätzung<br />
und der Diskussion dringlich erforderlicher und rechtlich zulässiger Abwehrmaßnahmen.<br />
1. Ursachen und Methodik eines Zersetzungsszenarios<br />
Die Hauptursache von medizinischen <strong>Entscheidungen</strong> <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> liegt in der finanziellen Misere<br />
unseres gesetzlich geregelten Gesundheitssystems und dem Versuch, diese Mängel mit<br />
planwirtschaftlichen Methoden zu korrigieren. Dies kann auch in einem freiheitlichen demokratischen<br />
System nur mit Hilfe eines Zersetzungsszenarios gelingen, wie es alle autoritär geführten Länder<br />
praktizieren. Dies ist immer mit viel Leid verbunden und letztendlich erfolglos, wie zuletzt in der<br />
DDR.<br />
Im Verlauf dieses Zersetzungsszenarios ist es zunächst erforderlich, das hocheffiziente und flexible,<br />
nur vordergründig teure System der freien Arzt-Patient-Beziehung moralisch zu erschüttern und real<br />
zu zersetzen, was am erfolgreichsten durch die <strong>Ein</strong>führung von bürokratischen Regelungen<br />
geschieht. Unterwerfen sich die Ärzte diesen bürokratischen Regelungen, verstoßen sie zwangsläufig<br />
gegen die Sorgfaltspflichten und das Qualitätsgebot mit negativen Auswirkungen auf die Arzt-<br />
Patient-Beziehung. Unterwerfen sie sich nicht, folgen Sanktionen, welche den Arzt psychisch und<br />
wirtschaftlich zu schädigen geeig<strong>net</strong> sind. Hierzu ist die <strong>Ein</strong>führung des Wirtschaftlichkeitsgebots als<br />
„unbestimmter Rechtsbegriff“ hervorragend geeig<strong>net</strong>, unter Anmaßung des alleinigen<br />
Deutungsrechts den Ärzten pauschal und individuell vorwerfen zu können, dass sie unzweckmäßig<br />
über das Ausreichende hinaus diagnostizieren und behandeln und das Maß des Notwendigen<br />
überschreiten, also unwirtschaftlich tätig sind und das gesetzliche Gesundheitssystem gefährden und<br />
ausbeuten.<br />
Reicht der hieraus resultierende Druck über Pflichtenkollisionen (Sorgfaltspflicht versus<br />
Wirtschaftlichkeitsgebot), Wirtschaftlichkeitsprüfungen mit Regressen anhand von Schätzungen usw.<br />
nicht aus, ist der Zersetzungsprozess zu intensivieren, indem Halbwahrheiten wie mangelhafte<br />
medizinische Qualität konstruiert und vorgeworfen werden, welche über eine statistische Kontrolle<br />
hinaus auch eine individuelle medizinische Kontrolle rechtfertigen sollen. Um derartige medizinische<br />
Kontrollen der übel <strong>nach</strong>redenden schlechten medizinischen Qualität zu erzielen, ist der Begriff der
„Transparenz“ eingeführt worden, ein vernebelungstaktisches Synonym für die „Aufhebung der<br />
Ärztlichen Schweigepflicht“. Mittels der Auflage von Dokumentationspflichten für bürokratische<br />
Zwecke wird der Arzt mittels des „Transparenz“-gebots zum Lieferanten medizinischer Daten<br />
degradiert. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist praktisch aufgehoben.<br />
Erreichen diese Kontrollen noch immer nicht das Ziel, ist den Ärzte die medizinische<br />
Entscheidungskompetenz zu entziehen, welche nun den Ärzten der „Medizinalbürokratie“ übertragen<br />
wird. Nur Ärzte, welche der „Medizinalbürokratie“ verpflichtet sind, sind geeig<strong>net</strong>, das<br />
Wirtschaftlichkeitsgebot einzuhalten. Hierzu reicht es aus, diesen Ärzten nur die Akteneinsicht zu<br />
gewähren,um die Gefahr erst gar nicht aufkommen zu lassen, daß sie auf Grund ihrer grundsätzlich<br />
humanitären Grundeinstellung bei einem persönlichen Arzt-Patient-Kontakt weich werden und<br />
<strong>Entscheidungen</strong> treffen, welche administrativ nicht gewollt sind. Das Recht des Patienten auf eine<br />
selbstbestimmte medizinische Behandlung innerhalb einer vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung<br />
ist einem bürokratischen Verwaltungsakt gewichen.<br />
Während Patienten und deren behandelnde Ärzte nur zu Opfern der bürokratischen Dominanz<br />
werden, trifft es die Ärzte in den bürokratischen Entscheidungsgremien noch ärger, indem sie zu<br />
Opfern und Tätern zugleich werden, wenn sie ihre humanitäre Grundeinstellung unter die<br />
bürokratischen Vorgaben stellen und diese auch noch umsetzen und verantworten müssen. Der<br />
Konflikt mit Ärzten der Primärversorgung und deren Patienten ist vorprogrammiert, wenn diese in<br />
Personalunion gutachtenden und entscheidenden Ärzte zu Ergebnissen gelangen, welche gegenläufig<br />
zu denen des am Patienten arbeitenden Arztes sind.<br />
Derartige Konflikte zwischen der sachautoritär praktizierenden Medizin und der amtsautoritären<br />
„Medizinalbürokratie“ finden sich in allen Fachgebieten der Medizin, im somatischen Bereich<br />
genauso wie im psychischen Bereich und im ambulanten und stationären Bereich. Solche Konflikte<br />
entzünden sich besonders dann, wenn die Begutachtung und medizinische Entscheidung<br />
ausschließlich <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> erfolgt, wie an folgenden drei Beispielen exemplarisch aufgezeigt<br />
wird.<br />
2. Methoden im Detail<br />
2.1. Die Entscheidung über die Arbeitsunfähigkeit durch den MdK <strong>nach</strong><br />
<strong>Aktenlage</strong> im niedergelassenen ärztlichen Bereich<br />
Die ausschließliche Begutachtung der Arbeitsunfähigkeit (AU) des Patienten durch den MdK <strong>nach</strong><br />
<strong>Aktenlage</strong> ist zum Regelfall geworden, die persönliche Begutachtung des Patienten durch den MdK<br />
die Ausnahme. Der Konflikt zwischen dem Gutachter einerseits und dem Patienten mit seinem<br />
behandelnden Arzt ist unausweichlich, wenn der behandelnde Arzt die AU attestiert, der Gutachter<br />
des MdK diese Entscheidung nur <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> aufhebt und die Arbeitsfähigkeit attestiert. Bei<br />
dieser Konstellation muss eines der beiden Atteste falsch sein, womit sofort die Frage der<br />
strafrechtlich relevanten Falschattestierung aufgeworfen wird. Will sich der AU-bescheinigende Arzt<br />
dem Vorwurf der Falschattestierung nicht aussetzen, bleibt ihm keine andere Wahl, als sich<br />
spätestens <strong>nach</strong> einigen anders lautenden Aktengutachten des MdK energisch derartige<br />
<strong>Entscheidungen</strong> zu verbieten bzw. richtig zu stellen. Hilfreich ist hierzu der Hinweis, dass die AU-<br />
Richtlinien in Verbindung mit dem BMV- Ärzte § 31 auch für den MdK verbindlich sind, wo<strong>nach</strong><br />
Ziffer 11 der AU-Richtlinien vorschreibt:<br />
„Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit des Versicherten kann nur aufgrund von Krankheit<br />
vorgenommen werden. Dabei sind körperlicher, geistiger und seelischer Gesundheitszustand
des Versicherten gleichermaßen zu berücksichtigen. Deshalb dürfen die Feststellung von<br />
Arbeitsunfähigkeit und die Empfehlung zur stufenweisen Wiedereingliederung nur aufgrund<br />
ärztlicher Untersuchung erfolgen.“<br />
Wird der körperliche, geistige und seelische Zustand des Versicherten nicht gleichermaßen<br />
berücksichtigt, liegt nicht nur ein formaler Mangel vor, sondern auch ein erheblicher Verstoß gegen<br />
die Sorgfaltspflicht, welcher ein Indiz für eine „Falschattestierung“ darstellt.<br />
<strong>Ein</strong>e Begutachtung der Arbeitsunfähigkeit <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> ist auch unzulässig weil sie einen <strong>Ein</strong>griff<br />
in die ärztliche Behandlung darstellt, wenn im Rahmen z. B. sozialpsychiatrischer oder<br />
sozialpsychotherapeutischer Behandlung die diffizilen Vorbereitungsbemühungen zur beruflichen<br />
Reintegration mittels derartig massiver <strong>Ein</strong>mischungen konterkariert werden. In den Fällen, in denen<br />
die Arbeitsunfähigkeit untrennbar mit der medizinischen Behandlung verknüpft ist, ist die Ausübung<br />
des Rechts des MdK zur formalen Beendigung der Arbeitsunfähigkeit unzulässig, da in diesen Fällen<br />
vorrangig das Verbot des SGB V § 275 Absatz 5 Satz 2 zu beachten ist:<br />
„Sie (die Ärzte des <strong>Medizinische</strong>n Dienstes) sind nicht berechtigt, in die ärztliche<br />
Behandlung einzugreifen.“<br />
2.2. Die Entscheidung über die stationäre Aufenthaltsdauer bzw. deren<br />
Verlängerung im Krankenhaus durch den MDK<br />
Der Entzug der medizinischen Entscheidungskompetenz hat auch bereits im Krankenhaus <strong>Ein</strong>zug<br />
gehalten, wo<strong>nach</strong> im Rahmen vorgegebener Behandlungszeiten definierter Krankheitsbilder der MdK<br />
<strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> entscheidet, ob im konkreten <strong>Ein</strong>zelfall die Verlängerung der Verweildauer<br />
genehmigt wird. Da der ärztliche Personalstand des MdK die Stationierung entsprechend vieler<br />
Arztkontrolleure in den Krankenhäusern noch nicht erlaubt, ist der behandelnde Krankenhausarzt<br />
genötigt, unter massivem Zeitdruck und Rückstellung seiner medizinischen Pflichten umgehend die<br />
hoch komplexen medizinischen Vorgänge so in eine schriftliche Formalie zu transformieren, dass ein<br />
Gutachter <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> einer möglichst langen Verlängerung der Verweildauer zustimmt,<br />
ansonsten <strong>nach</strong> ein paar Tagen das „bürokratische Spiel“ von vorne beginnt.<br />
Der Entzug der medizinischen Entscheidungskompetenz mittels einer Begutachtung <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong><br />
wirft besonders bei Krankenhausbehandlungen die Frage <strong>nach</strong> der Verantwortlichkeit auf, wenn im<br />
Falle der Verweigerung der Verlängerung der Verweildauer ein Patient gesundheitlich geschädigt<br />
wird. Dem antragstellenden Arzt wird der MdK wohl seine mangelhafte schriftliche Begründung<br />
vorwerfen, welche aber nur dadurch vermieden werden könnte, dass der Arzt ein<br />
Formulierungsgeschick aufweist, welches germanistischen und juristischen Ansprüchen fehlerlos<br />
genügt. Der antragstellende Arzt wird zur Abwehr derartiger Schadenersatzansprüche dem<br />
Entscheidungsträger des MdK die Verletzung der Sorgfaltspflicht vorwerfen, wenn dieser<br />
weitreichende medizinische <strong>Entscheidungen</strong> trifft, ohne sich durch einen persönlichen Augenschein<br />
hiervon überzeugt zu haben.<br />
2.3. Die Entscheidung über die Genehmigung, Art und Dauer einer<br />
Psychotherapie durch ernannte Gutachter im niedergelassenen Bereich<br />
Die Problematik der Begutachtung <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong>n wird seit nahezu 30 Jahren im<br />
psychotherapeutischen Bereich praktiziert und ist so hochgradig mit Konflikten belastet, dass<br />
hierüber schon eine Studie veröffentlicht wurde (2) und Hunderte von meist hochemotional
geladenen Veröffentlichungen vorliegen. Dieses Gutachterverfahren verlangt seitenlange<br />
Intimberichte entlang eines Fragenkatalogs mit bis zu 13 Kapiteln und vielen Unterpunkten unter<br />
Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht und des Datenschutzes. Da<strong>nach</strong> entscheidet ein Gutachter<br />
ausschließlich <strong>nach</strong> dieser <strong>Aktenlage</strong> - eine persönliche Untersuchung des Patienten durch den<br />
Gutachter ist <strong>nach</strong> Auskunft der KVB nicht zulässig -, ob und in welchem Umfang die beantragte<br />
Psychotherapie genehmigt wird.<br />
Dieses Verfahren belegt, dass eine Begutachtung und Behandlungsentscheidung <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong><br />
auch <strong>nach</strong> jahrzehntelanger Praxis immer noch einen Willkürakt darstellt, weil bei allen Gutachten<br />
<strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> im medizinischen Bereich nur der Akteninhalt, aber nie der Patient oder dessen<br />
Erkrankung begutachtet werden kann (1). Die Willkür lässt sich anhand der Anzahl der<br />
Genehmigungen in Abhängigkeit des jeweiligen Gutachters beweisen. Die Gutachterstatistik der<br />
BÄK aus dem Jahr 2000 belegt (3), dass es Gutachter gibt, welche 22 % der Anträge und<br />
Gutachter, welche nur 1 % der Anträge ablehnen. Nach zeitaufwendiger Verbesserung der Anträge<br />
genehmigt der eine Gutachter nur 1 Behandlung, der andere Gutachter 46 Behandlungen von 100<br />
Verbesserungen. Wollte man diese Willkürentscheidungen aufheben, dann müsste man den<br />
Gutachtern den Prozentsatz der Ablehnungen vorschreiben. Dann hätte man aber schon wieder die<br />
Willkür, wie eine Gutachterin offen zugibt, dass sie wahllos jeden 10. Antrag ablehnt.<br />
Genauso konfliktbehaftet ist die Genehmigung psychosomatischer Klinikaufenthalte, verschärft durch<br />
die Tatsache, dass hierüber auch fachfremde Ärzte des MdK, wiederum ausschließlich <strong>nach</strong><br />
<strong>Aktenlage</strong>, entscheiden.<br />
3. Auswirkungen<br />
<strong>Entscheidungen</strong> auf dem Boden von Gutachten <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> widersprechen den individuellen und<br />
generellen Qualitätsanforderungen. Jede medizinische individuelle Entscheidung ausschließlich <strong>nach</strong><br />
<strong>Aktenlage</strong> beinhaltet in sich eine wesentlich höhere Gefahr einer Schädigung des Patienten,<br />
besonders im Falle einer Ablehnung einer medizinischen Behandlung. Tödlich verlaufende<br />
Nachblutungen <strong>nach</strong> zu früher Entlassung aus dem Krankenhaus drohen genauso wie<br />
Krankheitsverschlimmerungen bis hin zum Suizid <strong>nach</strong> Feststellung einer Arbeitsfähigkeit (z.B. bei<br />
Mobbing-Opfern) oder der Ablehnung von Psychotherapieanträgen im ambulanten Bereich.<br />
Generell sinkt die Qualität der medizinischen Versorgung alleine schon dadurch, dass Gutachten<br />
<strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> zunächst Schriftsätze von Ärzten erzwingen, welche erhebliche Zeitkontingente von<br />
der medizinischen Primärversorgung abziehen. Unter der hieraus resultierenden Zunahme des<br />
Zeitdrucks steigt die Streßkomponente des Arztes, verschärft durch den Missmut über den Zwang<br />
zur bürokratischen Tätigkeit und dem Entzug der medizinischen Entscheidungskompetenz. Der<br />
Druck zu immer ausgefeilteren Schriftsätzen führt zweifellos zu einer Verbesserung der Qualität der<br />
Bürokratie, wogegen aber umgekehrt proportional - allein schon aus zeitlichen Gründen - die<br />
Qualität der medizinischen Versorgung sinkt.<br />
Rechtliche <strong>Ein</strong>schätzung<br />
<strong>Ein</strong>e Begutachtung <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> mit der Folge einer medizinischen Entscheidung, welche im<br />
Gegensatz zum Behandlungsplan des behandelnden Arztes steht, ist als unkollegial einzustufen. <strong>Ein</strong><br />
unkollegiales Verhalten ist z.B. entsprechend § 15 der ärztlichen Berufsordnungen Bayerns<br />
unzulässig. <strong>Ein</strong>e medizinische Entscheidung aufgrund einer isolierten Begutachtung <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong><br />
ist als Verletzung der Sorgfaltspflicht aufzufassen (BGB § 276, SGB V § 76 Abs. 4), welche die<br />
Gefahr eines gesundheitlichen Schadens beim Patienten grob fahrlässig verursachen kann mit den
Folgen eines zivilrechtlichen Schadenersatzanspruchs seitens des Patienten.<br />
Durch die Verletzung der Sorgfaltspflicht begründet sich bei einer ausschließlichen Begutachtung<br />
<strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> eine Straftat der Falschattestierung (StGB § 278), wie dies Urteilen und<br />
Strafrechtskommentierungen zu entnehmen ist (4):<br />
„ Da § 278 des Strafgesetzbuches das Vertrauen in die Richtigkeit ärztlicher Atteste schützen<br />
will, interpretiert die Judikatur den Tatbestand extensiv und wendet ihn auch an, wenn in dem<br />
Zeugnis „ein Befund bescheinigt wird, ohne dass der Arzt überhaupt eine Untersuchung des<br />
Patienten vorgenommen hat“. Denn „ein Zeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung ausstellt, ist<br />
als Beweismittel ebenso wertlos wie das Zeugnis, das <strong>nach</strong> Untersuchung den hierbei<br />
festgestellten Gesundheitszustand unrichtig darstellt“.“<br />
5. Abwehrmaßnahmen<br />
Unter Hinweis und unter Berücksichtigung dieser straf-, zivil- und berufsrechtlichen <strong>Ein</strong>schätzungen<br />
sollten sich alle Ärzte weigern, ihren Kollegen medizinische Entscheidungskompetenzen mittels<br />
Gutachten <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> zu entziehen. Sie würden damit gleichzeitig das Kollegialitätsgebot<br />
entsprechend der ärztlichen Berufsordnung beachten. Die ärztlichen Berufskammern sind gefordert,<br />
die Ärzte vor bürokratischen Übergriffen, welche das Arzt-Patient-Verhältnis und die Kollegialität<br />
schwer belasten, zu schützen, indem sie alle Ärzte auffordern, diese straf-, zivil- und berufsrechtliche<br />
Unzulässigkeit von medizinischen <strong>Entscheidungen</strong> <strong>nach</strong> <strong>Aktenlage</strong> zu unterlassen, ein entsprechendes<br />
Fehlverhalten zu ächten und berufsrechtlich zu sanktionieren.<br />
6. Literaturverzeichnis<br />
1. Bämayr A: Gutachterverfahren vor Psychotherapien, <strong>Ein</strong>e Form der strukturellen Gewalt,<br />
Dtsch Ärztebl 2002; 99: PP 345-348 (Heft 8)<br />
2. Kassenärztliche Bundesvereinigung, Dezernat 2 - Versorgungsqualität und Sicherstellung:<br />
Gutachterstatistik 2000 für die analytischen Psychotherapieverfahren und die Verhaltenstherapie,<br />
unveröffentlichter Brief an alle Gutachter vom 19.04.2001, Az.: Dr. D/Ze 360.396<br />
3. Köhlke HU: Das Gutachterverfahren in der Vertragspsychotherapie, <strong>Ein</strong>e Praxisstudie zur<br />
Zweckmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit, Tübingen 2001, dgvt-Verlag 2001<br />
4. Ulsenheimer K: Arztstrafrecht in der Praxis, 2. Auflage, CF-Müller-Verlag, Heidelberg 1998,<br />
§ 278 StGB