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Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte ... - Schwabenverlag

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<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong><br />

*<br />

<strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz<br />

Michael Theobald<br />

»Sterbeworte haben eine überdurchschnittlich hohe Überlebenschance«, heißt es <strong>im</strong><br />

Vorwort zu einem amerikanischen Dictionary of Last Words. 1 Warum das so ist, ist<br />

leicht begreiflich. In einem <strong>»letzten</strong> Wort«, das ein Mensch – zumal ein bedeutender<br />

– in <strong>seiner</strong> Sterbestunde spricht, verdichtet sich die Wahrheit seines Lebens, und sie<br />

verdichtet sich so, dass die Nachwelt in ihm die Summe dieses Lebens wie in einem<br />

kostbaren Gefäß aufbewahrt sieht. Authentisch ist ein solches Wort nicht unbedingt<br />

deshalb, weil der Verstorbene es tatsächlich so und nicht anders gesprochen hat, sondern<br />

weil es <strong>im</strong> Rückblick das <strong>im</strong> <strong>Tod</strong> erfüllte Leben in eine geglückte Pointe bannt. Oft<br />

genug sagt man deshalb, dass dieses oder jenes »letzte Wort«, auch wenn es vom Verstorbenen<br />

selbst nicht gesprochen worden sein sollte, doch gut erfunden sei. Beides, die<br />

besondere »Form« solcher <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« wie ihr Hervorgehen aus dem gelebten Leben<br />

hat Walter Benjamin in seinem berühmten Essay »<strong>Der</strong> Erzähler« (1936) in einer<br />

tiefsinnigen Passage bedacht. Er schreibt:<br />

»Sterben, einstmals ein öffentlicher Vorgang <strong>im</strong> Leben des Einzelnen und ein höchst exemplarischer<br />

(man denke an die Bilder des Mittelalters, auf denen das Sterbebett sich in einen Thron<br />

verwandelt hat, dem durch weitgeöffnete Türen des Sterbehauses das Volk sich entgegen drängt)<br />

– sterben wird <strong>im</strong> Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden <strong>im</strong>mer weiter herausgedrängt.<br />

Ehemals kein Haus, kaum ein Z<strong>im</strong>mer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben<br />

war. […] Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner<br />

der Ewigkeit, und werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien<br />

oder in Krankenhäusern verstaut. Nun ist es aber an dem, daß nicht etwa nur das Wissen oder<br />

die Weisheit des Menschen[,] sondern vor allem sein gelebtes Leben – und das ist der Stoff, aus<br />

dem die Geschichten werden – tradierbare Form am ersten am Sterbenden ann<strong>im</strong>mt. So wie <strong>im</strong><br />

Innern des Menschen mit dem Ablauf des Lebens eine Folge von Bildern sich in Bewegung setzt<br />

– bestehend aus den Ansichten der eigenen Person, unter denen er, ohne es inne zu werden, sich<br />

selber begegnet ist – so geht mit einem Mal in seinen Mienen und Blicken das Unvergessliche<br />

* <strong>Der</strong> Text gibt den mit Anmerkungen versehenen Vortrag wieder, der am 19. September 2009 vor der<br />

Mitgliederversammlung des Katholischen Bibelwerks <strong>im</strong> Caritas-Pirckhe<strong>im</strong>er-Haus/Nürnberg gehalten<br />

wurde. Ich danke meinem Assistenten, Herrn Dipl. theol. Christoph Schaefer, für mancherlei Hilfen bei der<br />

Ausarbeitung.<br />

1 Edward Le Comte, Dictionary of Last Words, New York 1955, VII, zitiert in: K. S. Guthke, Letzte <strong>Worte</strong>.<br />

Variationen über ein Thema der Kulturgeschichte des Westens, München 1990, 15.


2<br />

Michael Theobald<br />

auf und teilt allem, was ihn betraf, die Autorität mit, die auch der ärmste Schächer <strong>im</strong> Sterben<br />

für die Lebenden um ihn her besitzt. Am Ursprung des Erzählten steht diese Autorität« 2 .<br />

Erst am Ende des Lebens, meint hier Walter Benjamin, formt sich die Lebenserzählung<br />

<strong>im</strong> Rückblick zu einem Ganzen. In »Mienen und Blicken«, aber auch in Bildern, die vor<br />

dem inneren Auge aufsteigen, geht <strong>im</strong> Angesicht des <strong>Tod</strong>es auf einmal »Unvergessliches«<br />

auf und gewinnt in <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>n« »tradierbare Form«. Benjamin resümiert:<br />

»<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom <strong>Tod</strong>e hat er<br />

seine Autorität geliehen.« 3<br />

In der Kultur (nicht nur) des Westens spielen »letzte <strong>Worte</strong>«, ult<strong>im</strong>a verba, last<br />

words in Anekdote, Biographie und Geschichtsschreibung seit alters eine bemerkenswerte<br />

Rolle 4 . Die Formpalette ist schon in der Antike breit. »Abschiedsreden« kennen<br />

wir aus dem Alten Testament mit seinen Sterbeszenen der Patriarchen und Könige 5 wie<br />

vor allem aus frühjüdischen Schriften 6 , ult<strong>im</strong>a verba in Gestalt pointierter Aussprüche<br />

bedeutender Persönlichkeiten eher aus der griechisch-hellenistischen und lateinischen<br />

Literatur 7 . Das rabbinische Schrifttum setzt mit dem Vermächtnischarakter der Sterberede<br />

von Rabbinen die biblische Tradition fort 8 . Das Neue Testament steht an einer<br />

Schnittstelle: Neben beeindruckenden Beispielen für die Gattung »Abschiedsrede«<br />

oder Testament (vgl. Lk 22,14–38; Joh 13,31–17,26; Apg 20,18–35) bietet es mit den<br />

sieben <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>n« <strong>Jesu</strong> vom Kreuz die berühmtesten ult<strong>im</strong>a verba der Literaturgeschichte<br />

9 . Für Theologie und Frömmigkeit waren sie schon <strong>im</strong>mer wichtig, erlangten<br />

2 W. Benjamin, <strong>Der</strong> Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Orient und Occident, NF,<br />

Okt. 1936, 16–33, Nachdruck in: ders., Gesammelte Schriften II/2 (Hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser),<br />

Frankfurt 1977, 438–465, 449 f. (kursiv von mir).<br />

3 Ebd.<br />

4 Außer Guthke, Letzte <strong>Worte</strong> (Anm. 1) vgl. auch M. Augustin, Mehr nicht! Letzte Augenblicke<br />

berühmter Frauen und Männer, Zürich 2000; W. Fuld, Lexikon der letzten <strong>Worte</strong>. Letzte Botschaften<br />

berühmter Männer und Frauen von Konrad Adenauer bis Emiliano Zapata, München 2002; H. Halter, Ich<br />

habe meine Sache getan. Leben und letzte <strong>Worte</strong> berühmter Frauen und Männer, Berlin 2007.<br />

5 Vgl. Gen 27 (der <strong>Tod</strong> Isaaks), Gen 49 (der <strong>Tod</strong> Jakobs), Dtn 33 (der <strong>Tod</strong> des Mose) und 2Sam 23; 1Kön 2<br />

(der <strong>Tod</strong> Davids).<br />

6 Vgl. etwa Jub 7,20–39; 10,14–17; 20–23; 35 f.; AssMos; Test XII; slavHen 1–3; 13–20; äthHen 81–91: 4Esr<br />

14; Test Hiob; Test Abr; Test Isaak etc.; J. Becker, Das Evangelium nach Johannes (ÖTK 4/2), Gütersloh<br />

3 1991, 523–529 (»Die Gattung des literarischen Testaments«).<br />

7 Vgl. W. Schmidt, De ult<strong>im</strong>is morientium verbis, Diss. phil. Marburg 1914; A. Ronconi, Exitus illustrium<br />

virorum, in: RAC 6 (1966) 1258–1268; vgl. auch M. Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen<br />

Testaments (UTB 2197), Paderborn 2001, 163. – Tacitus, Hist I 41, nennt das »letzte Wort« extrema vox.<br />

8 Vgl. A.J. Saldarini, Last Words and Deathbed Scenes in Rabbinic Literature, in: JQR 68 (1977) 28–45;<br />

J. Neusner, Death-Scenes and Farewell Stories. An Aspect of the Master-Disciple Relationship in Mark and<br />

in some Talmudic Tales, in: HThR 79 (1986) 187–197.<br />

9 Exegetische Studien zu allen sieben <strong>Worte</strong>n sind selten: W. Bauer, Das Leben <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> Zeitalter der neutestamentlichen<br />

Apokryphen, Tübingen 1909, 220–226; J. Wilkinson, The Seven Word from the Cross, in: SJT<br />

17 (1964) 69–82; S.J. Kistemaker, Seven Words from the Cross, in: WTJ 38 (1976) 182–191; A.M. Schwemer,<br />

<strong>Jesu</strong> letzte <strong>Worte</strong> am Kreuz (Mk 15,34; Lk 23,46; Joh 19,28 ff., in: ThBeitr 29 (1998) 5–29; vgl. auch F.-G.<br />

Untergassmair, Art. Kreuzesworte <strong>Jesu</strong>. I. Biblisch, in: LThK 3 6 (1997) 457 f.; Lit. zu den einzelnen <strong>Worte</strong>n<br />

vgl. unten. – Erbauliche oder frömmigkeitsgeschichtliche Arbeiten: K. Hautz, Die sieben <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> am<br />

Kreuze, Diss. Wien 1953; J. Dover, The Words of the Crucified, London 1967; M. Meyer, Die sieben <strong>Worte</strong>


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 3<br />

größere Wirkung aber vor allem seit dem Mittelalter, spätestens seit dem 16. Jh. auch<br />

über das Medium der Musik 10 .<br />

Zur Annäherung an das Thema beginnen wir zunächst mit der Betrachtung ausgewählter<br />

ult<strong>im</strong>a verba der antiken Literatur. Sie zeigen, dass die Gattung <strong>im</strong>mer schon<br />

dazu diente, eine ganze Lebens- oder Weltansicht in einen einzigen Ausspruch zu bannen<br />

(1). Sodann vergegenwärtigen wir uns die Tradition der sieben <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> als Komposition,<br />

wie sie sich unter dem Vorzeichen der Evangelienharmonien schon <strong>im</strong> zweiten<br />

Jahrhundert herausgebildet hat und seitdem prägend wurde (2). Drittens wenden wir<br />

uns der diachronen Frage zu: Welche der überlieferten letzten <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> sind sekundär,<br />

welche pr<strong>im</strong>är? Enthielt bereits die älteste Passionserzählung hinter den Evangelien ein<br />

ult<strong>im</strong>um verbum? Wenn ja, welches? (3.1) Schließlich: Können wir auf dieser Basis etwas<br />

darüber ausmachen, ob <strong>Jesu</strong>s am Kreuz ein derartiges Wort gesprochen hat? (3.2)<br />

<strong>Der</strong> letzte große Teil unserer Überlegungen ist dann der Frage gewidmet, welches Verständnis<br />

des <strong>Tod</strong>es <strong>Jesu</strong> seine letzten <strong>Worte</strong> in den Evangelien jeweils widerspiegeln (4).<br />

1. Das Leben eine Komödie, eine Krankheit oder was es sonst mit ihm auf sich hat –<br />

ult<strong>im</strong>a verba in der antiken Literatur<br />

»Nemo moriturus praesumitur mentiri« – »von keinem Sterbenden ist anzunehmen,<br />

dass er lügt«, lautet eine alte Max<strong>im</strong>e 11 . Zu ihr passt, was Friedrich Nietzsche in der<br />

»Fröhlichen Wissenschaft« unter dem Stichwort »Letzte <strong>Worte</strong>« zu Kaiser Augustus<br />

notierte: »Man wird sich erinnern, dass der Kaiser Augustus, jener fürchterliche<br />

Mensch, der sich ebenso in der Gewalt hatte und der ebenso schweigen konnte wie irgend<br />

ein weiser Sokrates, mit seinem letzten <strong>Worte</strong> indiscret gegen sich selber wurde:<br />

er ließ zum ersten Male seine Maske fallen, als er zu verstehen gab, dass er eine Maske<br />

getragen und eine Komödie gespielt habe – er hatte den Vater des Vaterlandes und die<br />

<strong>Jesu</strong> am Kreuz, Göttingen 1995; H. Gross, Die Sieben Letzten <strong>Worte</strong> unseres Erlösers am Kreuze. Eine theologische<br />

Betrachtung, in: Die Sieben letzten <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> in der Musik – Handschriften und Drucke aus der<br />

Bischöflichen Zentralbibliothek Regensburg (Katalog zur Ausstellung in der Bischöflichen Zentralbibliothek),<br />

Regensburg 2001, 11–13; G. Lange, »Mein Gott, warum …?« <strong>Der</strong> Verlassenheitsschrei <strong>Jesu</strong> am Kreuz als<br />

bildgeschichtliches Problem – in praktisch-theologischer Arbeit, in: H. Baldur/G. Berghaus (Hrsg.), Kreuzungen.<br />

Christliche Existenz <strong>im</strong> Diskurs (FS H. Luthe), Mühlhe<strong>im</strong>/Ruhr 2002, 175–196; P. Niskansen, The Last<br />

Words of <strong>Jesu</strong>s, in: Homiletic and pastoral review 102 (2002) 23–25; F.-J. Steinmetz, Leben aus dem <strong>Tod</strong>? Die<br />

sieben <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> am Kreuz, in: Geist und Leben 75 (2002) 117–131; M. van Wijnkoop Lüthi, Die sieben<br />

Kreuzesworte <strong>im</strong> Spannungsfeld musikalischer Harmonie und theologischer Dissonanz, in: C. Klein/S. Tobler<br />

(Hrsg.), Spannweite: Theologische Forschung und kirchliches Wirken (FS H. Klein), Bukarest 2005, 312–<br />

325; L. Resch, Hingabe bis zum äußersten. <strong>Jesu</strong> Gebet am Kreuz, in: EuA 83 (2007) 309–312.<br />

10 Eine umfassende Bestandsaufnahme bei K. Langrock, Die Sieben <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> am Kreuz. Ein Beitrag zur<br />

Geschichte der Passionskomposition, Essen 1987; vgl. außerdem P. Kreyssig, Die Sieben letzten <strong>Worte</strong> des Erlösers<br />

am Kreuz, in: Zwischen Bach und Mozart. Vorträge des Europäischen Musikfestes Stuttgart 1988<br />

(Schriftenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart 4), Kassel 1994, 184–196; R. Dittrich, Die Sieben<br />

letzten <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> in der Musik – Ein Überblick in Beispielen, in: <strong>Worte</strong> (Katalog Regensburg) (Anm. 9) 14–56.<br />

11 Vgl. Guthke, <strong>Worte</strong> (Anm. 1) 35.187.


4<br />

Michael Theobald<br />

Weisheit auf dem Throne gespielt, gut bis zur Illusion! Plaudite amici, comoedia finita<br />

est!« 12 – »Klatschet Beifall, Freunde, die Komödie ist zu Ende!« Mit diesem Wort an<br />

der Rampe verabschiedet sich der Hauptdarsteller eines ganzen nach ihm benannten<br />

Zeitalters und tritt von der Bühne ab. Das Leben eine Komödie?! Nichts als »Eitelkeit«<br />

und »Schwatzhaftigkeit« erkennt Nietzsche in diesem Wort, »und recht das Gegenstück<br />

zum sterbenden Sokrates!« 13<br />

Diesem hat Platon in der Erzählung von seinem <strong>Tod</strong> <strong>im</strong> Phaidon ein literarisches<br />

Denkmal gesetzt. Vergegenwärtigen wir uns kurz, was er dem Phaidon in den Mund<br />

legt, der mit seinen <strong>Worte</strong>n auch Echekrates, der be<strong>im</strong> Sterben des Sokrates nicht dabei<br />

war, an dieser Stunde teilhaben lassen will:<br />

Als […] Sokrates den Menschen sah [der ihm den Trank reichen sollte], sprach er [zu ihm]:<br />

Wohl, Bester, denn du verstehst es ja, wie muss man es machen? –<br />

Nichts weiter, sagte er, als wenn du getrunken hast, herumgehen, bis dir die Schenkel schwer<br />

werden, und dann dich niederlegen, so wird es schon wirken.<br />

Damit reichte er dem Sokrates den Becher, und dieser nahm ihn, und ganz getrost, o Echekrates,<br />

ohne <strong>im</strong> mindesten zu zittern oder Farbe oder Gesichtszüge zu verändern, sondern,<br />

wie er pflegte, ganz gerade den Menschen ansehend, fragte er ihn:<br />

Was meinst du von dem Trank wegen einer Spendung? Darf man eine machen oder nicht? –<br />

Wir bereiten nur soviel, o Sokrates, antwortete er, als wir glauben, dass hinreichend sein<br />

wird. –<br />

Ich verstehe, sagte Sokrates. Beten aber darf man doch zu den Göttern und muss es, dass die<br />

Wanderung von hier dorthin glücklich sein möge, worum denn auch ich hiermit bete, und so<br />

möge es geschehen.<br />

Und wie er dies gesagt, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er aus.<br />

Als die Anwesenden ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnten – heißt es in der<br />

Erzählung des Phaidon weiter – sprach Sokrates:<br />

Was macht ihr doch, ihr wunderbaren Leute! Ich habe vorzüglich deswegen die Weiber<br />

weggeschickt, dass sie dergleichen nicht begehen möchten; denn ich habe <strong>im</strong>mer gehört,<br />

man müsse stille sein, wenn einer stirbt. Also haltet euch ruhig und wacker.<br />

Als wir das hörten, schämten wir uns und hielten inne mit Weinen. Er aber ging umher, und<br />

als er merkte, dass ihm die Schenkel schwer wurden, legte er sich gerade hin auf den Rücken,<br />

denn so hatte es ihm der Mensch geheißen. Darauf berührte ihn eben dieser, der ihm das Gift<br />

gegeben hatte, von Zeit zu Zeit und untersuchte seine Füße und Schenkel. Dann drückte er<br />

ihm den Fuß stark und fragte, ob er es fühle; er sagte nein. Und darauf die Knie, und so ging<br />

er <strong>im</strong>mer höher hinauf und zeigte uns, wie er erkaltete und erstarrte. Darauf berührte er ihn<br />

noch einmal und sagte, wenn ihm das bis ans Herz käme, dann würde er hin sein.<br />

Als ihm nun schon der Unterleib fast ganz kalt war, da enthüllte er sich, denn er lag verhüllt,<br />

und sagte, und das waren seine letzten <strong>Worte</strong>:<br />

O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig,<br />

12 F. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Nr. 36, in: G. Colli/M. Montinari (Hrsg.), Nietzsche. Werke.<br />

Kritische Gesamtausgabe, Bd. V/2, Berlin u. a. 1973, 79. Dem Augustus-Wort stellt er das des Nero zur<br />

Seite: qualis artifex pereo.<br />

13 Ebd.


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 5<br />

entrichtet ihm den,<br />

und versäumt es ja nicht. –<br />

Das soll geschehen, sagte Kriton, sieh aber zu, ob du noch sonst etwas zu sagen hast. Als<br />

Kriton dies fragte, antwortete er aber nichts mehr, sondern bald darauf zuckte er, und der<br />

Mensch deckte ihn auf; da waren seine Augen gebrochen. Als Kriton das sah, schloss er ihm<br />

Mund und Augen14 .<br />

Drei religiöse Elemente enthält der Text: Trank-Spende an einen Gott; Gebet zu den<br />

Göttern; Opfer an Asklepios (die letzten <strong>Worte</strong>). Ein Grund für das von Sokrates erbetene<br />

Opfer an den Gott der Heilkunde und der Ärzte wird nicht angegeben. »<strong>Der</strong> Leser,<br />

angeregt, ihn hinzuzudenken, kann ihn nur in den vorangegangenen Gesprächen über<br />

die Unsterblichkeit finden« 15 . So wird er in der Weihegabe des Hahns, den Kranke nach<br />

ihrer Genesung dem Asklepios gewöhnlich anboten, ein »Sinnbild« dafür sehen, dass<br />

Sokrates sich nun »von den Übeln dieses Lebens geheilt fühlte und die Genesung, nämlich<br />

die Befreiung der Seele vom Körper <strong>im</strong> anderen Leben, zu erreichen <strong>im</strong> Begriff<br />

war« 16 . Das wird sehr anschaulich erzählt: Als Sokrates sein letztes Wort spricht, ist sein<br />

Körper schon fast ganz vom Gift gelähmt und seine Seele dabei, sich von ihm zu trennen<br />

und hinüber in die Ewigkeit zu »wandern«. Für das Verständnis des platonischen Dialogs<br />

als ganzen ist diese seine Abschlussszene fundamental. Sie zeigt nämlich, »dass Sokrates<br />

nicht nur nach dem Lebensideal zu leben verstand, das er gepredigt hatte, sondern dass<br />

er auch den <strong>Tod</strong> mit der Heiterkeit und Erwartung des künftigen Lebens anzunehmen<br />

wusste, die ihm allein aus dem Glauben an die Unsterblichkeit zufließen konnte« 17 .<br />

Die Nachwirkung der platonischen Szene in der Antike war groß. Sie wurde zum<br />

»Archetypos einer langen Überlieferung« 18 , für die der <strong>Tod</strong> des Seneca, den Kaiser Nero<br />

wegen angeblicher Verstrickung in eine Verschwörung gegen ihn zum Selbstmord<br />

zwang, nur das bekannteste Beispiel ist. Tacitus (ann. 15,64) erzählt, der Philosoph<br />

habe, nachdem er sich die Adern geöffnet hätte und durch den Blutverlust schon ganz<br />

geschwächt gewesen sei, nach dem Schierlingsbecher verlangt – »offensichtlich ein rein<br />

literarisches, aus Platon übernommenes Motiv, das zu dem geschichtlichen Detail des<br />

Verblutens einfach addiert ist« 19 . Zuletzt sei er, so Tacitus weiter, »in ein Bassin mit<br />

heißem Wasser« gestiegen, »wobei er die zunächststehenden Sklaven besprengte und<br />

hinzufügte, er weihe dieses Nass Iuppiter, dem Befreier«. Auch das ist eine bewusste<br />

14 Platon, Phaidon 117a-118a. Übersetzung von F. Schleiermacher, in: K. Hülser (Hrsg.), Platon. Sämtliche<br />

Werke. Bd. IV, Frankfurt 1991, 345.347.<br />

15 R. Hirzel, <strong>Der</strong> Dialog. Ein literarhistorischer Versuch. Erster Theil, Leipzig 1895, 195.<br />

16 G. Reale, Die Begründung der abendländischen Metaphysik: Phaidon und Menon, in: T. Kobusch/<br />

B. Mojsisch (Hrsg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, 64–80, 70.<br />

Hirzel, Dialog (Anm. 15) 195: <strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> ist »Heilung von allen irdischen Leiden«.<br />

17 Reale, Begründung (Anm. 16) 70.<br />

18 Ronconi, Exitus (Anm. 7) 1258; er verweist u. a. auf Plutarch, Cato Min. 68,2/70,4, den <strong>Tod</strong> des Cato<br />

Uticensis, der, bevor er sich selbst tötet, <strong>im</strong> Phaidon liest; vgl. auch C. Gnilka, Ult<strong>im</strong>a Verba, in: JbAC 22<br />

(1979) 5–21; G. Sterling, Mors philosophi: The Death of <strong>Jesu</strong>s in Luke, in: HThR 94 (2001) 383–402, 387–390.<br />

19 Ronconi, Exitus (Anm. 7) 1259.


6<br />

Michael Theobald<br />

<strong>im</strong>itatio des Sokrates, der von dem ihm gereichten Gift zuerst ein Trankopfer darbringen<br />

wollte, es aber nicht konnte, weil die Flüssigkeit zu knapp bemessen war, so dass er<br />

sich mit einem Gebet an die Götter begnügte. Dieses Trankopfer holt jetzt Seneca nach,<br />

wobei seine Widmung an Jupiter Liberator das letzte Wort des Sokrates und den in ihm<br />

enthaltenen Gedanken auf greift, dass der <strong>Tod</strong> eine Heilung bzw. Befreiung darstellt 20 .<br />

Die Gattung der <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« hat auch Eingang in die jüdisch-hellenistische Literatur<br />

gefunden. Ein Beispiel dafür ist der Schluss der Erzählung vom Martyrium des<br />

Eleazar, 4Makk 6,26-30. Dort heißt es:<br />

26 a Als er (sc. Eleazar) schon bis auf die Knochen verbrannt war<br />

b und <strong>im</strong> Begriff war, das Bewusstsein zu verlieren,<br />

c erhob er seine Augen zu Gott und sprach:<br />

27 a Du weißt, Gott,<br />

b obgleich es mir freistand, mich zu retten,<br />

c sterbe ich in feurigen Qualen um des Gesetzes willen.<br />

28 a Sei gnädig deinem Volk,<br />

b indem du an unserer Bestrafung (stellvertretend) für sie (ὑπὲρ αὐτῶν)<br />

Genügen fi ndest.<br />

29 a Zu einem Reinigungsopfer für sie (καθάρσιον αὐτῶν) mache mein Blut,<br />

b und als Ersatz für ihr Leben (ἀντίψυχον αὐτῶν) n<strong>im</strong>m mein Leben<br />

(τὴν ἐμὴν ψυχήν).<br />

30 a Nachdem er dies gesagt hatte,<br />

b starb der heilige Mann in edler Haltung unter Martern<br />

c und widerstand bis zu den Qualen des <strong>Tod</strong>es<br />

mithilfe der Denkkraft (τῷ λογισμῷ) um des Gesetzes willen. 21<br />

Eleazar stirbt mit einem Gebet auf den Lippen 22 . Er stirbt aus Treue zur Tora und bittet<br />

Gott darum, er möge seinen <strong>Tod</strong> als stellvertretendes »Reinigungsopfer« für das ganze<br />

Volk annehmen. So sehr damit seine <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« in Israels Glauben integriert<br />

20 In diese Richtung deutet auch ein anderes Detail der Tacitus-Erzählung: Statius Annaeus, der Mann,<br />

den Seneca beauftragt hätte, »das längst vorbereitete Gift zu holen, mit dem die vom Volksgericht der<br />

Athener Verurteilten hingerichtet wurden«, hätte »sich ihm schon lange durch seine treue Freundschaft<br />

und seine ärztliche Kunst bewährt«.<br />

21 Übersetzung nach LXX deutsch. Vgl. auch 2Makk 6,30; außerdem 2Makk 7,37 f.: »Ich aber gebe wie<br />

(meine) Brüder Leib und Leben hin für die Gesetze der Väter und rufe Gott an, dass er bald (seinem) Volk<br />

milde gest<strong>im</strong>mt werde und dich unter Prüfungen und Geißeln bekennen lasse, dass allein er Gott ist. In mir<br />

aber und meinen Brüdern möge der Zorn des Allmächtigen, der zu Recht über unser ganzes Geschlecht gekommen<br />

ist, zum Stehen kommen« (es handelt sich freilich nur um einen Gebetsbericht). Vgl. auch Schwemer,<br />

<strong>Worte</strong> (Anm. 9) 13 f.; T. Rajak, Dying for the Law. The Martyr’s Portrait in Jewish-Greek Literature, in:<br />

M.J. Edwards/S. Swain (Hrsg.), Portraits: Biographical Representation in the Greek and Latin Literature of<br />

the Roman Empire, Oxford 1997, 39–67.<br />

22 Die Bedeutung des Bittgebets erhellt daraus, dass der Verfasser es in <strong>seiner</strong> Schlussreflexion 4Makk<br />

17,20–22 als von Gott erfüllt aufgreift: »Sie also, die sich heiligten um Gottes willen, fanden verdiente Ehre<br />

[…] dadurch, dass um ihretwillen die Feinde unser Volk nicht überwältigen konnten, […] und unser Vaterland<br />

gereinigt wurde, sind sie doch zu einer Art Ersatzleistung für die Sünden des Volkes geworden. Durch<br />

das Blut jener Frommen und ihren sühnenden <strong>Tod</strong> hat die göttliche Vorsehung das zuvor schwer he<strong>im</strong>gesuchte<br />

Israel gerettet.«


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 7<br />

sind, 23 die das Buch insgesamt prägende hellenistische Vorstellungswelt ist doch deutlich:<br />

<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> des Märtyrers erscheint hier als bewusste Tat <strong>seiner</strong> Freiheit, die zu setzen<br />

ihn seine »Denkkraft« instand setzt, da sie ihn frei macht gegenüber seinen Affekten.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> selbst ist Übergang in die Unsterblichkeit der »Seele« bei Gott 24 .<br />

Halten wir fest: Ult<strong>im</strong>a verba sind ein beliebtes Stilmittel in Historiographie und<br />

Biographie der hellenistisch-römischen Zeit, wobei die Rahmengattungen, in denen<br />

dieses Stilmittel Anwendung findet, naturgemäß variieren 25 . Fester Bestandteil sind<br />

ult<strong>im</strong>a verba in Sterbeszenen, die überaus beliebt waren 26 . Hier dienen sie dazu, »die<br />

mutmaßliche Summe eines Lebens« »auf eine Formel« zu bringen, weshalb sie schon<br />

»sozusagen definitionsgemäß von zweifelhafter Authentizität« sind 27 . Vor dem Hintergrund<br />

dieses literarischen Befunds scheint auch bei <strong>Jesu</strong> letzten <strong>Worte</strong>n in der Frage<br />

ihrer Authentizität Zurückhaltung geboten.<br />

2. Die sieben letzten <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> in der Tradition der Evangelienharmonie<br />

»Mehr als ein letztes Wort zu hinterlassen scheint geradezu zum Stil des Berühmtseins<br />

zu gehören«, meint K. Guthke 28 . Gleich sieben letzte <strong>Worte</strong> werden <strong>Jesu</strong>s zugesprochen,<br />

wobei sich diese Zahl ergibt, wenn man die in den vier Evangelien zu findenden <strong>Worte</strong>,<br />

die <strong>Jesu</strong>s vom Kreuz herab gesprochen hat, zusammenzählt. Die Zahl sieben scheint<br />

also zufällig zu sein, ist es aber nicht ganz, da man das Wort <strong>Jesu</strong> an seine Mutter und<br />

das an den geliebten Jünger als ein Wort zählen muss, will man auf die Sieben kommen.<br />

Problematisch wird die Zahl erst recht be<strong>im</strong> Gebet Lk 23,34 – »Vater, vergib ihnen,<br />

23 H.-J. Klauck, 4. Makkabäerbuch, in: JSHRZ III (1989) 671: »Die Übernahme von Konzeptionen aus der<br />

atl. Opfertheologie und Opfersprache liegt auf der Hand«. Dennoch – so Klauck – wird man »angesichts der<br />

sonstigen Affinitäten unseres Autors zur hellenistischen Kultur <strong>im</strong> allgemeinen und zu Euripides und der<br />

Tragödie <strong>im</strong> besonderen […] nicht am stellvertretenden Sterben bei den Griechen vorbeigehen können«,<br />

zumal auch hier das »Sterben für […]« dem Volk zugedacht sein kann.<br />

24 4Makk 18,23 heißt es von den Martyrern, dass »sie heilige und unsterbliche Seelen empfangen haben<br />

von Gott«; dazu E. Brandenburger, Fleisch und Geist. Paulus und die dualistische Weisheit (WMANT 29),<br />

Neukirchen-Vluyn 1968, 71 f. Anm. 5: »Unsterblichkeit eignet der Seele nicht nach ihrer Substanz, denn<br />

nach 18:23 wird die reine und unsterbliche Seele erst von Gott verliehen«; zur individuellen Eschatologie<br />

des Buches vgl. Klauck, 4Makk (Anm 23) 672–674.<br />

25 Neben den Übersichten von Ronconi, Exitus (Anm. 7) und Gnilka, Verba (Anm. 18), vgl. noch<br />

E. Stauffer, Abschiedsreden, in: RAC 1 (1950) 29–35; K. Berger, Hellenistische Gattungen und das Neue<br />

Testament, in: ANRW II 23,2, Berlin 1984, 1031–1432, 1257–1259; ders., Formgeschichte des Neuen Testaments,<br />

Heidelberg 1984, 75.77.349 f.<br />

26 Gnilka, Verba (Anm. 18) 5: »Nicht zu Unrecht hat man gesagt, dass die beiden Hauptwerke des Tacitus<br />

aus einer endlosen Kette dargestellten Sterbens bestünden«.<br />

27 Guthke, <strong>Worte</strong> (Anm. 1) 160: Verba ult<strong>im</strong>a sind »unentbehrlich für biographische und historiographische<br />

Intentionen«.<br />

28 Guthke, <strong>Worte</strong> (Anm. 1) 78.


8<br />

Michael Theobald<br />

denn sie wissen nicht, was sie tun« –; das Wort fehlt in wichtigen alten Textzeugen und<br />

könnte deshalb nachgetragen sein 29 .<br />

J.A Whitlark und M.C. Parsons meinten jüngst, dieses ursprünglich mündlich tradierte <strong>Jesu</strong>s-<br />

Wort 30 sei erst zu dem Zeitpunkt sekundär in das Lukasevangelium hineingekommen, als man<br />

<strong>im</strong> Prozess des Vergleichens der vier Evangelien miteinander auf die Gesamtzahl der letzten<br />

<strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> aufmerksam wurde und diese dann zur Zahl der Vollkommenheit – der Sieben –<br />

auffüllen wollte 31 . Das sei geschehen, als man mit den Widersprüchen, Wiederholungen und<br />

Doppelungen der Evangelien als ihrer Glaubwürdigkeit nicht dienlich haderte und deshalb die<br />

anerkannten Evangelien in ein einziges zu verschmelzen suchte. Die erste nachweislich bekannte<br />

Evangelienharmonie ist die des Syrers Tatian, die – entstanden um 170 n. Chr. – für die<br />

gesamte Entwicklung der Evangelienüberlieferung und -rezeption bis in die Neuzeit hinein von<br />

nicht zu überschätzender Bedeutung ist 32 . Sie selbst ist nicht erhalten und lässt sich nur noch<br />

aus Sekundärzeugen rekonstruieren. Hinzu kommt, dass ein derartiges Unternehmen nie in<br />

einem ersten Wurf gelingen konnte und deshalb überall da, wo die Evangelienharmonie auf<br />

Interesse und sogar gottesdienstliche Akzeptanz stieß, zu Verbesserungen einlud. Die Folge ist<br />

eine <strong>im</strong> Osten und Westen weit verzweigte Tradition von Evangelienharmonien in Antike und<br />

Mittelalter, die in sehr vielfältiger Weise den Archetyp Tatians fortgeschrieben haben 33 .<br />

29 So B.M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 1975 (Corrected<br />

Edition), 180; Nestle 27 klammert V. 34a ein; das Wort fehlt <strong>im</strong>merhin bei so wichtigen Zeugen wie P 75 B D*<br />

W Θ it a,d syr s co sa,bo(mss) . Angesichts dieser crux interpretum erstaunt die große Zahl der Studien zum Vers<br />

nicht: A. von Harnack, Probleme <strong>im</strong> Texte der Leidensgeschichte <strong>Jesu</strong> II: Zu Luc. 23,33.34, in: ders., Studien<br />

zur Kirchengeschichte des Neuen Testaments und der Alten Kirche I: Zur neutestamentlichen Textkritik<br />

(AKG 19), Berlin u. a. 1931, 91–98; D. Flusser, »Sie wissen nicht, was sie tun«. Geschichte eines Herrenwortes,<br />

in: P.G. Müller/W. Stenger (Hrsg.), Kontinuität und Einheit (FS F. Mußner), Freiburg 1981, 393–<br />

410; Th.M. Bolin, A Reassessment of the Textual Problem of Luke 23:34a, in: Proceedings, Eastern Great<br />

Lakes and Midwest Biblical Societies, Vol. 12, Cincinnati 1992, 131–144; J.H. Petzer, Anti-Judaism and the<br />

Textual Problem of Luke 23:34, in: Filologia neotestamentaria 5 (1992) 199–203; J. Delobel, Luke 23,24a: A<br />

Perpetual Text-Critical Crux?, in: W.L. Petersen (Hrsg.), Sayings of <strong>Jesu</strong>s. Canonical and non-canonical.<br />

Essays in Honor of Tjitze Baarda (NT.S 89), Leiden 1997, 25–36; G.P. Carras, A Pentateuchal Echo in <strong>Jesu</strong>s’<br />

Prayer on the Cross. Intertextuality between Numbers 15,22–31 and Luke 23,34a, in: C.M. Tuckett (Hrsg.),<br />

The Scriptures in the Gospels (BETL 131), Leuven 1997, 605–616; M. Blum, «… denn sie wissen nicht, was<br />

sie tun.” Zur Rezeption der Fürbitte <strong>Jesu</strong> am Kreuz (Lk 23,34a) in der antiken jüdisch-christlichen Kontroverse<br />

(NTA.NF 46), Münster 2004, 17–28 (»Zur Textkritik«); J.A Whitlark/M.C. Parsons, The »Seven« Last<br />

Words: A Numerical Motivation for the Insertion of Luke 23.34a, in: NTS 52 (2006) 188–204.<br />

30 Bauer, Leben (Anm. 9) 223 f., verweist darauf, dass das Agraphon bereits Irenäus, Origenes, Hippolyt,<br />

den Ps.-Clementinen und der syrischen Didaskalia geläufig gewesen sei; auch Kaiser Julian habe es gekannt;<br />

vgl. auch Flusser, Geschichte (Anm. 29) 399 ff., sowie Metzger, Commentary (Anm. 29) 180.<br />

31 Whitlark/Parsons, Words (Anm. 29) 188–204.<br />

32 Vgl. H.J. Vogels, Handbuch der Textkritik des Neuen Testamens, Bonn 2 1955, 111–115; M.-É. Boismard,<br />

Le Diatessaron: de Tatien à Justin (EB.NS 15), Paris 1992; B.M. Metzger, The Early Versions of the<br />

New Testament. Their Origin, Transmission, and L<strong>im</strong>itations, Oxford 1977, 10–36; W.L. Petersen, Tatian’s<br />

Diatessaron. Its Creation, Dissemination, Significance, and History in Scholarship (VChr.S 25), Leiden<br />

1994. – Die Frage, ob bereits sein Lehrer Justin über eine Evangelienharmonie auf synoptischer Basis<br />

(ohne Joh) verfügte, ist umstritten; Petersen, Diatessaron, 513 (vgl. ders., Textual Evidence of Tatian’s<br />

Dependence upon Justin’s ΑΠΟΜΝΗΜΟΝΕΥΜΑΤΑ, in: NTS 36 [1990] 512–534), bejaht sie, G. Stanton,<br />

<strong>Jesu</strong>s and Gospel, Cambridge 2004, 77, verneint sie. Bemerkenswert in unserem Zusammenhang ist aber,<br />

dass Justin, Dial 99,1 und 105,5 zwei der letzten <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong>, nämlich Mk 15,34/Mt 27,46 und Lk 23,46, mit<br />

Verweis auf seine »Denkwürdigkeiten der Apostel« <strong>im</strong> selben Kontext bietet.<br />

33 Hierzu vgl. den beeindruckenden Stammbaum der Diatessaron-Tradition in Petersen, Diatessaron<br />

(Anm. 32) 490; vgl. auch C. Burger/A. Den Hollander/U. Schmid (Hrsg.), Evangelienharmonien des Mit-


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 9<br />

In diesem Zusammenhang verweisen nun die beiden genannten Autoren darauf, dass in den<br />

Zusammenstellungen der sieben letzten <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> ausgerechnet die Position des Gebets Lk<br />

23,34 zunächst variierte, bis sich – der kanonischen Ordnung gemäß (bei Lukas steht es unmittelbar<br />

nach der Notiz von der Kreuzigung <strong>Jesu</strong>) – sein erster Platz festigte. In der Tat ist<br />

seine Platzierung in der arabischen Übersetzung, einem »wertvollen Zeugen« des Diatessarons<br />

(Tat ar ) 34 , erst an sechster Stelle und <strong>im</strong> Kommentar des Ps-Ephräm (Tat efr ) 35 an siebenter<br />

auffällig (vgl. auch Const. App.). Die folgende Synopse zur Reihenfolge der letzten <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong><br />

in wichtigen Diatessaron-Zeugen 36 kann den Befund veranschaulichen:<br />

Tatar Tatefr Const. App.<br />

V,14,17<br />

11. Jh. 4. Jh. zwischen<br />

375 und 400<br />

Lk 23,43<br />

Joh 19,26.27<br />

Mk 15,34 /<br />

Mt 27,46<br />

Joh 19,28<br />

Joh 19,30<br />

Lk 23,34<br />

Lk 23,46<br />

Lk 23,43<br />

(Joh 19,26.27)<br />

Mk 15,34 /<br />

Mt 27,46<br />

Lk 23,46<br />

Lk 23,34<br />

Mk 15,34 /<br />

Mt 27,46<br />

Lk 23,34<br />

Lk 23,46<br />

Tat fuld Tat pers Harmonie des<br />

Samuel Pepy<br />

547 n.Chr.<br />

Capua 37<br />

Lk 23,34<br />

Lk 23,43<br />

Joh 19,26.27<br />

Mk 15,34 /<br />

Mt 27,46<br />

Joh 19,28<br />

Joh 19,30<br />

Lk 23,46<br />

13. Jh. um 1400<br />

mittelenglisch<br />

Lk 23,34<br />

Joh 19,26.27<br />

Joh 19,28<br />

Joh 19,30<br />

Lk 23,43<br />

Mk 15,34 /<br />

Mt 27,46<br />

Lk 23,46<br />

Lk 23,34<br />

Joh 19,26.27<br />

Lk 23,43<br />

Mk 15,34 /<br />

Mt 27,46<br />

Joh 19,28<br />

Joh 19,30<br />

Lk 23,46<br />

telalters (STAR 9), Assen 2004. Unter dem Eindruck des Nominalismus verändern sich während der Reformation<br />

die in den Evangelienharmonien angewandten Prinzipien weg von der Verschmelzung der Perikopen<br />

bzw. Auslassung von Parallelen etc. hin zu einer größeren Vollständigkeit des aufgenommenen<br />

Materials; grundlegend hierzu P. Hörner, Zweisträngige Tradition der Evangelienharmonie. Harmonisierung<br />

durch den »Tatian« und Entharmonisierung durch Georg Kreckwitz u. a. (Germanistische Texte und<br />

Studien 67), Hildeshe<strong>im</strong> 2000, sowie dies. in: Erasmus Alber, Evangelienharmonie (Hrsg. von P. Hörner),<br />

Berlin 2009, 4–18. – Zur Reformationszeit vgl. auch D. Wünsch, Evangelienharmonien <strong>im</strong> Reformationszeitalter.<br />

Ein Beitrag zur Geschichte der Leben-<strong>Jesu</strong>-Darstellungen (AKG 52), Berlin 1983.<br />

34 So Vogels, Handbuch (Anm. 32) 115. – Vgl. auch A. Pott (Hrsg.), Tatians Diatessaron. Aus dem Arabischen<br />

übersetzt von E. Preuschen (mit einer einleitenden Abhandlung und textkritischen Anmerkungen),<br />

Heidelberg 1926. E. Nestle, The Seven Words from the Cross, in: ExpTi 10 (1899/1900) 423 f., nennt<br />

die Platzierung der Vergebensbitte erst an sechster Stelle »strange«: »What may be the reason of this arrangement?<br />

Is the word, ›Father, forgives them,‹ a later insertion […]?”<br />

35 Ephraem der Syrer, Kommentar zum Diatessaron. Übersetzt und eingeleitet von C. Lange, 2 Bde. (FC<br />

54/1.2), Turnhout 2008, Bd.2: 20,24 f. 27 (Joh 19,26 f. werden nicht direkt zitiert).30; 21,1.3; vgl. auch L. Abramowski,<br />

Narsai, Ephräm und Kyrill über <strong>Jesu</strong> Verlassenheitsruf Matth. 27,46, in: H.-J. Feulner (Hrsg.), Crossroad<br />

of Cultures. Studies in Liturgy and Patristics in Honor of Gabriele Winkler (OCA 260), Rom 2000, 43–67.<br />

36 Die Passionsszene der Apostolischen Konstitutionen (3. Spalte), die sehr wahrscheinlich aus Syrien stammen,<br />

wurde hier aufgenommen wegen der von ihr bezeugten harmonistischen Tradition, die mit ihrer Reihenfolge<br />

der drei letzten <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> an Tat ar erinnert (vgl. E. Nestle, ›Father, forgive them‹, in: ExpTi 14 [1902/1903]<br />

285–286). – Zu Tat pers , einer persischen Übersetzung des Diatessaron aus dem Syrischen, vgl. Vogels, Handbuch<br />

(Anm. 32), 115, zur mittelenglischen Harmonie des Samuel Pepy Petersen, Diatessaron (Anm. 32) 168 f.<br />

37 E. Ranke, Codex Fuldensis. Novum Testamentum Latine Interprete Hieronymo, Marburg/Leipzig 1868;<br />

zu diesem auf Anordnung von Bischof Victor in Capua geschriebenen, heute in Fulda liegenden Codex vgl.


10<br />

Michael Theobald<br />

Jason A. Whitlark und Mikeal C. Parsons schließen aus ihren Beobachtungen, dass man das<br />

Gebet Lk 23,34 erst nachträglich unter die letzten <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> in der Evangelienharmonie<br />

aufgenommen hätte, von der es dann in die gewöhnlichen Lukas-Handschriften hinübergewandert<br />

sei. Man kann den Befund aber auch anders deuten, nämlich als Reflex der kontroversen<br />

Überlieferungslage, die sich erst <strong>im</strong> 4./5. Jh. änderte, als das Gebet fast überall fester<br />

Bestandteil des Lukasevangeliums geworden war. Seine partielle Positionierung am Ende der<br />

Reihe in einigen Diatessaron-Zeugen dürfte <strong>im</strong> Übrigen dem Eindruck von der überragenden<br />

Bedeutung dieses jesuanischen Gebets für die Verfolger geschuldet sein.<br />

Nach allem Abwägen des Für und Wider wird man sich für die Beibehaltung des Gebets<br />

<strong>im</strong> ursprünglichen Text des Lukasevangeliums entscheiden. Abgesehen von den internen<br />

Gründen, die später transparent werden 38 , ist vor allem wichtig, dass sich ein Motiv<br />

für die so verbreitete Tilgung des Gebets in der frühen Textgeschichte angeben lässt:<br />

ein heidenchristlicher Antijudaismus, der es nicht vertrug, dass <strong>Jesu</strong>s für die mörderischen<br />

Juden Fürbitte bei seinem Vater eingelegt haben soll 39 .<br />

Die Frage nach der Siebener-Reihe in der Tradition der Evangelienharmonie gibt uns<br />

nun noch die Gelegenheit, die <strong>Worte</strong> insgesamt ins Auge zu fassen, und zwar in der<br />

Reihenfolge, wie sie der <strong>im</strong> Jahr 547 fertig gestellte Codex Fuldensis (Tat fuld ) zum ersten<br />

Mal bezeugt 40 . Sie selbst ist aber gewiss älter. Von vereinzelten Abweichungen abgesehen,<br />

blieb sie <strong>im</strong> Mittelalter bis in die Neuzeit hinein konstant 41 . Wir kennen sie aus dem<br />

Vogels, Handbuch (Anm. 32) 108: »Die Hs bietet das ganze NT, hat aber statt der vier Einzelevangelien ein<br />

auf altlateinischer Grundlage ruhendes Diatessaron, das auf Tatian zurückgeht«, vgl. auch 113 sowie ders.,<br />

Beiträge zur Geschichte des Diatessaron <strong>im</strong> Abendland, Münster 1919; zur jüngeren Diskussion um den<br />

Codex Fuldensis vgl. U. Schmid, Evangelienharmonien des Mittelalters: Forschungsgeschichtliche und systematische<br />

Aspekte, in: C. Burger u. a. (Hrsg.), Evangelienharmonien (Anm. 33) 5–8.10 f. und <strong>im</strong> selben Band<br />

ders., Lateinische Evangelienharmonien – Die Konturen der abendländischen Harmonietradition, 19–22 u. ö.<br />

38 Vgl. unten 4.2 zur Komposition der drei <strong>Worte</strong>. – Nicht zufällig legt Lukas auch Stephanus drei letzte<br />

<strong>Worte</strong> in den Mund, Apg 7,56.59.60, von denen das zweite und dritte (in umgekehrter Reihenfolge!) Lk<br />

23,46.34 entsprechen und das erste an Lk 22,69 anknüpft (vgl. bei E. Haenchen, Die Apostelgeschichte<br />

[KEK], Göttingen 6 1968, 244 Anm. 7). Da die Angleichung der beiden Sterbeszenen literarisch beabsichtigt<br />

ist, dürfte die gleiche Anzahl der ult<strong>im</strong>a verba für die Ursprünglichkeit von Lk 23,34 sprechen.<br />

39 So schon von Harnack, Probleme (Anm. 29) 91–98; Bauer, Leben (Anm. 9) 224: »Antijüdische Tendenzen<br />

mögen dabei <strong>im</strong> Spiel gewesen sein. <strong>Der</strong> Hauptgrund war aber gewiß der, dass die auf das Jahr 70<br />

und seine Katastrophe zurückblickenden Leser des Evangeliums fanden, <strong>Jesu</strong>s hätte eine Fehlbitte getan –<br />

was doch unmöglich angenommen werden darf«; vgl. auch Flusser, Geschichte (Anm. 29) 394.410 (ursprünglich<br />

ein Gebet nur für die Henker, das später als Gebet für die Juden verstanden und dann spätestens<br />

<strong>im</strong> 3. Jh. aus antijudaistischen Gründen aus vielen Handschriften getilgt wurde); F. Bovon, Das Evangelium<br />

nach Lukas (Lk 19,28–24,53) (EKK III/4), Neukirchen-Vluyn 2009, 462. – J.H. Petzer, Ecleticism and the<br />

Text of the New Testament, in: P.J. Hartin/J.H. Petzer (Hrsg.), Text and Interpretation. New Approaches in<br />

the Criticism of the New Testament, New York 1991, 47–62, 54–60, sieht die Sachlage genau umgekehrt:<br />

Das nachträglich eingefügte Gebet für die Henker (westlicher Text!) wurzle in einem Antijudaismus, der<br />

die Römer, die <strong>Jesu</strong>s kreuzigten, entlasten, die Juden zugleich aber belasten wollte. Diese Erklärung hängt<br />

am Verständnis des Gebets als Fürbitte ursprünglich nur für die Soldaten (vgl. unten 4.2).<br />

40 Ranke, Codex Fuldensis (Anm. 37) 154–156.<br />

41 Dittrich, <strong>Worte</strong> (Anm. 10) 15: »Zwar gab es zu keiner Zeit eine festgeschriebene Reihenfolge der sieben<br />

<strong>Worte</strong>«, doch die oben dokumentierte hat sich »in der Praxis herauskristallisiert«; Langrock, <strong>Worte</strong> (Anm.<br />

10) 13. Die <strong>Worte</strong> II und III wurden aus nahe liegenden Gründen des Öfteren vertauscht: Erst sollte <strong>Jesu</strong>s<br />

sich seinen Vertrauten zuwenden (= III), dann erst dem Verbrecher zu <strong>seiner</strong> Rechten (= II); so schon der<br />

Heliand (9. Jh.), Gesänge 66 f.; Tat pers ; die Harmonie des Samuel Pepy; auch die einflussreiche Passions-


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 11<br />

Passionslied »Da <strong>Jesu</strong>s an dem Kreuze stund«, das bis heute in unseren Kirchen gesungen<br />

wird 42 . Seine früheste Bezeugung bietet eine Wiener Handschrift von 1494, die auch<br />

eine Melodie enthält. Auf dem Weg <strong>seiner</strong> poetischen Gestaltung durch den Hebraisten<br />

Johann Böschenstein aus Esslingen von 1515 gelangte das Lied in zahlreiche protestantische<br />

und katholische Gesangbücher 43 . Die früheste mehrst<strong>im</strong>mige Vertonung des Liedes<br />

stammt von Ludwig Senfl (um 1520), die bekannteste ist die von Heinrich Schütz<br />

(um 1645) 44 . Auch dem Instrumentalwerk von Josef Haydn (1787) liegt dieselbe Abfolge<br />

der <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> zugrunde, die ihm von der spanischen Karfreitagsandacht in Cadiz her,<br />

für die er sein Werk komponierte, vorgegeben war 45 . Mit ihrer ausgewogenen Architektonik,<br />

die der Wortfolge in den Evangelien nahe kommt, hat sie sich weithin bewährt:<br />

I. Lk 23,34 Vater,<br />

vergib ihnen,<br />

denn sie wissen nicht, was sie tun. Gebet<br />

II. Lk 23,43 Amen, ich sage dir,<br />

heute noch wirst du mit mir<br />

<strong>im</strong> Paradies sein. Heilszusage<br />

III. Joh 19.26.27 Frau, siehe dein Sohn!<br />

Siehe, deine Mutter! Testament<br />

IV. Mk 15,34 Mein Gott, mein Gott,<br />

wozu hast du mich verlassen? Ps 22,2 Gebet<br />

V. Joh 19,28 Mich dürstet! Ps 69,22 Schrei des Menschen<br />

harmonie des Johann Bugenhagen, Die Historia des Leydens und der Aufferstehung unsers Herrn Jhesu<br />

Christi, aus den vier Evangelien, Wittenberg 1526 (abgedruckt in: E. Mühlhaupt [Hrsg.], D. Martin Luthers<br />

Evangelien-Auslegung, 5. Teil: Die Passions- und Ostergeschichten aus allen vier Evangelien, Göttingen<br />

4 1969, 33*-57*,48*f.), die Luther bei seinen Predigten benutzte; außerdem Paul Gerhardt. J.A. Bengel,<br />

Richtige Harmonie der vier Evangelisten […], Tübingen 2 1747, 569, legt sich die Voranstellung von III vor<br />

II folgendermaßen zurecht: »Nun aber ist Johannes, nachdem er die Mariam in seine Wohnung gefuehret,<br />

wieder zu dem Creuz gekommen, V. 35, und ist daher zu erachten, sie sey nicht nur vor der dreystuendigen<br />

Finsterniß von dem freyen Felde in ein Haus gefuehret worden, sondern es sey auch nach dem ersten Wort<br />

des gecreuzigten JEsu zu seinem h<strong>im</strong>mlischen Vater, sein zweytes Wort an seine beym Creuz erblickte<br />

Mutter ergangen.« – Die Abschlussstellung von Joh 19,30 (= VI), eine weitere Variante der Reihe, kommt<br />

seltener vor. Die klassische Form bietet z. B. Erasmus Alber, Evangelienharmonie (Anm. 33) 197–199.<br />

42 Vgl. »Gotteslob« Nr. 187; das »Evangelische Gesangbuch« von 1996 enthält das Lied nicht. – Das »an<br />

dem Kreuze stund« (es gibt auch die Variante »an dem Kreuze hing«) lässt an die Hoheit des romanischen<br />

Crucifixus denken.<br />

43 Des Näheren dazu vgl. Dittrich, <strong>Worte</strong> (Anm. 10) 30–34.<br />

44 Allerdings kreuzen sich bei ihm zwei Traditionen: Übern<strong>im</strong>mt er in den Rahmenteilen <strong>seiner</strong> Komposition<br />

(Exordium/Conclusio) den Text des Passionslieds, so folgt er bei den sieben <strong>Worte</strong>n der Tradition<br />

der Passionsharmonien. »Erstmals in der Musikgeschichte bilden die Sieben <strong>Worte</strong> – in der deutschen<br />

Übersetzung Martin Luthers – den Gegenstand einer selbständigen, nicht in den Rahmen einer Passion<br />

integrierten Komposition« (Dittrich, <strong>Worte</strong> [Anm. 10] 21).<br />

45 Hierzu Th. Göllner, ›Die sieben <strong>Worte</strong> am Kreuz‹ bei Schütz und Haydn, München 1986; D. Haberl,<br />

»Diese Pause wurde von der Musik ausgefüllt« – Joseph Haydns Instrumentalfassung der ›Sieben letzten<br />

<strong>Worte</strong> unseres Erlösers am Kreuze‹, in: <strong>Worte</strong> (Katalog Regensburg) (Anm. 9) 57–70.


12<br />

Michael Theobald<br />

VI. Joh 19,30 Es ist vollbracht! Ruf des Gottessohns<br />

VII. Lk 23,46 Vater,<br />

in deine Hände lege ich meinen Geist! Ps 31,6 Gebet<br />

Zwei Beobachtungen seien an diese Übersicht angeschlossen 46 :<br />

(1) Die Reihe bietet eine eigene Dramaturgie des Sterbens <strong>Jesu</strong>, die in den diversen<br />

theologischen Kommentaren, Meditationen, Passionsandachten und Passionspredigten<br />

zu den letzten <strong>Worte</strong>n <strong>Jesu</strong> über die Jahrhunderte hinweg theologisch recht unterschiedlich<br />

entfaltet wurde 47 . Das Rückgrad dieser Dramaturgie sind die drei Gebete<br />

<strong>Jesu</strong>, die am Anfang, in der Mitte und am Ende der Komposition stehen und von denen<br />

das zweite und dritte aus der Schrift Israels geschöpft sind 48 . Diese Gebete beschreiben<br />

einen inneren Weg, der be<strong>im</strong> Willen zur Vergebung einsetzt, zur Klage gegen Gott<br />

führt und in ein letztes Einverständnis mit dem Vater einmündet. Die damit gegebene<br />

Christologie besitzt exemplarischen Charakter: Sie lädt dazu ein, auch das eigene Sterben<br />

<strong>im</strong> Licht des Sterbens <strong>Jesu</strong> zu sehen, vermittelt also eine Art ars moriendi in drei<br />

Etappen: Versöhnung mit den Menschen, Aufbegehren gegen Gott und schließlich die<br />

Einwilligung in das Sterben 49 . Bevor man aus exegetischer Sicht das je spezifische Profil<br />

der <strong>Worte</strong> einklagt, insbesondere auf der Schärfe der markinischen Darstellung mit<br />

46 Wilkinson, Words (Anm. 9) 69, best<strong>im</strong>mt die Struktur der Reihe anders: »Three words of Intercession«<br />

(I-II-III), »Two words of Suffering« (IV-V), »Two words of Victory« (VI-VII).<br />

47 Zur monastischen Tradition der Passionsmeditation und -predigt <strong>im</strong> Mittelalter und in der frühen Neuzeit<br />

sowie zum liturgischen Hintergrund vgl. Dittrich, <strong>Worte</strong> (Anm. 10) 14 ff. Stellvertretend für vieles andere<br />

aus der Reformationszeit sei auf die schöne Meditation der Sieben <strong>Worte</strong> des Erfurter Augustiners Johannes<br />

von Paltz (gestorben 1511) hingewiesen, in: ders., Die h<strong>im</strong>lische funtgrub: Werke 3: Opuscula, Berlin<br />

1989, 208–210. – Zum 19. Jh. <strong>im</strong> angelsächsischen Raum vgl. etwa I. Williams, The Gospel Narrative of Our<br />

Lord’s Passion harmonized. With Reflections, London 4 1850, 363–368, der die Sieben <strong>Worte</strong> »in a sevenfold<br />

character or point of view« vorstellt; darunter eine christologische Lesart <strong>im</strong> Blick auf »the mysterious attributes<br />

of our Blessed Lord« (in der klassischen Abfolge der <strong>Worte</strong>): »1. His Mediation and Intercession. 2. His<br />

Kingly Power. 3. The Son of Man. 4. His human Soul. 5. His human body. 6. His sinless perfection. 7. His<br />

voluntary Sacrifice«, oder eine paränetische Lesart zu christlichen Lebensführung: »1. Forgiveness of injuries.<br />

2. Penitence. 3. Filial duty. 4. Fear of God. 5. Fulfilment of His Word. 6. Perfect obedience. 7. Resignation« etc.<br />

48 Für das erste Gebet wird zuweilen Jes 53,12 (»er trug die Sünden der Vielen und trat für die Übeltäter<br />

ein«) als Hintergrund postuliert, was aber eher unwahrscheinlich ist: Lukas, auf den das Gebet zurückgehen<br />

dürfte, orientiert sich in der Regel an der Septuaginta, die hier anders liest (»um ihrer Sünden willen wurde<br />

er dahingegeben«); die Form des Gebets (Bitte mit Begründung) ist aber von den Psalmen her geläufig: vgl.<br />

LXX Ps 6,3; 24,16; 55,2; 56,2; 122,3. – Dittrich, <strong>Worte</strong> (Anm. 10) 17, zeigt für die musikalische Entwicklung<br />

seit dem 16. Jh., dass das vierte Wort »offenbar von Anfang an als ein Höhepunkt galt, um den sich die je drei<br />

anderen Kreuzesworte gruppierten«.<br />

49 So <strong>im</strong> Sinne einer ars moriendi z. B. Paul Gerhard in der 15. Strophe seines Gedichts »Die sieben <strong>Worte</strong><br />

/ die der Herr JESUS am Creutz geredet. (Hör an, mein Herz die sieben Wort)«: »O wollte Gott, dass ich<br />

mein End / Auch also möchte enden! / Und meinen Geist in Gottes Hand / Und treuen Schoß hinsenden. /<br />

Ach lass, mein Hort! dein letztes Wort / Mein letztes Wort auch werden / So wird ich schön und seelig<br />

gehen / Zum Vater von der Erden« (in: <strong>Worte</strong> [Katalog Regensburg] [Anm. 9] 93).


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 13<br />

Ps 22,2 als einzigem ult<strong>im</strong>um verbum <strong>Jesu</strong> beharrt 50 , das sich mit Ps 31,6 an siebenter<br />

Stelle nicht ohne weiteres verträgt, wird man die Leistung der Komposition der Sieben<br />

<strong>Worte</strong> samt der sich an sie anschließenden großen geistlichen Tradition würdigen.<br />

(2) Wer die sieben <strong>Worte</strong> meditiert, dem ersteht vor seinem inneren Auge das zentrale<br />

christliche Kultbild: der Gekreuzigte, thronend zwischen den beiden Schächern und zu<br />

Füßen seine Mutter und »der Jünger, den <strong>Jesu</strong>s liebte«. <strong>Der</strong> unendlichen Einsamkeit des<br />

auf Golgotha Gekreuzigten scheint dieses Bild entrückt. Doch schon die vier Evangelisten<br />

sind auf dem Weg zu diesem Kultbild: Bei Markus sind noch »alle Jünger« geflohen<br />

(Mk 14,50), nur Frauen beobachten das Geschehen »von ferne« (Mk 15,40); anders Lukas,<br />

der neben einer großen Volksmenge, die das »Schauspiel« verfolgt, »alle Bekannten«<br />

<strong>Jesu</strong> in die Reichweite des Kreuzes rückt (seine Jünger eingeschlossen) 51 und sie zusammen<br />

mit den Frauen »von ferne« zuschauen lässt (Lk 23,49) 52 . Die letzte Steigerung<br />

bietet das Vierte Evangelium mit <strong>seiner</strong> eher statuarischen Szene 53 : Es zeigt uns die<br />

Frauen »be<strong>im</strong> Kreuz <strong>Jesu</strong>« (Joh 19,25), unter ihnen auf einmal seine »Mutter« und einen<br />

besonders erwählten Jünger (Joh 19,26). Geht man davon aus, dass die johanneische<br />

Gemeinde sich durch diesen anonymen Jünger vertreten wähnte, dann sah sie sich auch<br />

selbst unter dem Kreuz, durch die Erzählung in die Szene hineingeholt. Später zeigen<br />

die Maler den Stifter des Kultbildes oder andere hochrangige Christen unter dem Kreuz<br />

– auf Knien an der Seite, womit allen, die vor das Kultbild treten, ihr Ort angewiesen<br />

wird: ein Ort der Anbetung und Verehrung des Gekreuzigten.<br />

Man könnte bei diesem Vorgang von einer Ästhetisierung der Wirklichkeit sprechen<br />

54 . Sie provoziert die Frage: Was verbirgt sich hinter den Ikonen unserer Evangelien,<br />

das Markusevangelium eingeschlossen? Was geschah wirklich auf Golgotha? In<br />

welchem Elend und in welcher Einsamkeit starb der Gekreuzigte tatsächlich?<br />

3. Sieben letzte <strong>Worte</strong>. Ist überhaupt eines von ihnen authentisch?<br />

Gegner sehen oft schärfer. So erklärte der Neuplatoniker Porphyrius (234–301/305) in<br />

<strong>seiner</strong> Schrift »Gegen die Christen«, in der er umfassend auf Widersprüche und Ungere<strong>im</strong>theiten<br />

zwischen den Evangelien hinwies, zu den unterschiedlichen Versionen der<br />

50 W .Fritzen, Von Gott verlassen? Das Markusevangelium als Kommunikationsangebot für bedrängte<br />

Christen, Stuttgart 2008, 342 Anm. 98: »In allen anderen Evangelien bleiben die <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> am Kreuz nicht<br />

seine letzten; als Auferstandener richtet er seine <strong>Worte</strong> erneut an die Jünger und an die Leser […].«<br />

51 Die Notiz von der Jüngerflucht, Mk 14,50, hat der Dritte Evangelist zwischen Lk 22,53 und 22,54 ersatzlos<br />

gestrichen.<br />

52 Vgl. P.-G. Klumbies, Das Sterben <strong>Jesu</strong> als Schauspiel nach Lk 23,44–49, in: BZ.NF 47 (2003) 186–205.<br />

53 Es gibt viel weniger Bewegung als bei den anderen Evangelien; von nur vier Soldaten ist die Rede, »die<br />

Juden« treten am Kreuz selbst nicht in Erscheinung.<br />

54 Auch auf unseren Fall trifft die Beobachtung von W. Hildeshe<strong>im</strong>er, Mozart, Frankfurt 1977, 370, zu:<br />

»Sterbeakt und <strong>Tod</strong> des Genies unterliegen nicht zuletzt auch der ästhetischen Zensur: Für die verehrende<br />

Nachwelt haben sie das Min<strong>im</strong>um des emphatisch Schönen zu erfüllen, des Überlieferbaren, ›letzte <strong>Worte</strong>‹,<br />

letzte Gesten.«


14<br />

Michael Theobald<br />

letzten <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong>: Sie legten die Annahme nahe, »nicht ein einziger, sondern mehrere<br />

hätten gelitten« 55 . Den bei Porphyrius gegen die Glaubwürdigkeit der Evangelien gerichteten<br />

kritischen Impuls n<strong>im</strong>mt die historisch-literarische Kritik der Neuzeit auf,<br />

arbeitet jetzt aber <strong>im</strong> Wissen um die Standortgebundenheit aller geschichtlichen Deutung<br />

das sehr unterschiedliche theologische Profil der Evangelien heraus, um es mit<br />

dem zu konfrontieren, was sich vernünftigerweise historisch sagen lässt. Was die letzten<br />

<strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> betrifft, stehen zwei Fragen an: Welches Wort stand in der ältesten<br />

Passionserzählung, die unseren Evangelien noch voraus liegt? Und erlaubt uns diese<br />

älteste Quelle, über <strong>Jesu</strong> tatsächliches Sterben eine Aussage zu treffen?<br />

3.1 Die älteste Passionserzählung – ohne ein verbum ult<strong>im</strong>um <strong>Jesu</strong>?<br />

Auszugehen ist von Ps 22,2, dem ältesten verbum ult<strong>im</strong>um <strong>Jesu</strong> – und dem einzigen <strong>im</strong><br />

Markusevangelium. Alle übrigen <strong>Worte</strong> unterliegen m. E. schon auf Grund redaktionskritischer<br />

Einsichten dem Verdikt sekundärer Bildung. Damit ist aber noch nicht die Frage<br />

entschieden, ob Ps 22,2 auch schon in der Markus vorgegebenen bzw. in der ältesten Passionserzählung<br />

gestanden hat. R. Bultmann verneinte das. Er verwies auf die Doppelung<br />

des Motivs vom »lauten Schrei« in Mk 15,34 und 37 und erklärte: <strong>Der</strong> »laute Schrei« samt<br />

Psalmwort, der in V. 34 vorangeht, sei »offenbar« »eine sekundäre Interpretation des<br />

[nachfolgenden] wortlosen Schreis <strong>Jesu</strong> V. 34«, der älter sei 56 . Dabei ließ R. Bultmann sich<br />

wohl auch von der Vorstellung leiten, die älteste Passionserzählung müsse »neutral« und<br />

»(relativ) legendenfrei« gewesen sein, wozu die nüchterne Notiz vom Sterben <strong>Jesu</strong> mit<br />

einem durchdringenden unartikulierten Schrei auf seinen Lippen passen würde 57 . <strong>Der</strong><br />

archaische Eindruck, den diese Notiz macht, erklärt vielleicht auch, warum der literarkritische<br />

Vorschlag von R. Bultmann bis heute auf Akzeptanz stößt 58 . Aber kannte die älteste<br />

55 Bei A. von Harnack, Porphyrius, ›Gegen die Christen‹, 15 Bücher. Zeugnisse, Fragmente und Referate<br />

(APAW.PH 1916,1), Berlin 1916, 50 f. (Fr. 15); dazu H. Merkel, Die Widersprüche zwischen den Evangelien.<br />

Ihre polemische und apologetische Behandlung in der Alten Kirche bis zu Augustin (WUNT 13), Tübingen<br />

1971, 15.<br />

56 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT.NF 12), Göttingen 8 1970, 295:<br />

»V. 34 ist offenbar eine nach ψ 21,2 geformte sekundäre Interpretation des wortlosen Schreis <strong>Jesu</strong> V. 37 (πάλιν<br />

fehlt V. 37, während Mt es hinzufügt!). Damit ist zugleich V. 35.36b als sekundär erwiesen«. Vgl. bereits<br />

J. Weiß, Das Markus-Evangelium, in: ders. (Hrsg.), Die Schriften des Neuen Testaments, Göttingen 1906,<br />

206; W. Bussmann, Synoptische Studien, Erstes Heft: Zur Geschichtsquelle, Halle 1925, 19 f. (»Überlieferungsdubletten«);<br />

auch D. Lührmann, Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987, 263, macht das<br />

Argument stark: »Auffällig ist bei Mk aber die doppelte Erwähnung des lauten Schreis <strong>Jesu</strong> in 34 und 37«.<br />

57 Freilich bleibt Bultmann, Geschichte (Anm. 56) 296, vorsichtig: »Ob der einzig neutrale V. 37 einmal<br />

einen Platz in einem älteren (relativ) legendenfreien Bericht hatte, vermag man nicht zu sagen.«<br />

58 Bultmann folgen u. a. E. Linnemann, Studien zur Passionsgeschichte (FRLANT 102), Göttingen 1970,<br />

137.148; J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 8,27–16,20) (EKK II/2), Zürich/Neukirchen-Vluyn<br />

1979, 312; Lührmann, Mk (Anm. 56) 263 f., hält es für möglich, »dass Mk (oder vielleicht eine frühere<br />

Fassung der ihm vorgegebenen Passionsgeschichte) dieses Zitat von Ps 22 erst eingebracht hat, um dadurch<br />

die bereits vorhandene Verbindung von Ps 69,22 und <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> (vgl. Joh 19,29 f.) zu erweitern […]. Angesichts<br />

der Bedeutung von Ps 22 für die Interpretation der Passion <strong>Jesu</strong> als Leiden des Gerechten ist es nicht ausgeschlossen,<br />

dass jedenfalls dessen Anfang auch in griechischsprachigen Gemeinden in Aramäisch bekannt


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 15<br />

Passionserzählung wirklich kein letztes Wort <strong>Jesu</strong>? Und war diese Erzählung nicht <strong>im</strong>mer<br />

schon theologische Deutung, also alles andere als »neutral«? Vier Argumente sprechen<br />

m. E. dafür, dass Ps 22,2 als ult<strong>im</strong>um verbum zum Urgestein der Passionserzählung gehört.<br />

Erstens legt die jüdisch-hellenistische Märtyrerliteratur die Annahme nahe, dass<br />

auch das Sterben <strong>Jesu</strong> nicht ohne ein ult<strong>im</strong>um verbum erzählt wurde. Zweitens könnte<br />

die aramäische Fassung von Ps 22,2 <strong>im</strong> griechischen Text ein Indiz der alten in Jerusalem<br />

entstandenen Passionserzählung sein 59 . Drittens – und dieses Argument übertrifft<br />

die beiden ersten an Durchschlagskraft – ist festzustellen, dass Ps 22 der Kreuzigungsszene<br />

insgesamt den »Deutehorizont« 60 liefert. Dabei sind die <strong>im</strong>pliziten Anspielungen<br />

auf den Psalm gegenläufig, wie die folgende Tabelle veranschaulichen kann:<br />

Mk 15 Ps 22<br />

Teilung der Kleider 15,24 22,19<br />

Kopfschütteln der Passanten 15,29 22,8<br />

Verspottung des Gerechten 15,30–32 22,7–9<br />

Invocatio (»Mein Gott, mein Gott«) + Wozu-Frage 15,34 22,2<br />

B. Janowski stellt zu Recht fest, dass sich diese Gegenläufigkeit daraus ergibt, »dass <strong>im</strong> Kreuzigungsbericht<br />

entsprechend der narrativen Chronologie die Schilderung der Feindbedrängnis<br />

– Teilung der Kleider (V. 24), Kopfschütteln der Vorbeigehenden (V. 29) und Verspottung<br />

des Gerechten (V. 30 f.) – als der die Dramatik des Geschehens auslösende Faktor am Anfang<br />

steht, während die klagende ›Wozu‹-Frage (V. 34) am Ende der Erzählung folgt […]« 61 . Gehören<br />

die drei ersten Elemente zur ältesten Passionserzählung – darüber bestehen m. E. kaum<br />

Zweifel 62 –, dann gilt dies gewiss auch von der Kl<strong>im</strong>ax, der Klage <strong>Jesu</strong> am Kreuz.<br />

gewesen sein kann, wie das frühe Christentum ja auch andere Formeln von dort übernommen hat. Doch<br />

mag dies Vermutung bleiben«; ähnlich W. Reinbold, <strong>Der</strong> älteste Bericht über den <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong>. Literarische<br />

Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien (BZNW 69), Berlin/New<br />

York 1994, 168 f., der erklärt: »<strong>Der</strong> gegenteilige Nachweis kann schwerlich gelingen«.<br />

59 L. Schenke, <strong>Der</strong> gekreuzigte Christus. Versuch einer literarkritischen und traditionsgeschichtlichen Best<strong>im</strong>mung<br />

der vormarkinischen Passionsgeschichte (SBS 69), Stuttgart 1974, 86.96; anders Lührmann, Mk<br />

(Anm. 56) 263 f. (vgl. dazu oben Anm. 58). – Vgl. auch Schwemer, <strong>Worte</strong> (Anm. 9) 12 f.; für H. Gese, Psalm<br />

22 und das Neue Testament. <strong>Der</strong> älteste Bericht vom <strong>Tod</strong>e <strong>Jesu</strong> und die Entstehung des Herrenmahles, in:<br />

ZThK 65 (1968) 1–22, 14, gibt es für den Verzicht auf eine Anspielung auf Ps 22,17b LXX (»sie durchgruben<br />

meine Hände und Füße«) in der Kreuzigungserzählung »keine andere Erklärung als die, dass der Psalm nicht<br />

in der LXX-Fassung, sondern aramäisch bekannt gewesen ist, was für ein sehr altes neutestamentliches Überlieferungsstadium<br />

spricht«.<br />

60 Lührmann, Mk (Anm. 56) 263. – Zur Rezeptionsgeschichte von Ps 22 <strong>im</strong> Frühjudentum vgl. H.-J.<br />

Fabry, Die Wirkungsgeschichte des Psalms 22, in: J. Schreiner (Hrsg.), Beiträge zur Psalmenforschung.<br />

Psalm 2 und 22 (FzB 60), Würzburg 1988, 279–317; H. Omerzu, Die Rezeption von Psalm 22 <strong>im</strong> Judentum<br />

zur Zeit des Zweiten Tempels, in: D. Sänger (Hrsg.), Psalm 22 und die Passionsgeschichten der Evangelien<br />

(BThSt 88), Neukirchen-Vluyn 2007, 33–76.<br />

61 B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003,<br />

363; vgl. bereits Gese, Psalm 22 (Anm. 59) 14–17.<br />

62 Das an Ps 22,8 erinnernde Motiv des Kopfschüttelns, V. 29a, begegnet zwar <strong>im</strong> vorliegenden Markustext<br />

in einem redaktionsverdächtigen Zusammenhang (V. 29b, das Wort der Spötter: »wehe dem, der den<br />

Tempel niederreißt und in drei Tagen aufbaut […]«, dürfte nachgetragen sein), wird aber zum Urgestein<br />

der Szene gehören; vgl. dazu nur Schenke, Christus (Anm. 59) 92; F. Schleritt, <strong>Der</strong> vorjohanneische Pas-


16<br />

Michael Theobald<br />

Das vierte Argument bedarf einer methodischen Vorbemerkung: Wer auf der Suche nach<br />

der ältesten Gestalt der Passionserzählung ist, darf sich nicht allein auf das Markusevangelium<br />

stützen, sondern muss auch das von den Synoptikern unabhängige Johannesevangelium<br />

63 und die ihm vorgegebene Passionserzählung zu Rate ziehen. Es spricht nämlich<br />

vieles dafür, dass auch diese vorjohanneische Passion ein Ableger der ältesten Passionserzählung<br />

ist, die nach Einschätzung von G. Theißen schon Anfang der 40er Jahre in Jerusalem<br />

entstanden sein könnte 64 . Für ihre Rekonstruktion zumindest in Umrissen ist ein<br />

Vergleich von Markus und Johannes also unabdingbar 65 . Hinzu kommt, dass auch der<br />

dritte Evangelist über seine Markus-Vorlage hinaus eine eigene Passionserzählung kannte<br />

– wie die anderen Evangelisten wohl aus der Paschafeier <strong>seiner</strong> Gemeinden 66 – und sie hin<br />

und wieder mit heranzog 67 . Nach Ausweis signifikanter Berührungen mit Joh muss diese<br />

vorlukanische Passion über einen Vorgänger mit der vorjohanneischen Passionserzählung<br />

verwandt gewesen sein. So komplex die Überlieferungsverhältnisse sind – wir können<br />

ihnen hier nicht weiter nachgehen –, ein synoptischer Blick auf die Sterbeszene bei Markus,<br />

Lukas und Johannes 68 ist auch bei unserer Frage, ob die älteste Passionserzählung ein<br />

verbum ult<strong>im</strong>um <strong>Jesu</strong> enthielt oder nicht, unumgänglich:<br />

Mk 15,33–38 Lk 23,44–46 [36f.] Joh 19,28–30<br />

(33) Und als die sechste Stunde<br />

ward, kam Finsternis über die<br />

gesamte Erde bis zur neunten<br />

Stunde.<br />

(44) Und es war schon ungefähr<br />

die sechste Stunde, und Finsternis<br />

kam über die ganze Erde bis<br />

zur neunten Stunde, (45) weil<br />

eine Sonnenfinsternis eintrat.<br />

------------------------<br />

sionsbericht. Eine historisch-kritische und theologische Untersuchung zu Joh 2,13–22; 11,47–14,31<br />

und 18,1–20,29 (BZNW 154), Berlin etc. 2007, 430.<br />

63 Zur Unabhängigkeit des Vierten Evangelisten von den synoptischen Evangelien (nicht unbedingt ihren<br />

Überlieferungen) vgl. M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–12 (RNT), Regensburg<br />

2009, 76–81.<br />

64 G. Theißen/A. Merz, <strong>Der</strong> historische <strong>Jesu</strong>s. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 404, verweisen auf die<br />

»Zwischen zeit« 41–44 n. Chr. unter Agrippa I., während der die »jüdische(n) Instanzen das Ius gladii besaßen<br />

und auch Christen (wie Jakobus Zebedäus, Apg 12,1 f.) hinrichteten. Im Licht dieser Erfahrungen<br />

wurde das Verhör <strong>Jesu</strong> zu einem regulären Prozess umgedeutet«.<br />

65 Vgl. T.A. Mohr, Markus- und Johannespassion. Redaktions- und traditionsgeschichtliche Untersuchung<br />

der Markinischen und Johanneischen Passionstradition (AThANT 70), Zürich 1982; Reinbold, Bericht<br />

(Anm. 58); Lührmann, Mk (Anm. 56) 227–231.<br />

66 Vgl. M. Theobald, <strong>Der</strong> Gottesdienst der Kirche und das Neue Testament. Erwägungen zu ihrem gegenseitigen<br />

Verhältnis, in: ThQ 189 (2009) 130–157, 136.<br />

67 Vgl. H. Klein, Zur Frage einer Lukas und Johannes zu Grunde liegenden Passions- und Osterüberlieferung,<br />

in: ders., Lukasstudien (FRLANT 209), Göttingen 2005, 65–84; Schleritt, Passionsbericht<br />

(Anm. 62) 109–114; vgl. auch schon V. Taylor, The Passion Narrative of St. Luke. A Critical and Historical<br />

Investigation (SNTS.MS 19), Cambridge 1972; E. Trocmé, The Passion as Liturgy. A Study in the Origin<br />

of the Passion Narratives in the Four Gospels, London 1983; F. Bovon, Le récit lucanien de la passion de<br />

Jésus (Lc 22–23), in: C. Focant (Hrsg.), The Synoptic Gospels. Source Criticism and the New Literary<br />

Criticism (BETL 110), Leuven 1993, 393–423.<br />

68 Auf die Fassung des Matthäus – eine redaktionelle Neufassung des Markustextes ohne eigenen Quellenwert<br />

–kann hier verzichtet werden.


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 17<br />

[vgl. unten V. 38] <strong>Der</strong> Vorhang des Tempels riss<br />

mitten durch.<br />

------------------------<br />

(34) Und in der neunten Stunde<br />

schrie <strong>Jesu</strong>s mit gewaltiger<br />

St<strong>im</strong>me: Eloi, Eloi, lama sabachthani?<br />

Das ist verdolmetscht: Mein<br />

Gott, mein Gott, wozu hast du<br />

mich verlassen?<br />

----------------------------------- ------------------------<br />

(35) Und einige der Dabeistehenden<br />

hörten (es), sagten:<br />

Sieh da, er ruft Elias!<br />

(36) Da lief einer, machte einen<br />

Schwamm voll mit Essig, steckte<br />

ihn auf ein Rohr und versuchte<br />

ihn zu tränken (Ps 69,22)<br />

und sagte: Lasst, wir wollen sehen,<br />

ob Elias kommt, ihn herabzunehmen.<br />

(37) <strong>Jesu</strong>s aber stieß einen gewaltigen<br />

Schrei aus und<br />

----------------------------------- ------------------------<br />

[(36) Aber auch die Soldaten verspotteten<br />

ihn,<br />

sie traten herzu und brachten<br />

ihm Essig herbei (Ps 69,22)<br />

(37) und sagten: Wenn du der<br />

König der Juden bist, rette dich<br />

selber!]<br />

(46) Und <strong>Jesu</strong>s rief mit gewaltiger<br />

St<strong>im</strong>me und sprach;<br />

------------------------------------- Vater, in deine Hände übergebe<br />

ich meinen Geist.<br />

verschied (hauchte aus). Dies aber sprach er und verschied<br />

(hauchte aus).<br />

(38) Und der Vorhang des Tempels<br />

riss entzwei von oben bis unten.<br />

(39) Als aber der Centurio, der<br />

ihm gegenüber stand, sah, dass er<br />

so (verschied) aushauchte, sprach<br />

er: Wahrlich, dieser Mensch war<br />

Gottes Sohn.<br />

(28) Danach – wusste<br />

doch <strong>Jesu</strong>s, dass schon<br />

alles vollendet war –,<br />

damit vollendet würde<br />

die Schrift, spricht er:<br />

Mich dürstet (vgl. Ps<br />

69,22).<br />

(29) Ein Gefäß voll<br />

Essig stand da. Sie<br />

steckten nun einen<br />

Schwamm voll Essig<br />

auf einen Ysopstengel<br />

und brachten (ihn)<br />

herbei an seinen<br />

Mund (Ps 69,22).<br />

(30) Als <strong>Jesu</strong>s nun den<br />

Essig genommen<br />

hatte, sprach er:<br />

Es ist vollbracht!<br />

Und neigte das Haupt,<br />

übergab den Geist.<br />

[vgl. oben V. 45] ------------------------<br />

(47) Als der Hundertschaftsführer<br />

sah, was geschah, pries er<br />

Gott und sprach: Wirklich, dieser<br />

Mensch war gerecht.<br />

------------------------


18<br />

------------------------------------- (48) Und all die zu diesem<br />

Schauspiel mit herbeigekommenen<br />

Volksscharen – als sie sahen,<br />

was geschah, schlugen sie sich an<br />

die Brust und kehrten he<strong>im</strong>.<br />

(40) Es waren aber auch Frauen<br />

da, die von ferne zuschauten, unter<br />

ihnen auch Maria Magdalena<br />

und Maria, die Mutter des Jakobus<br />

des Kleinen und des Joses,<br />

und Salome,<br />

(41) die ihm schon nachfolgten,<br />

als er in Galiläa war, und ihm<br />

dienten, und viele andere Frauen,<br />

die mit ihm nach Jerusalem hinaufgezogen<br />

waren.<br />

(49) Es standen aber alle seine<br />

Bekannten weit entfernt;<br />

auch die Frauen, die ihm von Galiläa<br />

her gefolgt waren, um alles<br />

mit anzusehen.<br />

Michael Theobald<br />

------------------------<br />

[Vgl. 19,25]<br />

<strong>Der</strong> synoptische Befund lädt zu drei Schlussfolgerungen ein:<br />

(1) Da auch das Johannesevangelium ein verbum ult<strong>im</strong>um bietet, dürfte ein entsprechendes<br />

Wort schon in der vorjohanneischen Passionserzählung gestanden haben. Dieses<br />

hätte der Vierte Evangelist dann gegen sein Wort »Es ist vollendet!« ausgetauscht 69 .<br />

Welches Wort er in <strong>seiner</strong> Passionserzählung vorgefunden hat, wissen wir nicht; dass<br />

es die Klage Ps 22,2 war, ist nicht auszuschließen 70 .<br />

(2) Lukas und Johannes zeigen, wo das »letzte Wort« <strong>Jesu</strong> ursprünglich stand: unmittelbar<br />

vor der Notiz von seinem Sterben (vgl. Lk 23,46; Joh 19,30). Das führt zu der<br />

Annahme, dass <strong>Jesu</strong>s auch nach der ältesten Passionserzählung nicht mit einem wortlosen<br />

Schrei starb – dies erzählt allein Markus! –, sondern mit einem <strong>»letzten</strong> Wort«<br />

auf den Lippen. Dass es sich bei diesem <strong>»letzten</strong> Wort« tatsächlich um Psalm 22,2 gehandelt<br />

hat, legt das Motiv der »lauten St<strong>im</strong>me« nahe (Mk 15,37; Lk 23,46 71 ), das aus<br />

den Klagepsalmen stammt und vor allem auch in der zweiten Vershälfte von Ps 22,2<br />

begegnet: »Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen, bist fern meinem<br />

Schreien, den <strong>Worte</strong>n meines Flehens« 72 .<br />

69 Dass dieses Wort »Repräsentant der Christologie von E« (des Vierten Evangelisten) ist (so J. Becker,<br />

Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 11–21 [ÖTK 4/2], Gütersloh 3 1991, 701), findet weitgehende Anerkennung.<br />

70 Vgl. Reinbold, Bericht (Anm. 58) 168: »Kurz, über die Gewissheit: sofern Johannes Ps 22,2 in <strong>seiner</strong><br />

Quelle gelesen hat, hat er ihn gestrichen, kommt man nicht hinaus«. – Für nicht überzeugend halte ich den<br />

Versuch von Schleritt, Passionsbericht (Anm. 62) 440 f., Joh 19,28 (»mich dürstet«) als letztes Wort <strong>Jesu</strong> für<br />

die vorjohanneische (und dann auch die älteste) Passionserzählung zu reklamieren. Joh 19,28 ist m. E. mit Joh<br />

19,30 zusammen zu sehen und gehört deshalb mit diesem Wort auf dieselbe literarische Stufe (vgl. unten!).<br />

71 Dass Lukas das Motiv trotz seines Austauschs von Ps 22,2 durch Ps 31,6 beibehält, ist beachtlich und<br />

könnte darauf hinweisen, dass er es auch von der Passionserzählung <strong>seiner</strong> Gemeinden her kannte.<br />

72 So die gängige Konjektur des hebräischen Texts nach H.-J. Kraus, Psalmen 1–59 (BK.AT 15/1), Neukirchen<br />

5 1978, 321 f., die übrigens 1QH XIII (V) 12 – eine Rezeption des Verses, die ihn allerdings in sein<br />

Gegenteil verkehrt – bestätigt: »Denn in der Not meiner Seele hast du mich nicht verlassen und mein


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 19<br />

(3) Das Dubletten-Argument von R. Bultmann bleibt gültig, verlangt nach den bisherigen<br />

Beobachtungen aber nach einer anderen Erklärung, die so aussehen könnte:<br />

Markus hat das laute Rufen <strong>Jesu</strong> tatsächlich verdoppelt, dabei das Psalmwort nach vorne<br />

gezogen und das dadurch entstandene zweite Rufen zu einem wortlosen, unartikulierten<br />

Schrei umgestaltet. Da das Missverständnis des Klagerufs <strong>Jesu</strong> durch die Umstehenden,<br />

die meinen, er rufe den Elija, nach verbreiteter Einschätzung auf Markus zurückgeht<br />

73 , ist auch klar, warum er das Psalmwort nach vorne gezogen hat: Es bot ihm<br />

samt <strong>seiner</strong> aramäischen Fassung die Gelegenheit, jenes ihm wichtige Elija-Motiv vor<br />

dem <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> Text unterzubringen 74 . Narrativ bewerkstelligte er das so, dass er dem<br />

eigentlich das Leben und damit das Leiden des Delinquenten verlängernden Essigtrank<br />

eine neue Motivation zuschreibt: nämlich dem gespannten Warten der Umstehenden<br />

auf Elija Raum zu geben. Doch der kommt nicht, und <strong>Jesu</strong>s stirbt mit einem lauten<br />

Schrei auf den Lippen 75 .<br />

3.2 Vom Text zur Geschichte?<br />

Wer die alte Passionserzählung verstehen will, kann sich nicht deutlich genug vor Augen<br />

führen, was es <strong>im</strong> jüdischen Kontext hieß, einen in Schande Gekreuzigten als den Messias<br />

Israels auszugeben: »Verflucht ist jeder, der am Holz hängt!« erklärt Dtn 21,23. Aber<br />

genau dies taten die Anhänger <strong>Jesu</strong>. Einen scheinbar von Gott Verfluchten und Entehrten<br />

proklamierten sie als Retter, überzeugt davon, dass Gott ihn »von den Toten auferweckt«<br />

und sich damit auf seine Seite gestellt habe. »Ihr sucht <strong>Jesu</strong>s, den Nazarener, den Gekreuzigten<br />

(ἐσταυρωμένον) 76 ; er ist auferweckt worden, er ist nicht hier; seht den Ort, wo<br />

sie ihn hinlegten […]«, sagt der Jüngling <strong>im</strong> leeren Grab, Mk 15,6.<br />

Geschrei gehört in meiner Seelenbitternis«. Das Motiv »lautes Geschrei« begegnet auch in Ps 22,25; 27,7;<br />

31,23; 69,4. F.-L. Hossfeldt, in: ders./E. Zenger, Die Psalmen 1–50 (NEB), Würzburg 1993, 148, lehnt die<br />

Konjektur ab und übersetzt V. 2b mit: »fern von meiner Hilfe […]«.<br />

73 Reinbold, Bericht (Anm. 58) 169 Anm. 261, verweist auf eine ganze Reihe von Forschern; vgl. auch<br />

Schleritt, Passionsbericht (Anm. 62) 441.<br />

74 Die Unverwechselbarkeit von aramäischem Eloi und Elija lässt das Missverständnis allerdings gekünstelt<br />

erscheinen (die hebräische Fassung »Eli, eli […]« in Mt 27,46 ist nachträgliche Glättung). Für griechischsprachige<br />

Leser war das allerdings weniger ein Problem; wie Linnemann, Studien (Anm. 58) 150, zu Recht<br />

ausführt; es zeigt nur, dass Markus V. 34 schon vorgegeben war, bevor er V. 35.36b daran redaktionell<br />

angeschlossen hat. Vgl. auch G. Dautzenberg, Elija <strong>im</strong> Markusevangelium, in: ders., Studien zur Theologie<br />

der <strong>Jesu</strong>stradition (SBA.NT 19), Stuttgart 1995, 352–375, 367 f.<br />

75 Schenke, Christus (Anm. 59) 97, u. a. vermuten, dass der laute Ruf von V. 37 derselbe wie der von<br />

V. 34a sei; es liege Gleichzeitigkeit vor. Das dürfte aber nach der narrativen Gestaltung der Szene (die Anwesenden<br />

erwarten gespannt, was nach dem Klageruf <strong>Jesu</strong> geschieht, ob Elija kommt oder nicht) ganz<br />

unwahrscheinlich sein; auch die hier gebotene Erklärung, dass Markus nicht nur den Schrei verdoppelt,<br />

sondern auch dem zweiten wahrscheinlich einen anderen, neuen Sinn gegeben hat (vgl. dazu unten 4.1),<br />

spricht gegen diese Annahme; vgl. auch Gnilka, Mk II (Anm. 58) 312 Anm. 15.<br />

76 Es ist die einzige Stelle in den Evangelien, an der die uns von Paulus her vertraute Rede vom »Gekreuzigten«<br />

begegnet (wie bei ihm, so auch hier <strong>im</strong> Perfekt!); m. E. steht die Stelle unter dem Eindruck von Dtn<br />

21,23!


20<br />

Michael Theobald<br />

Damit ist der arch<strong>im</strong>edische Punkt benannt, von dem aus die ganze Passionserzählung<br />

konstruiert ist 77 . Ihre theologische Leistung besteht nämlich pr<strong>im</strong>är darin, mit den<br />

Psalmen und weiteren Schrifttexten gegen Dtn 21,23, also mit der Schrift gegen die<br />

Schrift zu erweisen, dass der Gekreuzigte nicht der von Gott Verfluchte, sondern in<br />

Wahrheit der ungerecht leidende und verfolgte Gerechte ist, ja der Messias Israels 78 .<br />

Eine besondere Rolle spielte dabei Ps 22, weil der Beter hier nicht nur um Hilfe schreit<br />

und vor Gott klagt, sondern auch ein »Lobversprechen« abgibt, wenn er gerettet wird,<br />

der Psalm also den ganzen Weg <strong>Jesu</strong> vom Kreuz bis zu <strong>seiner</strong> Auferweckung abbilden<br />

kann: »Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Gemeinde<br />

dich preisen« (V. 23) 79 .<br />

Wer sich dies vergegenwärtigt und auch wahrn<strong>im</strong>mt, dass ein ult<strong>im</strong>um verbum zur<br />

Gattung einer derartigen Martyriumserzählung gehört, wird skeptisch gegenüber der<br />

allzu forschen Annahme, <strong>Jesu</strong>s habe sterbend tatsächlich Ps 22 gebetet 80 . »Wie es in <strong>Jesu</strong><br />

Herzen ausgesehen hat, weiß ich nicht und will ich nicht wissen […]«, schrieb R. Bultmann<br />

1927 81 . Angesichts des Gehe<strong>im</strong>nisses <strong>seiner</strong> letzten Stunde scheint solche Zurückhaltung<br />

in besonderem Maße angebracht. Zeugen für das Geschehen am Kreuz<br />

gab es nicht; die Jünger waren geflohen und die Frauen standen »fern ab« (ἀπὸ<br />

77 Wichtig (auch zur rechten Einschätzung der Rezeption von Ps 22 in der Passionserzählung [s. Anm.<br />

59.60]) ist, dass Mk 16,1–8* par. ursprünglicher Bestandteil schon der ältesten Passionserzählung war; so<br />

zuletzt überzeugend J. Becker, Die Auferstehung <strong>Jesu</strong> Christi nach dem Neuen Testament. Ostererfahrung<br />

und Osterverständnis <strong>im</strong> Urchristentum, Tübingen 2007, 15–17.<br />

78 Paulus sollte noch darüber hinausgehen, wenn er eingesteht, dass der Gekreuzigte der Verfluchte<br />

Gottes ist, dies aber <strong>im</strong> Sinne heilvoller Stellvertretung »für uns« versteht; vgl. M. Theobald, »Verflucht<br />

ist jeder, der am Holz hängt«. Die Deutung des <strong>Tod</strong>es <strong>Jesu</strong> nach Gal 3,6–14, in: BiKi 64 (2009) 158–165.<br />

79 Allerdings wird fast durchweg betont, dass die Passionserzählungen den zweiten Teil des Psalms nicht<br />

rezipieren, was nach Omerzu, Rezeption (Anm. 60) 76, den frühjüdischen Verhältnissen entspräche: »(I)n<br />

den wenigen Belegen innerhalb des auf uns gekommenen Schrifttums des Judentums zur Zeit des Zweiten<br />

Tempels (wird) vornehmlich der Klageteil von Psalm 22 aktualisiert«; E. Zenger, Ein Gott der Rache?<br />

Feindpsalmen verstehen, Freiburg 1994, 151 f., meint, dass »Mk gerade den hoffnungsvollen Schluss von<br />

Ps 22 ausblenden will«. Anders Gese, Psalm 22 (Anm. 59) 14: »Nicht die Formulierung des ersten Stichos,<br />

die Rede davon, dass Gott den Beter verlassen habe, als Ausdruck der eigentlichen Not, ist der Anknüpfungspunkt<br />

zum Golgathageschehen, sondern der in diesem Psalm mit der Errettung aus dem <strong>Tod</strong> verbundene<br />

Einbruch der βασιλεία τοῦ θεοῦ«; ähnlich auch H.J. Carey, <strong>Jesu</strong>s’ Cry form the Cross, Towards a<br />

First-Century Understanding of the Intertextual Relationship between Psalm 22 and the Narrative of<br />

Mark’s Gospel (LNTS 398), London 2009, vor allem 171–175; beide gehen von Ps 22 insgesamt als Matrix<br />

der Passionserzählung aus. Daraus folgt m. E. aber nicht, dass Markus mit dem Incipit <strong>Jesu</strong>s den ganzen<br />

Psalm in den Mund habe legen wollen, was der narrativen Dynamik der Szene widerspräche. – Kaum beachtet<br />

wird, dass Joh 20,17 (»geh aber zu meinen Brüdern […]«) par. Mt 28,10 (»geht und tut meinen Brüdern<br />

kund […]«) auf Ps 22,23 (siehe oben Anm. 77) anspielen dürfte; Justin, Dial 106,1 f., macht diesen<br />

Bezug explizit; vgl. auch Hebr 2,12 (Ps 22,23); 5,7.<br />

80 Das oft zu hörende Argument, »niemand in der Gemeinde hätte gewagt, dies fremdartige und anstößige<br />

Wort <strong>Jesu</strong>s in den Mund zu legen« (J. Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus [NTD 2], Göttingen<br />

12 1968, 269) kann wegen der Gesamtkomposition der alten Passionserzählung nicht überzeugen. Zu den<br />

unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach der Authentizität von Mk 15,34 vgl. die Übersicht bei<br />

T. Gut, <strong>Der</strong> Schrei der Gottverlassenheit. Fragen an die Theologie (ThSt[B.]140), Zürich 1994, 15–27.<br />

81 R. Bultmann, Zur Frage der Christologie (1927), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze,<br />

1. Band, Tübingen 6 1966, 85–113, 101.


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 21<br />

μακρόθεν) 82 . Ein letzter durchdringender Schrei <strong>Jesu</strong> ist nicht belegbar 83 . Zum<br />

Menschsein <strong>Jesu</strong> gehört auch, dass er in die letzten Tiefen des Sterbens hinabstieg. Wie<br />

er gestorben ist, ob <strong>im</strong> tiefen Glauben oder gar in verzweifelter Einsamkeit 84 – wir<br />

wissen es nicht. Die Quellen entziehen sich jeglichem Versuch, die Mehrdeutigkeit, die<br />

über seinem Sterben liegt, in Eindeutigkeit zu überführen.<br />

4. Zu <strong>Jesu</strong> letzten <strong>Worte</strong>n <strong>im</strong> Verständnis der Evangelisten<br />

Oft wird ein Unterschied gemacht zwischen der Sterbeszene bei Markus, die Matthäus<br />

nahezu identisch übern<strong>im</strong>mt 85 , und den beiden anderen Evangelisten, vor allem Johannes.<br />

<strong>Der</strong> älteste Evangelist, so heißt es, habe die Verzweiflung des Sterbenden, seine Gottverlassenheit,<br />

noch ungeschönt in Szene gesetzt 86 , wohingegen bei Johannes alles ins österliche<br />

Licht getaucht sei. Aber dieses Urteil geht an den Texten vorbei. Es verkennt, dass alle<br />

vier Evangelisten, ja schon die älteste Passionserzählung, das Geschehen vom arch<strong>im</strong>edischen<br />

Punkt der Ostererfahrung her erzählen. Insofern können die Unterschiede zwischen<br />

den einzelnen Darstellungen der Szene nicht prinzipieller, sondern nur gradueller Natur<br />

sein. Lediglich ihr theologischer Referenzrahmen ist jeweils ein anderer.<br />

4.1 Des Gekreuzigten Schrei nach Gottes rettendem Eingreifen –<br />

die Sicht des Markus<br />

Dass Gott auf Golgatha nicht abwesend, sondern verborgen anwesend ist, verdeutlicht<br />

die markinische Darstellung schon dadurch, dass sie die Sterbeszene von zwei h<strong>im</strong>mlischen<br />

Zeichen eingerahmt sein lässt, der dreistündigen Finsternis »über der ganzen<br />

82 Selbst diese Notiz ist nicht über alle Zweifel erhaben, da auch sie die Psalmen durchsch<strong>im</strong>mern lässt:<br />

»Meine Freunde und meine Nächsten sind mir gegenüber hingetreten und haben sich hingestellt, und<br />

meine engsten (Angehörigen) haben sich in der Ferne (ἀπὸ μακρόθεν) hingestellt« (Ps 38,12 LXX).<br />

83 Wie oben gezeigt, ist Mk 15,37 (ohne Psalmwort) redaktionell. »<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> trat nach mehrstündigem<br />

<strong>Tod</strong>eskampf durch Ersticken ein« (Lührmann, Mk [Anm. 56] 260). Dazu passt kein »lauter Schrei«. Historisierend<br />

wie auch sonst in <strong>seiner</strong> Passionsauslegung argumentiert R. Pesch, Das Markusevangelium,<br />

II. Teil (HThK 2/2), Freiburg 1977, 497: »<strong>Der</strong> ›laute Schrei‹ dürfte <strong>seiner</strong> Ungewöhnlichkeit wegen notiert<br />

und gedeutet sein«.<br />

84 Vgl. R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen <strong>Jesu</strong>s (SAH<br />

1960), Heidelberg 3 1962, 12.<br />

85 Auf seine Darstellung verzichte ich <strong>im</strong> Folgenden auch aus Platzgründen; verwiesen sei aber auf<br />

U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28) (EKK I/4), Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 2002, 330–<br />

354 (auch zur Ikonographie des Kreuzes).<br />

86 So vor allem Systematiker (wie etwa J. Moltmann), deren St<strong>im</strong>men Gut, Schrei (Anm. 80) 27–65,<br />

zusammen gestellt hat; J.B. Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer<br />

Gesellschaft, Freiburg 2006, 24, will die »Gottesmystik <strong>Jesu</strong>« überhaupt von seinem »Schrei am Kreuz« her<br />

begreifen: »Sie ist in einzigartiger Weise eine Mystik des Leidens an Gott.« Vgl. auch J. Yocum, A Cry of<br />

<strong>Der</strong>eliction? Reconsidering a Recent Theological Commonplace, in: International Journal of Systematic<br />

Theology 7 (2005) 72–80 (zu H.U. von Balthasar).


22<br />

Michael Theobald<br />

Erde« und dem Zerreißen des Tempelvorhangs »von oben bis unten«. Dass es sich bei<br />

der Notiz zur Finsternis nicht um einen »Wetterbericht« 87 zur Region Jerusalem handelt,<br />

begreift, wer die Anspielung auf Amos 8,9 durchschaut: »Und an jenem Tag,<br />

Spruch Gottes des Herrn, lasse ich die Sonne untergehen am Mittag, da bringe ich<br />

Finsternis über die Erde am helllichten Tag«. Dem entsprechend versteht Markus die<br />

Finsternis als ein Zeichen des Gerichts 88 . Dass auch der Gekreuzigte über drei Stunden<br />

in dieser Finsternis versinkt, zeigt ihn auf der Seite derer, denen das Gericht Gottes gilt.<br />

Das könnte auf sein stellvertretendes <strong>Tod</strong>esleiden hindeuten 89 , zumal Markus <strong>Jesu</strong>s<br />

dessen letztes Wort am Ende dieser Finsternis herausschreien lässt (»in der neunten<br />

Stunde«). So gewinnt der Hörer den Eindruck, dass mit <strong>Jesu</strong> Ruf (»Mein Gott, mein<br />

Gott, wozu hast du mich verlassen?«) die Finsternis endet und das Sonnenlicht zurückkommt<br />

90 . Die genaue griechische Wiedergabe des aramäischen Psalmworts mit seinem<br />

Fragewort »wozu« (εἰς τί) durch den Erzähler unterstreicht, dass die Frage nicht zurück<br />

in die Vergangenheit geht, um den Grund von Finsternis und Gottverlassenheit zu<br />

erforschen, sondern in die Zukunft gerichtet ist – oder wie C. Burchard treffend formuliert:<br />

»<strong>Jesu</strong>s drängt Gott zum Handeln, indem er ihn rhetorisch anschreit, wozu oder<br />

warum er am Kreuz hängt. Er klagt den Zweck seines <strong>Tod</strong>es ein« 91 .<br />

Dass dieser Zweck nur durch den <strong>Tod</strong> hindurch, nicht unter <strong>seiner</strong> mirakulösen Umgehung<br />

erreicht werden kann, veranschaulicht Markus sehr nachdrücklich mittels des<br />

87 So C. Burchard, Markus 15,34, in: ZNW 74 (1983) 1–11, 7, zu Pesch, Mk II (Anm. 83) 493 f., der jegliche<br />

symbolische Deutung der Episode von sich weist. Weiterführend ist P.G. Klumbies, <strong>Der</strong> Mythos bei<br />

Markus (BZNW 108), Berlin 2001, 267 f.: »Angesichts der Bedeutung der Tages- und Nachtzeiten sowie der<br />

Lichtverhältnisse für das mythische Denken erübrigt es sich, nach historischen Hintergründen dieser Angabe,<br />

etwa einer Sonnenfinsternis, zu suchen«.<br />

88 Auch Schenke, Christus (Anm. 59) 95, schließt aus der Anspielung auf Am 8,9: »Somit dürfte mit<br />

V. 33 angedeutet sein, dass sich <strong>im</strong> Kreuz <strong>Jesu</strong> das endzeitliche Gericht vollzieht«. Aber warum nur über<br />

»das Judentum und den Tempel«?<br />

89 So bereits G. Delling, <strong>Der</strong> Kreuzestod <strong>Jesu</strong> in der urchristlichen Verkündigung, Göttingen 1972, 70,<br />

der von Mk 10,45 her deutet: »Wenn <strong>Jesu</strong>s mit seinem Sterben das antallagma gibt, das die anderen als<br />

Schuldverhaftete nicht geben können, um ihre vor Gott verlorene Existenz zu retten (8,37), dann trägt er<br />

am Kreuz ihre Schuld, dann geht er für sie in die Gottferne, die die äußerste Folge ihrer Schuld ist, das<br />

Verlorensein«. Zu skeptisch gegenüber dieser Deutung ist Burchard, Markus (Anm. 87) 7 f.<br />

90 So mit guten Gründen Klumbies, Mythos (Anm. 87) 269: »In der neunten Stunde, in die das Ende der<br />

Dunkelheit fällt, stößt <strong>Jesu</strong>s seine letzten <strong>Worte</strong> hervor (V. 34). Mit der doppelten Zeitangabe V. 33 Ende<br />

und V. 34 Anfang stellt der Erzähler die exakte Abst<strong>im</strong>mung der Geschehnisse sicher. <strong>Der</strong> Ruf <strong>Jesu</strong> von<br />

V. 34 koinzidiert mit der Aufhellung der verdunkelten Szenerie. Be<strong>im</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> ist es hell« (unter Verweis<br />

auf R. Zwick, Montage <strong>im</strong> Markusevangelium. Studien zur narrativen Organisation der ältesten <strong>Jesu</strong>serzählung<br />

[SBB 18], Stuttgart 1989, 439); vgl. auch ders., Das Konzept des »mythischen Raumes« <strong>im</strong><br />

Markusevangelium, in: JBTh 23 (2008) 101–121, 114 f. Anders Janowski, Konfliktgespräche (Anm. 61)<br />

363 f.: »Gott, der vom Gekreuzigten mit der ›Wozu‹-Frage angeredet wird (›du‹), […] schweigt. Und auch<br />

der Erzähler Markus gibt vorerst mit keinem Wort zu erkennen, wie und wann Gott reagiert. Im Kreuzigungsbericht<br />

gibt es ›keinen verborgenen Lichtglanz‹, alles ist Finsternis«; so richtig es ist, wenn Janowski<br />

sich dagegen wehrt, die Klage zu einem »bedeutungsschwache(n) Durchgangsphänomen zur Rettungsgewissheit«<br />

abzumildern, so gewiss dürfen andererseits die h<strong>im</strong>mlischen Zeichen <strong>im</strong> markinischen Erzählduktus<br />

doch nicht einfach abgeblendet werden.<br />

91 Burchard, Markus (Anm. 87) 115. Zur sachlich zutreffenden Wiedergabe des aramäischen Frageworts<br />

lema durch εἰς τί vgl. Janowski, Konfliktgespräche (Anm. 61) 360 Anm. 56.


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 23<br />

von ihm eingebrachten Missverständnisses des Psalmworts durch jüdische Zuschauer,<br />

die meinen gehört zu haben, er rufe nach Elija, damit dieser »komme« und ihn vom<br />

Kreuz »herabnehme« (καθελεῖν αὐτόν) 92 . Doch erst der verstorbene <strong>Jesu</strong>s wird durch<br />

Josef von Ar<strong>im</strong>athäa vom Kreuz »herabgenommen« werden 93 . Elija, hier vielleicht<br />

schon in <strong>seiner</strong> Rolle als »Nothelfer« gedacht, 94 kommt nicht, denn – wie die Leser des<br />

Evangeliums bereits wissen – der Prophet, der vor Zeiten zu Gott entrückt worden war<br />

und nun am Ende der Tage zurückerwartet wird, ist <strong>im</strong> Täufer, der auch umgebracht<br />

wurde, schon gekommen (Mk 9,11–13). So erläutert die Episode samt ihren Assoziationen<br />

ein früheres Wort aus dem Evangelium: »<strong>Der</strong> Menschensohn muss vieles leiden<br />

und von den Ältesten und den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen und<br />

getötet werden und nach drei Tagen auferstehen« (Mk 8,31).<br />

Wenn deshalb <strong>Jesu</strong>s mit einem gewaltigen Schrei auf den Lippen stirbt, ohne dass<br />

Elija das Mirakel wirkt, könnte dieser Schrei nach der Konzeption des ältesten Evangelisten<br />

auch ein Siegesschrei sein 95 , ausgestoßen <strong>im</strong> festen Wissen darum, dass nun sein<br />

Vater nicht allein ihn durch den <strong>Tod</strong> hindurch erretten, sondern seinen <strong>Tod</strong> auch als<br />

»das für viele vergossene Blut des Bundes« (Mk 14,24) der Welt heilvoll zuwenden wird.<br />

Genau dies bestätigen die beiden abschließenden Episoden der Sterbeszene, das Zerreißen<br />

des Tempelvorhangs und die Reaktion des römischen Centurio auf <strong>Jesu</strong> <strong>Tod</strong>:<br />

Während das vom H<strong>im</strong>mel her gewirkte zweite Zeichen das Ende des Tempels ankündigt<br />

– angesichts des vergossenen Bundesblutes <strong>Jesu</strong> ist der Kult dort überflüssig<br />

geworden! 96 –, lässt die Reaktion des Centurio (»Wahrlich, dieser Mensch war Gottes<br />

Sohn«) den späteren Weg des Evangeliums zu den Völkern erahnen 97 – eben weil <strong>Jesu</strong><br />

Bundesblut »vielen« zugute kommen soll.<br />

92 In der vorgegebenen Passionserzählung muss es aber ein römischer Soldat gewesen sein, der ihn mit<br />

Essig zu tränken versuchte (vgl. Joh 19,29). Diese Spannung bestätigt die markinische Überarbeitung.<br />

93 Mk 15,46 benutzt dasselbe Verb wie Mk 15,36: »und er (sc. Josef von Ar<strong>im</strong>athäa) kaufte ein Leinentuch,<br />

nahm ihn ab (καθελὼν αὐτόν) wickelte ihn in das Tuch und legte ihn in ein Grab, das in einen Felsen<br />

gehauen war […]«.<br />

94 Vgl. M. Öhler, Elia <strong>im</strong> Neuen Testament. Untersuchungen zur Bedeutung des alttestamentlichen Propheten<br />

<strong>im</strong> frühen Christentum (BZNW 88), Berlin u. a. 1997, 139–141.147: Die »Nothelfertradition«, entspricht<br />

s. E. »am besten dem Wortlaut des Textes«.<br />

95 Vgl. O. Betz, Art. φωνή, in: ThWNT IX (1973) 272–296, 287, wo er belegt, dass der Topos des »großen<br />

Schreis« in der frühjüdischen Literatur »vor allem das Reden von Engeln, Geistern und Geistträgern charakterisiert«.<br />

Die Bezeichnung des Sterbens <strong>Jesu</strong> mit ἐκπνέω = »aushauchen« dürfte auf <strong>Jesu</strong>s »selbst als<br />

Geistträger« abheben, so Pesch, Mk II (Anm. 83) 497; vgl. des Νäheren M. Theobald, Gottessohn und<br />

Menschensohn. Zur polaren Struktur der Christologie <strong>im</strong> Markusevangelium, in: StNTU 13 (1988) 37–79,<br />

65 mit Anm. 112.<br />

96 Zu diesem Verständnis des Zeichens vgl. K. Paesler, Das Tempelwort <strong>Jesu</strong>. Die Traditionen von Tempelzerstörung<br />

und Tempelerneuerung <strong>im</strong> Neuen Testament (FRLANT 184), Göttingen 1999, 38 f.; vgl. auch<br />

Fritzen, Gott (Anm. 50) 348–354.<br />

97 So ist das vieldiskutierte Wort des Centurio weder ein <strong>im</strong> Sinne des Markus bereits vollgültiges Christusbekenntnis<br />

noch lediglich das gottesfürchtige Zeugnis eines Römers; es präfiguriert vielmehr die spätere<br />

Antwort der Heidenchristen (vgl. M. Frenschkowski, Offenbarung und Epiphanie II [WUNT II/80],<br />

Tübingen 1997, 202; W .Fritzen, Gott [Anm. 50] 354–357). – Zur markinischen Szene insgesamt vgl. noch<br />

C. Rose, Theologie als Erzählung <strong>im</strong> Markusevangelium (WUNT II/236), Tübingen 2007, 227–249.


24<br />

Michael Theobald<br />

<strong>Jesu</strong> letztes Wort <strong>im</strong> Angesicht des <strong>Tod</strong>es, den allein der Schöpfergott zum Heil<br />

wenden kann, bringt also nach der soteriologischen Konzeption des Markus – das zeigt<br />

unser knapper Durchgang durch die Szene – in der Tat den Sinn seines Lebens auf den<br />

Punkt und erfüllt damit die Erwartung, die an ein ult<strong>im</strong>um verbum gestellt wird.<br />

Nichts anderes klagt dieses harte Wort ein, als dass Gott nun besiegeln möge, wozu »der<br />

Menschensohn« gekommen ist, »nicht sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und<br />

sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mk 10,45).<br />

4.2 Des Gekreuzigten Zuwendung zu den Menschen und zu seinem Vater –<br />

die Sicht des Lukas<br />

Bietet Markus nur ein ult<strong>im</strong>um verbum, so hat Lukas deren drei. Kompositionell gehören<br />

sie zusammen: Die beiden Gebete <strong>Jesu</strong> an den Vater – am Anfang und gegen Ende<br />

der Kreuzigungsszene (Lk 23,33-49) – rahmen sein Amen-Wort in der Mitte, mit dem<br />

er sich an den Schächer zu <strong>seiner</strong> Rechten wendet. Dass in <strong>Jesu</strong> Passion zur Erfüllung<br />

kommt, was seinen Weg nach Lukas insgesamt auszeichnet, bringen die beiden ersten<br />

<strong>Worte</strong> zum Ausdruck: »Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu<br />

retten, was verloren ist« (Lk 19,10) 98 .<br />

Auf wen bezieht sich seine Fürbitte Lk 23,34: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen<br />

nicht, was sie tun«? Betet <strong>Jesu</strong>s hier nur für seine Henker, also die römischen Soldaten,<br />

die ihre Pflicht tun, ohne zu wissen, warum? 99 Oder auch für diejenigen, die seine<br />

Kreuzigung nach lukanischer Darstellung vor allem zu verantworten haben, die jüdische<br />

Obrigkeit? 100 Zugunsten der ersten Möglichkeit spricht, dass Lukas das von ihm<br />

selbst geformte Gebet in die ihm von Markus her überlieferte Episode der Kreuzigung<br />

<strong>Jesu</strong> und der Verteilung <strong>seiner</strong> Kleider eingebettet hat. Subjekt dieser beiden Aktionen<br />

sind aber selbstredend die römischen Soldaten. Nur sagt Lukas das nicht ausdrücklich.<br />

Von Lk 23,26 an (»und als sie <strong>Jesu</strong>s hinausführten«) bis zu Lk 23,33 (»und als sie kamen<br />

an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort«) bleiben die<br />

Subjekte des Geschehens unbest<strong>im</strong>mt 101 . Hinzu kommt, dass der Abschlusssatz des<br />

98 Vgl. E. Schweizer, Das Evangelium nach Lukas (NTD 3), Göttingen 1982, 225: »Fragt man nach der<br />

Heilsbedeutung des zum <strong>Tod</strong> führenden Dienstes <strong>Jesu</strong>, dann sieht 19,10 ihn als ›Suchen und Retten des<br />

Verlorenen‹. Darum ist es Lukas so wichtig, dass der Gekreuzigte unter Gottlosen zu finden ist (22,37), sich<br />

ihnen zuwendet und ihnen die Umkehr schenkt (19,8; 22,51; 23,32.34.40–42), wie er es in seinem ganzen<br />

Wirken tat […]«.<br />

99 Allerdings »verspotten« sie ihn kurz darauf, indem sie in Lk 23,36 f. sagen: »Wenn du der König der<br />

Juden bist, rette dich selbst!« – Nur auf die Soldaten beziehen das Gebet Flusser, Geschichte (Anm. 29);<br />

Blum, Rezeption (Anm. 29); Kistemaker, Words (Anm. 9) 189 f.<br />

100 So zuletzt Bovon, Lk IV (Anm. 39) 461 f.; vgl. auch T. Söding, »Als sie sahen, was geschehen war …«<br />

(Lk 23,49). Zur narrativen Soteriologie des lukanischen Kreuzigungsberichts, in: ZThK 104 (2007) 381–<br />

403, 389: <strong>Jesu</strong>s »fasst nicht nur die römischen Soldaten ins Auge; nach dem vorangehenden Kontext denkt<br />

er mehr noch an das Volk der Gaffer und an die Spötter unter den Oberen«.<br />

101 Hierauf verweist mit guten Textbeobachtungen vor allem Bovon, Lk IV (Anm. 39), 449 f.: »Es liegt<br />

ihm (sc. Lukas) vor allem daran, die Frage (sc. nach dem Subjekt von V. 26) in der Schwebe zu lassen« (an-


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 25<br />

Pilatusprozesses lautet: »<strong>Jesu</strong>s aber übergab er ihrem Willen« (Lk 23,25). Gemeint ist<br />

hier die jüdische Obrigkeit, deren Schatten über allem liegt, was nachfolgend erzählt<br />

wird. Wichtig zum Verständnis der Fürbitte <strong>Jesu</strong> ist schließlich, dass die Apostelgeschichte<br />

das Motiv der Unwissenheit wiederholt aus ihr aufgreift, um es explizit auf die<br />

jüdischen Autoritäten, ja überhaupt auf die ἄνδρες Ἰσραηλῖται zu beziehen: Sie sind<br />

es, die κατὰ ἄγνοιαν, d.h. in Unwissenheit, den Ratschluss Gottes vollzogen haben,<br />

indem sie <strong>Jesu</strong>s kreuzigen ließen 102 . Das führt dann doch zu dem Schluss, dass <strong>Jesu</strong>s<br />

seine Fürbitte um Vergebung 103 zumindest auch, wenn nicht vor allem für die ausspricht,<br />

die ihn verantwortlich ans Kreuz gebracht haben 104 . Lukas zeichnet damit <strong>im</strong><br />

<strong>Spiegel</strong> dieses Gebets einen <strong>Jesu</strong>s, der <strong>seiner</strong> eigenen Weisung zur Feindesliebe entspricht<br />

und damit zugleich zur Nachahmung einlädt: »Segnet, die euch verfluchen,<br />

betet für die, die euch schmähen« (Lk 6,27). Stephanus wird der erste sein, der <strong>Jesu</strong><br />

Beispiel folgen wird (Apg 7,60) 105 .<br />

Bewegenden Ausdruck findet <strong>Jesu</strong> Zuwendung zu den Verlorenen in seinem zweiten<br />

Wort, Lk 23,43. Hier wendet er sich einem Verbrecher zu, der am Tiefpunkt <strong>seiner</strong><br />

gescheiterten Existenz seine Schuld erkennt und alle Hoffnung auf <strong>Jesu</strong>s wirft: »<strong>Jesu</strong>s<br />

106 , gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst« (Lk 23,42). An der Antwort<br />

<strong>Jesu</strong> sticht gewiss das »Heute« hervor: »Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir <strong>im</strong><br />

Paradies sein«. Nicht nur, dass dieses »Heute« für die <strong>im</strong> Hintergrund stehende individuelle<br />

Eschatologie höchst aufschlussreich ist – schon <strong>im</strong> <strong>Tod</strong> (lange vor der Auferstehung<br />

der Toten am Ende der Zeit) vermag die Seele an einen Ort des Glücks zu ge-<br />

ders M. Wolter, Das Lukasevangelium [HNT 5], Tübingen 2008, 751). Lukas differenziert erst von V. 35 f.<br />

ab, wo er nacheinander zuerst vom »Volk« (ὁ λαός) (V. 35a), dann von den »Hohenpriestern« (οἱ ἄρχοντες)<br />

(V. 35b) und schließlich von den »Soldaten« (οἱ στρατιῶται) (V. 36) spricht.<br />

102 Vgl. Apg 3,17 f.: »Und jetzt, Brüder, ich weiß, dass ihr aus Unwissenheit gehandelt habe, wie auch eure<br />

Oberen. Gott aber hat auf diese Weise erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten zuvor verkündet hat,<br />

dass sein Messias leiden muss […]«; ähnlich auch 13,27.<br />

103 Wolter, Lk (Anm. 101) 757, verweist auf den verbreiteten Topos der sog. »Unwissenheitssünden«, die<br />

als vergebbar gelten, weil sie aus Versehen begangen werden, <strong>im</strong> Unterschied zu solchen »mit erhobener<br />

Hand« (vgl. Num 15,22–31), also vorsätzlichen Sünden. Aber dieser Topos liegt hier fern; auf das Gegenüber<br />

»Ratschluss« bzw. »Wille« Gottes und Tun der Menschen (auch vorsätzliches) kommt es an (vgl. Apg 2,23 f.;<br />

3,17 f.), wobei die »Unwissenheit« der Täter daraus resultiert, dass sie Werkzeug Gottes sind, ohne darum<br />

zu wissen. Kurzum: Es geht um theologische, nicht um ethische Unwissenheit.<br />

104 So ist in der Sicht des Lukas – was die Verkündigung des Evangeliums in Jerusalem und unter den<br />

Juden betrifft – nach Ostern und Pfingsten auch wirklich ein Neuanfang möglich. Dazu passt Lk 12,10:<br />

»Und jeder, der ein Wort gegen den Menschensohn sagt, wird Vergebung erlangen; dem aber, der gegen den<br />

Heiligen Geist lästerlich redet, dem wird nicht vergeben werden«.<br />

105 Ihm folgen der Herrenbruder Jakobus, der Hegesipp zufolge bei <strong>seiner</strong> Steinigung betete: »Ich bitte<br />

dich, Herr, Gott und Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« (Eusebius, HE II 23,16) und<br />

die Christen von Vienne und Lyon, über die der Martyriumsbericht sagt: »Für die Peiniger beteten sie wie<br />

der vollkommene Märtyrer Stephanus: ›Herr rechne ihnen diese Sünde nicht an!‹« (Eusebius, HE V 2,5).<br />

106 Bovon, Lk IV (Anm. 39) 468: »In allen Evangelien ist er einer der wenigen, die es wagen, sich an<br />

Christus zu wenden, indem sie ihn bei seinem Namen nennen: ›<strong>Jesu</strong>s‹ (vgl. 4,34; 8,28; 17,13; 18,38; Mk 1,24;<br />

5,7; 10,47)«.


26<br />

Michael Theobald<br />

langen, in das Paradies 107 –, vor allem christologisch ist dieses »Heute« bemerkenswert:<br />

<strong>Jesu</strong>s spricht in <strong>seiner</strong> Vollmacht (»amen, ich sage dir«) dem reuigen Sünder das Leben<br />

zu, weil er bei seinem Eintritt in seine österlich-messianische Herrschaft <strong>seiner</strong> gedenken<br />

und ihm Gemeinschaft »mit ihm« schenken wird. Das Tröstliche an dieser Szene<br />

besteht wohl darin, dass die Ansage des Heils <strong>im</strong> »Heute«, die sich durch das ganze<br />

Evangelium zieht 108 , auch am Ende <strong>im</strong> Angesicht des <strong>Tod</strong>es erklingt, also in der Stunde,<br />

die eigentlich alles zur Vergangenheit werden lässt, in der es keine Gegenwart <strong>im</strong><br />

»Heute« mehr zu geben scheint.<br />

Den Ermöglichungsgrund für solchen Zuspruch des Lebens veranschaulicht die Sterbeszene<br />

mit dem dritten Wort <strong>Jesu</strong>, Lk 23,46. Lukas streicht Ps 22,2 und legt <strong>Jesu</strong>s ein<br />

anderes Psalmwort in den Mund, dem er die Vater-Anrede hinzufügt: »Vater, in deine<br />

Hände lege ich meinen Geist« (Ps 31,6) 109 . In mehrfacher Hinsicht ist dieses Gebet<br />

bemerkenswert.<br />

Zum einen wollte Lukas wohl den starken Ausdruck der Gottverlassenheit <strong>Jesu</strong> in<br />

<strong>seiner</strong> <strong>Tod</strong>esstunde vermeiden. In seinem ganzen Werk hatte er ihn als Beter porträtiert,<br />

der mit seinem Vater in Verbindung steht 110 , und das sollte gerade in <strong>seiner</strong> letzten<br />

Stunde so bleiben. Deswegen erhält auch die vorweg stehende Notiz von der Finsternis<br />

bei ihm eine andere, weniger dramatische Bedeutung als bei Markus. Lukas<br />

verbindet sie mit der Notiz vom Zerreißen des Tempelvorhangs zu zwei h<strong>im</strong>mlischen<br />

Zeichen, einem kosmischen und einem geschichtlichen, die vorweg die Bedeutung des<br />

Geschehens ankündigen, und löst das letzte Wort <strong>Jesu</strong> von diesen Zeichen. <strong>Der</strong> Leser<br />

hat nicht den Eindruck, dass <strong>Jesu</strong>s von ihnen, insbesondere der Finsternis 111 , selbst<br />

betroffen wäre.<br />

Worauf es Lukas vielmehr ankommt, ist die Freiheit und Souveränität <strong>Jesu</strong>, in der er<br />

stirbt und die sein Gebet zum Ausdruck bringen soll. »Vater, in deine Hände lege ich<br />

107 Bovon, Lk IV (Anm. 39) 471, stellt sich das so vor, »dass Lukas, wie er das be<strong>im</strong> armen Lazarus (16,22)<br />

gemacht hat, die Gerechten zwischen ihrem Hinschied und der letzten Auferstehung an einen Ort des<br />

Glücks setzt: Die ›Brust Abrahams‹ ist eine Art, davon zu sprechen, das ›Paradies‹ ist eine andere«; vgl. auch<br />

H. Giesen, ›Noch heute wirst du mit mir <strong>im</strong> Paradies sein‹ (Lk 23,43). Zur individuellen Eschatologie <strong>im</strong><br />

lukanischen Doppelwerk, in: C. G. Müller (Hrsg.), »Licht zur Erleuchtung der Heiden und Herrlichkeit für<br />

dein Volk Israel«. Studien zum lukanischen Doppelwerk (FS J. Zmijewski) (BBB 151), Frankfurt 2005,<br />

151–177.<br />

108 Vgl. Lk 2,11; 4,21; 5,26: 19,5.9.<br />

109 Vgl. E. Bons, Das Sterbewort <strong>Jesu</strong> nach Lk 23,46 und sein alttestamentlicher Hintergrund, in: BZ.NF<br />

38 (1994) 93–101. – Bovon, Lk IV (Anm. 39) 491 Anm. 45, fasst den Ertrag der jüngsten Studien zu diesem<br />

Gebet zusammen.<br />

110 Die Vater-Anrede ist Kennzeichen des jesuanischen Betens bei Lukas – entsprechend dem Gebet, das<br />

er seine Jünger lehrt: vgl. Lk 10,21 f.; 11,2; 22,42; 23,34 (vgl. auch 3,21; 6,12 zum betenden <strong>Jesu</strong>s); zum<br />

Ganzen L. Feldkämper, <strong>Der</strong> betende <strong>Jesu</strong>s als Heilsmittler nach Lukas (VMStA 29), St. Augustin 1978.<br />

111 Vgl. dazu Frenschkowski, Offenbarung (Anm. 97) 200: »[…] von Lukas vielleicht nach Amos 8,9 f.<br />

zur – astronomisch natürlich unmöglichen – Sonnenfinsternis rationalisiert«. Diese ist für Lk – wie das<br />

Zerreißen des Tempelvorhangs – ein prodigium, das die Bedeutung und Größe des Sterbens anzeigt, womit<br />

auch Profanhistoriker <strong>seiner</strong> Zeit rechnen konnten: vgl. die Belege bei Schenke, Christus (Anm. 59) 95<br />

Anm. 14.


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 27<br />

meinen Geist« 112 . <strong>Jesu</strong>s besitzt die »Macht«, »dem <strong>Tod</strong> jetzt entgegenzutreten, bevor er<br />

ihn besiegen wird« 113 .<br />

Schließlich ist dieses souveräne Sterben <strong>im</strong> Vertrauen auf den Vater für Lukas auch<br />

die Erfüllung des Märtyrer- und Prophetengeschicks in <strong>Jesu</strong>s. Unbeschadet <strong>seiner</strong> soteriologischen<br />

Funktion, den Menschen allererst den Weg »in sein Reich« zu eröffnen<br />

114 , besitzt es auch Vorbildfunktion. Lukas hat die Passion – mit den <strong>Worte</strong>n von<br />

E. Schweizer – so dargestellt, dass sie »den gesamten Dienst <strong>Jesu</strong> umfasst, in dem eine<br />

neue Möglichkeit menschlichen Lebens und Sterbens geschaffen wird« 115 . Indiz dafür<br />

ist, dass Stephanus die letzte Bitte des Gekreuzigten für sich wiederholt: »Herr <strong>Jesu</strong>s,<br />

n<strong>im</strong>m meinen Geist auf« (Apg 7,59). Nicht grundlos ist Lk 23,46 auch zu einem christlichen<br />

Sterbewort geworden, mit dem auf den Lippen schon manche gestorben sind 116 .<br />

4.3 Vermächtnis und Vollendung –<br />

die Sicht des Johannesevangeliums<br />

Die johanneische Kreuzigungsszene bietet eigentlich vier <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong>, die paarweise<br />

angeordnet sind: die <strong>Worte</strong> an seine Mutter und den geliebten Jünger – die Tradition<br />

zählt sie als ein Wort – sowie die vom Durst und der Vollendung. Die beiden letzten<br />

112 Lk 23,46: […] παρατίθεμαι τὸ πνεῦμά μου. Semantisch entspricht das lukanische Gebet Joh 19,30c:<br />

»er gab den Geist auf« (παρέδωκεν τὸ πνεῦμα). Diese lkn/joh Parallele könnte Indiz dafür sein, dass<br />

Lukas in der Passionserzählung <strong>seiner</strong> Gemeinden einen entsprechenden Satz vorgefunden und ihn dann<br />

in sein Psalmwort transformiert hat; vgl. Schleritt, Passionsbericht (Anm. 62) 438 f. – M. Müller, Die<br />

Hinrichtung des Geistträgers. Zur Deutung des <strong>Tod</strong>es <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> lukanischen Doppelwerk, in: R. Gebauer/<br />

M. Meiser (Hrsg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk) (MThSt 76), Marburg 2003,<br />

45–61, interpretiert das Gebet als Rückgabe des Heiligen Geistes durch den Geistträger <strong>Jesu</strong>s an den Vater.<br />

113 Bovon, Lk IV (Anm. 39) 491. – Die lukanische Darstellung, dass <strong>Jesu</strong>s trotz der Schande <strong>seiner</strong> Verurteilung<br />

zum Kreuz seine innere Freiheit bewahrt habe, könnte auch mit der Sensibilität des Evangelisten<br />

für die hellenistische Sicht zusammenhängen, nach der genau solche Einstellung Größe zeigt, Kennzeichen<br />

eines noble death ist; vgl. Sterling, Mors (Anm. 18) 393–400 (seine Behauptung, Lukas habe den <strong>Tod</strong> des<br />

Sokrates als Modell vor Augen gehabt, lässt sich aber nicht erweisen); W. Kraus, Das jüdische Evangelium<br />

und seine griechischen Leser. Zum lukanischen Verständnis der Passion <strong>Jesu</strong>, in: Gebauer/Meiser (Hrsg.),<br />

Gegenwart (Anm. 112) 29–43. – Zum Hintergrund vgl. J. W. van Henten/F. Avemarie, Martyrdom and<br />

Noble Death. Selected Texts from Graeco-Roman, Jewish and Christian Antiquity, London 2002.<br />

114 Zur »narrativen Soteriologie« der lukanischen Passionserzählung vgl. die Studie von Söding, Soteriologie<br />

(Anm. 100).<br />

115 Schweizer, Lk (Anm. 98) 226. »Wenn Glaube nicht nur Übernahme einer Formel oder eines Schemas<br />

ist, muss es gewisse Erfahrungsanalogien zwischen <strong>Jesu</strong>s und Jüngerschar geben […]«. Lk 22,27 etwa bedeute,<br />

»dass sein dienendes Leiden« der Gemeinde »die Möglichkeit des Dienens, also eine Art ‚Nach-Erfahrung’<br />

[…] der Kraft Gottes ermöglicht«.<br />

116 Guthke, <strong>Worte</strong> (Anm. 1) 161 f., nennt u. a. Johannes Hus, Thomas Becket und Kardinal Newman.<br />

Justin, Dial 105,5, empfiehlt den Christen, sie sollten »am Lebensende beten« wie <strong>Jesu</strong>s am Kreuz. – Aber<br />

Lk 23,46 ist nicht nur Sterbegebet, es hat auch Eingang in das Abendgebet der Kirche gefunden: In manus<br />

tuas, domine, commendo spiritum meum (Responsorium in der Komplet). Vgl. auch Wilkinson, Words<br />

(Anm. 9) 80: »Down through the centuries these words of Psalm 31.5 have been used by Jewish children<br />

before they lay down to sleep”; Authorised Daily Prayer Book of the United Hebrew Congregations of the<br />

British Empire 15 1935, 329.


28<br />

Michael Theobald<br />

stammen vom Evangelisten, während die Episode mit der Mutter und dem geliebten<br />

Jünger auf die nachträgliche Redaktion des Buches zurückgeht 117 .<br />

Entgegen der Tradition von den sieben letzten <strong>Worte</strong>n wird man mit der neueren<br />

Exegese festhalten, dass es bei der Verfügung <strong>Jesu</strong> vom Kreuz nicht um die Versorgung<br />

der Mutter nach dem <strong>Tod</strong> ihres Sohnes durch einen dazu Bevollmächtigen geht. Die<br />

bürgerliche Vorstellung eines Versorgungsnotfalls ist vom Text fern zu halten. Aber<br />

auch die umgekehrte Deutung, nach der <strong>Jesu</strong> Sorge nicht der Mutter, sondern dem<br />

Jünger gelte, der in Maria eine Mutter erhalten solle – also die mariologische Deutung<br />

–, wird dem Text nicht gerecht. Ganz bewusst mündet dieser in die Notiz: »Und von<br />

jener Stunde an nahm der Jünger sie in sein Eigentum« (Joh 19,27). Nicht die Mutter,<br />

sondern der Jünger steht <strong>im</strong> Fokus. Ihn will <strong>Jesu</strong>s dazu bevollmächtigen, die Mutter »in<br />

sein Eigentum aufzunehmen« – keinen Verwandten, nicht Jakobus, den »Herrenbruder« 118 ,<br />

sondern diesen einen besonderen Jünger. Warum? Wahrscheinlich sah sich die spätere<br />

johanneische Gemeinde durch ihn – ihre Gründerfigur – und das ihm von <strong>Jesu</strong>s gegebene<br />

Vermächtnis zu ihrem spezifischen Glaubensweg autorisiert. Wenn <strong>Jesu</strong>s seine<br />

Mutter ihm anvertraut, dann ist das der symbolische Ausdruck dafür, dass sein durch<br />

sie repräsentiertes Vermächtnis in der johanneischen Gemeinde und ihrem Evangelienbuch<br />

authentisch aufbewahrt ist, das Joh 21,24 zufolge ja diesen Jünger zum Autor<br />

hat. Die beiden <strong>Worte</strong> besitzen eine hohe legit<strong>im</strong>atorische Bedeutung in ekklesiologischer<br />

Hinsicht.<br />

Ganz anders die beiden folgenden <strong>Worte</strong> »Mich dürstet« und »Es ist vollbracht«, die<br />

vom Evangelisten streng christologisch und als innerlich zusammengehörig konzipiert<br />

sind 119 . Es sind keine Gebete (wie bei den anderen Evangelisten), sondern hoheitsvolle<br />

<strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> vom Kreuz, die eigentlich den Lesern des Buches gelten. Mit dem ersten<br />

Wort ergreift <strong>Jesu</strong>s selbst die Initiative zur Essigtränkung, lässt sie also nicht einfach<br />

nur an sich geschehen, wie in den anderen Evangelien gemäß Ps 69,22b, wo es heißt:<br />

»und für meinen Durst gaben sie mir Essig zu trinken«. Wenn zudem der Vierte Evangelist<br />

die Episode insgesamt als Schrift-Vollendung 120 bezeichnet, dann wird er auch<br />

dem Durst-Ruf gewiss tieferen Sinn zugeschrieben haben 121 . Die maßgeblichen Kom-<br />

117 Vgl. M. Theobald, <strong>Der</strong> Jünger, den <strong>Jesu</strong>s liebte. Das narrative Konzept der johanneischen Redaktion,<br />

in: H. Lichtenberger (Hrsg.), Geschichte - Tradition - Reflexion (FS M. Hengel), Bd. III, Tübingen 1996,<br />

219–255.<br />

118 Vgl. C. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes. Teilband 2: Johannes 13–21 (ZBK.NT 4/2),<br />

Zürich 2001, 302 f.<br />

119 Angezeigt ist das sowohl durch die inclusio mittels des Stichworts »vollenden« (Joh 19,28/30) als auch<br />

durch die Einleitung des zweiten <strong>Worte</strong>s mit dem Temporalsatz: »Als <strong>Jesu</strong>s das Essigwasser genommen<br />

hatte, sprach er […]«.<br />

120 R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, III. Teil. Kommentar zu Kap. 13–21 (HThK IV/3), Freiburg<br />

2 1976, 330: die Schrift sollte »volle und letzte Erfüllung finden«; vgl. hierzu auch H.-U. Weidemann,<br />

<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> Johannesevangelium. Die erste Abschiedsrede als Schlüsseltext für den Passions- und<br />

Osterbericht (BZNW 122), Berlin 2004, 382–385.<br />

121 So auch Schnackenburg, Joh III (Anm. 120) 330: »<strong>Der</strong> physische Durst <strong>Jesu</strong> – be<strong>im</strong> Hängen am Kreuz<br />

eine schreckliche Qual – hat für den Evangelisten sicher noch einen tieferen Sinn«. Die direkte Rede »Mich


<strong>Der</strong> <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> <strong>im</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>seiner</strong> <strong>»letzten</strong> <strong>Worte</strong>« vom Kreuz 29<br />

mentartexte <strong>im</strong> Evangelium sind Joh 4,34 und 18,11. In 4,34 erklärt <strong>Jesu</strong>s: »Meine<br />

Speise ist es, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollende«;<br />

und in 18,11: »Soll ich den Becher, den mir der Vater gegeben hat, nicht trinken?«<br />

Hunger und Durst sind also Bilder für das Verlangen <strong>Jesu</strong>, den Willen des Vaters<br />

und damit auch die Schrift bis zum Letzten zu erfüllen. Wenn dann <strong>Jesu</strong>s den Essig<br />

n<strong>im</strong>mt, wie es ausdrücklich heißt, und seinen Durst löscht, dann schließt sich daran<br />

organisch sein allerletztes Wort »Es ist vollendet« 122 an: Die Durststillung ist die Vollendung,<br />

<strong>im</strong> Tun des Willens seines Vaters bis zum letzten vollendet sich das ihm aufgetragene<br />

Werk. Dieses aber gipfelt entsprechend der johanneischen Christologie in der<br />

Rückkehr des präexistenten Sohnes zum Vater, die nicht nur ihn betrifft, sondern alle,<br />

die sich ihm <strong>im</strong> Glauben anschließen. Warum? Weil er in seinem Sterben – seinem<br />

Hingang zum Vater – eine Bresche in das »Totenhaus« dieser Welt schlägt und den<br />

Zugang zur Herrlichkeit Gottes eröffnet 123 . Richtet der Glaubende auf den Gekreuzigten<br />

seinen Blick, dann darf er sich dessen gewiss sein, hier und jetzt schon auf seinem<br />

Weg in der Gemeinschaft der Glaubenden den Abglanz »ewigen Lebens« zu schauen.<br />

5. <strong>Jesu</strong> letzte <strong>Worte</strong> – jeweils das Ganze <strong>im</strong> Fragment<br />

Dreierlei sei am Ende unseres Durchgangs festgehalten:<br />

(1) Auch die letzten <strong>Worte</strong> <strong>Jesu</strong> entsprechen dem, was man in der Antike mit dieser<br />

Gattung verband, nämlich eine ganze Lebens- oder Weltansicht in den einen oder anderen<br />

knappen Ausspruch zu bannen. Die Christen wussten, dass der <strong>Tod</strong> <strong>Jesu</strong> über den<br />

Sinn seines ganzen Lebens entschied. So legte es sich nahe, seine letzten <strong>Worte</strong> vom<br />

Kreuz mit ult<strong>im</strong>ativer Bedeutung zu versehen.<br />

(2) Auch wenn es sieben <strong>Worte</strong> sind, so sträuben sie sich doch dagegen, in eine übergreifende<br />

Dramaturgie des <strong>Tod</strong>es <strong>Jesu</strong> eingespannt zu werden, wie das die Tradition der<br />

Evangelienharmonien möchte. Diese besitzt ohne Zweifel ihre großen spirituellen Verdienste,<br />

aber eine differenzierte Lektüre der Sterbeszenen in den Evangelien fördert<br />

einen Reichtum an Aspekten zu Tage, die sich nicht einfach synthetisieren lassen, sondern<br />

verschiedene Bilder zeigen: bei Markus das Bild des in der Finsternis nach dem<br />

Eingreifen Gottes schreienden <strong>Jesu</strong>s (ähnlich Matthäus), bei Lukas das Bild des Märtyrers<br />

<strong>Jesu</strong>s, der am Ende souverän das vorlebt, was er in seinem Leben gepredigt hat<br />

– die Zuwendung zu den Verlorenen und absolutes Vertrauen auf den Vatergott – und<br />

dürstet« ist »bewusste joh. Adaption« von Ps 69,22, wohl »aus tieferer Überlegung« heraus, »was dieses<br />

‚mich dürstet’ bei <strong>Jesu</strong>s bedeutet«. Vgl. auch Joh 4,7.13 f.; 6,35; 7,37; zur Metaphorik noch Ps 63,2; 42,3.<br />

122 Lat.: Consummatum est. Eine bemerkenswerte Parallele findet sich in Senecas Tragödie »Hercules<br />

Oetaeus«, bei der Herkules gegen Ende spricht: »Gut so, es hat sich erfüllt (peractum est), mein Geschick<br />

klärt sich auf; dieses Tageslicht ist mein letztes« (Seneca. Sämtliche Tragödien. Lateinisch und deutsch,<br />

übersetzt und erläutert von Theodor Thomann, Bd. II, Zürich/Stuttgart 1969, 357 [Z. 1472 f.]).<br />

123 Vgl. Theobald, Joh I (Anm. 63) 63–65.


30<br />

Michael Theobald<br />

bei Johannes das hoheitlich-königliche Bild des Gottessohnes, dessen Sendung sich <strong>im</strong><br />

<strong>Tod</strong> als Hingang zum Vater vollendet.<br />

(3) Die Meinung, es hätte am Anfang der Jerusalemer Gemeinde eine »deutungsfreie«<br />

Darstellung der Passion <strong>Jesu</strong> gegeben, ist eine Illusion. Immer schon haben die<br />

Christen den Skandal, dass ein ehrlos ans Kreuz Gehängter der Messias Israels und der<br />

Retter der Welt sein soll, <strong>im</strong> Licht des Osterereignisses zu verarbeiten gesucht. Lediglich<br />

die Beleuchtung ist jeweils verschieden. Dass man sich dem Gehe<strong>im</strong>nis der wahrhaft<br />

großen Gestalten der Geschichte nur nachträglich – post factum – nähern kann,<br />

und dass auch dann Deutungsspielräume bleiben, gilt genau so auch bei <strong>Jesu</strong>s von Nazareth.

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