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Reader - Schweizerische Studienstiftung

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Das Zusammenleben der Religionen in Geschichte und Gegenwart<br />

Eine Studienreise nach Zentralspanien<br />

15.-22. Juni 2013<br />

Leitung:<br />

Prof. Dr. Dr. Mariano Delgado (Universität Freiburg Schweiz)<br />

Prof. Dr. Cla Reto Famos (Direktor der <strong>Schweizerische</strong>n <strong>Studienstiftung</strong>)<br />

El Escorial Toledo<br />

Madrid Valladolid Alcalá de Henares<br />

Segovia Avila Salamanca


Lernziel<br />

Der religiöse Frieden war ein zentrales Ziel bei der Gründung der modernen Schweiz 1848. Das friedliche<br />

Zusammenleben von unterschiedlichen Religionen ist auch heute nicht selbstverständlich, sondern muss ständig<br />

gepflegt werden. Aus dem Vergleich mit der Geschichte und Gegenwart Zentralspaniens lassen sich viele<br />

Impulse auch für die Schweiz von heute gewinnen.<br />

Kastilien, die zentralspanische Hochebene nördlich und südlich von Madrid ist das Herz Spaniens. Diese Region<br />

ist historisch geprägt vom geglückten wie gescheiterten Zusammenleben zwischen Juden, Moslems und<br />

Christen, aber auch von der spanischen Entscheidung, eine „katholische“ Nation zu sein. Die Rolle von Religion<br />

und Kultur in Spaniens Geschichte kann man in Kastilien besser als anderswo studieren. Auf Schritt und Tritt sind<br />

die historischen Spuren des Mittelalters und des Goldenen Zeitalters spürbar – ebenso wie das heutige Ringen<br />

um ein Zusammenleben in der modernen, pluralen Gesellschaft. Spanien, das Land der grossen katholischen<br />

Mystiker und Heiligen, ist religionssoziologisch heute weder ein katholisches Land im kirchlichen Sinne (die<br />

Mehrheit der Befragten sind weder praktizierende Katholiken noch akzeptieren sie das kirchliche Lehramt in<br />

Fragen der Moral) noch ein agnostisches oder religiös gleichgültiges Land (die sich als religiös deklarierenden<br />

Spanier sind doppelt so viele wie die nicht-religiösen), sondern ein stark säkularisiertes, religiös pluralistisches<br />

Land mit einer großen katholisch getauften Bevölkerungsmehrheit, die bei Umfragen über Glaube und Moral<br />

ähnlich antwortet wie die Katholiken anderer westlicher Länder. Die Studienreise möchte mit Religion und Kultur<br />

Spaniens in Geschichte und Gegenwart vertraut machen. Dabei werden wir auch Orte besuchen, die zum<br />

Weltkulturerbe (WKE) gehören.<br />

Orte, die besucht werden sollen: Madrid, El Escorial (WKE), Avila (WKE), Segovia (WKE), Toledo (WKE),<br />

Salamanca (WKE), Valladolid, Alcalá de Henares (WKE)<br />

Leistungen<br />

Flug: Zürich-Madrid-Zürich<br />

Übernachtung in Madrid und Avila<br />

Halbpension während der ganzen Reise<br />

Rundreise in einem bequemen Touristenbus mit Klimaanlage<br />

Reiseleitung und Führungen durch Prof. Mariano Delgado (sowie qualifizierte örtliche Guides wo<br />

vorgeschrieben oder zweckmässig)<br />

Besichtigungen und Eintritte sowie Begegnungen und Gespräche gemäss Programm<br />

Vorbereitende Sitzung<br />

Dienstag, 28. Mai 2013, 17-20 Uhr an der Universität Fribourg (Av. de l’Europe 20, CH-1700 Freiburg)<br />

Saal KIN 2.102 Laure Dupraz,.Rue de l’hôpital 4 (Nr. 11 auf diesem Plan:<br />

http://www.unifr.ch/map/de/misericorde.php)


Reiseinformationen<br />

Flugzeiten:<br />

15.06.2012 Zürich - Madrid LX 2026 12.25 - 14.45<br />

22.06.2012 Madrid - Zürich LX 2027 15.25 - 17.35<br />

Check-In Kloten am 15. Juni: Sie erhalten von der <strong>Studienstiftung</strong> die Flugtickets per e-mail und können das<br />

Check-In selber organisieren. Wir treffen uns dann spätestens 30 Minuten vor Abflug beim Gate<br />

Einreiseformalitäten: Identitätskarte / Personalausweis oder Reisepass.<br />

Telefonvorwahl: Nach Spanien: 0034 und Vorwahl ohne 0. Von Spanien nach der CH: 0041 und Vorwahl ohne<br />

0. D: 0049 und Vorwahl ohne 0. A: 0043 und Vorwahl ohne 0.<br />

Uhrzeit: zwischen Spanien und der Schweiz besteht kein Zeitunterschied.<br />

Stromspannung: 220 V, 50 Hz. Stecker mit 2 Stiften, wie Rasierapparate (Abstand 18 mm).<br />

Unterkunft:<br />

15. - 19.06.2013 Madrid: Hostal Persal<br />

Plaza del Angel, 12<br />

28012 Madrid (Spain)<br />

T +34 91 369 46 43<br />

F +34 91 369 19 52<br />

dir@hostalpersal.com<br />

www.hostalpersal.com<br />

19. - 22.06.2013 Avila: Residencia Santo Tomás<br />

Real Monasterio de Santo Tomás (PP. Dominicos)<br />

Plaza de Granada, 1. CP<br />

05003 - Ávila (España)<br />

T + 34 920 22 10 06<br />

F + 34 920 25 72 69<br />

resistomas.vre@dominicos.org<br />

http://www.monasteriosantotomas.com/residencia/<br />

Geld - Währung: Euro-Kassakurs = 1 Euro = ca. 1.25 (Bargeld). Geldwechsel: gleiche Voraussetzungen in<br />

Spanien wie in der Schweiz. Maestro- oder Kreditkarten werden überall akzeptiert, auch ist. Der Bargeldbezug an<br />

der Mehrzahl der Geldautomaten möglich! (Achtung: Gebühren beachten).<br />

Freigepäck: Es kann pro Person 1 Gepäckstück mit total maximal 23 kg. aufgegeben werden. Ferner können Sie<br />

ein Handgepäck -eine Tasche oder Rucksack- (Masse max. 56 x 45 x 25 cm und max. 8 kg) plus eine Hand- oder<br />

Fototasche mitnehmen. Achtung: Spitzige Gegenstände wie Messer, Scheren, Nagelfeilen etc. dürfen nicht im<br />

Handgepäck mitgeführt werden.<br />

Sicherheitsbestimmungen an den Flughäfen (Flüssigkeiten im Handgepäck): Aufgrund der seit dem 06.<br />

November 2006 gültigen Vorschriften dürfen Flüssigkeiten ab sofort nur noch eingeschränkt im Handgepäck<br />

mitgeführt werden. Produkte, die Flüssigkeiten, Gels oder vergleichbare Substanzen enthalten, dürfen nur noch<br />

in Gefässgrössen von max. 100 ml (= 1 Deziliter) im Handgepäck mitgeführt werden und müssen in einem<br />

transparenten, wiederverschliessbaren 1 Liter-Plastikbeutel verpackt werden. Pro Person darf nur 1 Plastikbeutel<br />

im Handgepäck mitgeführt werden. Plastikbeutel liegen im Flughafen auf.<br />

Interessante Websites: www.spain.info / www.spanien-abc.com/<br />

www.google.de / www.wetter.de / www.wetter.com


Reiseprogramm<br />

Samstag, 15. Juni: Die spanische Hauptstadt<br />

Flug Zürich-Madrid und weiter im klimatisierten Bus ins Zentrum von Madrid: Stadtrundfahrt, Besichtigung des<br />

historischen Kerns zu Fuss. Übernachtung in Madrid.<br />

Sonntag, 16. Juni: Die spanische Malerei / Die spanische Hauptstadt / Religion und säkulare Moderne<br />

Vormittag: Museumstag in Madrid: vormittags Prado-Museum (Weltkulturerbe), nachmittags Möglichkeit zum<br />

Besuch des Thyssen-Museums (oder anderer Museen), sonst frei. Am Abend evtl. Gespräch mit Prof. Santiago<br />

Madrigal der Jesuitenuniversität Comillas. Übernachtung in Madrid.<br />

Montag, den 17. Juni: Toledo / Die drei Religionen im Mittelalter, El Greco<br />

Ganztägige Exkursion nach Toledo: (Weltkulturerbe), Stadtführung. Nachmittag: zur freien Verfügung (Kirchen,<br />

Klöster, Synagogen usw., Grecos Bilder). Am Abend in Madrid evtl. Gespräch mit José Manuel Vidal, Leiter des<br />

meistgelesenen Portals für religiöse Information in Spanien (www.religiondigital.com). Nach dem Abendessen<br />

Möglichkeit zum Flamencobesuch. Übernachtung in Madrid.<br />

Dienstag, 18. Juni: Segovia / Der Aufstand der kastilischen Kommunnen gegen Karl V. (1520-1522) /<br />

Der Mystiker Johannes vom Kreuz und der Dichter Antonio Machado<br />

Ganztägige Exkursion nach Segovia (Weltkulturerbe; Grabeskirche des Mystikers Johannes vom Kreuz, Aquädukt<br />

aus der Römerzeit, gotische Kathedrale, mittelalterliche Burg, romanische Kirchen, Judenviertel). Am Abend in<br />

Madrid evtl. Gespräch mit Prof. José Manuel López Rodrigo, Leiter der regierungsnahen Stiftung „Pluralismo y<br />

convivencia“ (http://www.pluralismoyconvivencia.es/). Übernachtung in Madrid.<br />

Mittwoch, 19. Juni: Philipp II. und El Escorial oder Religion und Macht / Avila, die Stadt der Mystikerin<br />

Teresa von Avila<br />

Vormittags. El Escorial (Weltkulturerbe, Symbol für die Symbiose von Religion und Macht in Spanien.<br />

Nachmittags: Avila (Weltkulturerbe, Geburtsort der hl. Teresa). Übernachtung in Avila.<br />

Donnerstag, 20. Juni: Valladolid, Bartolomé de Las Casas (Kolonialethische Kontroverse),<br />

Volksfrömmigkeit, Inquisition<br />

Valladolid: Kolleg San Gregorio (Wirkungsort des Bartolomé de Las Casas), Nationalmuseum für religiöse<br />

Bildhauerei. Stadtbesichtigung (Inquisition, Protestantenverfolgung im 16. Jh.). Beim Mittagessen evtl. Gespräch<br />

mit dem Schriftsteller José Jiménez Lozano (Träger des Cervantes-Preises 2002 und Autor des Buches „Kastilien.<br />

Eine spirituelle Reise durch Zentralspanien“. Nachmittags Besuch eines Weinkellers. Übernachtung in Avila.<br />

Freitag, 21. Juni: die Universitätsstadt Salamanca: Theologie und Kultur im Goldenen Zeitalter<br />

Salamanca (Weltkulturerbe, Universität, Kathedralen, Studentenleben, Literatur des Goldenen Zeitalters). Am<br />

frühen Nachmittag evtl. Gespräch mit einem Professor über Religion und Kultur in Spanien. Übernachtung in<br />

Avila.<br />

Samstag, 22. Juni : Alcalá de Henares: Kardinal Jiménez de Cisneros und der Humanismos / Miguel de<br />

Cervantes und sein “Don Quijote”<br />

Alcalá de Henares (historische Universität im Geiste des Humanismus, Weltkulturerbe und Geburtsort von Miguel<br />

de Cervantes, dem Autor des „Don Quijote de la Mancha“) und Rückflug nach Zürich.


Texte zum Lesen<br />

I. Texte von Mariano Delgado<br />

Allgemein über Spanien<br />

Spanien. In: Erwin Gatz (Hg.), Kirche und Katholizismus seit 1945, Bd. 3: Italien und Spanien. Paderborn<br />

u.a. 2005, 107-175.<br />

Religion und Nation in den „zwei Spanien“. Der Kampf um die nationale Identität 1812-1980. In: Urs<br />

Altermatt / Franziska Metzger (Hg.), Religion und Nation. Katholizismen im Europa des 19. und 20.<br />

Jahrhunderts, Stuttgart 2007, 51-68.<br />

Spaniens Problem mit Religion und Nation. In: <strong>Schweizerische</strong> Kirchenzeitung 179 (33-34/2011)<br />

525-528.<br />

Religiöse Pluralisierung und Laizismus-Debatte in Spanien. In: Stimmen der Zeit 227 (2009) 197-<br />

209.<br />

Licht und Schatten. Die katholische Kirche in Spanien vor dem Weltjugendtag. In: Herder<br />

Korrespondenz 65 (8/2011) 398-403.<br />

Toleranz und Religionsfreiheit. Konvergenz und Divergenz zwischen Europa und der islamischen<br />

Welt. In: Urs Altermatt / Mariano Delgado / Guido Vergauwen, Der Islam in Europa. Zwischen<br />

Weltpolitik und Alltag (Religionsforum 1), Stuttgart 2006, 325-347.<br />

Für den Tag in Toledo<br />

Der Mythos „Toledo“ – Zur Konvivenz der drei monotheistischen Religionen und Kulturen im<br />

mittelalterlichen Spanien. In: Sabine Hering (Hg.), Toleranz – Weisheit, Liebe oder Kompromiss?<br />

Multikulturelle Diskurse und Orte. Opladen 2004, 69-91.<br />

„Oh Blindheit, oh Bosheit in ganz Spanien verbreitet“. Die Kontroverse um die limpieza de sangre<br />

im frühneuzeitlichen Spanien. In: Reinheit, hg. von Peter Burschel/Christoph Marx<br />

(Veröffentlichungen des Instituts für historische Anthropologie e.V., Bd. 12), Wien-Köln-Weimar<br />

2011, 389-420.<br />

Die spanischen Bibelübersetzungen in der Frühen Neuzeit. In: <strong>Schweizerische</strong> Zeitschrift für Religions-<br />

und Kulturgeschichte 101 (2007) 2009-224.<br />

Für den Tag in Segovia<br />

„Nur der Mystiker wusste es…“, in: SKZ 179 (2011), 33-34.<br />

Mystische Gedichte des Johannes vom Kreuz.<br />

„... wie ein einsamer Vogel auf dem Dach“ (Ps 101/102,8). Zur Bildersprache des Johannes vom<br />

Kreuz. In: Andreas Hölscher / Rainer Kampling (Hg.), Religiöse Sprache und ihre Bilder. Von der<br />

Bibel bis zur modernen Lyrik. (Schriften der Diözesanakademie Berlin 14), Berlin 1998, 200-224.<br />

„Richte deine Augen allein auf ihn“. Mystik und Kirchenkritik bei Teresa von Avila und Johannes vom<br />

Kreuz, in: M. Delgado / G.Fuchs (Hg.), Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung,<br />

Bd. 2: Frühe Neuzeit (ScRKG 3), Freiburg Schweiz / Stuttgart 2004, 183-206.<br />

Das Lied vom Namenlos - oder: Wenn Dichter Mystiker werden (wollen). Zur letzten Parabel von Peter<br />

Handke, in: Lebendiges Zeugnis 53 (1998) 126-138.<br />

„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ – Mystik und Kirchenkritik beim spanischen Dichter<br />

Antonio Machado. In: Mariano Delgado / Gotthard Fuchs (Hg.), Die Kirchenkritik der Mystiker.<br />

Prophetie aus Gotteserfahrung, Bd. 3: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart (Studien zur<br />

christlichen Religions- und Kulturgeschichte 4), Freiburg Schweiz / Stuttgart 200, 551-578.<br />

Für den Tag in El Escorial und in Avila<br />

Der Traum von der Universalmonarchie – Zur Danielrezeption in den iberischen Kulturen nach 1492. In:<br />

Mariano Delgado / Klaus Koch / Edgar Marsch (Hg.), Europa, Tausendjähriges Reich und Neue Welt.<br />

Zwei Jahrtausende Geschichte und Utopie in der Rezeption des Danielbuches (Studien zur christlichen<br />

Religions- und Kulturgeschichte Bd. 1), Freiburg Schweiz / Stuttgart 2003, 252-305.<br />

Mystik in harten Zeiten. Zum historischen Kontext der Mystik von Teresa de Avila und Juan de la Cruz,<br />

in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 111 (2000) 56-69.<br />

Verschiedene Texte zu Teresa von Avila aus den „Kanisius-Stimmen“: „Herr, gib mir dieses Wasser…!“<br />

(Joh 4,15). Das Wasser als Symbol für das innere Beten bei Teresa von Avila, in: Kanisius-Stimmen<br />

2/2010, 4-6; Eine Burg wie ein Diamant und wie ein Lustgarten. Die „Wohnungen der Inneren Burg“<br />

nach Teresa von Avila – die erste Wohnung. In: Kanisius-Stimmen 4/2010, 4-6; „Ausdauer ist<br />

Wichtigstes“. Die Zweite Wohnung der „Inneren Burg“ nach Teresa von Avila. In: Kanisius-Stimmen<br />

1/2011, 4-6; Dilemma des reichen Jünglings: „korrekt“ genügt nicht. Die dritte Wohnung der „Inneren<br />

Burg“ nach Theresa von Avila. In: Kanisius-Stimmen 3/2011, 7-10; Das Gebet der Ruhe. Die vierte


Wohnung der « Inneren Burg » nach Teresa von Avila (1. Teil). In: Kanisius-Stimmen 2/2012, 14-17 ;<br />

Stilles Pfeifen des guten Hirten. Die vierte Wohnung der „Inneren Burg“ nach Teresa von Avila (zweiter<br />

Teil). In: Kanisius-Stimmen 4/2012, 17-20.<br />

Für den Tag in Valladolid<br />

Das Kolleg San Gregorio in Valladolid. In: Pim den Boer, Heinz Durchhardt, Georg Kreis, Wolfgang<br />

Schmale (Hrsg.), Europäische Erinnerungsorte 3: Europa und die Welt, München 2012, 87-97.<br />

„Hüterin der Gerechtigkeit“. Mystik, Politik und Kirche bei Bartolomé de Las Casas, in: D. Langer/M. A.<br />

Sorace/P. Zimmerling (Hg.), Gottesfreundschaft. Christliche Mystik im Zeitgespräch. (Studien zur<br />

christlichen Religions- und Kulturgeschichte 9), Fribourg-Stuttgart 2008, 173-186.<br />

Spanische Inquisition und Buchzensur. In: Stimmen der Zeit 224 (2005) 461-474.<br />

Für den Tag in Salamanca<br />

„Mit welchem Recht…?“ – Die Kontroverse über die Legitimität der Unterwerfung der Indios durch die<br />

Spanier im 16. Jahrhundert. In: Mariano Delgado / Volker Leppin / David Neuhold (Hrsg.), Ringen um die<br />

Wahrheit. Gewissenskonflikte in der Christentumsgeschichte (Studien zur christlichen Religions- und<br />

Kulturgeschichte 15), Fribourg/Stuttgart 2011, 157-187.<br />

Für den Tag in Alcalá<br />

Ximenes de Cisneros, Francisco. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXXVI, Berlin 2004, 430-432.<br />

Don Quijote - für Theologen, in: Stimmen der Zeit 223 (4/2005) 219-232.<br />

II. Weitere Texte zum Lesen über Spanien und über die Schweiz<br />

José Jiménez Lozano, Kastilien. Eine spirituelle Reise durch das Herz Spaniens, Fribourg/Stuttgart 2005<br />

(darin: Die zwei Romaniken (43-80); Kastiliens Judenviertel (105-122); Kurze Bemerkung über die<br />

Muslime (123-132); Das Hohelied in Kastilien (133-140); Liebe, die dem Grabe trotzt (147-152); Der<br />

Christus der Erde (153-158); Auf der Suche nach dem Wirklichen (159-160); Teresa Sánchez (161-172);<br />

Nachtrag für Reisende (173-178); Ein Grab in Fontiveros (179-186); Licht und Dämmer der Kathedralen<br />

(187-202); Kurze Erinnerung an zwei Inquisitoren (203-217); Nachwort von Mariano Delgado (233-240).<br />

Juan Goytisolo, Spanien und die Spanier, Frankfurt 2002 (darin: S. 5-76).<br />

Cla Famos, Religiöse Vielfalt und Recht: Von göttlichen und menschlichen Regeln, in: Martin<br />

Baumann/Jörg Stolz (Hg.), Eine Schweiz - viele Religionen, Bielefeld 2007, S. 301ff.<br />

René Pahud de Mortanges, Die Auswirkung der religiösen Pluralisierung auf die staatliche<br />

Rechtsordnung, in: Christoph Bochinger (Hg.), Religionen, Staat und Gesellschaft. Nationales<br />

Forschungsprogramm NFP 58, Zürich 2012, S. 145ff.<br />

Christoph Bochinger, Religionen, Staat und Gesellschaft: Weiterführende Überlegungen, in: ders. (Hg.),<br />

Religionen, Staat und Gesellschaft. Nationales Forschungsprogramm NFP 58, Zürich 2012, S. 209ff.<br />

III. Weiterführende Literatur<br />

Américo Castro, Spanien. Vision und Wirklichkeit, Köln 1957.<br />

Walther L. Bernecke, Spanien-Handbuch, Geschichte und Gegenwart (UTB 2827), Tübingen 2006.<br />

Walther L. Bernecke (Hg), Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt am Main 5 2008.


KuK 3 / p. 3 / 7.7.2005<br />

Kirche und Katholizismus<br />

seit 1945<br />

Herausgegeben von Erwin Gatz<br />

Band 3<br />

Italien und Spanien<br />

2005<br />

Ferdinand Schöningh<br />

Paderborn · München · Wien · Zürich


KuK 3 / p. 4 / 7.7.2005<br />

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische<br />

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem<br />

und alterungsbeständigem Papier 1 ISO 9706<br />

© Ferdinand Schöningh Paderborn<br />

(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)<br />

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich<br />

geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige<br />

schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig.<br />

Printed in Germany. Herstellung: Erhardi Druck, Regensburg<br />

Satz: SatzWeise, Föhren<br />

Kartographie: Peter Mellmann, Eichenau<br />

ISBN 3-506-74464-X


KuK 3 / p. 11 / 7.7.2005<br />

Inhalt<br />

SPANIEN<br />

Von Mariano Delgado<br />

Teil I<br />

Die zwei Spanien und der Bürgerkrieg 1936–1939 . . 105<br />

Teil II<br />

Die politische Ebene<br />

1. Unter dem Franquismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116<br />

1) Die Stunde des Laienapostolates (1945–1957) . . . . . . . . . 117<br />

2) Die Stunde der Mitglieder des Opus Dei (1957–1969) . . . . 120<br />

3) Die Stunde der Bischofskonferenz (1966–1975) . . . . . . . 122<br />

2. Unter der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129<br />

Teil III<br />

Das Staat-Kirche-Verhältnis . . . . . . . . 132<br />

Teil IV<br />

Die wissenschaftliche Theologie . . . . . . . 136<br />

Teil V<br />

Kirchliches Leben, Katholizismus und Gesellschaft<br />

1. Die Rekonstruktion des katholischen Spaniens . . . . . . . . . 141<br />

2. Unter den Bedingungen der Moderne . . . . . . . . . . . . . . 142<br />

1) Spannung zwischen der Geringschätzung der Volksreligiosität<br />

und deren Wiederentdeckung . . . . . . . . . . . 145<br />

2) Spannung zwischen den verschiedenen Bereichen des<br />

Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146<br />

3) Spannungen im Bereich der Rezeption der Liturgiereform . 148<br />

4) Spannungen zwischen der Tendenz zur Neuevangelisierung<br />

und der innerkirchlichen Tendenz zur Säkularisierung . . . . 150<br />

Teil VI<br />

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151<br />

11


KuK 3 / p. 12 / 7.7.2005<br />

DOKUMENTATIONSANHANG<br />

I: Übereinkunft zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Spanischen<br />

Staat, 28. Juli 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154<br />

II: Vereinbarung zwischen dem spanischen Staat und dem<br />

Heiligen Stuhl über echtliche Fragen, 3. Januar 1979 . . . . . . 156<br />

III: Vereinbarung zwischen dem spanischen Staat und dem<br />

Heiligen Stuhl über wirtschaftliche Fragen, 3. Januar 1979 . . . 160<br />

IV: Vereinbarung zwischen dem spanischen Staat und dem<br />

Heiligen Stuhl über das Unterrichtswesen und kulturelle Fragen,<br />

3. Januar 1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164<br />

V: Vereinbarung zwischen dem spanischen Staat und dem<br />

Heiligen Stuhl über die Seelsorge bei den Streitkräften und den<br />

Militärdienst der Kleriker und Ordensleute, 3. Januar 1979 . . . 170<br />

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176<br />

Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177<br />

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178<br />

12<br />

Inhalt


KuK 3 / p. 13 / 7.7.2005<br />

Abkürzungsverzeichnis<br />

ACLI Associazioni Christiane dei Lavoratori<br />

ACNP Asociación Católica Nacional de Propagandistas<br />

ACR Azione Cattolica Ragazzi<br />

AN Alleanza Naziolnale<br />

CAL Aentro di Azione Liturgica<br />

CCD Centro Cristiano Democratico<br />

CDU Cristiani Democratici Uniti<br />

CEDA Confederación Española de Derechas Autónomas<br />

CEI Conferenza Episcopale Italiana<br />

CEIAL Comitato Episcopale Italiano per l’America Latina<br />

CEIAS Centro Ecclesiale Italiano per l’Africa e l’Asia<br />

CEU Centro de Estudios Universitarios<br />

CICL Confederazione Italiana del Sindacato dei Lavoratori<br />

CISM Conferenza dei Superiori Maggiori<br />

CL Communione e Liberazione<br />

CSIC Consejo Superior de Investigaciones Científicas<br />

CUM Centro Unitario per la cooperazione Missionaria della<br />

Chiesa<br />

FI Forza Italia<br />

FUCI Federazione Universitaria<br />

GIOC Gioventù Operaia Italiana<br />

HOAC Hermandad Obrera de la Acción Católica<br />

JEC Juventud Estudiante Católica<br />

JOC Libera Confederazione Generale Italiana dei Lvoratori<br />

LCGIL Libreria della Dottrina Cattholica<br />

LDC Maquinaria Textil Sociedad Anónima<br />

MATESA Maquinaria Textil Sociedad Anónima<br />

MLAL Movimento Laici per l’America Latina<br />

MPL Movimento Politico dei Lavoratori<br />

ONARMO Opera Nazionale per l’Assistenza Religiosa e Morale degli<br />

Operai<br />

PDS Partito Democratico della Sinistra<br />

POA Pontificia<br />

SEI Società Editrice Internazionale<br />

UCD Unión del Centro Democrático<br />

UDC Unión democrática cristiana<br />

USMI Unione Superiori Maggiori d’Italia<br />

13


KuK 3 / p. 107 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

Von Mariano Delgado<br />

„Die Geschichte beginnt vor mehr als hundert Jahren“ – so eröffnet der<br />

Kartäusermönch im Film „Broken Silence“ von Wolfgang Panzer (1995)<br />

sein Bekenntnis in New York vor einem Beichtvater, der es zunächst eilig<br />

hat und nervös auf die Uhr schaut. Zum Verständnis der Geschichte von<br />

Kirche und Katholizismus in Spanien seit 1945 muss man weit ins 19. Jahrhundert<br />

zurückgehen. Im Rahmen dieses Beitrags kann dies nur stichwortartig<br />

geschehen. Vielleicht wäre es am besten, an ein Bild Goyas aus<br />

der Zeit des Bürgerkrieges um 1820 zu erinnern: Zwei spanische Ganoven<br />

stecken bis zum Knie im Schlamm fest und versuchen, einander mit einem<br />

dicken Prügel zu schlagen. Da sie sich nicht bewegen können, endet der<br />

Kampf wohl erst mit dem Tod des Gegners: Tertium non datur. Kaum ein<br />

anderes Bild vermag die Geschichte Spaniens zwischen der napoleonischen<br />

Invasion von 1808 und dem Demokratisierungsprozess nach dem<br />

Tod des Caudillo „von Gottes Gnaden“ Francisco Franco 1975 besser zu<br />

erklären. Die „zwei Spanien“ bekundeten in dieser Zeit immer wieder ihre<br />

Unfähigkeit, ihre Gegensätze in Politik, Religion, Kultur, Wirtschaft und<br />

Gesellschaft unter den Bedingungen der Moderne so auszusöhnen, dass sie<br />

friedlich koexistieren konnten.<br />

Teil I:<br />

Die zwei Spanien und der Bürgerkrieg 1936–1939 1<br />

Die Übernahme des Christentums durch die europäischen Völker hat zu<br />

verschiedenen Formen der Symbiose von Religion und Nation geführt.<br />

Die spanische Variante ging dabei von der Vorstellung einer Quasi-Hypostase<br />

von katholischer und nationaler Identität sowie von einer besonderen<br />

Auserwählung und Sendung Spaniens als Hüterin des Katholizismus<br />

aus. Oft wird die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion<br />

beim 3. Konzil von Toledo (589) durch den 587 vom Arianismus zum ka-<br />

1 Ausgewählte Literatur (alphabetisch): Alfonso Álvarez Bolado, Para ganar la guerra,<br />

para ganar la paz. Iglesia y guerra civil: 1936–1939 (Madrid 1995). – Walther L. Bernecker,<br />

Krieg in Spanien. 1936–1939 (Darmstadt 1991). – Ders., Religion in Spanien. Darstellung<br />

und Daten zu Geschichte und Gegenwart (Gütersloh 1995). – Marcelino Flórez<br />

Miguel, Clercalismo y anticlericalismo. Las venganzas de 1936 (Burgos 2003). – Santos<br />

Julià, Historia de las dos Españas (Madrid 2004). – Juan M. Laboa, Iglesia e intolerancia.<br />

La guerra civil. Una historia que habla de dos Españas (Madrid 1987). – Pio Moa, Los mitos<br />

de la guerra civil (Madrid 31. Aufl. 2004). – Antonio Montero, Historia de la persecución<br />

religiosa en España, 1936–1939 (Madrid 1998). – Javier Tusell – Genoveva García, El catolicismo<br />

mundial y la guerra de España (Madrid 1993).<br />

107


KuK 3 / p. 108 / 7.7.2005<br />

tholischen Bekenntnis übergetretenen Westgotenkönig Rekared als entscheidende<br />

Marke angesehen. Aber dabei handelte es sich nur um eine<br />

Privilegierung des katholischen Bekenntnisses bei Duldung anderer Religionen<br />

wie etwa des Judentums. Aus dem jahrhundertelangen Zusammenleben<br />

mit den Muslimen lernten die Christen, dass eine „multireligiöse“<br />

Gesellschaft in der Asymmetrie einer privilegierten Staatsreligion und verschiedener<br />

mit Einschränkungen geduldeter Religionen durchaus möglich<br />

war. Danach gab es im katholischen Spanien des Mittelalters Phasen, in<br />

denen das Zusammenleben von Christen, Juden und Muslimen zwar nicht<br />

konfliktfrei war, aber besser als anderswo in Europa gelang 2 . Eine ausschließliche<br />

Prägung erhielt die spanische Symbiose von Religion und Nation<br />

erst ab 1492 – man könnte den spanischen Konfessionalisierungsprozess<br />

avant la lettre nach dem Prinzip des „cuius regio, eius religio“ hier<br />

ansetzen – im Schatten der Vertreibung der Juden und Morisken (letzte<br />

Moriskenvertreibung Oktober 1613) und der inquisitorischen Verfolgung<br />

von Conversos, Alumbrados, Kryptoprotestanten und anderen Varianten<br />

religiöser und geistiger Heterodoxie durch die so genannten Altchristen,<br />

die sich seitdem für die eigentlichen Spanier hielten und die politische,<br />

wirtschaftliche und religiöse Macht an sich rissen.<br />

Solange Spanien im Goldenen Zeitalter die politische und geistige Führung<br />

Europas innehatte, blieb dieses Selbstverständnis nicht hinterfragt;<br />

man hielt sich für den Spiegel, in dem sich die anderen zu betrachten hatten.<br />

Im 18. Jahrhundert aber, als Spaniens Stern sank, begannen die Spanier,<br />

sich selbst in fremden Spiegeln zu sehen. Die „Afrancesados“ oder<br />

die Französelnden, wie die Freunde des aufgeklärten Frankreich despektierlich<br />

genannt wurden, standen in diesem Jahrhundert für ein anderes<br />

Spanien, das aus dem Ausland neue Ideen und Entwicklungen übernehmen<br />

und den nationalen Sonderweg seit 1492 in Frage stellen sollte. Die<br />

Französische Revolution und die napoleonische Besetzung Spaniens 1808<br />

verschärften den Prozess nationaler Selbstfindung angesichts der Moderne.<br />

Eine weitere Verschärfung sollte 1898 nach dem Verlust der letzten<br />

spanischen Überseeprovinzen Kuba, Puerto Rico und der Philippinen einsetzen.<br />

Es kam zu einer langen und turbulenten, durch Aufstände, Staatsstreiche,<br />

Bürgerkriege und konfliktreiche Wechsel von Monarchie, Republik<br />

und Diktatur geprägte Periode, die bis zum Tod Francos 1975 dauern<br />

und vom unversöhnlichen Gegensatz der „zwei Spanien“ geprägt sein<br />

sollte.<br />

Auf der einen Seite standen die Karlisten, Traditionalisten und Integristen,<br />

die an der besonderen Auserwählung Spaniens als Bastion der Katho-<br />

108<br />

Mariano Delgado<br />

2 Mariano Delgado, Der Mythos „Toledo“ – Zur Konvivenz der drei monotheistischen<br />

Religionen und Kulturen im mittelalterlichen Spanien, in: Sabine Hering (Hg.), Toleranz<br />

– Weisheit, Liebe oder Kompromiss? Multikulturelle Diskurse und Orte (Opladen<br />

2004) 69–91.


KuK 3 / p. 109 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

lizität festhielten und sich folglich dessen Zukunft auch in der Moderne<br />

nur als zeitgemäße Fortsetzung der Symbiose von Religion und Nation<br />

seit 1492 vorstellen konnten. Der konservative Historiker Marcelino<br />

Menéndez Pelayo brachte die Vorschläge dieses Lagers, zu dem Intellektuelle<br />

vom Format eines Juan Donoso Cortés, Ramiro de Maeztu oder<br />

Manuel García Morientes gehörten, auf den Punkt: „Spanien, Prediger<br />

des Evangeliums in der halben Welt: Spanien, Schreck der Ketzer, Licht<br />

von Trient, Roms Schwert, Wiege des hl. Ignatius …; das ist unsere Größe<br />

und Einheit: wir haben keine andere.“ 3 Menéndez Pelayo, der den Gegnern<br />

der Tradition zu katholisch und den Anhängern der Tradition zu liberal<br />

war, wollte damit den Spaniern klar machen, dass das katholische<br />

Christentum Spanien als Nation geformt hatte und jedes moderne Spanien<br />

sich dieser bleibenden Prägung als Grundlage bewusst sein sollte, wenn es<br />

noch „Spanien“ bleiben und sich nicht in die verschiedenen Bestandteile<br />

auflösen wollte.<br />

Seit Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als u.a. José María<br />

González Ruiz und Alfonso Álvarez Bolado den Begriff einführten, wurde<br />

es üblich, diese Weltsicht „Nationalkatholizismus“ zu nennen, vor allem<br />

im Blick auf die Zeit zwischen 1936 und 1975. Dieser Begriff ruft allerdings<br />

missverständliche Assoziationen zum Nationalsozialismus<br />

hervor. Die kirchlichen Befürworter einer engen Verbindung von Religion<br />

und Nation bedienten sich in Spanien derselben Erwählungstypologie wie<br />

einst die deutschen Christen. Mit dem Religionssoziologen Juan J. Linz ist<br />

aber festzuhalten, dass die Ziele sehr verschieden waren: Während es in<br />

Spanien darum ging, sich die Protektion des franquistischen Regimes bei<br />

der erstrebten Rekatholisierung der Gesellschaft zu sichern und die Treue<br />

zum Papsttum und zur Weltkirche nie zur Disposition stand, wollte man<br />

in Deutschland eher dem NS-Regime zeigen, dass der Protestantismus<br />

kein Hindernis, sondern ein Verbündeter extrem partikular-nationalistischer<br />

Bestrebungen war.<br />

Auf der anderen Seite plädierten vor allem das liberale Bürgertum, aber<br />

auch das linke Lager, für den Bruch mit der Tradition und den Anschluss<br />

an die europäische Moderne als Lösung aller Übel Spaniens. Der gemeinsame<br />

Nenner in Sachen „Religion und Nation“ war hier ein laizistisches<br />

und oft auch antiklerikales Gedankengut. Bei Philosophen wie Francisco<br />

Giner de los Rios oder José Ortega y Gasset und bei Politikern wie Manuel<br />

Azaña blieb es auf der Ebene des intellektuellen Diskurses und der Forderung<br />

nach einer liberalen Kirchenpolitik zwecks Kontrolle der Kirche<br />

und Zurückdrängung des kirchlichen, auch römischen Einflusses auf Staat<br />

und Gesellschaft. Bei radikalen Politikern wie Alejandro Lerroux findet<br />

3 Marcelino Menéndez Pelayo, Historia de los heterodoxos españoles, Vol. 2 (Madrid<br />

1987) 1038 (Epilog).<br />

109


KuK 3 / p. 110 / 7.7.2005<br />

sich aber 1906 eine antiklerikale Volkshetze im Sinne des blinden, emotionalen<br />

Antiklerikalismus der Unterschichten: „Junge Barbaren von heute:<br />

Fallt über die dekadente und armselige Zivilisation dieses unglücklichen<br />

Landes her, zerstört seine Tempel, erledigt seine Götter, reißt den Schleier<br />

der Novizinnen weg und erhebt sie in den Stand von Müttern, um die<br />

Gattung zu kräftigen. Macht weder vor Gräbern noch vor Altären Halt<br />

… Man muss die Kirche zerstören. Kämpft, tötet, sterbt!“ 4 Diese Hetze,<br />

die sich von der Judenhetze mittelalterlicher Karfreitagsprediger nicht unterschied,<br />

führte 1909 in Barcelona während der „tragischen Woche“ zu<br />

verheerenden antiklerikalen Pogromen mit der Zerstörung vieler Kirchen<br />

und Klöster.<br />

Beide Lager bedingten sich gegenseitig in einer unheilvollen Dynamik:<br />

Der integralistische Charakter des spanischen Katholizismus führte zur<br />

Radikalisierung der Laizisten und Antiklerikalen; und dies wiederum bestärkte<br />

das katholische Lager in seiner Ablehnung von Liberalismus und<br />

Sozialismus. Es wäre allerdings falsch, in der weltanschaulichen Frontstellung<br />

zwischen dem traditionalistisch-kämpferischen Klerikalismus und<br />

dem liberal-radikalen Antiklerikalismus eine unüberbrückbare Kluft zwischen<br />

Tradition und Moderne zu sehen. Vielmehr handelte es sich um eine<br />

Auseinandersetzung zwischen zwei Optionen für den unvermeidlichen<br />

Wandel Spaniens zur Moderne: Wandel in Kontinuität oder im Bruch mit<br />

der Vergangenheit? Dass das katholische Lager ein eigenes Modernisierungsprojekt<br />

hatte, wird in der Forschung zunehmend gewürdigt. Auch<br />

richtete sich der Antiklerikalismus des laizistischen Lagers nicht immer<br />

gegen die Kirche als Glaubensgemeinschaft, sondern gegen ihre Rolle als<br />

Stütze des Ancien régime. Sieht man von jenen ab, die in der doktrinären<br />

Syllabus-Mentalität befangen blieben und der Moderne prinzipiell nichts<br />

Gutes abgewinnen konnten, was nicht zuletzt für Teile der Hierarchie<br />

galt, so nahm das traditionalistische Lager seit der Restauration von 1870,<br />

die zu einer Verschärfung der Frontstellung zum laizistischen Lager führte,<br />

spätestens aber seit dem Pontifikat Leos XIII. (1878–1903), der eine<br />

neue Einstellung der Kirche gegenüber den Errungenschaften der Moderne<br />

wie der Pressefreiheit und der sozialen Frage herbeiführte, einige Bedingungen<br />

der Moderne an; es bekämpfte fortan das laizistische Lager mit<br />

durchaus „modernen“ Mitteln politischer Auseinandersetzung: Mit der<br />

christlichen Gewerkschaftsbewegung, mit kirchennahen politischen Parteien,<br />

mit kämpferischen und elitären Laienorganisationen wie der 1908<br />

durch den Jesuiten Ángel Ayala gegründeten Asociación Católica Nacional<br />

de Propagandistas (ACNP), die in Politik, Wirtschaft und Kultur tätig<br />

und „realpolitisch“ eingestellt waren; mit Zeitungen wie dem 1911 von der<br />

ACNP gekauften „El Debate“; mit Verlagen wie dem 1912 von der ACNP<br />

110<br />

Mariano Delgado<br />

4 Hier zitiert nach W. L. Bernecker, Religion (Anm. 1) 80.


KuK 3 / p. 111 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

gegründeten „La Editorial Católica“; schließlich mit der Gründung der<br />

Katholischen Aktion 1926. Aus diesen Institutionen lebte der parteipolitisch<br />

aktive Katholizismus der dreißiger Jahre.<br />

Die Konfrontation zwischen den zwei Spanien erreichte ihren Höhepunkt<br />

während der zweiten Republik (1931–1939). Viel ist darüber geschrieben<br />

worden; da Geschichtsschreibung aber immer auch Interpretation<br />

der Vergangenheit im Lichte der Gegenwart bedeutet, ist dieser<br />

Historikerstreit noch nicht abgeschlossen. Nach 1931 kam es zunächst zu<br />

einer Wende im Zeichen des kulturellen und politischen Laizismus und<br />

Antiklerikalismus der Intellektuellen und der liberalen Mittelschichten.<br />

Dazu zählten auch einige Katholiken, die die liberalen Ideen der Moderne<br />

bezüglich der Religion weitgehend teilten: Religionsfreiheit, Laizismus<br />

des Staates, Trennung von Kirche und Staat, Entkonfessionalisierung der<br />

Schulen, Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses aus dem öffentlichen<br />

Bereich, Einführung von Zivilehe und Ermöglichung der Ehescheidung –<br />

wie in den Religionsartikeln der neuen Verfassung vom Dezember 1931<br />

festgeschrieben 5 . Sie ist in der spanischen Verfassungsgeschichte beispiellos<br />

und kann – vor allem auf Grund der Bestimmungen gegen die Orden<br />

und der Einschränkungen der Bürgerrechte des Klerus – als die verspätete<br />

spanische Variante des „Kulturkampfes“ angesehen werden. Bei der parlamentarischen<br />

Debatte darüber im Herbst 1931 begründete der Liberale<br />

Manuel Azaña die Notwendigkeit der Kirchenartikel als Antwort auf die<br />

allgemeinen religionssoziologischen Bedingungen der Moderne, die er<br />

auch in Spanien zu beobachten meinte: „Spanien ist nicht mehr katholisch;<br />

das sich daraus ergebende Problem besteht darin, den Staat so zu organisieren,<br />

dass er der neuen und historischen Phase des spanischen Volkes<br />

angepasst wird … die ganze Bewegung der Zivilisation verläuft gegen das<br />

katholische Europa; und trotz unserer verminderten geistigen Tätigkeit<br />

hat der Katholizismus seit dem vergangenen Jahrhundert auch in Spanien<br />

aufgehört, Ausdruck und Leitstern des spanischen Denkens zu sein.“ 6<br />

Dieser kulturkämpferische Abschied vom Katholizismus als staatsprägender<br />

Kraft war im damaligen Spanien mehr Wunsch antiklerikaler Politiker<br />

als Faktum. Ein unverdächtiger Zeuge wie der liberale Staatsmann<br />

und Denker Salvador de Madariaga, der die Angemessenheit des monokonfessionellen<br />

Weges Spaniens seit den Katholischen Königen in Frage<br />

gestellt hat, spricht im Zusammenhang mit der Verfassung von 1931 vom<br />

„antiklerikalen Eifer“ der wichtigsten Politiker der Republik bzw. von<br />

einem „engen und revanchistischen Antiklerikalismus“ und einer „selbstmörderischen<br />

Politik“, die der Rechten die Argumente lieferte, um sich zu<br />

reorganisieren. Azañas oben zitierte Behauptung vom 13. Oktober 1931,<br />

5 Vgl. Wortlaut der Kirchenartikel in: A. Montero, Historia (Anm. 1) 748–751.<br />

6 Manuel Azaña, Obras completas, Vol. 2 (México 1966) 51 f.<br />

111


KuK 3 / p. 112 / 7.7.2005<br />

wonach Spanien nicht mehr katholisch sei, so scharfsinnig sie im Sinne der<br />

nötigen Trennung von Staat und Kirche auch war, entsprach weder dem<br />

Lebensgefühl noch der gesellschaftlichen Wirklichkeit des damaligen Spanien.<br />

Nicht ohne Ironie vermerkt Madariaga dazu: „In jener antiklerikalen<br />

Versammlung, die den antiklerikalen Präsidenten ihres Regierungsrates<br />

enthusiastisch zuhörte und applaudierte, gab es sicherlich nicht einmal<br />

2% der Abgeordneten, die fähig gewesen wären, in Sachen der Heiligen<br />

Messe, der Sakramente und der Erziehung ihren jeweiligen Ehefrauen Widerstand<br />

zu leisten; und unter diesen gab es keinen einzigen, der, nachdem<br />

er heroisch genug gewesen wäre, sich seiner Frau entgegenzustellen, auch<br />

heroisch genug wäre, diese auch noch zu besiegen“ 7 . Der Laizismus der<br />

Verfassung vom Dezember 1931, der 1932/33 durch antiklerikale Maßnahmen<br />

verschärft wurde (Auflösung der Gesellschaft Jesu am 23. Januar<br />

1932, Einschränkung des Wirkens anderer Orden und Kongregationen,<br />

Säkularisierung der Friedhöfe, Entfernung der Kreuze aus den Schulen,<br />

Konfiszierung kirchlicher Gebäude), führte nicht nur zu heftigen Protesten<br />

der spanischen Bischöfe (Primas Pedro Kardinal Segura, der sich besonders<br />

scharf äußerte, musste das Land verlassen) und des Vatikans, sondern<br />

1933 auch zur Gründung der Confederación Española de Derechas<br />

Autónomas (CEDA) als Dachverband des parteipolitischen Katholizismus<br />

sowie zu einem Wiederaufleben des Karlismus und des Wunsches<br />

nach einem autoritären kirchenfreundlichen Regime. Die politischen Vertreter<br />

des Katholizismus waren nach dem Sieg der Rechten bei den Wahlen<br />

vom Dezember 1933 an der Macht beteiligt und konnten die Folgen der<br />

Kirchenartikel mildern. Seit dem Beginn der Volksfrontregierung im<br />

Frühjahr 1936 war die radikal-laizistische Politik aber nicht mehr aufzuhalten.<br />

Sie wurde ein Auslöser des Bürgerkriegs. War dieser eher ein<br />

Religions- und Zivilisationskrieg, wie die spanischen Bischöfe zu verstehen<br />

gaben, oder ein Klassenkampf, wie nicht zuletzt prominente Katholiken<br />

wie Mounier, Maritain und Sturzo damals meinten?<br />

Für den religiösen und weltanschaulichen Charakter sprechen folgende<br />

Argumente:<br />

1) Die explosive Verbindung des kulturellen und politischen Antiklerikalismus<br />

der Intellektuellen und der liberalen Mittelschichten mit dem radikalen<br />

und revolutionären Antiklerikalismus der Unterschichten führte<br />

während des Bürgerkriegs in der republikanischen Zone – mit einem Höhepunkt<br />

bereits in den ersten Kriegsmonaten Juli-September 1936 – zur<br />

Zerstörung vieler Kirchen und Klöster und zur Ermordung von ca. 7000<br />

Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und kirchlich engagierten Laien, die<br />

das einzige Verbrechen begangen hatten, Menschen der Kirche zu sein.<br />

112<br />

Mariano Delgado<br />

7 Salvador de Madariaga, España. Ensayo de historia contemporánea (Madrid<br />

14. Aufl. 1979), 333f.


KuK 3 / p. 113 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

Viele wurden in den letzten Jahren von Papst Johannes Paul II. selig- bzw.<br />

heiliggesprochen.<br />

2) Mit Ausnahme des Bischofs Mateo Múgica von Vitoria im Baskenland,<br />

der an die negativen Folgen für die Exponenten seines Bistums in der<br />

republikanischen Zone dachte, und von Francisco Kardinal Vidal i Barraquer<br />

von Tarragona in Katalonien, der sich außerhalb Spaniens im Exil<br />

befand, unterzeichneten alle Diözesanbischöfe unter Führung des Primas<br />

Isidro Kardinal Gomá y Tomás am 1. Juli 1937, also fast ein Jahr nach dem<br />

Kriegsausbruch vom 18. Juli 1936, ein gemeinsames Hirtenschreiben<br />

(carta colectiva), das in der Weltkirche großes Aufsehen erregte 8 . Es stellte<br />

nicht zuletzt den Versuch dar, den Einfluss der katholischen und zugleich<br />

republiktreuen baskischen Nationalisten – die Republik hatte dem Baskenland<br />

und Katalonien weitgehende politische Autonomie zugestanden<br />

– auf die öffentliche katholische Meinung im Ausland zu konterkarieren.<br />

Die Bischöfe stellten fest: „Die Kirche hat diesen Krieg weder gewollt<br />

noch gesucht.“ Nach Beschreibung der Kirchenverfolgungen beurteilten<br />

sie die Kriegslage zu diesem Zeitpunkt als Verteidigung der Religion und<br />

der traditionellen Zivilisation Spaniens durch die nationale Seite gegen die<br />

materialistische – „heiße sie nun marxistisch, kommunistisch oder anarchistisch“<br />

– radikal neue Zivilisation der russischen Sowjets. Viele Hirtenbriefe<br />

der Bischöfe während des Bürgerkrieges nahmen für die Seite<br />

Francos viel deutlicher Partei 9 . Aber in der Sache gilt, dass erst die massive<br />

Kirchenverfolgung von republikanischer Seite, die weit brutaler und hasserfüllter<br />

war als die während der mexikanischen oder der sowjetischen<br />

Revolution – aus historischem Abstand werden die Ereignisse allmählich<br />

objektiver betrachtet –, die Bischöfe und die Mehrheit der praktizierenden<br />

Katholiken definitiv auf die andere Seite trieb.<br />

3) Schließlich ist die nach anfänglichem Zögern eindeutige Parteinahme<br />

des Vatikans zu nennen, die im Mai 1938, mitten im Krieg und trotz gegenteiliger<br />

Bemühungen der republikanischen Regierung, zur Entsendung<br />

eines Nuntius nach Salamanca und somit zur diplomatischen Anerkennung<br />

der franquistischen Regierung führte.<br />

Das Schwarz-Weiß-Schema Franquismus-Katholizismus gegen Republik-Antiklerikalismus<br />

(Atheismus und Materialismus) wird zumindest<br />

fragwürdig, wenn man bedenkt, dass die katholischen Basken – und zwar<br />

Bevölkerung, Politiker und Seelsorgeklerus – in den Provinzen Biskaia<br />

und Guipuzcoa mehrheitlich zur Republik standen (in Alava und Navarra<br />

standen sie hingegen zu den Aufständischen) und 16 „national-baskische“<br />

Geistliche – trotz energischen Protestes des Primas – durch Anhänger<br />

8 Vgl. Wortlaut des Hirtenbriefes in A. Montero, Persecución (Anm. 1) 726–741. Ca.<br />

580 solidarische Antwortbotschaften aus aller Welt trafen beim spanischen Episkopat ein.<br />

Eine Sammlung der wichtigsten findet sich in: J. Tusell – G. García, Catolicismo (Anm. 1).<br />

9 Vgl. A. Álvarez Bolado, Guerra (Anm. 1).<br />

113


KuK 3 / p. 114 / 7.7.2005<br />

Francos erschossen wurden. Nach der Ernennung des baskischen Katholiken<br />

Manuel de Irujo zum Justizminister im September 1936 war die republikanische<br />

Regierung bemüht, die Kirchenverfolgung zu beenden und<br />

die diplomatischen Beziehungen zum Heiligen Stuhl wiederherzustellen.<br />

Dies verzögerte jedoch nur die diplomatische Anerkennung der franquistischen<br />

Regierung, hielt sie aber nicht auf. Auch ist zu erwähnen, dass die<br />

Beziehungen der Kirche zur franquistischen Regierung nicht frei von<br />

Spannungen waren. So untersagte Franco die Publikation der Enzyklika<br />

Pius’ XI. „Mit brennender Sorge“ vom März 1937 im nationalen Spanien<br />

und zensierte aus dem päpstlichen Glückwunsch vom 16. April 1939 aus<br />

Anlass des Sieges jene Abschnitte, die Großmut und Menschlichkeit gegenüber<br />

den Besiegten forderten. Der Hirtenbrief des Primas Kardinal<br />

Gomá „Lecciones de la guerra y deberes de la paz“ (Die Lehren des Krieges<br />

und die Pflichten des Friedens) vom 8. August 1939 – er enthielt u.a.<br />

einen Aufruf zu Vergebung und Versöhnung sowie eine Verurteilung des<br />

Totalitarismus – konnte zwar im Amtsblatt des Erzbistums Toledo erscheinen,<br />

aber die allgemeine Verbreitung wurde vom Innenminister untersagt.<br />

Bezüglich des Streites um den religiösen Charakter des Krieges sollte<br />

Folgendes gelten: Bedenkt man die radikale, kulturkämpferische Trennung<br />

von Religion und Nation, die die Verfassung von 1931 unter dem<br />

Primat des Laizismus intendierte, sowie die – für die Moderne anachronistische<br />

– Symbiose nach Art der Katholischen Könige von 1492, die das<br />

franquistische Regime restaurierte, so muss man den Bürgerkrieg als Krieg<br />

mit weitreichenden Folgen für das Verhältnis von Religion und Nation,<br />

Staat, Gesellschaft und Kirche ansehen. Für das neue Regime galt nun die<br />

Devise, die der Bischof von Salamanca und spätere Primas (ab 3. Oktober<br />

1941), Enrique Pla y Deniel, in seinem Hirtenbrief „Las dos ciudades“<br />

(Die zwei Staaten) vom 30. September 1936 ausdrücklich gegen Azañas<br />

Abschied vom katholischen Spanien 1931 gegeben hatte: „Ein laizistisches<br />

Spanien ist kein Spanien mehr.“ 10 Angesichts des militanten Laizismus und<br />

Antiklerikalismus der republikanischen Seite und der damit einhergehenden<br />

Kirchenverfolgung ist aus historischer Sicht nicht die Rechtfertigung<br />

des Krieges durch die Bischöfe verwunderlich, sondern das Schweigen, das<br />

die meisten von ihnen angesichts des unbarmherzigen Revanchismus der<br />

Sieger wahrten. Denn das Problem der zwei Spanien ist nicht die geistige<br />

oder gewaltsame Konfrontation als solche, die es nach der Französischen<br />

Revolution in vielen Ländern Europas gegeben hat, sondern die Erbitterung,<br />

mit der diese geführt wurde und die dazu führte, dass die Sieger jeweils<br />

ohne Abstrich siegen wollten.<br />

114<br />

Mariano Delgado<br />

10 Vgl. Wortlaut in A. Montero, Persecución (Anm. 1), 688–708, hier 704.


KuK 3 / p. 115 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

Teil II:<br />

Die politische Ebene 11<br />

Das aus dem Bürgerkrieg hervorgegangene Regime hatte ein zwiespältiges<br />

Verhältnis zur Kirche. Einerseits verstand es sich als Sachwalter der katholischen<br />

Seele Spaniens. Es unterstützte den materiellen und personellen<br />

Wiederaufbau der Kirche (Kirchengebäude, Klöster, Priesterausbildung,<br />

Rekatholisierung) und übertrug ihr weitgehend Erziehung und Bildung,<br />

Kranken- und Heimpflege, Sozial- und Jugendarbeit. Am 7. Juni 1941<br />

wurde eine Vereinbarung mit dem Heiligen Stuhl zum besonderen Schutz<br />

der Kirche unterzeichnet. Darin hieß es u.a., dass die ersten vier Artikel<br />

des Konkordats von 1851 weiterhin gälten, so Artikel 1: „Die katholische,<br />

apostolische, römische Religion, die unter Ausschluss jedes anderen Kultes<br />

die einzige Religion der spanischen Nation bleibt, … und zwar mit<br />

allen Rechten und Vorrechten, die ihr nach dem Gesetz Gottes und den<br />

Vorschriften des Kirchenrechtes zukommen müssen“ 12 . Andererseits hatte<br />

das neue Regime „regalistische“ Aspirationen bezüglich der Auswahl und<br />

politischen Kontrolle der Kirchenleitung. Es bestand aus verschiedenen<br />

11 Ausgewählte Literatur über die in Anm. 1 bereits angeführte Literatur hinaus (alphabetisch):<br />

Quintín Aldea Vaquero, Spanien, in: Hubert Jedin – Konrad Repgen (Hg.),<br />

Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 7: Die Weltkirche im 20. Jahrhundert (Freiburg 1979)<br />

611–622. – Alfonso Álvarez Bolado, El experimento del Nacional-Catolicismo (1939–<br />

1975) (Madrid 1976). – Ders., Teología política desde España. Del nacional-catolicismo y<br />

otros ensayos (Bilbao 1999). – Daniel Francisco Ávarez Espinosa, Cristianos y marxistas<br />

contra Franco (Cádiz 2003). – Niceto Blázquez Fernández, El nacional clericalismo vasco<br />

(Madrid 2004). – Jesús Bastante, Los curas de ETA. La Iglesia vasca entre la cruz y la ikurriña<br />

(Madrid 2004). – José Andrés-Gallego – Antón M. Pazos, La Iglesia en la España<br />

contemporánea, vol. 2: 1936–1998 (Madrid 1999). – Alfonso Botti, Nazionalcattolicesimo<br />

e Spagna nuova (1881–1975) (Milano 1992). – Guy Hermet, Les catholiques dans L’Espagne<br />

franquiste, vol. 1: Les acteurs du jeu politique; vol. 2: Chronique d’une dictadure (Paris<br />

1980–1981). – Jesús Iribarren (Hg.), Documentos de la Conferencia Episcopal Española,<br />

1965–1983 (Madrid 1984). – Juan J. Linz, Staat und Kirche in Spanien. Vom Bürgerkrieg<br />

bis zur Wiederkehr der Demokratie, in: Martin Greschat – Jochen-Christoph Kaiser<br />

(Hg.), Christentum und Demokratie im 20. Jahrhundert (Konfession und Gesellschaft Bd. 4)<br />

(Stuttgart u.a. 1992) 60–88. – Antonio Matos Ferreira, Der Katholizismus in Spanien<br />

(1914–1958), in: Jean-Marie Mayeur u.a. (Hg.), Die Geschichte des Christentums. Religion,<br />

Politik, Kultur, Bd. 12: Erster und Zweiter Weltkrieg, Demokratien und Totalitäre Systeme<br />

(1914–1958) (Freiburg 1992) 515–547. – Laurentino Novoa, Religionsfreiheit in Spanien:<br />

Geschichte, Problematik, Zukunftsperspektiven, (Regensburger Studien zur Theologie<br />

17) (Frankfurt 1978). – Joaquín L. Ortega, La Iglesia española desde 1939 hasta 1976, in:<br />

Historia de España, vol. 5: La Iglesia en la España contemporánea (1808–1975), hg. von Vicente<br />

Cárcel Ortí (Madrid 1979) 665–707. – Stanley G. Payne, Die Kirche und der<br />

Übergangsprozess, in: Walther L. Bernecker – Josef Oehrlein, Spanien heute. Wirtschaft,<br />

Politik, Kultur (Frankfurt 1991) 105–120. – Josep M. Piñol, La transición democrática<br />

de la Iglesia católica española (Madrid 1999). – Joaquín Ruiz Giménez (Hg.), Iglesia,<br />

Estado y Sociedad en España. 1930–1982 (Barcelona 1984). – Javier Tusell, Franco y los<br />

católicos. La política interior española entre 1945 y 1957 (Madrid 1984). – Verschiedene Autoren,<br />

La Iglesia en la sociedad española. Del Vaticano II al año 2000 (Estella 1990).<br />

12 Vgl. Wortlaut des Konkordats von 1851 und der Vereinbarung von 1941 in: V. Cárcel<br />

Ortí, Iglesia (Anm. 11) 719–730, 740–741.<br />

115


KuK 3 / p. 116 / 7.7.2005<br />

politischen Strömungen bzw. Gruppen, deren Interessen sich nicht immer<br />

mit denen der Kirche deckten. Zu jenen Katholiken, die im eigenen, nicht<br />

im Auftrag des politischen Katholizismus, der Regierung angehörten, kamen<br />

verschiedene Gruppen von Monarchisten – sei es als Traditionalisten<br />

und Karlisten oder als Alfonsinos, die Don Juan, dem Sohn des letzten<br />

Königs, nahe standen –, ferner Vertreter des Militärs und vor allem der<br />

faschistischen Einheitspartei Falange. Diese waren wiederum in eine eher<br />

katholisch-regalistische und eine eher laizistische Fraktion geteilt. Während<br />

des Zweiten Weltkrieges sympathisierten sie mit Deutschland und<br />

Italien, die ihrerseits dank der Falange Franco im Bürgerkrieg unterstützt<br />

hatten. Die Übergänge zwischen den politischen Gruppierungen waren<br />

oft fließend und ermöglichten Mehrfachidentitäten. Die Kirche ihrerseits<br />

war zwar mit der neuen Handlungsfreiheit und Unterstützung zufrieden,<br />

die eine Rekatholisierung Spaniens ermöglichte; sie machte aber aus ihrem<br />

Misstrauen gegenüber dem traditionellen Regalismus wie den modernen<br />

Totalitarismen keinen Hehl; sie misstraute vor allem der Falange.<br />

In den ersten Jahren des Franquismus endete der Machtkampf der verschiedenen<br />

politischen Gruppierungen zugunsten der Falange. Erst die<br />

Kriegswende im Winter 1942–43 (Stalingrad!), vor allem aber der Sieg<br />

der Alliierten im Frühjahr 1945 mit der darauf folgenden diplomatischen<br />

Isolierung Spaniens, ferner das „Lausanner Manifest“ Don Juans aus demselben<br />

Jahr, in dem er die Restauration der Monarchie in seiner Person und<br />

eine parlamentarische Demokratie liberaler Prägung mit politischer<br />

Amnestie und regionalen Sonderrechten forderte, führten zu einer Minderung<br />

des Einflusses der Falange und zu einer Öffnung des Regimes zugunsten<br />

des politischen Katholizismus als neuer stabilisierender Kraft. Seit<br />

Februar 1943 waren die Bischöfe in den gesetzgebenden Gremien des neuen<br />

Regimes vertreten (Ständekammer, Staats- und Kronrat), und ab Juli<br />

1945 übernahmen Mitglieder von Laienorganisationen wie der ACNP,<br />

der Katholischen Aktion und der Pax Romana, die den Bischöfen nahe<br />

standen, mit deren Billigung Ministerämter. Ebenfalls im Juli 1945 wurde<br />

„El fuero de los españoles“ (Grundgesetz der Spanier) verabschiedet, das<br />

im Sinne der Vereinbarung von 1941 den Katholizismus privilegierte und<br />

andere öffentliche Kulthandlungen verbot. In der katholischen Komponente<br />

sah Franco 1946 den grundlegenden Unterschied zwischen seinem<br />

System und dem Nationalsozialismus und Faschismus.<br />

1. Unter dem Franquismus<br />

Im Verhältnis des Katholizismus zum Franquismus sind drei Phasen zu<br />

unterscheiden, die von den Organisationen des Laienapostolates (1945–<br />

1957), von Mitgliedern des Opus Dei (1957–1969) und von der Bischofskonferenz<br />

(1966–1975) geprägt wurden.<br />

116<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 117 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

1) Die Stunde des Laienapostolates (1945–1957)<br />

Javier Tusell hat mit einsichtigen Argumenten die These untermauert, dass<br />

es bis 1945 keine Zusammenarbeit des politischen Katholizismus der dreißiger<br />

Jahre mit dem Franquismus gegeben hat. Für ihn beginnt diese erst<br />

mit dem Eintritt von Alberto Martín Artajo im Juli 1945 als Außenminister<br />

in die Regierung. Artajo (1905–1979) kam aus den Reihen der ACNP<br />

und war in den zwanziger und dreißiger Jahren in der Leitung der Pax<br />

Romana und der Katholischen Aktion aktiv gewesen. 1940 wurde er von<br />

den Bischöfen zum Präsidenten des nationalen Verbandes der Katholischen<br />

Aktion ernannt, ein Amt, das ihn an die Spitze des Laienapostolates<br />

stellte und das er bis zu seiner Ernennung zum Minister behielt. Darüber<br />

hinaus war er ein dezidierter Anhänger Angel Herreras, des Mentors<br />

der realpolitischen Bereitschaft des politischen Katholizismus der dreißiger<br />

und der vierziger Jahre zur Zusammenarbeit. Herrera (1886–1968) war<br />

von herausragendem Format, und zwar geistig wie geistlich. Als Laie (Anwalt<br />

und Journalist) war er vor dem Krieg die treibende Kraft der ACNP<br />

und Direktor der katholischen Zeitung „El Debate“; 1931 gründete er die<br />

Partei Acción Nacional (später Acción Popular), die zum Kern der CEDA<br />

werden sollte; 1933 wurde er Präsident des nationalen Verbandes der Katholischen<br />

Aktion; während des Bürgerkriegs studierte er in Fribourg<br />

Theologie; nach seiner Priesterweihe 1940 kam er nach Spanien, wo er sich<br />

um den sozialen Katholizismus verdient machte und ein gefragter politischer<br />

Ratgeber wurde; 1947 wurde er Bischof von Málaga und 1965 Kardinal.<br />

Am 15. April 1931, einem Tag nach der Ausrufung der Zweiten Republik,<br />

trat er in einem Editorial in „El Debate“ für die Annahme der<br />

neuen Regierung und die kritische Zusammenarbeit der Katholiken ein.<br />

Ähnlich war er gegenüber dem Franquismus eingestellt. Die kritische Zusammenarbeit<br />

wurde auch von Fernando Martín Sánchez-Juliá, seit 1935<br />

Präsident der ACNP und deren Neuorganisator nach dem Krieg, sowie<br />

von Joaquín Ruiz Giménez (*1912), seit 1939 Präsident von Pax Romana,<br />

befürwortet. Ruiz Giménez wurde enger Mitarbeiter von Martín Artajo,<br />

der ihn 1948 zum Botschafter beim Heiligen Stuhl ernannte, um ein neues<br />

Konkordat in die Wege zu leiten. 1951 wurde er Erziehungsminister und<br />

versuchte den Einfluss des harten Kerns der Falange, aber auch einzelner<br />

Mitglieder des Opus Dei aus der Universität zu drängen und das Regime<br />

zu liberalisieren. Dabei konnte er sich auf katholische Intellektuelle und<br />

Dissidenten der Falange wie Antonio Tovar und Pedro Laín Entralgo stützen.<br />

In diesem Geist der Bereitschaft zu kritischer Zusammenarbeit traten<br />

1945 die im Laienapostolat aktiven Katholiken der Regierung bei. Der Architekt<br />

der neuen Politik, die aus der Verdrängung der Falange und der<br />

Aufnahme prominenter Katholiken in die Regierung bestand, scheint der<br />

117


KuK 3 / p. 118 / 7.7.2005<br />

Franco-Vertraute Luis Carrero Blanco gewesen zu sein, der ebenfalls der<br />

Katholischen Aktion nahestand. Er bot Martín Artajo das Außenministerium<br />

an in der Erwartung, dass man ihn in Rom gut empfangen werde und<br />

dies, nachdem die führenden westlichen Demokratien nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg zum Boykott des Franco-Regimes aufgerufen hatten, sehr<br />

wichtig sei. Vor einer Zusage konsultierte Artajo zunächst Herrera. Dieser<br />

ermutigte ihn zur Annahme und sagte ihm die Unterstützung des politischen<br />

Katholizismus zu. 1953 äußerte er dann als Bischof von Malaga sein<br />

Misstrauen gegenüber dem Machthunger Martín Artajos und bezeichnete<br />

den „christdemokratischen“ Versuch zur Reform des Regimes als aussichtslos.<br />

Artajo konsultierte ferner Primas Pla y Deniel, da er mit seinem<br />

Eintritt in die Regierung der Katholischen Aktion nicht schaden wollte.<br />

Der Primas erklärte: „Die Katholische Aktion fühlt sich geehrt, wenn ihre<br />

Männer zu einer höheren Aufgabe berufen werden“ 13 . Darüber hinaus ermutigte<br />

er Artajo zur Annahme des Außenministeriums, weil dies für die<br />

Weiterentwicklung des Regimes ratsam sei. Am 21. Juli 1945, nur drei Tage<br />

nach der Potsdamer Konferenz, wurde die neue Regierung mit Artajo<br />

als Außenminister vereidigt. In der katholischen Presse und im Bulletin<br />

der ACNP wurde dies sehr begrüßt.<br />

Die Bereitschaft zu kritischer Zusammenarbeit war im politischen Katholizismus<br />

zwar mehrheitsfähig, aber nicht unumstritten. Zu den prominentesten<br />

Gegnern gehörten zwei ehemalige katholische Minister der<br />

Republik aus der CEDA: José María Gil Robles (1898–1980) und Manuel<br />

Giménez Fernández (1896–1968). Gil Robles lebte nun im portugiesischen<br />

Exil und stand der Sache Don Juans (Restauration der Monarchie<br />

mit liberaler Prägung) nahe. Die Annahme des Außenministeriums durch<br />

Martín Artajo bezeichnete er als „den schwersten Fehler, den man begehen<br />

konnte“, denn keine andere spanische Regierung habe bisher in der<br />

Welt einen so tiefen Hass ausgelöst. Gil Robles dachte wohl, die Tage des<br />

Franquismus seien angesichts des internationalen Drucks gezählt. Die Befürworter<br />

der Zusammenarbeit waren hingegen der Meinung Herreras:<br />

„Ich sehe derzeit keine andere mögliche Regierung in Spanien als die<br />

Francos. Wer ihr nachfolgt, muss von ihr selbst hervorgebracht werden“ 14 .<br />

Auch Giménez Fernández, ehemaliger Landwirtschaftsminister der Republik<br />

und bis Ende der dreißiger Jahre Mitglied der ACNP, der später Priester<br />

und Domherr von Sevilla wurde und bis heute bahnbrechende Werke<br />

über Bartolomé de Las Casas veröffentlichte, lehnte jedwede Zusammenarbeit<br />

mit dem Franquismus ab. Er träumte stattdessen von einem Zusammenschluss<br />

der Katholiken in einer christdemokratischen Partei wie die<br />

Adenauers in Deutschland und De Gasperis in Italien. Er sammelte um<br />

118<br />

13 J. Tusell, Franco (Anm. 11) 62.<br />

14 J. Tusell, Franco (Anm. 11) 75.<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 119 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

sich eine Gruppe kritischer Katholiken mit dem Namen „Izquierda democrática<br />

cristiana“ und wurde 1957 Präsident der von Madrider Studenten<br />

gegründeten „Unión democrática cristiana“ (UDC).<br />

Die durch die Mitarbeit der Organisationen des Laienapostolats geprägte<br />

Periode war nicht frei von Spannungen. Die 1946 erfolgte Gründung<br />

der Arbeiterbruderschaft der Katholischen Aktion, der „Hermandad<br />

Obrera de la Acción Católica“ (HOAC), und die 1947 folgende Gründung<br />

der Katholischen Arbeiterjugend, der „Juventud Obrera Católica“<br />

(JOC), die nach dem Prinzip „Sehen-Urteilen-Handeln“ arbeiteten, waren<br />

Vorboten einer sozialen Wende im spanischen Katholizismus. Die<br />

Analyse der schwierigen sozialen Situation in ihren Presseorganen führte<br />

zu manchen Konflikten mit dem Regime und vielen Bischöfen, die eher<br />

ein pastorales als ein politisches Profil der Laienorganisationen wünschten.<br />

Sie befürchteten, dass sie sich zur katholischen Alternative der von<br />

der Regierung verordneten Einheitsgewerkschaft entwickeln könnten. In<br />

der Tat wurden diese Organisationen zum Sammelbecken katholischer<br />

Dissidenten und zur Schule vieler Kader, die in der Spätphase des Franquismus<br />

die Reihen der verschiedenen Untergrund-Gewerkschaften füllen<br />

sollten; sie bildeten aber auch eine Brücke der Kirche zur Arbeiterschaft.<br />

In dieser Phase genossen sie noch die dezidierte Rückendeckung<br />

des Primas Pla y Deniel und einiger Bischöfe, die soziale Hirtenbriefe<br />

schrieben und den Sorgen der Arbeiter nahe standen. So publizierte Vicente<br />

Enrique y Tarancón, damals Bischof von Solsona, 1950 einen Sozialhirtenbrief<br />

mit dem Titel „El pan nuestro de cada día“ (Unser tägliches Brot).<br />

Das bedeutende Ergebnis der katholischen Mitarbeit bildeten zweifellos<br />

jene Verhandlungen, die am 27. August 1953 zur Unterzeichnung des<br />

Konkordates mit dem Heiligen Stuhl, am 29. September 1953 zu den<br />

Freundschaftsverträgen mit den Vereinigten Staaten und schließlich im<br />

Dezember desselben Jahres zur Aufnahme Spaniens in die Vereinten Nationen<br />

führten. Damit war die politische Isolation des Landes aufgebrochen.<br />

Aus der Sicht des Regimes hatte damit die Mitarbeit des politischen<br />

Katholizismus ihren Zweck erfüllt. Die kritische Entwicklung der Katholischen<br />

Aktion und die christdemokratischen Tendenzen von Ruiz<br />

Giménez ließen den politischen Katholizismus suspekt erscheinen. Die<br />

neue Bedeutung der wirtschaftlichen Frage legte den Austausch der Mitglieder<br />

der apostolischen Laienorganisationen durch eine pragmatischere,<br />

technokratische Variante nahe, die keine unmittelbare Liberalisierung des<br />

Regimes erwartete. Nach Studentenunruhen wurde 1956 Joaquín Ruiz<br />

Giménez mit Dank entlassen, 1957 folgte Martín Artajo. Erstaunlich ist,<br />

dass trotz ihrer Erfahrung, wonach die erhoffte demokratische Weiterentwicklung<br />

des Regimes nicht möglich war, beide nicht rechtzeitig zurücktraten,<br />

sondern Franco das Gesetz des Handels überließen.<br />

Die Mitarbeiter aus den Reihen des politischen Katholizismus waren<br />

119


KuK 3 / p. 120 / 7.7.2005<br />

1945 der Regierung beigetreten, um sie von innen her für eine Entwicklung<br />

zu größerer Freiheit in Angleichung an die in Europa herrschenden<br />

christdemokratischen Vorstellungen zu bereiten. Aber gerade diesbezüglich<br />

war die Bilanz negativ, denn das Regime ließ sich nicht liberalisieren.<br />

Gleichwohl trug der politische Katholizismus dazu bei, den Einfluss der<br />

Falange in Grenzen zu halten; auch nahm er eine Vermittlerrolle bei Konflikten<br />

mit den Laienorganisationen, dem Vatikan und den Bischöfen<br />

wahr. Man kann durchaus sagen, dass Franco den politischen Katholizismus<br />

benutzte, solange er ihm dienlich schien (1945–1957), dass er ihn aber<br />

fallen ließ, als die demokratischen Erwartungen zu groß wurden. Christdemokratische<br />

Tendenzen gab es fortan nur noch außerhalb des Regimes.<br />

2) Die Stunde der Mitglieder des Opus Dei (1957–1969)<br />

Einzelne Mitglieder der ACNP saßen auch nach 1957 in der Regierung;<br />

aber sie waren dort als Einzelpersönlichkeiten vertreten und nicht mehr<br />

als Repräsentanten der katholischen Laienorganisationen oder des politischen<br />

Katholizismus mit Zustimmung der Bischöfe. In den Regierungen<br />

ab 1957 waren Mitglieder oder Sympathisanten des Opus Dei besonders<br />

gut vertreten. Gegründet 1928 in Madrid durch den Priester José María<br />

Escrivá de Balaguer und 1947 von Rom als erstes Säkularinstitut anerkannt<br />

– seit 1982 hat es den Status einer von den Ortsbischöfen unabhängigen<br />

Personalprälatur –, war das Opus Dei seit 1939 nur durch die verstärkte,<br />

zielstrebige Präsenz seiner Mitglieder auf den Universitätslehrstühlen sowie<br />

durch die Gründung einer eigenen Universität in Pamplona 1952 (zunächst<br />

Estudio General, dann Universidad de Navarra) aufgefallen. Sein<br />

apostolischer Grundsatz der persönlichen Heiligung durch seriöse und effiziente<br />

Berufsausübung mitten in der Welt (Arbeits- und Pflichtethos)<br />

und sein politischer Pluralismus scheinen in den ersten Jahren des Franquismus<br />

viele qualifizierte Laien angesprochen zu haben. Mit der Zeit<br />

wurden diese zu einer politisch einflussreichen Gruppe. Der Architekt<br />

der Wende von den „Christdemokraten“ der apostolischen Laienorganisationen<br />

zu den „Technokraten“ des Opus Dei war wiederum der einflussreiche<br />

Minister Luis Carrero Blanco. Seit 1956 gehörte das Mitglied des<br />

Opus Dei Laureano López-Rodó als Generalsekretär zu seinen engsten<br />

Mitarbeitern und bis 1974 in verschiedenen Sekretariats- und Ministerposten<br />

zur Regierung. Er galt als Prototyp des Opus-Dei-Ministers. Seit der<br />

Regierungsumbildung von 1957, bei der die Ministerien für Handel und<br />

Finanzen den Mitgliedern des Opus Dei Alberto Ullastres und Mariano<br />

Navarro anvertraut wurden, waren Opus-Dei-nahe Fachleute in allen Regierungen<br />

vertreten. Ab 1962 erreichten sie ihren größten Einfluss auf dem<br />

Gebiet des Außenhandels, der Industrieproduktion, der Finanzen und der<br />

Wirtschaftsplanung. Nach der Verwicklung einiger Mitglieder des Opus<br />

120<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 121 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

Dei 1969 in den größten Finanzskandal des Franquismus (MATESA), vor<br />

allem aber nach der Ermordung ihres Förderers Carrero Blanco durch die<br />

baskische Untergrundorganisation ETA am 20. Dezember 1973 sank ihr<br />

Stern.<br />

Wer waren die Fachleute und wen vertraten sie? Man hat gemeint, dass<br />

sie für eine Rechte standen, die die sozialen Strukturen und Werte des<br />

19. Jahrhunderts mit dem wirtschaftlichen und materiellen Fortschritt versöhnen<br />

wollten 15 , um den Modernisierungsprozess zugunsten ihrer eigenen<br />

Interessen lenken zu können. Zutreffender ist aber, dass sie die Chancen<br />

der politischen Freiheiten und der parlamentarischen Demokratie in<br />

Spanien von gewissen wirtschaftlichen Standards abhängig machten. López-Rodó’s<br />

Wort, das politische System werde sich von selbst ändern,<br />

wenn die Spanier ein bestimmtes Pro-Kopf-Einkommen erreicht hätten,<br />

gibt ihre Einschätzung wieder: Besserung der ökonomischen Rahmenbedingungen<br />

unter Inkaufnahme der unter Franco gebotenen politischen<br />

Abstinenz, denn jene werden schon zu gegebener Zeit ihre Früchte tragen.<br />

Doch wer bestimmt, dass das Pro-Kopf-Einkommen für die Einführung<br />

der Demokratie hoch genug sei? Warum musste man bis zum Tod Francos<br />

warten, wo doch andere Länder mit schlechterer Volkswirtschaft gut<br />

funktionierende parlamentarische Demokratien waren?<br />

Die Technokraten waren Franco absolut loyal ergeben und bereiteten<br />

zugleich die Zeit nach Franco im Sinne einer sanften Demokratisierung<br />

des Franquismus durch König Juan Carlos vor, nicht durch dessen Vater<br />

Don Juan. Mit den Technokraten konnte sich Franco auf eine katholische<br />

Gruppe stützen, ohne eine „christdemokratische“ Konkurrenz fürchten<br />

zu müssen. Doch die Technokraten des Opus Dei nahmen die in der spanischen<br />

Gesellschaft und Kirche gärenden demokratischen Bestrebungen<br />

nicht wahr; sie können daher nicht als deren Vertreter gelten. Vertraten sie<br />

aber das Opus Dei? Die diesem nahestehende Geschichtsschreibung weist<br />

gerne darauf hin, dass es auch prominente Opus-Dei-Mitglieder (wie den<br />

schillernden Rafael Calvo Serer) unter den Francogegnern gab; zudem<br />

habe Escrivá de Balaguer immer den politischen Pluralismus unter den<br />

Mitgliedern gefördert und 1957 in einer Presseerklärung ausdrücklich abgelehnt,<br />

dass die von Opus-Dei-Mitgliedern beeinflusste Politik in irgendeiner<br />

Weise dem Opus Dei selbst zugeschrieben werde 16 . Nicht zu leugnen<br />

ist allerdings, dass während der massiven Präsenz von Mitgliedern des<br />

Opus Dei in der Regierung, Institutionen desselben wie die Universität<br />

von Navarra aus öffentlichen Mitteln überproportional unterstützt wurden<br />

(zwischen 1962–1968 69,2% aller für die katholischen Hochschulen<br />

vorgesehenen Mittel) und dass Mitglieder des Werkes im Industrie- und<br />

15 G. Hermet, Chronique (wie Anm. 11), 267f.<br />

16 J. Andrés-Gallego – A. Pazo, Iglesia (wie Anm. 11) 117.<br />

121


KuK 3 / p. 122 / 7.7.2005<br />

Banksektor bei der Vergabe von Krediten durch die Nationalbank bevorzugt<br />

behandelt wurden – dass also der Klientelismus stark verbreitet war.<br />

3) Die Stunde der Bischofskonferenz (1966–1975)<br />

Das letzte Jahrzehnt des Franquismus war durch die führende Rolle der<br />

Bischofskonferenz gekennzeichnet. Es stand unter der Formel „Divergenz<br />

und Konflikt“, denn der Kirche fiel dabei politisch eine eher kritische als<br />

eine legitimierende Rolle zu. Der Franquismus wagte zwar mit dem – von<br />

der Kirche seit Jahren geforderten – neuen Pressegesetz von 1966 eine zaghafte<br />

Liberalisierung der Pressefreiheit. Aber im Allgemeinen war der<br />

Spätfranquismus von der Sorge um Rettung des Systems in die Post-<br />

Franco-Ära und die Unterdrückung jeder Opposition geprägt, während<br />

viele Bischöfe vom Konzil mit der Ahnung zurückgekommen waren, dass<br />

das Aggiornamento-Programm des Konzils grundlegende kirchliche wie<br />

politische Folgen für Spanien haben müsse. Dazu kam der Wandel des religiösen<br />

Bewusstseins unter dem jüngeren Klerus und den katholischen<br />

Intellektuellen. Sie sahen im Bürgerkrieg nun eher einen Klassen-, als<br />

einen Religionskrieg und stellten somit die regierungsamtliche Interpretation<br />

in Frage. Mit dem Wunsch nach einer Neuordnung des Verhältnisses<br />

zwischen Staat und Kirche jenseits der Identifikation von Religion und<br />

Nation entzog die Kirche dem franquistischen Regime die religiöse Legitimation.<br />

Indem der Franco-Staat sich auf die katholische Identität Spaniens<br />

stützte, nahm er offenbar nicht zur Kenntnis, dass diese sich unter<br />

dem Einfluss der Universalkirche wandeln könnte.<br />

Die Rolle der spanischen Bischöfe auf dem Konzil war eher bescheiden.<br />

Wichtigere Impulse kamen stattdessen aus den Reihen des Laienapostolats.<br />

Mitarbeiter von Pax Romana wie Ramón Sugranyes, Pilar Belosillo<br />

und Joaquín Ruiz Giménez spielten bei der Diskussion des Schemas XIII<br />

über die Kirche in der Welt von heute eine wichtige Rolle; sie zeigten, dass<br />

die Laienorganisationen in diesen Fragen ein schärferes Problembewusstsein<br />

als die Bischöfe hatten. Aber das Konzil veränderte durch den Austausch<br />

mit den Vertretern anderer Katholizismen sowie durch die von den<br />

Dokumenten selbst geschaffenen Rahmenbedingungen auch viele spanische<br />

Bischöfe. Die Konzilsdokumente über die Bischöfe (Christus Dominus),<br />

das Laienapostolat (Apostolicam actuositatem), die Kirche in der<br />

Welt von heute (Gaudium et spes) und die Religionsfreiheit (Dignitatis<br />

humanae) blieben nicht ohne Folgen.<br />

Zwei unmittelbare Auswirkungen waren struktureller Art: 1966 wurde<br />

die Spanische Bischofskonferenz gegründet und 1967 verabschiedete die<br />

Regierung ohne Protest der Bischöfe ein erstes Gesetz über die Religionsfreiheit.<br />

Es sicherte erstmals seit dem Bürgerkrieg den Nichtkatholiken<br />

„die Freiheit von allem Zwang bei der legitimen Ausübung des Rechts<br />

122<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 123 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

auf Religionsfreiheit“ zu, sofern sie dabei die katholische Religion, die<br />

Moral, den Frieden und die öffentliche Ordnung respektierten. Am 5. Juli<br />

1980 erließ die erste demokratische Regierung ein liberaleres Gesetz über<br />

die Religionsfreiheit, das von den Bischöfen ebenfalls begrüßt wurde,<br />

wenn auch mit Sorgen wegen des Phänomens der Sekten. 1948 hatten sich<br />

die Bischöfe im zweiten gemeinsamen Hirtenbrief seit 1937 und in typischer<br />

Syllabus-Mentalität, wonach nur die „wahre Religion“ Freiheit verdiene,<br />

gegen ein Projekt zur Anerkennung der protestantischen Kirchen<br />

und Bibelgesellschaften erfolgreich gewehrt, mit dem Franco den angelsächsischen<br />

protestantischen Großmächten hatte entgegenkommen wollen;<br />

1964 hatten sie noch – gegen die ausdrückliche Bitte Papst Pauls VI.<br />

– die Diskussion des Gesetzesentwurfes über die Religionsfreiheit verhindert.<br />

Beim Konzil zeigten die meisten von ihnen für die Erklärung über<br />

die Religionsfreiheit kein Verständnis. Als diese aber mehrheitlich beschlossen<br />

wurde, blieb ihnen in ihrer ultramontanen Logik nichts anderes<br />

übrig, als auch in diesem Punkt dem Konzil und dem Papst loyal zu folgen.<br />

Die Rezeption des Konzils führte auf politischem Gebiet zu Konflikten<br />

innerhalb der Kirche wie auch zu Konflikten der Kirche mit der staatlichen<br />

Politik. Zu den ersten gehörte die Krise der Katholischen Aktion<br />

von 1967. Die speziellen Organisationen für die Arbeiterpastoral wie die<br />

HOAC und die JOC hatten seit deren Gründung Mitte der vierziger Jahre<br />

eine publizistische Tätigkeit entfaltet, die nun zum Forum der Opposition<br />

wurde. Durch ihre internationalen Kontakte nahmen sie an der katholischen<br />

Arbeiterbewegung ihrer Zeit teil. Seit Anfang der sechziger Jahre<br />

verlangten sie Pressefreiheit, unabhängige Gewerkschaften für Arbeiter<br />

und Angestellte – während in der verordneten Einheitsgewerkschaft nach<br />

dem Prinzip des Ständestaates alle Klassen vertreten waren – und den Dialog<br />

der Christen mit dem Marxismus. Im Oktober 1965 forderten sie die<br />

Bischöfe auf, im Sinne des Konzils die Eigenständigkeit der Laienbewegungen<br />

und ihrer politischen Optionen anzuerkennen. Den Bischöfen<br />

warfen sie nicht zu Unrecht eine zu große Nähe zum Regime vor, waren<br />

sie doch in allen gesetzgebenden Organen vertreten. Die Bischöfe, die die<br />

Tragweite der Konzilsdokumente über das Laienapostolat offenbar noch<br />

nicht erkannt hatten, reagierten mit vorkonziliaren Methoden, setzten die<br />

geistlichen Assistenten der HOAC, der JOC und der Katholische Studentenjugend,<br />

der „Juventud Estudiante Católica“ (JEC) ab und erließen am<br />

4. März 1967 das Dokument: „Actualización del apostolado seglar en<br />

España“ (Zur Aktualisierung des Laienapostolates in Spanien), in dem sie<br />

nicht nur ihre Sorge über den Dialog mit den Marxisten ausdrückten, sondern<br />

auch das Laienapostolat als ihren verlängerten Arm verstanden; sie<br />

erließen schließlich neue Statuten für diese Organisationen, die aber 1968<br />

von diesen abgelehnt wurden. Das führte zur Demission von 112 führen-<br />

123


KuK 3 / p. 124 / 7.7.2005<br />

den Laien und zur Auflösung der für Arbeiter und Studenten bestimmten<br />

Gruppierungen der Katholischen Aktion wie HOAC, JOC und JEC. Deren<br />

Führer und beste Köpfe verließen nun die Katholische Aktion; zwischen<br />

1964 und 1978 waren das 95% der Mitglieder. Dadurch sank deren<br />

Zahl von 1966 500000 auf 1979 nur noch 15.000. Viele Ehemalige engagierten<br />

sich nun in den verbotenen oppositionellen Gewerkschaften und<br />

Parteien, andere verließen verbittert die Kirche. In den Organisationen des<br />

Laienapostolates gab es zweifellos eine Tendenz zur Politisierung. Ein<br />

klügeres Vorgehen der Bischöfe hätte den katastrophalen Ausgang der<br />

Krise jedoch verhindern können. Ganz anders reagierte dagegen der polnische<br />

Episkopat in der Angelegenheit von „Solidarnosc“ nach 1980.<br />

Der zweite innerkirchliche Konflikt betraf die politische Kluft zwischen<br />

dem jungen Seelsorgeklerus und den Bischöfen. Er trat 1971 anlässlich<br />

der „Gemeinsamen Versammlung von Bischöfen und Priestern“ offen<br />

zutage. Der junge Seelsorgeklerus Spaniens war in der unmittelbaren<br />

Nachkonzilszeit nicht nur der vielleicht undisziplinierteste, sondern auch<br />

der am meisten politisierte der gesamten Kirche. Die Erfahrung vieler<br />

Seelsorger mit den Fachorganisationen der Katholischen Aktion für die<br />

Arbeiter und Studenten sowie mit den spanischen Migranten in Mitteleuropa<br />

hatte sie politisch sensibilisiert. Sie solidarisierten sich vielfach<br />

mit der politischen und gewerkschaftlichen Opposition im Untergrund<br />

und öffneten ihnen die kirchlichen Räume, die damals fast die einzigen<br />

Orte waren, in denen sich jene treffen konnten. Nicht selten wurden<br />

Priester wegen „politischer“ Predigten von der Polizei mit einer Geldstrafe<br />

belegt oder für andere „subversive“ Aktionen im konkordatären „Priestergefängnis“<br />

von Zamora festgehalten. Der Aufstand der jungen Priester<br />

wurde Ende der sechziger Jahre „ein fast normales Phänomen“ 17 . Die Figur<br />

des Arbeiterpriesters wurde populär wie auch der christlich-marxistische<br />

Dialog. Die neue Theologie der Befreiung aus Lateinamerika schaffte<br />

erst nach dem 1972 vom Jesuiten Alfonso Álvarez Bolado organisierten<br />

Treffen in El Escorial den Durchbruch in der Weltkirche.<br />

Die „Gemeinsame Versammlung von Bischöfen und Priestern“ wurde<br />

von den Bischöfen in der Absicht einberufen, um – ähnlich wie Medellín<br />

in Lateinamerika – das Konzilsprogramm der spanischen Gesellschaft anzupassen,<br />

aber auch um der Identitätskrise des Klerus nach dem Konzil<br />

entgegen zu steuern. Soziologische Erhebungen – die Soziologie war die<br />

Modedisziplin dieser Zeit und viele Priester verstanden mehr davon als<br />

von der Theologie – unter dem Klerus im Vorfeld der Versammlung machten<br />

aber nicht nur die Identitätskrise deutlich, vor allem zum Zölibat, zur<br />

Hauptamtlichkeit des Priesterberufes, zur Spaltung auf sozialpolitischem<br />

Gebiet, zu politischen Optionen und zur sozialpolitischen Tätigkeit.<br />

124<br />

Mariano Delgado<br />

17 G. Hermet, Chronique (Anm. 11) 312.


KuK 3 / p. 125 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

Manche propagierten einen sozialen Aktivismus sowie einen Ikonoklasmus<br />

im Bereich der Volksreligiosität. Auf der anderen Seite formierten<br />

sich integralistisch und antimodernistisch orientierte Priestergruppen, die<br />

das Erbe Pius IX. und Pius X. weiterführen wollten, so als ob es das Konzil<br />

nicht gegeben hätte. In dieser Situation mussten die Bischöfe die Kirche<br />

zwischen Skylla und Charybdis steuern. Einer der umstrittenen Arbeitstexte<br />

der Gemeinsamen Versammlung betraf „Kirche und Welt im heutigen<br />

Spanien“. Es ging dabei nicht nur um eine Beurteilung und Analyse<br />

der Gegenwart, sondern auch der Rolle der Kirche im Bürgerkrieg und in<br />

der Nachkriegszeit. Der Antrag Nr. 34, der auf Vorschlag des jüngeren<br />

Klerus um Verzeihung für das Versagen der Kirche bei ihrer „Versöhnungsaufgabe“<br />

während des Bürgerkrieges und in der Nachkriegsgesellschaft<br />

bitten sollte, fand keine Zweidrittelmehrheit 18 . Die Texte der<br />

Gemeinsamen Versammlung bezeugten jedoch eine aufgeschlossene Rezeption<br />

des Konzils und wurden von den Bischöfen bei nur fünf Neinstimmen<br />

approbiert. Sie gaben aber Anlass für einen unerfreulichen Konflikt,<br />

indem der unterlegene rechte Flügel mit Hilfe des Regimes<br />

vergeblich versuchte, von der römischen Kurie eine Verurteilung der Beschlüsse<br />

zu erwirken. Kardinal Tarancón schrieb diesbezügliche Bemühungen<br />

später dem Opus Dei zu.<br />

In die sechziger Jahre fielen auch die kirchlichen Konflikte im Baskenland<br />

und in Katalonien. Seit dem 19. Jahrhundert war die Kirche hier Hüterin<br />

des Nationalbewusstseins. In den sechziger Jahren, nicht zuletzt im<br />

Schatten der konziliaren Förderung der Volkssprachen wie des allgemeinen<br />

politischen Erwachens der Gesellschaft, zeigte sich erneut die Nähe<br />

des Klerus zu den nationalen Bewegungen. Da es an einer Plattform für<br />

die Artikulation der politischen Bestrebungen fehlte, übernahm der Klerus<br />

die Rolle der Opposition. Besonders kämpferisch zeigte sich 1960 der<br />

baskische Klerus mit einem gemeinsamen Schreiben an die Bischöfe des<br />

Baskenlandes, das von 399 Priestern unterzeichnet wurde; darin protestieren<br />

sie, erstmals seit dem Bürgerkrieg, gegen das enge Bündnis von Kirche<br />

und franquistischem Staat. Dass die meisten von ihnen kein Problem damit<br />

hatten, gleichzeitig den politischen baskischen Nationalismus aktiv zu<br />

unterstützen und so auf lokaler Ebene die Verbindung von Religion und<br />

Nation aufrecht zu erhalten, während sie diese für den Gesamtstaat ablehnten,<br />

gehörte zu den Widersprüchen dieser Zeit. Das blieb nicht ohne<br />

Einwirkungen auf andere Priester in Spanien, die immer deutlicher auf<br />

Distanz zur Regierung gingen. Der Abt der Benediktinerabtei Montserrat<br />

musste 1963 wegen seiner öffentlichen Angriffe gegen das Regime vorzei-<br />

18 Der Antrag lautete: „Wir bekennen also demütig und bitten um Vergebung, dass wir es<br />

zur rechten Zeit nicht verstanden, ‚wahre Verkündiger der Versöhnung‘ in der Mitte unseres<br />

Volkes zu sein, das durch einen großen Krieg unter Brüdern gespalten war.“<br />

125


KuK 3 / p. 126 / 7.7.2005<br />

tig in den Ruhestand treten. Als 1966 der Kastilier Marcelo González Erzbischof-Koadjutor<br />

von Barcelona mit dem Recht der Nachfolge wurde –<br />

diese trat 1967 ein – formierte sich eine Protestbewegung unter dem national<br />

gesinnten Klerus. Nach dem Tod des Kardinals Pla y Deniel 1968 wurde<br />

González dann 1971 nach Toledo transferiert und ein Katalane Erzbischof<br />

von Barcelona.<br />

Ein weiterer innerkirchlicher Konflikt, der das Verhältnis von Kirche<br />

und Staat tangierte, wurde durch den Generationswechsel in der Bischofskonferenz<br />

ausgelöst. Die Kirche hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass<br />

sie das quasiregalistische Präsentationsrecht Francos für anachronistisch<br />

hielt. Nach dem Konzil führte dies zur Krise. Die zahlreichen Bistümer,<br />

die nach 1965 zu besetzen waren, ließen die Kirche erfinderisch werden:<br />

Es ging darum, die alte Garde der Konkordatsbischöfe durch „konziliare“<br />

Nachfolger zu ersetzen und dabei das staatliche Nominationsrecht zu umgehen.<br />

In dieser Situation griff der Vatikan zur Rechtsfigur der Weihbischöfe,<br />

die im Konkordat nicht vorgesehen waren. Zwischen 1966 und<br />

1972 erreichten 21 Bischöfe die Altersgrenze, weitere 18 starben, darunter<br />

1968 so wichtige Persönlichkeiten wie die Kardinäle Pla y Deniel und<br />

Herrera Oria; während von den 1966 amtierenden Bischöfen 83% durch<br />

Präsentation und weitere 10% vor dem Krieg ernannt worden waren,<br />

wurden bis 1968 24 Diözesanbischöfe aus dem Kreis der nicht-konkordatären<br />

Weihbischöfe ernannt und zwischen 1970 und 1972 folgten weitere<br />

21 Weihbischöfe – oft mit dem Recht der Nachfolge. Der Generationswechsel<br />

führte infolge einer Änderung des Abstimmungsverfahrens bei<br />

der Bischofskonferenz zu einer stillen Revolution bzw. zu einem kirchlichen<br />

„Staatsstreich“: 1971 wurde den Weihbischöfen das Stimmrecht verliehen<br />

und zugleich den emeritierten Bischöfen entzogen.<br />

Dies machte es möglich, dass zwischen 1972 und 1981, in den entscheidenden<br />

Jahren des Spätfranquismus und des Übergangs zur Demokratie,<br />

die Bischofskonferenz durch den neuen Madrider Erzbischof, Kardinal<br />

Tarancón, geführt wurde, der seit dem Konzil zum Reformflügel gehörte<br />

und Paul VI. nahe stand. Im Sinne des Konzils und mit Rückhalt der meisten<br />

Bischöfe vertrat Tarancón bzgl. der Beziehung zum Staat entsprechend<br />

dem Dekret „Gaudium et spes“ Nr. 76 „loyale Unabhängigkeit und gesunde<br />

Zusammenarbeit“, womit er signalisierte, dass die Zeit, in der die<br />

Kirche als religiös legitimierende Instanz des franquistischen Staates gedient<br />

hatte, vorüber war. Zum Konflikt kam es, als die Bischofskonferenz<br />

am 23. Januar 1973 mit 59 Ja- bei 20 Nein-Stimmen und 4 Enthaltungen<br />

das Dokument „Sobre la Iglesia y la comunidad política“ (Über die Kirche<br />

und die politische Gemeinschaft) verabschiedete 19 .<br />

Bereits 1966, bald nach ihrer Gründung, hatte die Bischofskonferenz ein<br />

126<br />

Mariano Delgado<br />

19 Vgl. Wortlaut in J. Iribarren, Documentos (Anm. 11) 245–279.


KuK 3 / p. 127 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

Dokument mit dem Titel „La Iglesia y el orden temporal a la luz del Concilio“<br />

(Die Kirche und die zeitliche Ordnung im Lichte des Konzils) 20 publiziert.<br />

Vergleicht man beide Texte, so zeigt sich die Tragweite des Generations-<br />

und Paradigmenwechsels in der Bischofskonferenz zwischen<br />

1966 und 1973. Der Text von 1966 hatte es bei einer allgemeinen Wiederholung<br />

der Aussagen des Konzils in „Gaudium et spes“ und einem Appell<br />

gelassen, die politische Ordnung Spaniens zu verbessern. Der Text von<br />

1973 bildete hingegen ein erstes Plädoyer für die Demokratie. Er akzeptierte<br />

die Pluralität der politischen Optionen und betonte die Unabhängigkeit<br />

der Kirche von jedweder Staatsform, was nicht zuletzt den Verzicht<br />

des Staates auf das Nominationsrecht und den Verzicht der Kirche auf<br />

Vertretung in den legislativen Organen einschloss. Die Aufgabe der Kirche<br />

wurde als vorrangig pastoral beschrieben, aber auch als kritisch und<br />

prophetisch gegenüber der zeitlichen Ordnung. Der Text blieb zwar hinter<br />

den Forderungen des jungen Klerus bei der Gemeinsamen Versammlung<br />

von 1971 zurück; er dokumentierte aber den Willen der meisten Bischöfe<br />

zu einem sanften politischen Wandel und einer Neupositionierung<br />

der Kirche in der Gesellschaft.<br />

Die Regierung verstand den Text freilich als Absage an das Bündnis mit<br />

dem franquistischen Staat. Sie fühlte sich verraten und warf der Kirche<br />

Undankbarkeit vor. Ministerpräsident Carrero Blanco scheute sich nicht,<br />

bei einem Ministerrat der Kirche in Erinnerung zu rufen, was sie der Regierung<br />

verdanke: Finanzielle Unterstützung des Klerus, den großzügigen<br />

Bau von Priesterseminaren und Kirchen, die privilegierte Rolle im Bildungs-<br />

und Sozialsektor. Einige Autoren sehen darin – wohl übertreibend<br />

– Anzeichen eines „rechten Antiklerikalismus“. Eher sprach daraus die<br />

bittere Enttäuschung des katholischen Flügels im Franquismus darüber,<br />

dass Kirche und Staat nach dem Konzil unterschiedliche Wege gingen<br />

und viele Teile der Kirche sogar mit der Opposition sympathisierten.<br />

Seit Anfang 1973 veröffentlichten einige Mitglieder der ACNP unter<br />

Führung von Marcelino Oreja kritische Leitartikel in der katholischen<br />

Zeitung „Ya“, die sie mit dem Pseudonym „Tácito“ unterzeichneten. Darin<br />

analysierten sie die politische Situation des Spätfranquismus und schlugen<br />

eine demokratische Öffnung vor. Ähnliches geschah im politischen<br />

Magazin „Cuadernos para el diálogo“, das Mitte der sechziger Jahre von<br />

Joaquín Ruiz Giménez gegründet worden war und alsbald zum Forum der<br />

kritischen katholischen Intellektuellen wurde. Aus der Gruppe Tácito und<br />

aus dem Umfeld der Cuadernos kamen dann die jungen katholischen Politiker,<br />

die in den ersten Jahren der Demokratie in verschiedenen Parteien<br />

aktiv waren.<br />

Die letzten Jahre des Franquismus waren durch eine Eskalation der<br />

20 Vgl. Wortlaut in J. Iribarren, Documentos (Anm. 11) 70–102.<br />

127


KuK 3 / p. 128 / 7.7.2005<br />

Konflikte im kirchlichen wie im politischen Bereich geprägt. Innerkirchlich<br />

waren eine Radikalisierung und Politisierung im linken wie im rechten<br />

Spektrum zu beobachten: die „Christen für den Sozialismus“, die im<br />

Januar 1973 mit einem Manifest an die Öffentlichkeit traten, bevorzugten<br />

nicht nur den Dialog mit dem Marxismus, sondern machten sich zum<br />

Sprachrohr einer „anderen“, kritischen Kirche gegenüber der „Amtskirche“;<br />

auf der anderen Seite entstanden die „Guerrilleros de Cristo Rey“<br />

als eine Art Aktionsgruppe der extremen kirchlichen Rechten: Sie brachen<br />

bei politischen Versammlungen in kirchliche Räume gewalttätig – und mit<br />

stillschweigender Komplizenschaft der Polizei – ein und verlangten gar<br />

öffentlich die „Erschießung“ des Kardinals Tarancón und der „roten“ Bischöfe.<br />

Teile des katalanischen Klerus forderten eine eigene Bischofskonferenz<br />

für die katalanischen Regionen beiderseits der Pyrenäen; und auch<br />

der baskische Klerus machte sich für eine „einheimische“ Kirche stark; die<br />

seit 1968 gewalttätige baskische Untergrundorganisation ETA wurde zudem<br />

von Teilen des Klerus aktiv unterstützt. Die Geldstrafen für „politische“<br />

Predigten häuften sich in Katalonien, im Baskenland und in Madrid.<br />

Die Neuevangelisierung im Lichte des Konzils, die die Bischöfe in den<br />

meisten Dokumenten seit 1966 als vorrangig bezeichnet hatten, besass in<br />

diesem Klima nicht die besten Chancen – obwohl sich einige geistliche<br />

Erneuerungsbewegungen wie die Cursillos de cristiandad und der neokatechumenale<br />

Weg der Neuevangelisierung gezielt annahmen.<br />

Zum größten politischen Konfliktfall wurde der „Fall Antonio Añoveros“.<br />

Am 24. Februar 1974 ließ der Bischof von Bilbao in allen Kirchen<br />

seines Bistums ein Schreiben verlesen, in dem er das Recht des baskischen<br />

Volkes auf Wahrung und Pflege seiner spirituellen und kulturellen Identität<br />

verteidigte. Er bemerkte zugleich, dass dies unter den herrschenden<br />

Umständen kaum gegeben sei. Der Fall Añoveros stand für den schwersten<br />

Konflikt zwischen Kirche und Staat in der Franco-Zeit. Das Regime<br />

sah darin einen Angriff auf die nationale Einheit, eine Art „geistigen Terrorismus“.<br />

Es wollte Añoveros des Landes verweisen. Der Geschäftsführende<br />

Ausschuss der Bischofskonferenz konzedierte zwar, dass das Schreiben<br />

inopportun gewesen sei – kurz zuvor, am 20. Dezember 1973, wurde<br />

Ministerpräsident Carrero Blanco von der ETA bei einem bestialischen<br />

Attentat in Madrid ermordet –, drohte aber der Regierung eines „katholischen“<br />

Staates mit der Exkommunikation nach Kanon 2341 des CIC,<br />

falls sie einen Bischof an der Ausübung seiner Jurisdiktion hindere. Die<br />

letzten Monate des Franquismus waren von diesem Konflikt und von der<br />

wachsenden Divergenz zwischen dem Regime überschattet, das nur an<br />

sein Überleben dachte, sowie der Kirche, die sich als Versöhnungsinstanz<br />

in der spanischen Gesellschaft neu positionieren wollte.<br />

128<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 129 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

2. Unter der Demokratie<br />

Symptomatisch für den neuen Weg der Kirche waren zwei Ereignisse im<br />

November 1975. Während beim Staatsbegräbnis für Franco am 21. November<br />

der Primas und Kardinal von Toledo, Marcelo González, die Messe<br />

zelebrierte und die Verdienste des Verstorbenen um das katholische<br />

Spanien würdigte, hielt das Te Deum am 27. November zu Beginn der<br />

neuen monarchischen Ära in demonstrativer Anwesenheit zahlreicher<br />

Staatsgäste der westlichen Demokratien, die der Beisetzung Francos fern<br />

geblieben waren, Kardinal Tarancón, der Präsident der Bischofskonferenz.<br />

Seine Predigt, bei der jedes Wort sorgfältig gesetzt war und die der damalige<br />

Rektor der Päpstlichen Universität Salamanca und heutige Erzbischof<br />

von Pamplona, Fernando Sebastián Aguilar, verfasst haben soll, stand einerseits<br />

in der Tradition der Krönungsmessen mit Empfehlungen für eine<br />

gute Regierung im Lichte der göttlichen Weisheit; sie enthielt andererseits<br />

aber auch Passagen, die wie eine Absichtserklärung der Kirche angesichts<br />

der neuen Ära und im Lichte des Konzils anmuteten. Tarancón erklärte<br />

u.a.: „Weder begünstigt die Botschaft Christi ein bestimmtes Gesellschaftsmodell,<br />

noch will sie ein solches durchsetzen. Der christliche Glaube<br />

ist keine politische Ideologie und kann mit keiner identifiziert werden.<br />

[…]. Es ist nicht Aufgabe der Kirche, im Diesseits in Sozial- und Wirtschaftswissenschaften<br />

oder in der Politik irgendwelche konkreten Lösungsvorschläge<br />

anzubieten […]. Aufgabe der Kirche ist es dagegen, das<br />

Wort Gottes in der Gesellschaft zu verbreiten, insbesondere wenn es darum<br />

geht, die Menschenrechte zu schützen, Freiheit und Gerechtigkeit zu<br />

festigen und dazu beizutragen, dass die Sache des Friedens und der Gerechtigkeit<br />

im Einklang mit dem Evangelium vorangetrieben wird. Die<br />

Kirche wird niemals bestimmen, wer uns regieren soll. Um ihre Mission<br />

zu erfüllen, bittet die Kirche, Herr [gemeint war der König], um keinerlei<br />

Privileg. Sie bittet aber, dass man ihr die Freiheit zuerkennt, die sie für alle<br />

verkündet; sie bittet um das Recht, das ganze Evangelium zu verkünden<br />

[…]. Schließlich bitte ich, dass wir als Männer der Kirche und Sie als Mann<br />

der Regierung Beziehungen zueinander finden, in denen die gegenseitige<br />

Autonomie und Freiheit respektiert wird, ohne dass dies jemals der gegenseitigen<br />

und fruchtbaren Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen im<br />

Wege steht“ 21 . Die Predigt beinhaltete nichts anders als die konziliare Lehre<br />

von der recht verstandenen Autonomie der weltlichen Bereiche. Im damaligen<br />

Spanien musste dies aber als Abschied vom katholischen Staat verstanden<br />

werden.<br />

Bald wurde auch klar, dass Tarancón und die Mehrheit der Bischöfe<br />

nicht bereit waren, einer Partei das Adjektiv „christlich“ im Sinne einer<br />

21 Vgl. Originalzitat in J. Andrés-Gallego – A. M. Pazos, Iglesia (Anm. 11) 208. – Vicente<br />

Cárcel Ortí, La Iglesia y la transición española (Valencia 2003).<br />

129


KuK 3 / p. 130 / 7.7.2005<br />

politischen Vertretung des spanischen Katholizismus zuzuerkennen. Im<br />

Vorfeld der ersten freien Wahlen vom 15. Juni 1977 fehlte es dennoch nicht<br />

an Versuchen, christdemokratische Parteien in der neuen politischen<br />

Landschaft zu etablieren. Federico Silva Muñoz und Jesús Barros de Lis,<br />

Führer einer von Franco erlaubten politischen Vereinigung, gründeten im<br />

Frühjahr 1976 die „Confederación de la democracia cristiana“. Joaquín<br />

Ruiz Giménez trat mit „Izquierda democrática“ das Erbe von Manuel<br />

Giménez Fernández an; und José María Gil Robles gründete die „Federación<br />

popular democrática“. Beide fusionierten kurz vor den Wahlen zur<br />

„Federación demócrata cristiana“ in der Hoffnung, an die Glanzzeit der<br />

CEDA anknüpfen zu können. Eine andere christdemokratische Strömung<br />

führte Fernando Álvarez de Miranda an, eine weitere Oscar Alzaga. Die<br />

Wahlen vom Juni 1977 brachten das Scheitern aller christdemokratischen<br />

Lösungen auf nationaler Ebene. Besonders bitter war das für Joaquín Ruiz<br />

Giménez, den Vorsitzenden der nationalen Kommission von Iustitia et<br />

Pax und Prototyp des politisch engagierten Laien, der Tarancón und<br />

Paul VI. eng verbunden war. Guy Hermet ist zuzustimmen, wenn er<br />

schreibt, die katholischen Wähler hätten eher eine Evolution ohne Bruch<br />

bevorzugt, wie sie die UCD, die Zentrumspartei des Ministerpräsidenten<br />

Adolfo Suárez, verkörperte, als die nachkonziliare Rhetorik von Ruiz<br />

Giménez.<br />

Darüber hinaus schien sich das spanische Volk nach den Erfahrungen<br />

der dreißiger Jahre und der Franco-Zeit von jeder ausdrücklich „christlich“<br />

gefärbten Politik verabschieden zu wollen, um den politischen Diskurs<br />

zu versachlichen und zu entkonfessionalisieren. In diesem Sinn rechtfertigte<br />

das Ergebnis der ersten freien Wahlen den Vorbehalt der Bischöfe<br />

nachträglich. Die christdemokratisch Orientierten schlossen sich fortan<br />

Parteien an, die als Sammelbecken des Zentrums und der demokratischen<br />

Rechten galten: zunächst der UCD, dann auch der „Alianza Popular“<br />

bzw. ihrer Nachfolgerin, dem „Partido Popular“. Viele christliche Politiker<br />

aus der Partei Ruiz Giménez, die aus dem Laienapostolat hervorgegangen<br />

waren, wandten sich später aber der sozialistischen oder der<br />

kommunistischen Partei zu.<br />

Was auf nationaler Ebene misslang, gelang jedoch in Katalonien und im<br />

Baskenland. Hier war die Kirche in der Franco-Zeit als Hüterin der nationalen<br />

Identität gegen den kulturellen Zentralismus hervorgetreten. Christliches<br />

hatte daher politisch einen guten Ruf. So etablieren sich bei den ersten<br />

Wahlen – und bis heute – die christdemokratischen Parteien der<br />

Vorkriegszeit wie die „Uniò democrática de Catalunya“ und der „Partido<br />

Nacionalista Vasco“. Es handelte sich dabei allerdings um christdemokratische<br />

Positionen besonderer Prägung, die die regionalen Interessen im<br />

Blick hatten und die Zusammenarbeit mit verwandten nationalen Parteien<br />

130<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 131 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

oder die Übernahme von Regierungsverantwortung auf der Ebene des Gesamtstaates<br />

zumeist ablehnten.<br />

Die Verfassung von 1978 brachte eine Entkonfessionalisierung des Staates<br />

im Rahmen eines gemäßigten Laizismus, der, anders als die republikanische<br />

Verfassung von 1931, trotz Trennung von Kirche und Staat, bereit<br />

war, die Bedeutung der katholischen Kirche in der spanischen Gesellschaft<br />

zu würdigen. In diesem Sinne heißt es in Art. 16: „Keine Konfession wird<br />

einen Staatscharakter haben. Die öffentlichen Gewalten werden dem religiösen<br />

Glauben der spanischen Gesellschaft Rechnung tragen und die entsprechende<br />

Zusammenarbeit mit der Katholischen Kirche und den anderen<br />

Konfessionen pflegen“. Die Katholische Kirche wird darin als einzige<br />

Konfession namentlich erwähnt, aber das Ganze war recht allgemein gehalten.<br />

Daher kam es 1979 zu vier Vereinbarungen zwischen Kirche und<br />

Staat, die das Konkordat ersetzen sollten; sie betrafen juristische, Unterrichts-,<br />

Kultur- und finanzielle Fragen sowie die Beziehungen der Kirche<br />

zu den Streitkräften. Einzelne Bischöfe aus dem konservativen Flügel kritisierten<br />

das Fehlen einer invocatio Dei oder eines Bezugs auf das göttliche<br />

und natürliche Gesetz sowie Artikel über Erziehung, Ehe und Familie.<br />

Von einer Ablehnung der Verfassung seitens der Bischöfe war jedoch keine<br />

Rede.<br />

Unter der Demokratie hielt sich die Kirche aus der Parteipolitik fern.<br />

Sie konzentrierte sich auf die Regelung jener Streitfragen, die sie mit den<br />

konservativen wie sozialistischen Regierungen hatte. Obwohl es der Kirche<br />

nach 1996 mit der konservativen Regierung besser gelang, ihre Anliegen<br />

auf dem Gebiet von Erziehung und Finanzierung durchzusetzen,<br />

machte sie auch mit der sozialistischen Regierung Felipe González im Detail<br />

gute Erfahrungen. Zum ersten Mal in der spanischen Geschichte fühlte<br />

sie sich von einer Links-Regierung respektiert. Die auf Seiten der Sozialisten<br />

immer wieder auftauchenden antiklerikalen Äußerungen, der Widerspruch<br />

der Regierungspolitik zu einigen Punkten der kirchlichen Soziallehre,<br />

der Sittenverfall und die zunehmende Korruption von Partei- und<br />

Regierungsmitgliedern, aber nicht zuletzt auch die konservative Wende<br />

bei den Bischofsernennungen und der Leitung der Bischofskonferenz<br />

nach der Tarancón- und Montini-Ära führten dazu, dass sich zwischen<br />

1986 und 1992 die kritischen Stellungnahmen der Bischöfe häuften: „Los<br />

católicos en la vida pública“ (1986: Die Katholiken in der Öffentlichkeit)<br />

ermutigte die Laien, eine aktivere Rolle in Politik und Gesellschaft zu<br />

übernehmen: „La verdad os hará libres“ bzw. „La conciencia cristiana ante<br />

la actual situación moral de nuestra sociedad“ (1990: Die Wahrheit wird<br />

euch frei machen. Das christliche Gewissen angesichts der moralischen<br />

Lage unserer Gesellschaft) bildeten Aufrufe angesichts des Sittenverfalls,<br />

der sich – auch in Politik und Wirtschaft – breit machte; 1991 folgte ein<br />

Text über „Los cristianos laicos, iglesia en el mundo“ (Die Laien, Kirche<br />

131


KuK 3 / p. 132 / 7.7.2005<br />

in der Welt) und 1992 eine Stellungnahme über die soziale Lage. Die neue<br />

Entfremdung zwischen Kirche und Staat erreichte ihren Höhepunkt 1991:<br />

Nachdem der neue Präsident der Bischofskonferenz, der Madrider Kardinal<br />

Angel Suquía, in der Ansprache zur Eröffnung der Herbstvollversammlung<br />

den Sittenverfall und die Erziehungspolitik der Regierung<br />

scharf kritisiert hatte, lehnte Ministerpräsident Felipe González jedes Gespräch<br />

mit ihm ab. Die Reibereien mit den demokratischen Regierungen<br />

erreichten aber nie die Schärfe und die Sprachlosigkeit der letzten Jahre<br />

des Franquismus. Und bei all den Konflikten widerstand die Kirche stets<br />

der Versuchung, eine kirchlich-klerikale Partei zu gründen. Deren Fehlen<br />

bedeutete nicht, dass die Katholiken sich nicht als solche öffentlich artikulierten.<br />

Seit Ende der neunziger Jahre profilierte sich immer mehr der alljährliche<br />

Kongress „Die Katholiken in der Öffentlichkeit“, den das „Centro<br />

de Estudios Universitarios“ (CEU), die universitäre Institution der<br />

ACNP, in Madrid organisierte, als wichtigstes Forum zur Diskussion „katholischer“<br />

Positionen.<br />

Teil III:<br />

Das Staat-Kirche-Verhältnis 22<br />

Am 7. Juni 1941 wurde die erste Vereinbarung zwischen dem franquistischen<br />

Staat und dem Heiligen Stuhl unterzeichnet 23 . Die ersten fünf seiner<br />

insgesamt zehn Artikel betrafen das Hauptproblem in den Beziehungen<br />

zwischen Kirche und Staat: Die Bischofsernennungen. Die damals 48 Bischöfe<br />

waren teils während der Monarchie teils während der Republik bestellt<br />

worden. 20 Bistümer waren vakant – nicht zuletzt aufgrund der Ermordung<br />

von zehn Bischöfen während des Bürgerkrieges. Bei der<br />

Ernennung der Nachfolger wollte Franco ein entscheidendes Wort mitreden.<br />

Daher beanspruchte er das königliche Präsentationsrecht des Konkordates<br />

von 1851. Der Heilige Stuhl war darüber nicht erfreut, gab aber<br />

schließlich nach. Ausgehandelt wurde ein Verfahren, das jeder Seite ein<br />

132<br />

Mariano Delgado<br />

22 Ausgewählte Literatur über die in den Anm. 1 und 11 bereits angeführten Titel hinaus<br />

(alphabetisch): José Manuel Cuenca Toribio, Relaciones Iglesia-Estado en la España contemporánea<br />

(1833–1895) (Madrid 1985). – Alberto de la Hera, Kirche und Staat in Spanien<br />

(1953–1974), in: Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 27 (1976) 107–132. –<br />

Ders., Iglesia y Estado en España, in: Estudios históricos sobre la Iglesia española<br />

contemporánea (El Escorial 1979) 347–398. – Jesús Iribarren, Papeles y memorias. Medio<br />

siglo de relaciones Iglesia-Estado en España (1936–1986) (Madrid 1992). – Hilari Raguer,<br />

El concordato de 1953 visto 50 años después, in: Vida Nueva Nr. 2388 (2. August 2003) 19–<br />

26. – María J. Roca (Hg.), La financiación de la Iglesia católica en España (Santiago de<br />

Compostela 1994). – Antonio M. Rouco Varela, Relaciones Iglesia-Estado en la España<br />

del siglo XXI (Salamanca 1996). – Sylvie Rouxel Dolivet, Espagne. La transformation des<br />

relations Église-État du concile Vatican II à l’arrivée au Pouvoir du PSOE (Rennes 2004).<br />

23 Vgl. Wortlaut in V. Cárcel Ortí, Iglesia (Anm. 11) 740 f. – Vgl. auch Ders., La Iglesia<br />

y la transición española (Valencia 2003).


KuK 3 / p. 133 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

Präsentations- und zugleich ein Vetorecht zugestand. So durfte die Regierung<br />

bei jeder Besetzung mindestens sechs Kandidaten vorschlagen<br />

(Art. 1), aus denen der Heilige Stuhl dann drei auswählte, aus denen wiederum<br />

die Regierung einen präsentierte (Art. 2). In Art. 3 behielt sich jede<br />

Seite ein Vetorecht vor, falls alle oder einige Kandidaten nicht genehm sein<br />

sollten. Dieses ausgeklügelte System war Ausdruck gegenseitigen Misstrauens:<br />

Die Kirche wollte sicher sein, dass sie keine „Falangisten“ annehmen<br />

musste und der Staat wollte illoyale oder kritische Bischöfe ausschließen.<br />

In der Vereinbarung von 1941 (Art. 10) verpflichtet er sich auch dazu,<br />

bei Gesetzen, die beide Seiten betreffen, das Einvernehmen der Kirche im<br />

Voraus herzustellen. Schließlich wurde in der Vereinbarung (Art. 9) ein<br />

neues Konkordat in Aussicht gestellt.<br />

Bis zu dessen Unterzeichnung sollten zwölf Jahre vergehen. Die Kirche<br />

konnte mit dem gefundenen Modus vivendi, zu dem auch (Art. 9) die Beibehaltung<br />

der ersten vier Artikel des Konkordates von 1851 mit der Erklärung<br />

des katholischen Bekenntnisses als alleiniger Staatsreligion gehörte,<br />

gut leben. Während des Zweiten Weltkriegs und der anschließenden Isolation<br />

Francos durch die westlichen Demokratien konnte der Heilige<br />

Stuhl kein Interesse daran haben, seine Beziehungen zum franquistischen<br />

Staat durch ein Konkordat zu stärken. Die Lage änderte sich erst nach der<br />

Schwächung der Falange, dem Eintritt der Vertreter des Laienapostolats in<br />

die Regierung und der Lockerung der internationalen Blockade. Ab 1949,<br />

mit den Katholiken aus den Laienorganisationen Alberto Martín Artajo<br />

als Außenminister und Joaquín Ruiz Giménez als Botschafter beim Heiligen<br />

Stuhl, wurden erste Entwürfe erarbeitet. Die genannten Katholiken<br />

versuchten den Heiligen Stuhl zum Abschluss eines Konkordats mit dem<br />

Argument zu bewegen, dass dies zur allmählichen Liberalisierung des Regimes<br />

beitrage. Zugleich wurden in Rom aber Monarchisten aus dem Umfeld<br />

Don Juans und anti-franquistische Katholiken wie José María Gil Robles<br />

vorstellig, um den Papst von der Inopportunität eines Konkordates zu<br />

überzeugen. Wenn es dennoch am 27. August 1953 zur Unterzeichnung<br />

kommt, so nicht nur wegen der bekannten Sympathien Pius’ XII. für das<br />

katholische Spanien, sondern weil die Kirche in einer Stunde, in der der<br />

franquistische Staat wenige Freunde hatte, weitgehende Zugeständnisse<br />

erwirken konnte.<br />

Das Konkordat 24 enthielt eine Anerkennung des katholischen Bekenntnisses<br />

als alleiniger Staatsreligion, der zahlreiche Rechte und Privilegien<br />

zugestanden wurden, so die Anerkennung des juristischen Status der Kirche<br />

als societas perfecta, die Freiheit der Seelsorge, Lehr- und Versammlungsfreiheit,<br />

Präsenz der Kirche in allen Bildungseinrichtungen bis hin<br />

zur Universität, die Anerkennung der kirchlichen Eheschließung für den<br />

24 Vgl. Wortlaut in V. Cárcel Ortí, Iglesia (Anm. 11) 755–765.<br />

133


KuK 3 / p. 134 / 7.7.2005<br />

zivilen Bereich, die staatliche Finanzierung des Klerus, des Gottesdienstes<br />

und des kirchlichen Besitzes, Steuerprivilegien usw. Für Franco wogen der<br />

internationale wie nationale Nutzen, den er aus dem Konkordat ziehen<br />

konnte (Unterstützung seiner Politik durch den Vatikan, die spanische<br />

Hierarchie und die katholischen Laienorganisationen; am 25. Februar<br />

1954 verlieh ihm Papst Pius XII. den Christusorden), mehr als alle Privilegien,<br />

die er der Kirche zugestehen musste. Zudem konnte er das Präsentationsrecht<br />

der Vereinbarung von 1941 in das Konkordat übernehmen,<br />

obwohl die kirchliche Seite alles unternahm, ihn zu einem Verzicht zu bewegen.<br />

Dass man es 1941 wie auch 1953 „versäumte“, das Präsentationsrecht<br />

auch auf die Ernennung der Weihbischöfe auszudehnen, sollte im<br />

Spätfranquismus weitreichende Folgen haben.<br />

Das Konkordat von 1953 war ein kluger politischer Schachzug Francos,<br />

aber keine staatskirchenrechtliche Meisterleistung. Viele Artikel wie die<br />

über die Ausbildung der Religionslehrer, den Unterricht in „kirchlichen<br />

Wissenschaften“ an den staatlichen Universitäten oder die staatliche Anerkennung<br />

der Abschlüsse an kirchlichen Universitäten wurden nie in die<br />

Tat umgesetzt. Vor allem aber funktionierte das Konkordat in wesentlichen<br />

Punkten nur, solange die Beziehungen zwischen Staat und Kirche<br />

gut waren, d.h. solange sie so blieben wie in den fünfziger Jahren. Für<br />

Konfliktfälle war dagegen kaum vorgesorgt. Im Schatten des konziliaren<br />

Aggiornamento der sechziger Jahre wurde das spanische Konkordat von<br />

1953 – nicht dagegen das Reichskonkordat von 1933, noch das italienische<br />

von 1929 und das napoleonische von 1801 für Elsass und Lothringen! – in<br />

kirchlichen Kreisen als anachronistisch empfunden, vor allem wegen des<br />

quasiregalistischen Präsentationsrechtes und der weitgehenden Verschmelzung<br />

von Staat und Kirche; dies alles widersprach der in „Christus<br />

Dominus“ (Nr. 20) gewünschten Libertas ecclesiae. Am 28. April 1968 bat<br />

Paul VI. Franco schriftlich, auf das Präsentationsrecht zu verzichten.<br />

Francos Antwort entbehrte nicht der Logik: Das Präsentationsrecht sei<br />

Teil einer Vereinbarung, die auch der Kirche verschiedene Rechte zuerkenne.<br />

Nicht ein einseitiger Verzicht sei der Weg, sondern die Eröffnung<br />

bilateraler Gespräche zur Revision des Ganzen, auch der Privilegien der<br />

Kirche. Der Heilige Stuhl ging zunächst darauf nicht ein – nicht zuletzt<br />

weil die Kirche die wahre Nutznießerin des Konkordates war. Erst im<br />

Oktober 1973, nachdem die kirchliche Seite sich bereit erklärt hatte, auf<br />

Privilegien zu verzichten, begannen Revisionsverhandlungen. Danach<br />

sollte das Konkordat durch einzelne Vereinbarungen ersetzt werden. In<br />

den letzten Jahren des Franquismus kamen die Verhandlungen aber kaum<br />

voran.<br />

Die Voraussetzungen wurden unter der Demokratie günstiger. In der<br />

Predigt beim Te Deum für König Juan Carlos am 27. November 1975 hatte<br />

Kardinal Tarancón erklärt, dass die Kirche keinerlei Privileg erbitte,<br />

134<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 135 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

sondern nur „das Recht, das ganze Evangelium zu verkünden“. Nachdem<br />

Juan Carlos in einem Schreiben an Paul VI. vom 12. Juli 1976 das Präsentationsrecht<br />

praktisch zur Disposition gestellt hatte – es sollte jedenfalls<br />

einer neuen Vereinbarung mit dem Heiligen Stuhl nicht im Wege stehen<br />

–, wurde am 28. Juli eine solche zwischen der spanischen Regierung und<br />

dem Heiligen Stuhl unterzeichnet, die einzelne Punkte des Konkordates<br />

neu regelte und so den Weg zu dessen Auflösung eröffnete. Die Präambel 25<br />

enthielt einen Bezug zum Zweiten Vatikanischen Konzil und dessen Rahmenbedingungen<br />

für die Beziehungen zwischen Kirche und Staat: Beiderseitige<br />

Unabhängigkeit und gute Zusammenarbeit, Religionsfreiheit, freie<br />

Ernennung der Bischöfe durch die Kirche. Die Vereinbarung ersetzte das<br />

Präsentationsrecht durch eine praenotificatio der Kandidaten durch den<br />

Heiligen Stuhl an die Regierung, damit diese innerhalb von 15 Tagen eventuelle<br />

Bedenken äußern konnte, deren Würdigung aber dem Ermessen des<br />

Heiligen Stuhls überlassen blieben und die diesen nicht banden: „Die Ernennung<br />

von Erzbischöfen und Bischöfen fällt in die ausschließliche Zuständigkeit<br />

des Heiligen Stuhls“ (Art. 1). Beide Seiten verpflichteten sich,<br />

während der folgenden Jahre das Konkordat durch einzelne Vereinbarungen<br />

zu ersetzen.<br />

Am 3. Januar 1979 wurden im Vatikan jene vier Vereinbarungen unterzeichnet,<br />

die die Ablösung des Konkordats vollendeten 26 . Sie betrafen den<br />

juristischen Status der Kirche mit der Garantie der Freiheit zur Erfüllung<br />

ihrer Aufgabe; die Rolle der Kirche auf dem Gebiet der Erziehung und<br />

Kultur mit der Garantie der Religionsfreiheit und der Respektierung der<br />

christlichen Werte in den öffentlichen Schulen und Einrichtungen; Finanzfragen<br />

mit dem mittelfristigen Ziel, dass die Kirche sich aus den Beiträgen<br />

ihrer Mitglieder selbst finanziert durch Einführung eines freiwilligen<br />

Beitrags im Rahmen der Steuererklärung. Dieser liegt derzeit bei<br />

0,5%; 2004 errechnete die Kirche, dass der Satz bei 0,8% liegen müsste,<br />

um auf jede staatliche Unterstützung zu verzichten; auch stellen viele Katholiken<br />

bei der Steuererklärung diesen Betrag eher allgemeinen sozialen<br />

Zwecken als der Kirche zur Verfügung. Die Regierung garantierte der Kirche<br />

bis dahin weiterhin finanzielle Unterstützung. Eine weitere Vereinbarung<br />

regelte die Militärseelsorge.<br />

Der Erzbischof von Madrid, Antonio Maria Kardinal Rouco Varela,<br />

ehemals Professor für Kirchenrecht an der Katholischen Universität Salamanca,<br />

hob die Originalität dieser Vereinbarungen hervor, weil sie erstmals<br />

in der spanischen Geschichte die Anerkennung der Bedeutung der<br />

katholischen Kirche mit dem Prinzip der Religionsfreiheit und dem Recht<br />

25 Vgl. Wortlaut in V. Cárcel Ortí, Iglesia (Anm. 11) 771 f. und deutsche Übersetzung<br />

im Anhang zu diesem Beitrag.<br />

26 Vgl. Wortlaut in V. Cárcel Ortí, Iglesia (Anm. 11) 773–785 und deutsche Übersetzung<br />

im Anhang zu diesem Beitrag.<br />

135


KuK 3 / p. 136 / 7.7.2005<br />

aller auf Gewissens- und Glaubensfreiheit in Einklang brachten. Gleichwohl<br />

lösten diese Vereinbarungen nicht alle Probleme, nicht zuletzt, weil<br />

einige Punkte nicht erfüllt wurden oder von der Interpretation der jeweiligen<br />

Regierung abhängen. Dazu gehört vor allem die Vereinbarung über<br />

Schule und Kultur. Der Religionsunterricht in den Schulen wurde zu<br />

einem ideologischen Zankapfel; die rechte Regierung (1996–2004) unterstützte<br />

eher die kirchlichen Positionen, während die sozialistischen Regierungen<br />

nach 1982 und nach 2004 den Religionsunterricht eher im laizistischen<br />

als im kirchlichen Sinne gestalten oder zu einem nicht benoteten<br />

Fach am Rande des Stundenplans abstufen wollten. Nicht zuletzt aufgrund<br />

der unterschiedlichen Einstellung zur Kirche bei den großen Volksparteien,<br />

ist die Kirche bemüht, die komplexen Staat-Kirche-Beziehungen<br />

aus dem parteipolitischen Kampf herauszuhalten.<br />

Teil IV:<br />

Die wissenschaftliche Theologie 27<br />

Die Zeit spanischer Hegemonie zwischen 1492 und dem Westfälischen<br />

Frieden (1648) gilt als Goldenes Zeitalter der spanischen Theologie. Die<br />

Theologen dieser Zeit äußerten sich sachlich und kompetent nicht nur zu<br />

theologischen, sondern auch zu juristischen, politischen und wirtschaftlichen<br />

Fragen. Sie hatten diesbezüglich die geistige Führung in Europa inne.<br />

Konnte Francisco de Vitoria (gest. 1546) 1527 seine Vorlesung „Über die<br />

politische Gewalt“ mit den Worten eröffnen, „Aufgabe und Amt des<br />

Theologen reichen so weit, dass offenbar kein Gegenstand, keine Untersuchung,<br />

kein Gebiet dem Fach der Theologie fremd ist“ 28 , so herrschte<br />

spätestens nach Francisco Suárez (gest. 1617) eine epigonenhafte und verschulte<br />

Theologie, die sich zu den Fragen der Zeit kein Gehör mehr zu<br />

136<br />

Mariano Delgado<br />

27 Ausgewählte Literatur über die in den Anm. 1, 11 und 22 zitierten Titel hinaus (alphabetisch):<br />

Juan Bosch, Panorama de la teología española (Estella 1999). – Ders., La teología<br />

en España, in: Vida Nueva Nr. 2199 (4. September 1999) 24–31. – J. R. Busto, Situación<br />

actual de los estudios de teología en España, in: Estudios Eclesiasticos 72 (1997) 489–<br />

513. – Casiano Floristán, La teología española después del Vaticano II, in: Vida Nueva<br />

Nr. 2401 (15. November 2003) 23–30. – M. Gesteira, Ante el 50 aniversario de la Revista<br />

Española de Teología (1941–1991), in: Revista Española de Teología 5 (1990) 377–383. –<br />

Olegario González de Cardedal, Situación actual de la teología española, in: Salmanticensis<br />

29 (1982) 5–41. – Hacer teología hoy en España, in: Iglesia viva (monographisches<br />

Heft) 132 (1987). – H. Santiago Otero – F. Blázquez, Panorama actual de la teología<br />

española (Madrid 1974). – Xabier Pikaza, Tendencias teológicas en España, in: Vida Nueva<br />

Nr. 1642 (16. Juli 1988) 25–31. – Isaías Rodríguez, Introducción a la teología española contemporánea<br />

(1937–1975), in: Melquíades Andrés (Hg.), Historia de la teología española<br />

(Madrid 1987) 659–774.<br />

28 Francisco de Vitoria, Vorlesungen I (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche.<br />

Hg. von Ulrich Horst – Heinz-Gerhard Justenhoven – Joachim Stüben (Stuttgart<br />

1995) 117.


KuK 3 / p. 137 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

verschaffen wusste. Zum Niedergang der spanischen Theologie trug auch<br />

jener Exodus aus den staatlichen Universitäten bei, der 1767 mit der Vertreibung<br />

der Jesuiten einsetzte und 1868 in der – nach verschiedenen Versuchen<br />

liberaler Regierungen im 19. Jahrhundert – endgültigen Aufhebung<br />

der Theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten<br />

gipfelte. Als Ignaz von Döllinger in seiner berühmten Rede „Die Vergangenheit<br />

und Gegenwart der katholischen Theologie“ vom 29. September<br />

1863 bemerkte, dass in Spanien auf die Spätscholastik „Nacht und Dunkel“<br />

gefolgt seien 29 , übertrieb er kaum. Die Inquisition kann man allerdings<br />

nicht allein dafür verantwortlich machen, denn sie war auch im Goldenen<br />

Zeitalter spanischer Theologie tätig.<br />

Zu einer Zeit, in der im deutschen Sprachraum der gegenteilige Trend<br />

herrschte, erfolgte die Aufhebung der theologischen Fakultäten an den<br />

staatlichen Universitäten Spaniens nicht zuletzt auf Wunsch der Kirche,<br />

die die Freiheit in der theologischen Ausbildung des Priesternachwuchses<br />

behalten wollte, damit dieser vom Virus der modernen, liberalen Kultur<br />

nicht angesteckt werde. Mit dem Rückzug der theologischen Ausbildung<br />

in die diözesanen Priesterseminare zahlte die spanische Kirche für die Libertas<br />

ecclesiae den hohen Preis der intellektuellen Gettoisierung. Die<br />

Priester wurden nun ohne näheren Kontakt zu den akademischen Eliten<br />

in der im Syllabus ausgedrückten ultramontanen Haltung zur Moderne<br />

ausgebildet. Theologen auf der Höhe der Zeit wurden bis weit ins 20. Jahrhundert<br />

hinein die Ausnahme.<br />

Die Gründung Katholischer Universitäten (1892 in El Escorial durch<br />

die Augustiner, 1890 in Comillas bei Santander und 1904 in Deusto durch<br />

die Jesuiten) erfolgte zwar nicht in jener geistigen Weite, wie sie in vergleichbaren<br />

Zentren in Paris, Löwen und Fribourg herrschte, sondern im<br />

ultramontanen und antimodernistischen Geist; sie besserte aber die organisatorische<br />

Infrastruktur für das Theologiestudium und die katholische<br />

Kultur. Eine weitere organisatorische Besserung trat nach dem Bürgerkrieg<br />

ein, da die Kirche es nun mit einem Regime zu tun hatte, das ein<br />

katholisches Spanien rekonstruieren wollte. Auf Bitten des spanischen<br />

Episkopats errichtete Pius XII. 1940 die Päpstliche Universität Salamanca<br />

wieder. Ebenfalls 1940 wurde nach dem Vorbild der deutschen Max-<br />

Plank-Gesellschaft das „Consejo Superior de Investigaciones Científicas“<br />

(CSIC) gegründet und dessen Leitung dem Opus-Dei-Mitglied José María<br />

Albareda übertragen. Vom CSIC und den darin etablierten Forschungseinrichtungen<br />

gingen in der Folge wesentliche Impulse zur Erforschung<br />

der Kirchen- und Missionsgeschichte wie des juristischen, philosophischen,<br />

spirituellen und theologischen Erbes Spaniens aus. Diese Arbeiten<br />

waren aber insgesamt mehr rückwärtsgewandt und bilanzierend als zu-<br />

29 Johann Finsterhölzl, Ignaz von Döllinger (Graz 1969) 238.<br />

137


KuK 3 / p. 138 / 7.7.2005<br />

kunftsorientiert; nicht selten waren sie auch vom patriotischen Geist der<br />

Epoche gefärbt; sie legten aber mit vielen Quelleneditionen den Grund<br />

zur wissenschaftlichen Erschließung des Beitrags Spaniens zu den verschiedenen<br />

Disziplinen.<br />

Die Gründung weiterer theologischer Fakultäten und Institute vor und<br />

nach dem Konzil führte dazu, dass die Kirche heute – trotz Nicht-Eingliederung<br />

in die staatlichen Universitäten – über ein breites Netz hochwertiger<br />

theologischer Zentren verfügt. Konnte man zu Beginn des<br />

19. Jahrhunderts an 24 Fakultäten, 45 Priesterseminaren und zahlreichen<br />

Generalstudien der Orden Theologie studieren, so gibt es jetzt 61 Institutionen<br />

von Hochschulniveau: zehn Fakultäten in Salamanca, Comillas –<br />

nunmehr bei Madrid und nicht bei Santander –, Deusto, Navarra/Pamplona,<br />

Katalonien/Barcelona, Burgos/Vitoria, Granada, Valencia, Madrid und<br />

Murcia und 51 über ganz Spanien verteilte theologische und philosophische<br />

Hochschulzentren, die zur Anerkennung der Ausbildung und Abschlüsse<br />

mit einer dieser Fakultäten vertraglich verbunden sind. So gibt es<br />

derzeit in fast jedem spanischen Bistum ein höheres Institut für theologische<br />

Studien.<br />

Parallel zu den Zentren für theologische, juristische, philosophische,<br />

spirituelle und historische Studien erfolgte die Gründung wissenschaftlicher<br />

Fachzeitschriften, Publikationsreihen und Verlage. Dies geschah in<br />

drei Schüben: Nach 1881 im Geiste der Neuscholastik, nach 1940 im Geiste<br />

der Erforschung und Inventarisierung der katholischen Tradition Spaniens,<br />

und schließlich nach dem Konzil, das in Spanien mit einer Krise und<br />

Erneuerung der Theologie einherging, im Geiste der defensiven oder offensiven<br />

Treue zu ihm.<br />

Vor dem Konzil war die spanische Theologie von den theologischen<br />

Aufbrüchen im französisch- und deutschsprachigen Raum ziemlich isoliert.<br />

Ihre Leistungen lagen – abgesehen von den erwähnten Verdiensten<br />

bei der Erforschung der katholischen Tradition Spaniens in allen Disziplinen<br />

– eher im Bereich der Neuscholastik und entsprechender Lehrbücher.<br />

Besonders erwähnenswert ist hier das letzte noch lateinische Lehrbuch<br />

„Sacrae Theologiae Summa“ (1950–1952), das spanische Jesuiten verfasst<br />

hatten und das Karl Rahner noch in seinen alten Tagen sehr schätzte.<br />

Seit den fünfziger Jahren studierte der theologische Nachwuchs nicht<br />

mehr nur in Spanien oder Rom, sondern zunehmend auch in Paris, Löwen,<br />

München, Tübingen, Innsbruck und Fribourg. Nach Spanien brachte er<br />

die neuen Ideen mit. Auf die spanischen Bischöfe hatte dies keinen Einfluss,<br />

wie nicht zuletzt deren bescheidene Rolle auf dem Konzil zeigte.<br />

Das lag u.a. daran, dass aufgrund des konkordatären Präsentationsrechtes<br />

die Bischofskandidaten in anderen Bereichen als denen der theologischen<br />

Erneuerung gesucht wurden. Erst nach dem Konzil und der damit verbundenen<br />

Umgehung des Präsentationsrechtes durch die Ernennung von<br />

138<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 139 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

Weihbischöfen stiegen Professoren und Vertreter der neuen akademischen<br />

Theologie zum Bischofsamt auf.<br />

Der politische Wandel von der Diktatur zur Demokratie, der kirchliche<br />

Wandel von der engen Verbindung zwischen Religion und Nation/Staat<br />

zur Anerkennung der Bedingungen der Moderne und schließlich der theologische<br />

Wandel von der Neuscholastik zu einer historisch und sozialwissenschaftlich<br />

arbeitenden Theologie prägten die nachkonziliare spanische<br />

Theologie, deren Vertreter außer in Spanien und Rom zumeist im französisch-<br />

und deutschsprachigen Raum, oder auch in Lateinamerika ausgebildet<br />

wurden. Für diese Theologie gilt:<br />

- Sie ist außerhalb Spaniens weitgehend unbekannt: Übersetzungen spanischer<br />

Autoren in andere Sprachen sind eher selten; die großen Standardwerke<br />

über die Theologie im 20. Jahrhundert nennen spanische Theologen<br />

kaum oder gar nicht. Paradigmatisch sei hier auf das letzte Handbuch dieser<br />

Art verwiesen 30 , das nur vier spanische Theologen nennt, nämlich<br />

J. Alfaro, O. González de Cardedal, R. Panikkar, J. Sobrino.<br />

- Die spanische theologische Produktion ist gering und die theologischen<br />

Verlage füllen ihr Programm nach wie vor mit Übersetzungen ausländischer<br />

– auch protestantischer, anglikanischer und orthodoxer – Autoren.<br />

Deren Anteil ist aber vom Höhepunkt in den späten sechziger Jahren<br />

weit entfernt, als im Schatten jener Krise, die das Konzil für die spanische<br />

Theologie bedeutete, über 90 % der in Spanien erschienenen theologischen<br />

Werke Übersetzungen waren und spanische Theologen kritisch<br />

und ironisch von der theologischen „Unterentwicklung“ ihres Landes<br />

sprachen. Die meisten spanischen Theologen sind mit dem Entwurf von<br />

Lehrbüchern für das Theologiestudium oder mit Beiträgen für Zeitschriften<br />

beschäftigt, die eher auf ein breites Publikum hinzielen oder die Weiterbildung<br />

der Seelsorger und Religionslehrer im Sinne haben. Aber in allen<br />

Disziplinen finden sich Theologen und Theologinnen – 1992 wurde<br />

die Vereinigung spanischer Theologinnen gegründet –, die auf der Höhe<br />

der Zeit stehen und sich mit ähnlichen Fragen und Methoden beschäftigen<br />

wie in den führenden theologischen Zentren der Weltkirche.<br />

- Der bereits erwähnte Erzbischof von Pamplona, Fernando Sebastián<br />

Aguilar, sah es 1993 freilich ein wenig anders. Danach befassten sich viele<br />

Theologen vorrangig mit sozialen und politischen Fragen im Sinne der<br />

Theologie der Befreiung, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass die führenden<br />

europäischen Theologen sich anderen Themen, wie der Wiederkehr<br />

der Religion und der Transzendenz, der Gnade und der Erlösung widmeten;<br />

andere betrieben eine historisch-kritische und antirömische Theologie<br />

mitteleuropäischer (germanischer) Prägung; wieder andere beschäftigten<br />

30 Vgl. Rosino Gibellini, Handbuch der Theologie im 20. Jahrhundert (Regensburg<br />

1995).<br />

139


KuK 3 / p. 140 / 7.7.2005<br />

sich mit einer allzu akademischen und ahistorischen Theologie, die zwar<br />

keine Probleme schaffte, aber auch keine löste. Aguilar vermisste eine<br />

Theologie, die aus der Erfahrung und Realität der spanischen Kirche heraus<br />

betrieben wurde.<br />

- Bezüglich der Einstellung zum Konzil finden sich in der spanischen<br />

Theologie jene Tendenzen, die für die nachkonziliare Zeit im Allgemeinen<br />

charakteristisch waren: Es gibt eine extrem romorientierte konservative<br />

Richtung, die die Konzilsrezeption kritisiert und nicht zuletzt Unklarheiten<br />

der Konzilstexte dafür verantwortlich macht; andere, die die Hauptgruppe<br />

darstellten und den größten Einfluss auf die Bischöfe gehabt haben<br />

dürften, kritisieren ebenfalls manche Aspekte der Konzilsrezeption, bejahen<br />

aber den theologischen Stil der Konzilstexte; eine dritte Gruppe<br />

schließlich denkt eher in befreiungs- oder liberaltheologischen Kategorien,<br />

wirft Rom vor, die „wahre“ Rezeption des II. Vaticanum zu bremsen,<br />

und wünscht ein III. Vaticanum, um über den „Reformstau“ zu beraten;<br />

die meisten Vertreter dieser letzten Tendenz gehören zur „Asociación de<br />

Teólogos Juan XXIII“, die seit 1980 sehr gut besuchte öffentliche Veranstaltungen<br />

für Laien sowie kleinere Fachkolloquien über besondere<br />

Fragen organisiert.<br />

- Während einige Autoren meinten, die spanische Kirche habe nie über<br />

eine so kreative, begeisterte und treue Gruppe von Theologen wie in der<br />

Nachkonzilszeit verfügt oder darauf verwiesen, dass es mehr als zwei Dutzend<br />

Theologen gäbe, die es verdienten, unter den besten Europas genannt<br />

zu werden, machten andere auf die strukturellen Schwächen der spanischen<br />

Theologie aufmerksam: Aufgrund der geringen Besoldung könnten<br />

sich viele Professoren nicht ausschließlich der theologischen Arbeit<br />

widmen; darunter leidet vor allem die Forschung.<br />

- Die Nicht-Eingliederung in die staatlichen Universitäten wird von<br />

vielen Theologen beklagt, da sie sich als Nachteil für das Gespräch mit<br />

der heutigen Kultur erweise. Die neue Tendenz zur Gründung kirchlich<br />

unabhängiger Departements für Theologie und/oder Religionswissenschaft<br />

an manchen staatlichen Universitäten kann nicht die Lösung sein,<br />

da dort eher die Geschichte und Soziologie des Christentums als der Glaube<br />

der Kirche gelehrt und erforscht wird. Die theologische wissenschaftliche<br />

Produktion und die Symposien, Kongresse sowie Weiterbildungsveranstaltungen<br />

werden in der Tat zumeist nur innerhalb der Kirchenräume<br />

wahrgenommen; diese sind zwar in Spanien noch sehr weit, da die Kirche<br />

eine große Ausstrahlung über eigene Medien hat. Aber in den meinungsbildenden<br />

Tageszeitungen findet sich selten ein Beitrag eines Theologen<br />

oder eine Rezension spanischer theologischer Werke. Große Aufmerksamkeit<br />

in den Medien finden dagegen die von den Bischöfen kritisierten<br />

Kongresse der „Asociación de Teólogos Juan XXIII“, an denen viele<br />

Priester, Laien und Theologen progressiver Ausrichtung teilnehmen. Dies<br />

140<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 141 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

bestärkt wiederum die Bischöfe in ihrer Option für ein Theologiestudium<br />

unter ausschließlich kirchlicher Obhut und von neuscholastischer Tendenz,<br />

die den Priesteramtskandidaten aus den neuen geistlichen Bewegungen<br />

und Gemeinschaften entgegenkommt. Die Welle von Neugründungen<br />

Katholischer Universitäten seit den neunziger Jahren ist wohl ein Zeichen<br />

dafür, dass die Bischöfe an eine Rückkehr in die staatlichen Universitäten<br />

kaum denken.<br />

Doch zum Gedeihen bedarf die Theologie, wie Olegario González de<br />

Cardedal schrieb, einer doppelten Distanznahme: Einerseits gegenüber<br />

der herrschenden politischen Macht, damit die staatlich-institutionelle<br />

Unterstützung, der die Theologie bedarf, nicht mit dem Verlust der Freiheit<br />

bezahlt wird; andererseits aber der Distanz gegenüber den Bischöfen,<br />

damit die selbstverständliche kirchliche Communio und die Anbindung<br />

der Theologie an das Lehramt nicht zum blinden Gehorsam oder zu einer<br />

Enzykliken-Theologie führt.<br />

Teil V:<br />

Kirchliches Leben, Katholizismus und Gesellschaft 31<br />

Hier ist zu unterscheiden zwischen jener Phase der geschlossen katholischen<br />

Gesellschaft, die auf den Bürgerkrieg folgte, und jener unter den<br />

31 Vgl. Ausgewählte Literatur über die in den Anm. 1, 11, 22 und 27 zitierten Titel hinaus<br />

(alphabetisch): Paul Aubert (Ed.), Religión y sociedad en España (Siglos XIX y XX) (Madrid<br />

2002). – José M. Díez-Alegría u.a. (Hg.), Cambio social y religión en España (Barcelona<br />

1975). – V. M. Arbeloa, Aquella España católica (Salamanca 1975). – Dionisio Borobio,<br />

Die Rezeption der Liturgiereform in Spanien nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil,<br />

in: Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen<br />

Gottesdienstes. Hg. von Martin Klöckener und Benedikt Kränemann, Teil II: Liturgiereformen<br />

seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (Münster 2002) 926–950. – Vicente<br />

Cárcel Ortiz, Los obispos españoles en el Concilio Ecuménico Vaticano II, in: Pablo<br />

VI y España (Madrid 1997) 406–418. – José M. Castillo, La Iglesia en España en los<br />

últimos 25 años, in: Vida Nueva Nr. 2364 (8. Februar 2003) 21–32. – Carlos Collado<br />

Seidel, Kirche, Religiosität und Re-Evangelisierung in einer säkularisierten Gesellschaft,<br />

in: Walther L. Bernecker – Klaus Discherl (Hg.), Spanien heute. Politik, Wirtschaft,<br />

Kultur (4. vollständig neu bearbeitete Auflage Frankfurt am Main 2004) 417–449. – Rafael<br />

Díaz Salazar, Iglesia, Dictadura y Democracia. Catolicismo y Sociedad en España (1953–<br />

1979), (Madrid 1981). – Rafael Díaz-Salazar – Salvador Giner (Hg.), Religión y sociedad<br />

en España (Madrid 1993) (darin: Salvador Giner – Sebastián Sarasa, Religión y modernidad<br />

en España: 50–91; Rafael Díaz-Salazar, La transición religiosa de los españoles:<br />

93–173). – Javier Fernández, La religiosidad popular, in: Vida Nueva Nr. 2229 (15. April<br />

2000) 23–29. – Casiano Floristán – Juan-José Tamayo (Hg.), El Vaticano II, veinte años<br />

después (Madrid 1985) (darin: C. Floristán, El postconcilio de la Iglesia española: 89–101;<br />

J. Martínez Cortés, El proceso de secularización en España: 359–384; A. Duato, Retos a<br />

la Iglesia española a los veinte años del concilio: 385–404). – Alberto Iniesta, La transición<br />

de la Iglesia, y la Iglesia en la transición, in: Vida Nueva Nr. 2275 (31. März 2001) 23–29. –<br />

Juan M. Laboa, El Postconcilio en España, Madrid 1988. – Ders., Los obispos españoles<br />

ante el Vaticano II, in: Miselánea Comillas 44 (1986) 45–69. – Juan José Tamayo-Acosta,<br />

Adiós a la cristiandad. La iglesia católica española en la democracia (Barcelona 2003).<br />

141


KuK 3 / p. 142 / 7.7.2005<br />

Bedingungen der Moderne, die in Spanien mit der Rezeption des Konzils<br />

zusammenfiel.<br />

1. Die Rekonstruktion des katholischen Spaniens<br />

Während sich in den deutschsprachigen Katholizismen nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg die Erosion der katholischen Milieus abzeichnete, erlebte Spanien<br />

nach dem Bürgerkrieg die Apotheose des Katholischen und eine soziale<br />

und religiöse Resakralisierung, die alle Lebensbereiche erfasste. Angesichts<br />

der traditionellen Vernachlässigung der Arbeiterschaft durch die<br />

Kirche wie der „Massenapostasie“, die im Schatten des Bürgerkrieges in<br />

einem Teil Spaniens stattfand, war die Rekonstruktion des katholischen<br />

Spaniens nicht leicht. José Andrés-Gallego und Antón M. Pazos erwähnen<br />

in ihrem Werk, dass in den Madrider Arbeitervierteln 1939–1940 80% der<br />

Heiratswilligen das Kreuzzeichen nicht machen und 76% das Vaterunser<br />

nicht beten konnten. Kirchen und Ordenshäuser mussten vielfach neu gebaut<br />

werden; für die ca. 7000 ermordeten Bischöfe, Priester, Ordensleute<br />

und kirchlich engagierten Laien musste Ersatz organisiert werden. Mit<br />

großzügiger Unterstützung der Regierung nahm die verordnete Rekatholisierung<br />

ihren Lauf. Als sichtbares Zeichen derselben mag die Massenzeremonie<br />

zur erneuten Weihe Spaniens an das Herz Jesu gelten, der Nuntius<br />

Annibale Cicognani im Juni 1944 in Anwesenheit Francos und von<br />

150.000 Katholiken auf dem Hügel Cerro de los Ángeles bei Madrid,<br />

dem geographischen Zentrum der Halbinsel, vorstand. 1929 hatte König<br />

Alfonso XIII. dort eine monumentale Christus-Statue errichten lassen<br />

und Spanien dem Herzen Jesu geweiht. Während des Bürgerkriegs war<br />

sie von Anhängern der Republik „erschossen“ und zerstört worden.<br />

Franco ließ sie wiedererrichten und genoss 1944 die symbolische Rekonstruktion<br />

des katholischen Spaniens unter seiner Obhut. Wo er eine Kirche<br />

besuchte, wurde er am Portal vom zuständigen Bischof empfangen und<br />

unter dem Baldachin feierlich in die Kirche geleitet.<br />

Die eucharistische Tradition Spaniens wurde mit vielen Kongressen in<br />

den einzelnen Diözesen erneuert. 1952 fand in Barcelona der Eucharistische<br />

Weltkongress, 1957 in Granada ein nationaler Kongress statt. Alle<br />

Kongresse wurden zu Massenveranstaltungen und zum öffentlichen Bekenntnis<br />

des Katholischen als Wesenselement der Nation. Die Volksmissionen<br />

wurden nach dem Krieg zu einem bevorzugten Mittel der Rekatholisierung.<br />

Es gab allgemeine Missionen, die in jedem Bistum und in jedem<br />

Dorf in größeren Abständen stattfanden, ferner solche, die auf besondere<br />

Gruppen hinzielten (besondere Stadtviertel, Arbeiterschaft, Fischer) und<br />

alljährlich abgehalten wurden. Die Missionen führten zu einer Wiederbelebung<br />

der Volksreligiosität: Die kirchlichen Hochfeste, die Andachten,<br />

die Predigten und Vorträge in der Fastenzeit, die Exerzitien (zwischen<br />

142<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 143 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

1942 und 1952 sollen über 650.000 Spanier an Exerzitien teilgenommen<br />

haben), die Wallfahrten zumeist zu lokalen Marienheiligtümern, die Prozessionen<br />

während der Karwoche und zu Fronleichnam unter Beteiligung<br />

der Behörden, die Kirchweihtage, die Bruderschaften und Kongregationen,<br />

die Rosenkranzprozession bei Tagesanbruch – niemals vorher in der<br />

Geschichte Spaniens gab es eine so weit verbreitete öffentliche religiöse<br />

Praxis und eine solche Symbiose von Religion und Nation.<br />

Die Katholische Aktion zählte 1955 über 500.000 Mitglieder und war<br />

sogar in den Dörfern verbreitet, wo sich um die Pfarrer Kreise von Bauern<br />

formierten. Der Priesternachwuchs konnte sich in den vierziger Jahren<br />

vom Aderlass während des Krieges nicht erholen. Die Statistik verzeichnet<br />

für dieses Jahrzehnt die niedrigste bisher bekannte Zahl. Erst in den<br />

fünfziger Jahren – nicht zuletzt als Folge der Rekatholisierung wie des<br />

Neubaus zahlreicher Seminare – erlebte Spanien einen wahren Berufungsfrühling,<br />

der gegen 1960 mit ca. 24 500 Priesteramtskandidaten den Höhepunkt<br />

erreichte. Seitdem – also nicht erst seit dem Konzil – bis zur Mitte<br />

der neunziger Jahre ging es dagegen abwärts. Die Krise erreichte ihren<br />

Höhepunkt zwischen 1962 und 1975, als in vielen Bistümern die Berufungen<br />

um mehr als 80% zurückgingen und einige traditionsreiche Priesterseminare<br />

wie das von Pamplona geschlossen werden mussten. 1964 gab es<br />

8233 Priesterseminaristen, 1975 nur noch 1900. Nach einem weiteren<br />

Tiefpunkt Anfang der achtziger Jahre ist jetzt in etwa der Stand von 1975<br />

wiedererreicht. Die Krise resultierte wohl aus dem rapiden Wandel der<br />

spanischen Gesellschaft seit Anfang der sechziger Jahre (Verstädterung,<br />

Migration mit Entwurzelung und Individualisierung, Hedonismus aufgrund<br />

des Wirtschaftswunders, Wandel von der Diktatur zur Demokratie<br />

mit der starken Politisierung einer ganzen Generation, die eher in den politischen<br />

Parteien als in der Kirche ein Betätigungsfeld suchte, Wandel von<br />

der geschlossenen zur offenen Gesellschaft mit entsprechender Freizügigkeit<br />

und moralischer Orientierungslosigkeit) wie des religiösen Wandels<br />

infolge des Konzils.<br />

Das über den Priesternachwuchs Gesagte gilt auch für die missionarische<br />

Dynamik der spanischen Kirche. Es scheint, dass auch in diesem Bereich<br />

die fünfziger Jahre als Ausnahme in die neuere Geschichte Spaniens<br />

eingegangen sind: Institutionen wurden neu gegründet oder belebt (so<br />

1950 in Burgos das Instituto Español de San Francisco Javier de Missiones<br />

Extranjeras), die traditionelle Zusammenarbeit mit Iberoamerika nach der<br />

Enzyklika „Fidei Donum“ Pius’ XII. vom 12. April 1957 intensiviert.<br />

Zahlreiche während der pianischen Epoche im Weltkatholizismus entstandene<br />

Missionsorden kamen erst jetzt im Zeichen der Rekatholisierung<br />

nach Spanien und erbauten Missionsseminare – vorrangig in Navarra, Altkastilien<br />

und der Levante, wo der Priesternachwuchs am größten war.<br />

1949 wurde mit Unterstützung des Außenministeriums die vorbildliche<br />

143


KuK 3 / p. 144 / 7.7.2005<br />

Escuela Española de Medicina para Misioneros eröffnet. Zu Beginn der<br />

sechziger Jahre arbeitete jeder vierte Ordensangehörige in den Missionen,<br />

insgesamt 26.264 Personen – dazu kamen Weltpriester und Laien. Schätzungsweise<br />

jeder fünfte in Iberoamerika tätige Priester kam damals aus<br />

Spanien.<br />

Das Projekt der Rekatholisierung Spaniens in der Franco-Zeit bildete<br />

eine ungeheure Anstrengung der Kirche zur umfassenden Neugestaltung<br />

der Gesellschaft auf den Gebieten von Moral, Staat und Nation, Weltanschauung,<br />

Erziehung und Wirtschaft durch den Katholizismus als maßgebende<br />

Religionsgemeinschaft. Dieses Projekt scheiterte nicht erst am<br />

Konzil, sondern erodierte schon in den fünfziger Jahren aus verschiedenen<br />

Gründen: Die Modernisierung der spanischen Gesellschaft führte dazu,<br />

dass die institutionelle Resakralisierung von einer Säkularisierung weiter<br />

Teile der Bevölkerung begleitet wurde; Religionssoziologen machen darauf<br />

aufmerksam, dass das Konzil zwar die institutionelle Säkularisierung<br />

begünstigt hat, dass aber die faktische Entkatholisierung längst im Gange<br />

war; die engen ultramontanen Ansichten der Bischöfe und vieler Geistlicher,<br />

die sich nicht zuletzt in der Zensur (Filme/TV, Presse, Bücher, Tänze,<br />

Frauenkleidung, Karneval und andere Volksfeste) äußerten, diskreditierten<br />

das Programm der katholischen Erneuerung an den Universitäten<br />

und förderten die Entstehung einer kritischen katholischen Intelligenz<br />

(J. L. López Aranguren, P. Laín Entralgo, J. M. Valverde, J. Jiménez Lozano,<br />

J. Marías); diese, aber auch weite Teile des jüngeren Klerus und einige<br />

jüngere Bischöfe sahen nicht zu Unrecht in der institutionellen Resakralisierung<br />

einen Anachronismus und eine rückwärtsgewandte Sicht der großen<br />

katholischen Tradition Spaniens; schließlich erwies sich die von oben<br />

verordnete Rekatholisierung als unbrauchbar und als unchristliche Methode,<br />

um jene zu gewinnen, die im Bürgerkrieg unterlegen waren.<br />

2. Unter den Bedingungen der Moderne<br />

Die Eigenart der Konzilsrezeption in Spanien lag darin, dass der religiöse<br />

Wandel mit dem politisch-sozialen und dem kulturell-theologischen zusammenfiel<br />

und von diesem mitgeprägt wurde. Daher veränderte das<br />

Konzil Spanien tiefgreifender als andere Länder. Die klassischen Phasen<br />

der Konzilsrezeption, die in der Literatur genannt werden, nämlich die<br />

des Überschwangs, der Enttäuschung mit progressivem oder restaurativem<br />

Einschlag und schließlich die der offensiven oder defensiven Treue<br />

zum Konzil, lassen sich auch in Spanien feststellen, wenn auch mit geringen<br />

Verschiebungen aufgrund des politischen Wandels. Casiano Floristán<br />

unterscheidet z.B. die Phase des Überschwangs (1965–1971), des Protestes<br />

bzw. der Kontestation (1971–1975, also in den letzten Jahren des Franquismus),<br />

des Übergangs (1975–1978, sie fällt mit dem politischen Überg-<br />

144<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 145 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

ang zusammen), der Restauration (seit 1978, also seit Beginn des Pontifikates<br />

Johannes Pauls II.). Über die Konzilsrezeption wird heute nur in<br />

engeren Zirkeln von Bischöfen, Priestern, Theologen und engagierten Laien<br />

diskutiert. In der Wahrnehmung des Kirchenvolkes bildet das Konzil<br />

eher den Zeitpunkt, zu dem unvermittelt und ohne angemessene katechetische<br />

Vorbereitung alles anders wurde: „Sie haben uns den Glauben geändert“<br />

(wenn nicht genommen), ist ein weit verbreitetes Empfinden. Viele<br />

Priester und Theologen empfanden das Konzil und den politischen Wandel<br />

offenbar als Selbstbefreiung, was nicht zuletzt die hohen Zahlen von<br />

Laisierungen belegen. Sie waren mehr mit der eigenen Identitätskrise als<br />

mit der emotionalen Not des Kirchenvolkes beschäftigt. Nicht wenige<br />

tauschten die Kanzel gegen ein politisches Amt. Das kirchliche Leben sowie<br />

die Beziehungen von Katholizismus und Gesellschaft waren nach dem<br />

Konzil von folgenden Spannungen gekennzeichnet:<br />

1) Spannung zwischen der Geringschätzung der Volksreligiosität und<br />

deren Wiederentdeckung<br />

Bis zur Mitte der achtziger Jahre gab es bei vielen Priestern und Theologen<br />

eine ikonoklastische Absetzbewegung von der Volksreligiosität oder dem<br />

Glauben und den Ausdrucksformen des einfachen Volkes. Die Ablehnung<br />

oder Geringschätzung der herkömmlichen Volksreligiosität durch Teile<br />

des Klerus, die sich nach dem Konzil mehr mit Soziologie, Psychologie<br />

oder Pädagogik als mit Theologie befassten, vertiefte die emotionale Entwurzelung<br />

des einfachen Volkes im Prozess des religiösen Umbruchs. Es<br />

hatte in den sechziger und siebziger Jahren nicht nur den politischen (Diktatur/Demokratie),<br />

sondern auch den tiefen sozial-kulturellen Wandel aus<br />

der Geborgenheit der Agrarwelt in die Arbeiterviertel der großen spanischen<br />

Städte oder in die europäische Migration zu bewältigen. Nach dieser<br />

Distanzierung von der Volksreligiosität und der Hinwendung zu der<br />

kategorialen Minderheitenseelsorge versagte die spanische Kirche zwei<br />

Generationen weitgehend die angemessene katechetische Begleitung.<br />

Manche Priester waren mehr daran interessiert, die Erstkommunionsfeier<br />

möglichst zu entmythologisieren und so einfach und egalitär wie möglich<br />

zu gestalten, als die katechetischen-sozialen Chancen eines solchen Familienfestes<br />

zu nutzen. Ohne die feierliche, volksreligiöse und soziale Gestaltung<br />

wurde die Erstkommunion für viele Familien unattraktiv. Erst<br />

Mitte der achtziger Jahre – parallel zur allgemeinen Wiederkehr der Religion<br />

und der Transzendenz in der westlichen Welt, aber auch zur Wiederentdeckung<br />

der Volksreligiosität als Weisheit des Volkes in der Theologie<br />

der Befreiung im Schatten der Bischofskonferenz von Puebla (1979) –<br />

zeigte sich unter Klerus und Theologen in Spanien eine Trendwende gegenüber<br />

der Volksreligiosität. Taufen und Erstkommunionen wurden wie-<br />

145


KuK 3 / p. 146 / 7.7.2005<br />

der zum familiär-sozialen „volksreligiösen“ Ereignis, zur Freude der Gastronomie<br />

und anderer Wirtschaftszweige, die davon profitierten. Die<br />

Wallfahrten auf dem Jakobsweg in ganz Spanien, auf die Burg des Franz<br />

Xaver in Navarra, nach Montserrat in Katalonien, nach El Rocío in Andalusien<br />

usw.- die spanischen Wallfahrtsorte wurden 2000 von über 40 Millionen<br />

Pilgern besucht – und Prozessionen in der Karwoche, zu Fronleichnam<br />

und zu Patrozinien gewannen an Bedeutung, die Bruderschaften und<br />

Kongregationen wurden wiederbelebt und neue gegründet, Zeremonien<br />

wie die Segnung der Tiere und der Felder oder drei- und neuntägige Andachten<br />

zu lokalen Heiligen und Madonnen erfreuten sich wieder großer<br />

Beliebtheit.<br />

Die Wiederkehr der Volksreligiosität hatte zwei Gründen: Zum einen<br />

gab das einfache Volk zu verstehen, dass es sich manches nicht nehmen<br />

ließ; zum anderen waren viele Bischöfe, Priester und Theologen von der<br />

ikonoklastischen Sicht der Volksreligiosität abgerückt und zur katholischen<br />

Tradition zurückgekehrt. Sie sahen darin ein grundsätzlich positives<br />

Phänomen im Sinne einer Inkulturation des Evangeliums, das allerdings<br />

der kritischen Begleitung und Reinigung zum Wohl des einzelnen<br />

Gläubigen wie der Kirche und der Gesellschaft bedarf. Besorgniserregend<br />

war, dass diese Rückkehr der Volksreligiosität von zunehmender kirchlicher<br />

Gleichgültigkeit und einer Abnahme der sakramentalen Praxis begleitet<br />

wurde. Bei allen Unzulänglichkeiten ist aber vielleicht die Volksreligiosität<br />

mit ihrer Fähigkeit, die Menschen emotional zu binden, weil<br />

sie Teil der Festkultur geworden ist, das beste Mittel gegen die Auflösungserscheinungen<br />

des Katholizismus in der Moderne.<br />

2) Spannung zwischen den verschiedenen Bereichen des Katholizismus<br />

Schismatische Polarisierungen wie der Fall Lefèbvre fassten auf die Dauer<br />

in Spanien kaum Boden. Die Wahl eines Gegenpapstes in den siebziger<br />

Jahren im Dorf Palmar de Troya bei Sevilla war eher ein lokaler skuriller<br />

Akt ohne Einfluss auf den Weltkatholizismus. Aber der nachkonziliare<br />

Katholizismus war vielfältiger als der vorkonziliare. Folgende Bereiche<br />

ließen sich unterscheiden: Bis zu Beginn der achtziger Jahre war der konservative,<br />

gebildete, romorientierte und puritanische Katholizismus der<br />

pianischen Epoche vorherrschend. Daneben existierte ein Volkskatholizismus,<br />

der die sakramentale Praxis und den feierlichen Charakter der religiösen<br />

Zeremonien mit einem gewissen „katholischen Antiklerikalismus“<br />

verband – frei nach Miguel de Cervantes, der meinte, dem Pferd solle man<br />

von hinten misstrauen, dem Stier von vorne und dem Geistlichen von allen<br />

Seiten. Angesichts dieses traditionellen Misstrauens ist es wohl kein Zufall,<br />

dass nach einer europaweiten Studie, deren Ergebnisse im Sommer<br />

2004 veröffentlicht wurden, in Spanien der Geistliche ein geringeres Ver-<br />

146<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 147 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

trauen genießt als in anderen Ländern Europas. Typisch für den nachkonziliaren<br />

Katholizismus waren die massive Abnahme der sakramentalen<br />

Praxis, die Verschärfung der alten Trennung von Glauben und Leben sowie<br />

das Aufkommen einer dogmen- und kirchenkritischen Haltung. Das<br />

Ergebnis von Umfragen aus den achtziger und neunziger Jahren lässt nicht<br />

nur einen weit verbreiteten Analphabetismus in Glaubensfragen erkennen<br />

– viele führen ihn auf die Ersetzung der alten katechetischen Methode des<br />

Auswendiglernens durch die lebensorientierte Erfahrungskatechese zurück<br />

–, sondern auch die Tendenz zu einem innerweltlichen und privatisierten<br />

Christentum ohne Kirche, wie dies heute für den modernen „Katholizismus<br />

light“ oder „à la carte“ allgemein gilt.<br />

Die größte Spannung betrifft aber die übrigen zwei Gruppen der so genannten<br />

engagierten Katholiken. Dies sind auf der einen Seite die eher befreiungstheologisch<br />

oder liberal orientierten Gruppen. Sie treten für eine<br />

„kritische Loyalität“ zu den Bischöfen ein und wünschen eine pluralistische,<br />

soziale und emanzipatorische Kirche, die das Konzil offensiv interpretiert<br />

und stabilisierender Faktor der modernen Gesellschaft ist.<br />

Konflikte mit den demokratischen Regierungen oder der modernen Gesellschaft<br />

gehen nach ihrer Meinung auf klerikale Machtansprüche zurück.<br />

Sie fühlen sich von der Kirchenführung zunehmend gering geschätzt bzw.<br />

unbeachtet und werfen ihr mangelnden Pluralismus vor; manche wählen<br />

schließlich den stillen Exodus oder gehen auf Distanz zur verfassten Kirche.<br />

Auf der anderen Seite stehen geistliche Erneuerungsbewegungen, die<br />

von vielen Bischöfen als bevorzugte Träger der Neuevangelisierung betrachtet<br />

werden, da sie sich durch eine ausgesprochene Treue zum kirchlichen<br />

Amt – auch im Hinblick auf die Interpretation des Konzils – und<br />

durch Missionsdynamik auszeichnen. Andere Bischöfe betrachten sie wiederum<br />

misstrauisch, weil es sich im Wesentlichen um Laienbewegungen<br />

handelt, die die konziliare universale Sendung der Christen ernst nehmen<br />

und sich nicht mehr als verlängerter Arm der Hierarchie verstehen. Sie<br />

treten eher für eine klare katholische Identität in der modernen Gesellschaft<br />

ein, auch wenn dies zur Konfrontation der Kirche mit der Regierung<br />

oder dem Zeitgeist führt. Sie haben einen hohen Organisationsgrad,<br />

bemühen sich um Gründung katholischer Bildungseinrichtungen und<br />

Massenmedien und verkörpern so eine nachkonziliare Version des „Antimodernismus<br />

mit modernen Mitteln“, wie er für den Vereinskatholizismus<br />

der pianischen Epoche kennzeichnend war 32 .<br />

Unter den in Spanien entstandenen neuen geistlichen Bewegungen sind<br />

zunächst die Cursillos de Cristiandad zu nennen. Sie wurden 1949 durch<br />

32 Vgl. Urs Altermatt, Katholizismus: Antimodernismus mit modernen Mitteln?, in:<br />

Ders. – Heinz Hürten – Nikolaus Lobkowicz (Hg.), Moderne als Problem des Katholizismus<br />

(Regensburg 1995) 33–50.<br />

147


KuK 3 / p. 148 / 7.7.2005<br />

eine Gruppe von Priestern und Laien der Katholischen Aktion in Palma<br />

de Mallorca gegründet und entfalteten bis Anfang der siebziger Jahre eine<br />

große Dynamik. Weltweit dürften ca. neun Millionen Menschen die Cursillos<br />

oder kleinen Einkehrtage für Laien gemacht haben. 1964 entstanden<br />

um den akademischen Maler und Prediger Kiko Argüello in einem Arbeiterviertel<br />

von Madrid die Neokatechumenalen Gemeinschaften, die 2002<br />

von der römischen Kurie ein eigenes Statut erhielten. Sie sind unterdessen<br />

in vielen Pfarrgemeinden Spaniens und der katholischen Welt präsent. Seit<br />

1987 haben sie eigene Priesterseminare, die sie „Redemptoris Mater“ nennen.<br />

Derzeit gibt es über 35, eines davon in Madrid. Zu den geistlichen<br />

Bewegungen für Laien wäre auch das Opus Dei zu nennen, da die meisten<br />

seiner Mitglieder Laien sind, die sich von der allgemeinen Berufung zur<br />

Heiligkeit angesprochen fühlen. Von der Verquickung einiger Mitglieder<br />

mit dem Franquismus war bereits die Rede. Nach dem demokratischen<br />

Übergang scheint das Opus Dei einen Wandel durchgemacht zu haben.<br />

Seine Institutionen und Mitglieder nehmen nun die katholische Soziallehre<br />

ernster und so gewinnt die geistliche Bewegung ihr spezielles Profil,<br />

indem sie an der spirituellen und institutionellen Erneuerung des Katholizismus<br />

in der Moderne mitarbeitet. Für viele ist sie attraktiv, nicht zuletzt<br />

weil sie in einer Zeit des beschleunigten religiösen Transformationsprozesses<br />

die alte katholische Identität und religiöse Praxis selbstbewusst verkörpert<br />

und in Liturgie und Kirchenbau ein Gefühl für die Ästhetik beibehalten<br />

hat. Von den geistlichen Bewegungen, die aus anderen Ländern nach<br />

Spanien kamen, sind die Fokolarbewegung (1943 in Trient gegründet), die<br />

charismatische Bewegung (seit 1967 in Spanien präsent), die Bewegung<br />

Regnum Christi (Laienzweig der 1941 in Mexiko gegründeten Legio<br />

Christi), die 1993 die Katholische Universität Francisco de Vitoria in Madrid<br />

gründete, Communione e Liberazione (1954 in Italien entstanden),<br />

die u.a. den katholischen Verlag „Encuentro“ besitzt, besonders hervorzuheben.<br />

In den letzten Jahren ist auch, vor allem in Katalonien, eine stärkere<br />

Präsenz der Comunità di Sant’Egidio zu beobachten.<br />

3) Spannungen im Bereich der Rezeption der Liturgiereform<br />

Auch hier lassen sich grundsätzlich drei Phasen unterscheiden: die Phase<br />

der Begeisterung in den sechziger Jahren, die der Enttäuschung oder Desillusionierung<br />

in den siebziger und die der Wiedergewinnung oder Vertiefung<br />

seit den achtziger Jahren. Dionisio Borobio bezeichnet die gegenwärtige<br />

Situation als vierte Phase, die im Zeichen des „widersprüchlichen<br />

Pluralismus“ stehe, indem die eine Seite eher zur unkritischen Haltung<br />

mit neokonservativem Beigeschmack sowie zur Verweigerung des Dialogs<br />

mit der Welt und der Kultur neige, während die andere eine stärkere Anpassung<br />

und Inkulturation sowie eine größere Offenheit für den Dialog<br />

148<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 149 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

und die Symbolik der gegenwärtigen Welt fordere. Die Rezeption der Liturgiereform,<br />

auf die der spanische Katholizismus vielleicht mit Ausnahme<br />

Kataloniens kaum vorbereitet war, hat nach Borobio nicht nur die<br />

Zunft der Liturgiewissenschaftler (Professuren, wissenschaftliche Vereinigungen<br />

und Kommissionen, Institute, Tagungen, Fachzeitschriften und<br />

-publikationen) entstehen lassen, sondern zu positiven wie auch negativen<br />

und fragwürdigen Entwicklungen geführt, die sich von denen anderer<br />

Länder Europas kaum unterscheiden dürften.<br />

Zu den positiven Entwicklungen zählt er die Überwindung der früheren<br />

Passivität durch Förderung der tätigen Teilnahme an der Liturgie, die<br />

Wertschätzung der Heiligen Schrift, die Überwindung des alten Klerikalismus<br />

durch Einführung verschiedener Dienste und Ämter, die Bemühungen<br />

um Überwindung der Trennung zwischen Volksreligiosität und<br />

Liturgie, das vertiefte Verständnis der Zeichen und Riten der liturgischen<br />

Feier; die Intensivierung der Sakramentenpastoral; die Erneuerung des<br />

Katechumenats oder katechumenaler Prozesse. Das geringe Interesse<br />

mancher Bischöfe und Priester an der Liturgie beweise den Mangel einer<br />

wirklichen liturgischen Ausbildung und Sensibilität bei Priestern und<br />

Gläubigen. Sie werden als besonders negativ bezeichnet; ebenso der<br />

fehlende Mut zur Inkulturation und Wiederbelebung genuin spanischer<br />

Traditionen; die „Eucharistisierung“ des liturgischen Lebens bei gleichzeitiger<br />

Geringschätzung anderer Feierformen, die für die christliche Gemeinschaft<br />

notwendig sind. Zu den fragwürdigen Entwicklungen wird<br />

die Gleichgültigkeit gegenüber der frühzeitigen Kindertaufe gezählt, aber<br />

auch das allgemeine Hinauszögern des Firmalters, ferner die willkürliche<br />

Änderung an liturgischen Texten, die Geringschätzung des Bußsakramentes<br />

und nicht zuletzt die faktisch ausgebliebene Rezeption der Verpflichtung<br />

zum Stundengebet beim Klerus.<br />

Dieser Sicht des Liturgiewissenschaftlers steht das Urteil von José<br />

Jiménez Lozano, dem Cervantes-Preisträger des Jahres 2002 und einem<br />

der scharfsinnigsten und kirchlich engagiertesten katholischen Intellektuellen,<br />

dessen Berichte über das Konzil viel gelesen wurden, entgegen.<br />

Demnach haben die Liturgiewissenschaftler ihre eigenen Ideen mit dem<br />

Volksempfinden verwechselt und eine Reform von oben veranstaltet, die<br />

vielfach einem Desaster gleich kam. Viele Katholiken der Konzilsgeneration<br />

– auch und gerade aus dem einfachen Volk – erinnern sich mit Nostalgie<br />

und Ratlosigkeit an die alte Liturgie. Den jüngeren Generationen ist<br />

dagegen nicht einmal die Erinnerung daran geblieben. Jiménez Lozano<br />

klagt, dass viele neue Kirchen wie Versammlungsräume, Garagen oder Industriehallen<br />

aussähen, dass die Religion der Menschwerdung ihre Ästhetik<br />

verloren habe, die einen theologischen Wert bilde, den die Kirche früher<br />

dem einfachen Volk nicht vorenthalten habe, dass man Bach und den<br />

gregorianischen Gesang den Konzerthäusern und den Kulturfestivals<br />

149


KuK 3 / p. 150 / 7.7.2005<br />

überlasse, dass die neuen Kirchenlieder und -gebete, verglichen mit den<br />

alten Hymnen, von sprachlicher Armut seien, dass die Kirchen nun meist<br />

geschlossen oder halbleer seien, wenn Gottesdienste stattfinden, dass<br />

schließlich in den Predigten viel von Menschenfreundlichkeit, Gerechtigkeit<br />

und Solidarität gesprochen werde, ohne dass das spezifisch Christliche<br />

(augustinisch ausgedrückt: Gott um seiner selbst willen lieben, den<br />

Nächsten aber um Gottes willen) dabei zur Sprache komme, so dass man<br />

sich zuweilen wie in einer Freimaurerloge wähne.<br />

4) Spannung zwischen der Tendenz zur Neuevangelisierung und der<br />

innerkirchlichen Tendenz zur Säkularisierung<br />

Spätestens seit Anfang der neunziger Jahre – nicht zuletzt aufgrund der<br />

mahnenden Worte Johannes Pauls II. bei den Besuchen ad limina – ist bei<br />

der Bischofskonferenz eine selbstkritische Einschätzung der rapiden Säkularisierung<br />

der spanischen Gesellschaft zu beobachten, die unterdessen<br />

nach dem Papst neuheidnische Züge zeigt. Es häufen sich seitens der Bischofskonferenz<br />

nicht nur moralische Appelle, sondern auch Pastoralpläne<br />

und Dokumente im Sinne der Neuevangelisierung Johannes Pauls II.<br />

So will der Pastoralplan 2002–2005 mit dem bezeichnenden Titel „Una<br />

Iglesia esperanzada ‚Mar adentro‘ (Lk 5,4)“ („Eine Kirche voller Hoffnung:<br />

‚hinaus auf die See‘“) Ausdruck eines neuen Evangelisierungselans<br />

sein. Dass unter den pastoralen Prioritäten von der Familienpastoral, der<br />

Förderung des Katechumenats und der Katechese, von einer missionarischen<br />

Pastoral, der Volksreligiosität, der Jugendpastoral, vom Religionsunterricht,<br />

von der christlichen Erziehung, der Sorge um die Kirchlichkeit<br />

nicht weniger Theologen, von den Katholischen Universitäten und den<br />

höheren Hochschulzentren sowie schließlich von den sozialen Kommunikationsmedien<br />

die Rede ist, klingt wie eine Auflistung bisheriger Versäumnisse.<br />

Viel wichtiger scheint, dass – anders als in den meisten bischöflichen<br />

Texten der letzten Jahre – bei der Diagnose nicht vom Laizismus und<br />

Antiklerikalismus die Rede ist, sondern vom „innerweltlichen Humanismus“<br />

des heutigen kulturellen Kontextes und von der „inneren Säkularisierung“,<br />

die viele Priester und engagierte Laien befallen habe. Langsam<br />

wird erkannt, dass die Säkularisierung nicht bloß eine Folge des politischen,<br />

ökonomischen und kulturellen Modernisierungsprozesses ist, sondern<br />

dass auch die Ratlosigkeit, das Schweigen, das laue Lebenszeugnis,<br />

die katechetische Unfähigkeit sowie die liturgische und sakramentale Armut<br />

nicht weniger christlicher Gemeinden dazu beigetragen haben. Es<br />

gibt in der Tat zwei Säkularisierungsprozesse in Spanien: Den allgemeinen<br />

Prozess religiöser und kirchlicher Gleichgültigkeit, der für die modernen<br />

europäischen Gesellschaften charakteristisch ist und der in Spanien nicht<br />

150<br />

Mariano Delgado


KuK 3 / p. 151 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

zuletzt auch als emotionale Reaktion auf die klerikale Apotheose des<br />

Franquismus zu verstehen ist, und die von den Geistlichen selbst bei der<br />

Rezeption des Konzils betriebene Säkularisierung. Diese ist die weitaus<br />

gefährlichere, so dass die angestrebte Neuevangelisierung bei der Kirche<br />

selbst beginnen müsste. Sie sollte nicht nur „in ihrem Eifer, in ihren Methoden<br />

und in ihrer Ausdrucksweise“ (Johannes Paul II.) neu sein, sondern<br />

auch in ihrem Ziel: Dieses kann nach dem Konzil nicht mehr in der<br />

Rekonstruktion einer katholischen Gesellschaft mit einer katholischen<br />

Gesetzgebung für alle bestehen, sondern im Wirken der Kirche, d.h. vor<br />

allem der Laien, als Sauerteig in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft.<br />

Teil VI:<br />

Ausblick<br />

Walther L. Bernecker hat das Ergebnis der „transición“, des Übergangs<br />

von der Diktatur zur Demokratie in Spanien, als die „‚Gleichzeitigkeit‘<br />

der politischen mit der ökonomischen Entwicklung“ bezeichnet 33 , so dass<br />

Spanien die Strukturen der westlichen Welt erhielt. Dies gilt auch für den<br />

religiösen Bereich. Auch hier hat es eine religionssoziologische Annäherung<br />

an die allgemeine westeuropäische Situation gegeben. Was die eingefleischten<br />

Laizisten und Antiklerikalen der Vorkriegszeit nicht erreichten,<br />

scheint nun der Modernisierungsprozess bewirkt zu haben. Ohne Zerstörung<br />

von Kirchen und Klöstern, ohne Liquidation kirchlicher Persönlichkeiten<br />

hat sich eine religiöse Gleichgültigkeit ausgebreitet, die gefährlicher<br />

als jeder militante Antiklerikalismus ist. Dazu kommt seit der Verabschiedung<br />

des Gesetzes über die Religionsfreiheit die unerwartete Konkurrenz<br />

verschiedener Bekenntnisse und Religionen, die sich auf die religiöse Neutralität<br />

des Staates berufen. Am 24. März 2004 berichteten die spanischen<br />

Zeitungen vom tiefen Unbehagen der Protestanten, Adventisten, Muslime,<br />

Juden, Agnostiker und Atheisten, weil der Trauerakt für die Opfer<br />

des Attentats vom 11. März „in einer katholischen Kirche und nach dem<br />

katholischen Ritus“ gefeiert wurde, wo doch die Verfassung von 1978 „laizistisch“<br />

sei. Nach den religionssoziologischen Umfragen ist Spanien heute<br />

kein katholisches Land im kirchlichen Sinne mehr (die Mehrheit der<br />

Befragten sind weder praktizierende Katholiken noch akzeptieren sie das<br />

kirchliche Lehramt in Fragen der Moral), noch agnostisch oder gleichgültig<br />

(die sich selbst als religiös bezeichnenden Spanier sind doppelt so zahlreich<br />

wie die nicht-religiös Orientierten), sondern ein stark säkularisiertes,<br />

religiös pluralistisches Land mit einer großen katholisch getauften Bevöl-<br />

33 W. L. Bernecker, Religion (wie Anm. 1) 331.<br />

151


KuK 3 / p. 152 / 7.7.2005<br />

kerungsmehrheit, die bei Umfragen zu Glaube und Moral ähnlich antwortet<br />

wie die Katholiken anderer westlicher Länder.<br />

Mit ihrer konstruktiven Rolle beim Übergang von der Diktatur zur Demokratie<br />

hatte die Kirche ein „symbolisches Kapital“ erworben, das ihre<br />

Glaubwürdigkeit allgemein stärkte. In der Demokratie scheint sie es nun<br />

verloren zu haben, so dass sie vielfach in einer Glaubwürdigkeitskrise<br />

steckt. Progressive Theologen halten ihr vor, sie habe in der Demokratie<br />

mit diesem Kapital nichts anzufangen gewusst und so ihre Rolle als Mentorin<br />

des politischen Übergangs eingebüßt. Die Bischöfe selbst, die bei der<br />

Krönungsmesse für König Juan Carlos im November 1975 um keinerlei<br />

Privileg baten, sondern lediglich „um das Recht, das ganze Evangelium<br />

zu verkünden“, fühlen sich von den demokratischen Regierungen, vor allem<br />

von den linken, undankbar behandelt wie der Mohr, der seine Schuldigkeit<br />

getan hat. Seit Mitte der achtziger Jahre neigen sie dazu, eher in der<br />

laizistischen Politik der Regierungen als in eigenen Versäumnissen oder in<br />

den Bedingungen der Moderne die Ursache des Glaubwürdigkeits- und<br />

des Bedeutungsverlustes des spanischen Katholizismus zu suchen. Es sieht<br />

so aus, als hätte die spanische Kirche, die sich in den letzten Jahren des<br />

Franquismus so klug neu positionierte, ihre Rolle in der Demokratie und<br />

der pluralistischen Gesellschaft noch nicht gefunden.<br />

Die zwei Spanien haben zwar aufgehört, ihre Konflikte gewaltsam auszutragen.<br />

Aber zu einer optimistischen Beurteilung der Lage, wie sie Joaquín<br />

Ruiz Giménez 1984 vornahm, als er meinte, die zwei Spanien seien<br />

nun endgültig versöhnt 34 , gibt es wenig Anlass. Der heutige Laizismus –<br />

zu dem nicht nur die linken Parteien, sondern auch der liberale Flügel der<br />

sich auf den „christlichen Humanismus“ berufenden rechten Parteien gehört<br />

– will nicht mehr Kirche und religiöse Menschen offen verfolgen; er<br />

begnügt sich damit, den öffentlichen Wirkungsbereich der Kirche gewaltlos<br />

mit Hilfe der von ihm kontrollierten Massenmedien zu beschränken.<br />

Dem spanischen Laizismus geht es heute letztendlich um die Hegemonie<br />

im Bereich der Kultur und der Werterziehung, nicht um eine systematische,<br />

frontale Bekämpfung der Religion, die die katholischen Massen emotional<br />

wachrütteln könnte. Einzelne laizistische Absichtserklärungen der<br />

neuen sozialistischen Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero nach<br />

dem Machtwechsel im März 2004 – so über die Neugestaltung des Religionsunterrichtes<br />

und über die „altmodische“ traditionelle (= katholische)<br />

Familienmoral, die kein Verständnis für die Homosexuellen-Ehe habe,<br />

über die Revision der Verfassung bzgl. der Ausnahmestellung der katholischen<br />

Kirche in Art. 16, die zu einem „laizistischen“ Staat nicht passe,<br />

über die Revision der Vereinbarungen von 1979 usw. – und die scharfen<br />

152<br />

Mariano Delgado<br />

34 Vgl. Joaquín Ruiz Giménez, La reconciliación fue posible, in: Ders., Iglesia<br />

(Anm. 11) 218–229.


KuK 3 / p. 153 / 7.7.2005<br />

Spanien<br />

Reaktionen einiger Bischöfe, die „den Kampf“ aufgenommen haben, deuten<br />

darauf hin, dass Spanien sich, was den religiösen Bereich betrifft, immer<br />

noch in einer Zeit des Übergangs zur Moderne befindet. Dieser wird<br />

erst zu Ende sein, wenn die Kirche die von ihr selbst 1975 gewünschten<br />

Bedingungen der Moderne restlos akzeptiert und die Laizisten in allen<br />

Lagern jede kulturkämpferische Attitüde des 19. Jahrhunderts endgültig<br />

hinter sich lassen.<br />

153


KuK 3 / p. 154 / 7.7.2005<br />

Dokumentenanhang 1<br />

I<br />

Übereinkunft zwischen dem Heiligen Stuhl<br />

und dem Spanischen Staat 2<br />

Der Heilige Stuhl und die Spanische Regierung<br />

haben angesichts des tiefen Wandels der spanischen Gesellschaft in den<br />

letzten Jahren wie auch der Beziehungen zwischen der dem politischen<br />

Gemeinwesen und den Glaubensgemeinschaften wie zwischen Katholischer<br />

Kirche und Staat,<br />

in Erwägung, dass das Zweite Vatikanische Konzil für die Beziehungen<br />

zwischen politischer Gemeinschaft und Kirche die beiderseitige Unabhängigkeit<br />

auf je eigenem Gebiet bei gleichzeitig freundschaftlicher Zusammenarbeit<br />

festgelegt hat, dass die Religionsfreiheit als Menschenrecht<br />

und die Freiheit der Kirche als Grundrecht für die Beziehungen zwischen<br />

Kirche und Staat sowie für die ganze bürgerliche Ordnung anerkannt sind;<br />

dass der spanische Staat das in der Würde der menschlichen Person<br />

gründende Recht auf Religionsfreiheit gesetzlich anerkennt (Gesetz vom<br />

1. Juli 1967), gleichzeitig aber festgestellt hat, dass es Normen geben müsse,<br />

die der Tatsache gerecht werden, dass die Mehrheit der Spanier sich<br />

zum Katholizismus bekennt;<br />

erachten der Heilige Stuhl und der spanische Staat es für notwendig,<br />

jene Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse, die aufgrund der seit<br />

Abschluss des Konkordates vom 27. August 1953 eingetretenen Enwicklung<br />

einer Neuregelung bedürfen, zu regeln;<br />

sie verpflichten sich, diese Fragen einvernehmlich zu prüfen, um so bald<br />

wie möglich zu Vereinbarungen zu kommen, die schrittweise an die Stelle<br />

der einschlägigen Bestimmungen des geltenden Konkordates treten. In<br />

Anbetracht dessen, dass die freie Ernennung der Bischöfe und die Gleichheit<br />

aller Bürger vor dem Gesetz Vorrang bei der Revision des geltenden<br />

Konkordates besitzen, schließen beide Parteien als ersten Schritt der besagten<br />

Revision folgende<br />

1 Aus dem Spanischen übersetzt durch Dr. Michael Lauble. Die spanische Version findet<br />

sich bei V. Cárcel Ortí, Iglesia (Anm. 11) 771–786.<br />

2 Italienisch-spanische Originalfassung: AAS 68 (1976) 509–511.<br />

154


KuK 3 / p. 155 / 7.7.2005<br />

Vereinbarung<br />

Artikel I<br />

1) Die Ernennung der Erzbischöfe und Bischöfe steht ausschließlich dem<br />

Heiligen Stuhl zu.<br />

2) Vor der Ernennung von Erzbischöfen und Diözesanbischöfen sowie<br />

Koadjutoren mit dem Recht der Nachfolge teilt der Heilige Stuhl der spanischen<br />

Regierung des Namen des von ihm Bestimmten mit. Falls gegen<br />

diesen konkrete politische Bedenken geltend gemacht werden, obliegt deren<br />

Würdigung der klugen Erwägung des Heiligen Stuhles. Falls die Regierung<br />

Einwände nicht innerhalb von 14 Tagen ausgesprochen hat, geltend<br />

solche als nicht bestehend.<br />

Beide Seiten behandeln die entsprechende Dokumentation vertraulich.<br />

3) Die Besetzung des Militärvikariates erfolgt aus einem zwischen der<br />

Apostolischen Nuntiatur und dem Außenministerium vereinbarten Dreiervorschlag,<br />

der dem Heiligen Stuhl zur Approbation vorgelegt wird. Daraus<br />

präsentiert der König innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen einen<br />

zur Ernennung durch den Papst.<br />

4) Artikel VII und Artikel VIII, Absatz 2 des geltenden Konkordates<br />

sowie die Vereinbarung zwischen dem Heiligen Stuhl und der spanischen<br />

Regierung vom 7. Juni 1941 sind aufgehoben.<br />

Artikel II<br />

1) Artikel XVI des geltenden Konkordates ist aufgehoben.<br />

2) Wenn ein Kleriker oder Ordensmann strafrechtlich belangt wird, teilt<br />

die zuständige Behörde das seinem jeweiligen Ordinarius mit. Sollte der<br />

Belangte Bischof oder eine diesem laut kanonischem Recht gleichgestellte<br />

Persönlichkeit sein, so erfolgt die Mitteilung an den Heiligen Stuhl.<br />

3) In keinem Fall werden Kleriker und Ordensleute von Richtern oder<br />

Behörden um Auskunft über Personen und Sachverhalte gebeten, von denen<br />

sie in Ausübung ihres Amtes Kenntnis erhielten.<br />

4) Der spanische Staat anerkennt und respektiert die ausschließliche Zuständigkeit<br />

der kirchlichen Gerichte für Vergehen, die lediglich eine Bestimmung<br />

des kanonischen Rechtes verletzen. Dagegen ist kein Rekurs<br />

an eine zivile Behörde möglich.<br />

Die vorliegende Vereinbarung, deren spanischer und italienischer Text<br />

gleichermaßen maßgebend sind, tritt nach dem Austausch der Ratifizierungsurkunden<br />

in Kraft.<br />

Erstellt in zweifacher Urschrift.<br />

Dokumentenanhang<br />

155


KuK 3 / p. 156 / 7.7.2005<br />

Vatikanstadt, den 28. Juli 1976<br />

Marcelino Oreja Aguirre<br />

Außenminister<br />

Kardinal Jean Villot<br />

Präfekt des Rates für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche<br />

Die vorliegende Vereinbarung ist am 20. August 1976, dem Tag des Austauschs<br />

der Ratifizierungsurkunden, in Kraft getreten.<br />

II<br />

Vereinbarung zwischen dem spanischen Staat und dem Heiligen Stuhl<br />

über rechtliche Fragen<br />

In Fortsetzung der mit der am 28. Juli 1976 unterzeichneten Vereinbarung<br />

begonnenen Revision des geltenden Konkordats zwischen den beiden Parteien,<br />

deren Ratifizierungsurkunden am 20. August desselben Jahres ausgetauscht<br />

wurden, schließen der Heilige Stuhl und die spanische Regierung<br />

folgende<br />

Vereinbarung<br />

Artikel I<br />

(1) Der spanische Staat erkennt der katholischen Kirche das Recht zu, ihre<br />

apostolische Mission auszuüben, und garantiert ihr die freie und öffentliche<br />

Ausübung ihrer Wirksamkeit, insbesondere des Kultes, der Jurisdiktion<br />

und des Lehramts.<br />

(2) Die Kirche kann sich frei organisieren. Insbesondere kann sie Diözesen,<br />

Pfarreien und andere territoriale Bezirke errichten, verändern oder<br />

aufheben, die bürgerliche Rechtspersönlichkeit genießen, soweit sie Persönlichkeiten<br />

des kanonischen Rechts sind und dies den zuständigen staatlichen<br />

Stellen mitgeteilt wurde. Die Kirche kann ferner Orden, religiöse<br />

Kongregationen, andere Institute des geweihten Lebens und sonstige<br />

kirchliche Institutionen und Körperschaften errichten, approbieren und<br />

aufheben.<br />

Kein Teil Spaniens wird einem Bischof unterstehen, dessen Sitz sich auf<br />

dem Gebiet eines anderen Staates befindet, und keine spanische Diözese<br />

oder sonstiger Territorialbezirk wird Gebiete umfassen, die ausländischer<br />

Souveränität unterstehen.<br />

Das Fürstentum Andorra gehört weiterhin zur Diözese Urgel.<br />

(3) Der Staat anerkennt die bürgerliche Rechtspersönlichkeit der Spa-<br />

156<br />

Spanien


KuK 3 / p. 157 / 7.7.2005<br />

Dokumentenanhang<br />

nischen Bischofskonferenz gemäß den vom Heiligen Stuhl approbierten<br />

Statuten.<br />

(4) Der Staat erkennt die bürgerliche Rechtspersönlichkeit und volle<br />

Handlungsbefugnis der Orden, religiösen Kongregationen und anderen<br />

Institute des geweihten Lebens und sonstigen Körperschaften und religiösen<br />

Gründungen an, die diese beim Inkrafttreten der vorliegenden Vereinbarung<br />

genießen. Die Orden, religiösen Kongregationen und Institute des<br />

geweihten Lebens sowie ihre Provinzen und Häuser, die zu diesem Zeitpunkt<br />

kanonisch errichtet sind und keine bürgerliche Rechtspersönlichkeit<br />

genießen, ferner jene, die künftig errichtet werden, erhalten die bürgerliche<br />

Rechtspersönlichkeit durch Eintragung in das entsprechende<br />

staatliche Register. Diese erfolgt durch eine Urkunde, aus der Errichtung,<br />

Zweck, Name, Vertretungsorgane, Arbeitsweise und Kompetenz dieser<br />

Organe ersichtlich sind. Bezüglich des Umfangs und der Grenzen ihrer<br />

Kompetenz und somit der Verfügung über ihr Vermögen gilt das kanonische<br />

Recht, das in diesem Fall als Statut wirksam wird. Die Vereine, anderen<br />

Körperschaften und religiösen Stiftungen, die beim Inkrafttreten<br />

dieser Vereinbarung keine bürgerliche Rechtspersönlichkeit besitzen, ferner<br />

jene, die künftig von der zuständigen kirchlichen Behörde kanonisch<br />

errichtet werden, können die bürgerliche Rechtspersönlichkeit durch Anerkennung<br />

der einschlägigen staatlichen Bestimmungen erlangen durch<br />

Eintragung in das entsprechende staatliche Register durch eine öffentliche<br />

Urkunde, aus der Errichtung, Zweck, Name, Vertretungsorgane, Arbeitsweise<br />

und Befugnis dieser Organe ersichtlich sind.<br />

(5) Den Kultstätten wird nach Maßgabe des Gesetzes Unverletzlichkeit<br />

garantiert. Sie dürfen nicht zerstört werden, ohne zuvor ihres sakralen<br />

Charakters entkleidet zu werden. Falls ihre Enteignung unvermeidlich<br />

sein sollte, wird zuvor die zuständige kirchliche Behörde gehört.<br />

(6) Der Staat respektiert und schützt die Unverletzlichkeit der Archive,<br />

Register und anderen Dokumente aus dem Besitz der Spanischen Bischofskonferenz,<br />

der Diözesankurien, der Kurien der Oberen der Orden<br />

und religiösen Kongregationen, der Pfarreien und anderen kirchlichen Institutionen<br />

und Körperschaften.<br />

Artikel II<br />

Der Heilige Stuhl kann frei jedwede Anordnung erlassen und veröffentlichen,<br />

die sich auf die Leitung der Kirche bezieht, und ungehindert die<br />

Prälaten, den Klerus und die Gläubigen kontaktieren, wie auch diese es<br />

mit dem Heiligen Stuhl tun können. Die selben Rechte genießen die Ordinarien<br />

und anderen kirchlichen Behörden gegenüber dem Klerus und<br />

ihren Gläubigen.<br />

157


KuK 3 / p. 158 / 7.7.2005<br />

Artikel III<br />

Der Staat erkennt als Feiertage alle Sonntage an. Einvernehmlich wird<br />

festgelegt, welche weiteren religiösen Feste als Feiertage anerkannt werden.<br />

Artikel IV<br />

(1) Der Staat anerkennt und garantiert die Ausübung des Rechtes auf Seelsorge<br />

für die in Justizvollzugsanstalten, Krankenhäusern, Sanatorien, Waisenhäusern<br />

und ähnlichen – privaten als auch öffentlichen – Anstalten befindlichen<br />

Bürger.<br />

(2) Die Ausübung der katholischen Seelsorge und die seelsorgliche Tätigkeit<br />

der Priester und Ordensleute in den erwähnten öffentlichen Anstalten<br />

werden einvernehmlich zwischen den zuständigen kirchlichen<br />

und staatlichen Behörden geregelt. In jedem Fall werden das Recht auf<br />

Religionsfreiheit der einzelnen Personen und die Achtung gegenüber<br />

ihren religiösen und ethischen Prinzipien gewahrt.<br />

Artikel V<br />

(1) Die Kirche kann karitativ und sozial tätig sein.<br />

Die karitativen oder sozialen Institutionen bzw. Körperschaften, die die<br />

Kirche unterhält oder die von ihr abhängen, werden gemäß ihren Statuten<br />

geführt und genießen dieselben Rechte und Vergünstigungen wie die privaten<br />

Sozialeinrichtungen.<br />

(2) Kirche und Staat können das wohltätige oder soziale Zusammenwirken<br />

ihrer jeweiligen Institutionen regeln.<br />

Artikel VI<br />

(1) Der Staat anerkennt die bürgerlichen Wirkungen der nach den Bestimmungen<br />

des kanonischen Rechtes geschlossenen Ehe.<br />

Die bürgerlichen Wirkungen der kanonischen Ehe treten mit deren Abschluss<br />

ein. Für deren vollständige Anerkennung ist die Eintragung in das<br />

Personenstandsregister erforderlich. Diese erfolgt unter Vorlage der kirchlichen<br />

Bestätigung.<br />

(2) Wer gemäß den Bestimmungen des kanonischen Rechtes eine Ehe<br />

eingegangen ist, kann sich an die kirchlichen Gerichte wenden wegen einer<br />

Nichtigkeitserklärung oder einer päpstlichen Feststellung über den Nichtvollzug<br />

der Ehe. Auf Antrag einer Partei haben die betreffenden kirchlichen<br />

Entscheidungen auch Geltung für den zivilen Bereich, wenn sie vom<br />

zuständigen zivilen Gericht als mit dem Recht des Staates vereinbar erklärt<br />

werden.<br />

158<br />

Spanien


KuK 3 / p. 159 / 7.7.2005<br />

Dokumentenanhang<br />

(3) Der Heilige Stuhl bekräftigt erneut die bleibende Geltung seiner<br />

Ehelehre und erinnert jene, die eine kanonische Ehe eingehen, an die Verpflichtung,<br />

sich an die kanonischen Normen zu halten und insbesondere<br />

ihre wesentlichen Eigenarten zu achten.<br />

Artikel VII<br />

Der Heilige Stuhl und die spanische Regierung werden einvernehmlich<br />

zur Lösung von Zweifelsfällen oder Schwierigkeiten schreiten, die bei der<br />

Auslegung oder Anwendung jedweder Klausel der vorliegenden Vereinbarung<br />

entstehen könnten, und werden sich dabei an deren Geist orientieren.<br />

Artikel VIII<br />

Die Artikel I, II, III, IV, V, VI, VIII, IX, X (und die Vereinbarung vom<br />

16. Juli 1946), XI, XII, XIII, XIV, XVII, XXII, XXIII, XXIV, XXV,<br />

XXXIII, XXXIV, XXXV und XXXVI des geltenden Konkordats sowie<br />

das Schlussprotokoll zu den Artikeln I, II, XXIII y XXV sind aufgehoben.<br />

Dessen ungeachtet werden jene Rechte respektiert, welche die durch die<br />

Aufhebung von Artikel XXV und durch das entsprechende Schlussprotokoll<br />

betroffenen Personen erworben haben.<br />

Übergangsbestimmungen<br />

1. Die Orden, religiösen Kongregationen und anderen Institute des geweihten<br />

Lebens, ihre Provinzen und Häuser und die Vereine und anderen<br />

Körperschaften oder religiösen Stiftungen, denen der Staat die Rechtspersönlichkeit<br />

und volle Handlungsbefugnis zuerkannt hat, haben sich sobald<br />

wie möglich in das entsprechende staatliche Register einzutragen. Nach<br />

Ablauf von drei Jahren seit Inkrafttreten der vorliegenden Vereinbarung<br />

kann ihre Rechtspersönlichkeit nur noch durch Nachweis aus diesem Register<br />

erfolgen, unbeschadet dessen, dass die Eintragung zu jeder Zeit vorgenommen<br />

werden kann.<br />

2. Die Prozesse, die bei Inkrafttreten der vorliegenden Vereinbarung in<br />

Spanien vor kirchlichen Gerichten anhängig sind, werden vor diesen fortgeführt.<br />

Die Urteile haben bürgerliche Wirkung gemäß Artikel XXIV des<br />

Konkordats von 1953.<br />

159


KuK 3 / p. 160 / 7.7.2005<br />

Schlussprotokoll<br />

Zu Artikel VI (1):<br />

Unmittelbar nach der kanonischen Eheschließung händigt der Priester,<br />

vor dem sie geschlossen wurde, den Ehegatten die kirchliche Bestätigung<br />

mit den für die Eintragung ins Personenstandsregister erforderlichen Angaben<br />

aus. In jedem Fall übermittelt der Ortsgeistliche, in dessen Pfarrgebiet<br />

die Ehe geschlossen wurde, innerhalb von fünf Tagen dem zuständigen<br />

Standesbeamten die Urkunde über die kanonische Eheschließung<br />

zur Eintragung, sofern diese nicht bereits auf Gesuch der Betroffenen erfolgt<br />

ist. Sache des Staates ist es, den Schutz jener Rechte zu regeln, die,<br />

sofern die Eheschließung nicht eingetragen ist, guten Glaubens von Dritten<br />

erworben werden.<br />

Die vorliegende Vereinbarung, deren Texte in spanischer und italienischer<br />

Sprache gleichermaßen maßgebend sind, tritt zum Zeitpunkt des<br />

Austauschs der Ratifizierungsurkunden in Kraft.<br />

Erstellt in zweifacher Urschrift.<br />

Vatikanstadt, 3. Januar 1979<br />

Marcelino Oreja Aguirre<br />

Minister für Auswärtige Angelegenheiten<br />

Kardinal Jean Villot<br />

Präfekt des Rates für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche<br />

Die vorliegende Vereinbarung ist gemäß besagter Vereinbarung am 4. Dezember<br />

1979, dem Datum des Austauschs der Ratifizierungsurkunden, in<br />

Kraft getreten.<br />

III<br />

Vereinbarung zwischen dem spanischen Staat und dem Heiligen Stuhl<br />

über wirtschaftliche Fragen<br />

Die Neuordnung des Systems wirtschaftlicher Leistungen des spanischen<br />

Staats an die katholische Kirche ist bei der Ersetzung des Konkordats von<br />

1953 durch neue Vereinbarungen besonders wichtig. Einerseits kann der<br />

Staat in der Vergangenheit eingegangene rechtliche Verpflichtungen weder<br />

ignorieren, noch kann er sie unbegrenzt weiterführen. Andererseits ist es<br />

aufgrund des Geistes der Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat<br />

notwendig, die Rechtstitel der wirtschaftlichen Leistungen wie auch das<br />

160<br />

Spanien


KuK 3 / p. 161 / 7.7.2005<br />

Dokumentenanhang<br />

System, nach dem dieser Beitrag geleistet wird, neu zu fassen. Darum<br />

schließen der Heilige Stuhl und die spanische Regierung folgende<br />

Vereinbarung<br />

Artikel I<br />

Die katholische Kirche ist frei, von ihren Gläubigen Leistungen zu erheben,<br />

öffentliche Kollekten organisieren und Almosen und Spenden entgegenzunehmen.<br />

Artikel II<br />

(1) Der Staat verpflichtet sich, in Zusammenarbeit mit der katholischen<br />

Kirche für deren angemessenen Unterhalt zu sorgen und dabei das Prinzip<br />

der Religionsfreiheit unbedingt zu respektieren.<br />

(2) Nach Ablauf von drei Haushaltsjahren ab Unterzeichnung dieser<br />

Vereinbarung kann der Staat der katholischen Kirche durch das administrativ<br />

günstigste Verfahren einen bestimmten Prozentsatz des Aufkommens<br />

aus der Einkommens- oder Vermögensteuer oder aus einer anderen<br />

persönlichen Steuer zuweisen. Daher muss jeder Steuerzahler in der entsprechenden<br />

Erklärung ausdrücklich seinen Wunsch über die Verwendung<br />

des betreffenden Teils bekunden. Falls diese Erklärung fehlt, wird der entsprechende<br />

Betrag anderen Zwecken zugeführt.<br />

(3) Dieses System ersetzt die Dotation, auf die sich der folgende Absatz<br />

bezieht, und verschafft der katholischen Kirche Einkünfte von vergleichbarem<br />

Umfang.<br />

(4) Falls das neue System nicht angewandt wird, setzt der Staat in seinem<br />

Gesamthaushalt pauschal und einmalig eine angemessene Dotation<br />

für die katholische Kirche fest; diese wird jährlich aktualisiert. Während<br />

des Prozesses der Neuordnung, der innerhalb von drei Jahren abgeschlossen<br />

sein soll, wird die im Haushalt vorgesehene Dotation entsprechend der<br />

der Kirche zugewiesenen steuerlichen Zuweisung vermindert.<br />

(5) Die katholische Kirche erklärt, von sich aus ausreichende Einkünfte<br />

für ihre Bedürfnisse anzustreben. Sobald dies erreicht ist, werden sich beide<br />

Seiten darauf verständigen, das oben benannte System finanzieller Zusammenarbeit<br />

durch andere Formen wirtschaftlicher Zusammenarbeit<br />

zwischen der katholischen Kirche und dem Staat zu ersetzen.<br />

Artikel III<br />

Steuerfrei sind<br />

(a) neben den in Artikel I dieser Vereinbarung erwähnten Aktivitäten<br />

die Veröffentlichung von Instruktionen, Anordnungen, Hirtenbriefen,<br />

161


KuK 3 / p. 162 / 7.7.2005<br />

Diözesanamtsblättern und anderen kirchenamtlichen Dokumenten sowie<br />

deren Aushang an den gewohnten Stellen;<br />

(b) die Lehrtätigkeit in den Diözesan- und Ordensseminaren sowie in<br />

den kirchlichen Disziplinen an den kirchlichen Universitäten;<br />

(c) der Erwerb von Kultgegenständen.<br />

Artikel IV<br />

1. Der Heilige Stuhl, die Spanische Bischofskonferenz, die Diözesen, die<br />

Pfarreien und anderen territorialen Bezirke, die Orden und religiösen<br />

Kongregationen sowie die Institute des geweihten Lebens und ihre Provinzen<br />

und Häuser haben das Recht auf folgende Freistellung:<br />

(A) vollständige und dauernde Befreiung von der städtischen Grundsteuer<br />

auf folgende Liegenschaften:<br />

(1) für den Gottesdienst bestimmte Kirchen und Kapellen sowie deren<br />

Nebengebäude oder Anbauten, die für die Seelsorge bestimmt sind;<br />

(2) die Residenz der Bischöfe, der Kanoniker und der Priester mit Seelsorgsaufgaben;<br />

(3) die Amtsräume der Diözesankurie und der Pfarreien;<br />

(4) die Seminare für die zur Ausbildung des Diözesan- und Ordensklerus<br />

sowie die kirchlichen Universitäten, soweit sie Unterricht in den<br />

kirchlichen Fächern erteilen;<br />

(5) die Gebäude, die ursprünglich zu Häusern der Orden, religiösen<br />

Kongregationen und Institute des geweihten Lebens bestimmt waren.<br />

(B) Vollständige und dauernde Befreiung von den Real- oder Gewerbesteuern<br />

sowie von den Steuern auf Einkommen und Vermögen. Diese<br />

Befreiung erstreckt sich nicht auf jene Erträge, die sie durch den Betrieb<br />

von Wirtschaftsunternehmen erzielen, noch auf die Erträge aus ihrem Vermögen,<br />

dessen Nutzung sie abgetreten haben, noch auf Kapitalzinsen und<br />

Erträgnisse, die aufgrund der Einkommensteuer der Quellensteuer unterliegen.<br />

(C) Vollständige Befreiung von der Erbschafts-, Schenkungs- und Vermögensübertragungssteuer,<br />

wenn die erworbenen Vermögen oder Rechte<br />

für den Kult, den Unterhalt des Klerus, das religiöse Apostolat oder für<br />

karitative Tätigkeiten bestimmt sind.<br />

(D) Befreiung von Sonderabgaben und von der Ratifizierungssteuer, sofern<br />

diese Abgaben auf die unter dem Buchstaben (A) dieses Artikels genannten<br />

Vermögenswerte entfallen.<br />

2. Die für die in diesem Artikel aufgeführten kirchlichen Einrichtungen<br />

gestifteten und den im Abschnitt (C) genannten Zwecken dienenden Summen<br />

berechtigen zu den gleichen Ermäßigungen bei den Einkommensteuern<br />

der natürlichen Personen wie jene Summen, die den als wohltätig oder<br />

gemeinnützig anerkannten Körperschaften zugewendet werden.<br />

162<br />

Spanien


KuK 3 / p. 163 / 7.7.2005<br />

Dokumentenanhang<br />

Artikel V<br />

Jene religiösen Vereine und Körperschaften, die nicht unter Artikel IV<br />

dieser Vereinbarung fallen und sich religiösen, wohltätigen, ärztlichen<br />

und pflegerischen Diensten oder der Sozialfürsorge widmen, haben Anrecht<br />

auf die steuerlichen Vorteile, die das Steuerrecht des spanischen Staates<br />

für die Körperschaften ohne Gewinnabsicht vorsieht, sowie auf jene,<br />

die den privaten wohltätigen Körperschaften zugestanden werden.<br />

Artikel VI<br />

Der Heilige Stuhl und die spanische Regierung werden einvernehmlich<br />

zur Lösung von Zweifelsfällen oder Schwierigkeiten schreiten, die bei der<br />

Auslegung oder Anwendung jedweder Klausel der vorliegenden Vereinbarung<br />

entstehen könnten und sich dabei an deren Geist orientieren.<br />

Artikel VII<br />

Die Artikel XVIII, XIX, XX und XXI des geltenden Konkordats und die<br />

Vereinbarung zwischen dem Heiligen Stuhl und dem spanischen Staat<br />

über Seminare und kirchliche Universitäten vom 8. Dezember 1946 sind<br />

aufgehoben.<br />

Zusatzprotokoll<br />

1. Die Pauschaldotation im Staatshaushalt wird jährlich festgesetzt, und<br />

zwar sowohl während der Zeit der ausschließlichen Leistung dieser Beihilfe<br />

als auch während der gleichzeitigen Anwendung des in Artikel II,<br />

Absatz (2) dieser Vereinbarung vorgesehenen Systems. Dabei werden die<br />

gleichen Bemessungskriterien wie im jeweiligen Staatshaushalt zugrunde<br />

gelegt, entsprechend den Zwecken, für die die Kirche diese vom Staat erhaltenen<br />

Mittel im Hinblick auf den im folgenden Absatz erwähnten Jahresbericht<br />

bestimmt. Die von der Kirche im Rahmen ihrer Bedürfnisse geplante<br />

und durchgeführte Verwendung der im Haushalt einzustellenden<br />

bzw. vom Staat im Jahr zuvor erhaltenen Summen, wird in dem Bericht<br />

beschrieben, der zum Zwecke der erwähnten Beihilfe jährlich vorgelegt<br />

wird.<br />

2. Beide Seiten bestimmen einvernehmlich die verbindlichen steuerlichen<br />

Betreffe, auf die sich die in Artikel III bis V der vorliegenden Vereinbarung<br />

aufgeführten Befreiungen und sowie die darin vermuteten Fälle<br />

von Steuerfreiheit beziehen.<br />

Wann immer sich die steuerrechtliche Ordnung des spanischen Staates<br />

wesentlich ändert, werden beide Seiten die steuerlichen Vergünstigungen<br />

und die nicht der Besteuerung unterliegenden Bereiche, die sich gemäß<br />

163


KuK 3 / p. 164 / 7.7.2005<br />

den Prinzipien dieser Vereinbarung als anwendbar erweisen, näher festlegen.<br />

3. Falls von einer in Artikel IV, Nr. 1 oder in Artikel V dieser Vereinbarung<br />

genannten religiösen Körperschaft Steuerschulden nicht fristgerecht<br />

entrichtet werden, kann der Staat sich, unbeschadet seiner Vollstreckungsbefugnis,<br />

die ihm in jedem Falle zusteht, an die Spanische<br />

Bischofskonferenz wenden, damit diese die betreffende Körperschaft zur<br />

Zahlung der Steuerschuld anhält.<br />

Die vorliegende Vereinbarung, deren Texte in spanischer und italienischer<br />

Sprache gleichermaßen maßgebend sind, tritt zum Zeitpunkt des Austauschs<br />

der Ratifizierungsurkunden in Kraft.<br />

Erstellt in zweifacher Urschrift.<br />

Vatikanstadt, 3. Januar 1979<br />

Marcelino Oreja Aguirre<br />

Minister für Auswärtige Angelegenheiten<br />

Kardinal Jean Villot<br />

Präfekt des Rates für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche<br />

Die vorliegende Vereinbarung ist gemäß der besagten Vereinbarung am<br />

4. Dezember 1979, dem Datum des Austauschs der entsprechenden Ratifizierungsurkunden,<br />

in Kraft getreten.<br />

IV<br />

Vereinbarung zwischen dem spanischen Staat und dem Heilige Stuhl<br />

über das Unterrichtswesen und kulturelle Fragen<br />

Die spanische Regierung und der Heilige Stuhl erkennen bei der Revision<br />

der Konkordatstexte im Geist der Vereinbarung vom 28. Juli 1976 den mit<br />

dem Unterrichtswesen zusammenhängenden Themen höchste Bedeutung<br />

zu. Einerseits anerkennt der Staat das Grundrecht auf religiöse Erziehung<br />

und hat internationale Verträge unterzeichnet, die die Ausübung dieses<br />

Rechtes garantieren. Andererseits muss die Kirche ihren Erziehungsauftrag<br />

mit den Prinzipien der bürgerlichen Freiheit in religiösen Dingen<br />

und mit den Rechten der Familien, Schüler und Lehrer abstimmen und<br />

jede Diskriminierung oder Privilegierung vermeiden.<br />

Die Massenmedien sind von großem Einfluss auf Wissen, Urteile und<br />

Sitten geworden. Daher müssen in ihnen die selben Prinzipien der Religi-<br />

164<br />

Spanien


KuK 3 / p. 165 / 7.7.2005<br />

Dokumentenanhang<br />

onsfreiheit und Gleichheit ohne Privilegien zur Anwendung kommen, zu<br />

denen sich Kirche und Staat für das Unterrichtswesen bekennen.<br />

Schließlich ist das historische, kulturelle und dokumentarische Erbe der<br />

Kirche nach wie vor ein höchst wichtiger Bestandteil des kulturellen Erbes<br />

der Nation; daher sollen Kirche und Staat zusammenwirken, um dieses<br />

der ganzen Gesellschaft zugänglich und nutzbar zu machen, zu erhalten<br />

und auszubauen.<br />

Daher schließen beide Seiten folgende<br />

Vereinbarung<br />

Artikel I<br />

Angesichts des Prinzips der Religionsfreiheit respektiert die Schule das<br />

Grundrecht der Eltern auf moralische und religiöse Erziehung ihrer Kinder.<br />

Der in den öffentlichen Schulen erteilte Unterricht achtet die christliche<br />

Ethik.<br />

Artikel II<br />

Die Lehrpläne der Vorschule, der Pflichtschule (Educación General Básica,<br />

EGB), der gymnasialen Oberstufe (Bachillerato Unificado Polivalente,<br />

BUP) und der Berufsfachschule enthalten für alle Lehranstalten den katholischen<br />

Religionsunterricht gemäß den Kriterien der anderen Hauptfächern.<br />

Aus Achtung vor der Gewissensfreiheit ist dieser Unterricht<br />

nicht obligatorisch. Es besteht jedoch ein Anspruch darauf.<br />

Die Schulbehörden werden dafür Sorge tragen, dass die Teilnahme oder<br />

Nichtteilnahme am Religionsunterricht keinerlei Diskriminierung in der<br />

Schule zur Folge hat. Die zuständigen Schulbehörden ermöglichen der<br />

Kirche, dass diese zu näher festzulegenden Bedingungen auch weitere Aktivitäten<br />

für Bildung und religiöse Begleitung wahrnehmen kann.<br />

Artikel III<br />

In den im vorangehenden Artikel genannten Schultypen wird der Religionsunterricht<br />

von solchen Lehrkräften erteilt, die die Schulbehörde jährlich<br />

aus jenen auswählt, die der Ortsordinarius dafür vorgeschlagen hat.<br />

Die Namen teilt er rechtzeitig mit. In den Einrichtungen der Vorschulerziehung,<br />

der Pflichtschule EGB und der Berufsschule sind das vorzugsweise<br />

Lehrkräfte, die dort ohnehin tätig sind.<br />

Niemand ist verpflichtet, Religionsunterricht zu erteilen.<br />

Die Religionslehrer gehören mit allen Wirkungen zum Lehrerkollegium<br />

der jeweiligen Schulen.<br />

165


KuK 3 / p. 166 / 7.7.2005<br />

Artikel V<br />

Der Unterricht in katholischer Religion und ihrer Didaktik an den Pädagogischen<br />

Hochschulen ist den anderen Hauptfächern gleichgestellt und<br />

für die Studierenden freiwillig. Die Professoren dieser Fächer werden<br />

von der Schulbehörde nach der in Artikel III festgelegten Form ernannt<br />

und gehören zum jeweiligen Lehrkörper.<br />

Artikel V<br />

Der Staat garantiert, dass die katholische Kirche an den öffentlichen Universitäten<br />

unter Benutzung von deren Räumen und Arbeitsmitteln freiwillige<br />

Lehrangebote und andere religiöse Veranstaltungen organisieren<br />

kann. Die kirchliche Behörde wird sich mit den Anstaltsleitungen abstimmen,<br />

damit diese Aktivitäten problemlos durchgeführt werden können.<br />

Artikel VI<br />

Es ist Sache der Kirche, die Inhalte des katholischen Religionsunterrichts<br />

und der religiösen Bildung festzulegen sowie die Lehrbücher und das<br />

Lehrmaterial für Religionsunterricht und religiöse Bildung vorzuschlagen.<br />

Die Kirche und die staatlichen Organe wachen darüber, dass der Religionsunterricht<br />

und die religiöse Bildung angemessen vermittelt werden,<br />

wobei die Lehrkräfte in disziplinärer Hinsicht der jeweiligen Anstalt unterstehen.<br />

Artikel VII<br />

Die Besoldung der katholischen Religionslehrer, die in den verschiedenen<br />

Schultypen tätig sind und nicht dem staatlichen Lehrkörper angehören,<br />

wird zwischen der Zentralverwaltung und der Spanischen Bischofskonferenz<br />

geregelt. Sie soll mit Inkrafttreten der vorliegenden Vereinbarung<br />

in Anwendung treten.<br />

Artikel VIII<br />

Die katholische Kirche kann Knaben- und Ordensseminare errichten, deren<br />

spezieller Charakter vom Staat respektiert wird. Für ihre Klassifizierung<br />

im Sinne der Pflichtschule (EGB), der gymnasialen Oberstufe (BUP)<br />

oder der Vorbereitung auf die Hochschulaufnahmeprüfung (Curso de<br />

Orientación Universitaria, COU) gelten die allgemeinen Gesetze; allerdings<br />

wird dabei weder die Mindestzahl an Schulanmeldungen noch die<br />

Zulassung von Schülern entsprechend ihrer geographischen Herkunft<br />

oder ihres Familienwohnorts verlangt.<br />

166<br />

Spanien


KuK 3 / p. 167 / 7.7.2005<br />

Dokumentenanhang<br />

Artikel IX<br />

Alle nichtuniversitären Lehranstalten, die von der Kirche errichtet wurden<br />

oder werden, beachten die allgemeinen Gesetze.<br />

Artikel X<br />

(1) Für die katholischen Universitäten, Universitätskollegien, Hochschulen<br />

und anderen universitären Anstalten gelten die allgemeinen Gesetze.<br />

Für die staatliche Anerkennung des Studiums in den besagten Anstalten<br />

gelten die gesetzlichen Bestimmungen.<br />

(2) Der Staat anerkennt die kirchlichen Universitäten, die in Spanien<br />

zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Vereinbarung bestehen; ihre<br />

rechtliche Ordnung hat sich nach der geltenden Gesetzgebung zu richten,<br />

mit Ausnahme des in Artikel XVII (2) Vorgesehenen.<br />

(3) Die Studierenden dieser Universitäten genießen dieselben Leistungen<br />

für Krankenversicherung, Sicherheit, Beihilfen zu Studium und Forschung<br />

sowie sonstige Schutzmaßnahmen wie die Studierenden an staatlichen<br />

Universitäten.<br />

Artikel XI<br />

Es bleibt der katholischen Kirche vorbehalten, gemäß ihrem eigenen Bestimmungen<br />

Universitäten, Fakultäten, Höhere Institute und andere wissenschaftliche<br />

Einrichtungen für die Ausbildung von Priestern, Ordensleuten<br />

und Laien zu errichten.<br />

Die Anerkennung des Studiums und der in diesen höheren Anstalten<br />

erworbenen Grade durch den Staat sind Gegenstand einer speziellen Regelung<br />

zwischen den zuständigen Behörden der Kirche und des Staates.<br />

Sofern diese Regelung nicht erreicht wird, erfolgen die Anerkennung dieses<br />

Studiums und die staatliche Geltung der erworbenen Titel nach dem<br />

allgemeinem Gesetz. Einvernehmlich werden auch Bestätigung und Anerkennung<br />

der von Klerikern oder Laien an vom Heiligen Stuhl approbierten<br />

Fakultäten außerhalb Spaniens absolvierten Studien und erworbenen<br />

Titel geregelt.<br />

Artikel XII<br />

Die staatlichen Universitäten können nach vorheriger Absprache mit der<br />

zuständigen kirchlichen Behörde Anstalten für höhere Studien der katholischen<br />

Theologie errichten.<br />

167


KuK 3 / p. 168 / 7.7.2005<br />

Artikel XIII<br />

Die kirchlichen Lehranstalten jeglicher Stufe und Art und ihre Studierenden<br />

haben gemäß dem Prinzip der Chancengleichheit das Recht auf den<br />

Empfang von Subventionen, Stipendien, finanziellen Zuwendungen und<br />

anderen Beihilfen, die der Staat nichtstaatlichen Anstalten und Studierenden<br />

an solchen Anstalten gewährt.<br />

Artikel XIV<br />

Unter Wahrung der Prinzipien der Religions- und der Meinungsfreiheit<br />

wacht der Staat darüber, dass seine Medien das Empfinden der Katholiken<br />

respektieren. Er trifft mit der Spanischen Bischofskonferenz entsprechende<br />

Vereinbarungen.<br />

Artikel XV<br />

Die Kirche bestätigt ihre Absicht, auch künftig ihr historisches, künstlerisches<br />

und dokumentarisches Erbe in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen.<br />

Sie wird mit dem Staat die Grundsätze vereinbaren, um das gemeinsame<br />

Interesse und die Zusammenarbeit beider Seiten zur Wirkung zu<br />

bringen, um dieses im kirchlichen Besitz befindliche kulturelle Erbe zu<br />

erhalten, bekannt zu machen und zu katalogisieren, sein Studium und seine<br />

Untersuchung zu erleichtern, für seine bessere Erhaltung zu sorgen und<br />

im Rahmen von Artikel 46 der Verfassung Verluste zu verhindern. Zu diesem<br />

und zu jedem weiteren mit dem besagten Erbe in Beziehung stehenden<br />

Zweck wird spätestens innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten der<br />

vorliegenden Vereinbarung eine Gemischte Kommission geschaffen.<br />

Artikel XVI<br />

Der Heilige Stuhl und die spanische Regierung werden Zweifelsfälle oder<br />

Schwierigkeiten, die bei der Auslegung oder Anwendung jedweder Klausel<br />

der vorliegenden Vereinbarung entstehen könnten, einvernehmlich lösen<br />

und sich dabei an deren Geist orientieren.<br />

Artikel XVII<br />

(1) Die Artikel XXVI, XXVII, XXVIII, XXIX, XXX und XXXI des geltenden<br />

Konkordats sind aufgehoben.<br />

(2) Garantiert bleiben hingegen jene Rechte, die die zum Zeitpunkt des<br />

Inkrafttretens der vorliegenden Vereinbarung bestehenden kirchlichen<br />

Universitäten erworben haben. Sie können jedoch für ihre Anpassung an<br />

die allgemeine Gesetzgebung über nichtstaatliche Universitäten optieren.<br />

168<br />

Spanien


KuK 3 / p. 169 / 7.7.2005<br />

Übergangsbestimmungen<br />

(1) Die staatliche Anerkennung jener Studien, die an den derzeit bestehenden<br />

kirchlichen Universitäten absolviert werden, richtet sich übergangsweise<br />

nach der derzeit geltenden Norm, bis zu dem Zeitpunkt, in<br />

dem für jede Anstalt bzw. Laufbahn Anerkennungsbestimmungen getroffen<br />

werden. Dabei werden keine höheren Anforderungen gestellt als an<br />

den staatlichen Universitäten bzw. öffentlichen Anstalten.<br />

(2) Jene, die bei Inkrafttreten der vorliegenden Vereinbarung in Spanien<br />

höhere Grade in den kirchlichen Wissenschaften führen und kraft Artikel<br />

XXX, Absatz (1) des Konkordats Professoren in den Fächern der geisteswissenschaftlichen<br />

Abteilung an der kirchlichen Autorität unterstehenden<br />

Lehranstalten sind, gelten auch künftig als hinreichend berechtigt zur<br />

Lehre in diesen Anstalten, ungeachtet der Aufhebung dieses Artikels.<br />

Schlussprotokoll<br />

Das in vorliegender Vereinbarung über die Benennung von Schulen,<br />

Schulstufen, Professoren und Studierenden, Lehrmitteln usw. Vereinbarte<br />

behält seine Gültigkeit für die entsprechenden Erziehungseinrichtungen,<br />

die sich aus Reformen oder aus Änderungen in der Benennung oder im<br />

offiziellen Schulsystem ergeben können.<br />

Die vorliegende Vereinbarung, deren Texte in spanischer und italienischer<br />

Sprache gleichermaßen maßgebend sind, tritt in Kraft, sobald die<br />

Ratifizierungsurkunden ausgetauscht sind.<br />

Erstellt in zweifacher Urschrift.<br />

Vatikanstadt, 3. Januar 1979.<br />

Dokumentenanhang<br />

Marcelino Oreja Aguirre<br />

Minister für Auswärtige Angelegenheiten<br />

Kardinal Jean Villot<br />

Präfekt des Rates für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche<br />

Die vorliegende Vereinbarung ist am 4. Dezember 1979, dem Datum des<br />

Austauschs der Ratifizierungsurkunden, in Kraft getreten.<br />

169


KuK 3 / p. 170 / 7.7.2005<br />

V<br />

Vereinbarung zwischen dem spanischen Staat und dem Heiligen Stuhl<br />

über die Seelsorge bei den Streitkräften und den Militärdienst<br />

der Kleriker und Ordensleute<br />

Die Seelsorge unter den katholischen Mitgliedern der Streitkräfte und der<br />

Militärdienst der Kleriker und Ordensleute bilden besondere Kapitel jener<br />

Materie, die im Rahmen der vom Heiligen Stuhl und von der spanischen<br />

Regierung eingegangenen Verpflichtung zur Revision des Konkordats von<br />

1953 geregelt werden sollen. Daher haben beide Parteien beschlossen, die<br />

bis heute geltenden Anordnungen zu aktualisieren, und schließen folgende<br />

Vereinbarung<br />

Artikel I<br />

Die religiös-pastorale Begleitung der katholischen Mitglieder der Streitkräfte<br />

wird weiterhin durch das Militärvikariat wahrgenommen.<br />

Artikel II<br />

Das Militärvikariat, das eine Personal- und keine Territorialdiözese ist,<br />

besteht aus:<br />

(A) einem Erzbischof als Generalvikar mit seiner eigenen Kurie, die sich<br />

zusammensetzt aus:<br />

(1) einem Generalprovikar für alle Streitkräfte mit den Befugnissen<br />

eines Generalvikars,<br />

(2) einem Generalsekretär,<br />

(3) einem Vizesekretär,<br />

(4) einem Beauftragten für die Weiterbildung des Klerus,<br />

(5) einem Beauftragten für die Seelsorge.<br />

(B) Ferner gehören ihm an:<br />

(1) die entsprechenden Bischofsvikare,<br />

(2) die Militärkapläne als Personalpfarrer.<br />

Artikel III<br />

Die Besetzung des Militärvikariats erfolgt gemäß Artikel I (3) der Vereinbarung<br />

zwischen dem Heiligen Stuhl und der spanischen Regierung vom<br />

28. Juli 1976, mittels Vorschlags einer Dreierliste von Namen, die einvernehmlich<br />

zwischen der Apostolischen Nuntiatur und dem Außenministerium<br />

erstellt und dem Heiligen Stuhl zur Approbation vorgelegt wird. Der<br />

König präsentiert innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen einen davon<br />

zur Ernennung durch den Papst.<br />

170<br />

Spanien


KuK 3 / p. 171 / 7.7.2005<br />

Dokumentenanhang<br />

Artikel IV<br />

Bei Vakanz des Militärvikariats und bis zu seiner Neubesetzung nimmt die<br />

Aufgaben des Generalvikars der Generalprovikar für alle Streitkräfte<br />

wahr, sofern es einen solchen gibt, andernfalls der rangälteste Bischofsvikar.<br />

Artikel V<br />

Die Kleriker und Ordensleute unterliegen den allgemeinen gesetzlichen<br />

Bestimmungen über den Militärdienst.<br />

(1) Die Seminaristen, Postulanten und Novizen können sich auf das<br />

Vorrecht des jährlichen Aufschubs aufgrund ihres Studiums oder anderer,<br />

vom geltenden Recht zugelassener Gründe berufen, ebenso auf alle anderen<br />

allgemein gewährten Vergünstigungen.<br />

(2) Denjenigen, die bereits Priester sind, können spezifische Aufgaben<br />

ihres Amtes übertragen werden, wofür sie vom Militärgeneralvikar die Befugnis<br />

erhalten.<br />

(3) Den Priestern, denen nicht die erwähnten spezifischen Aufgaben<br />

übertragen werden, sowie den Diakonen und Ordensleuten mit Profess,<br />

die nicht Priester sind, werden Aufgaben übertragen, die nach kanonischem<br />

Recht mit ihrem Stand vereinbar sind.<br />

(4) Es gilt als übereinstimmend mit dem Gesetz, dass jene einen sozialen<br />

Ausgleich für den Militärdienst erbringen, die während eines Zeitraums<br />

von drei Jahren im Auftrag der Kirche als Priester, Diakone oder Ordensleute<br />

mit Profess in Missionsgebieten oder als Emigrantenseelsorger arbeiten.<br />

Artikel VI<br />

Um die Seelsorge sicherzustellen, werden die Bischöfe und die ihnen<br />

rechtlich vergleichbaren Personen vom Militärdienst befreit. Im Fall der<br />

Mobilisierung von Reservisten wird dafür Sorge getragen, dass die Pfarrseelsorge<br />

entsprechend der Zahl der Katholiken sichergestellt ist. Zu diesem<br />

Zweck wird das Verteidigungsministerium die Stellungnahme des Militärgeneralvikars<br />

hören.<br />

Artikel VII<br />

Der Heilige Stuhl und die spanische Regierung werden einvernehmlich<br />

zur Lösung der Zweifelsfälle oder Schwierigkeiten schreiten, die bei der<br />

Auslegung oder Anwendung jedweder Klausel der vorliegenden Vereinbarung<br />

entstehen könnten, und sich dabei an deren Geist orientieren.<br />

171


KuK 3 / p. 172 / 7.7.2005<br />

Artikel VIII<br />

Die Artikel XV und XXXII sowie das auf denselben sich beziehende<br />

Schlussprotokoll des Konkordats vom 27. August 1953 und damit die Vereinbarung<br />

zwischen dem Heiligen Stuhl und der spanischen Regierung<br />

über die Militärgerichtsbarkeit und Seelsorge in den Streitkräften vom<br />

5. August 1950 sind aufgehoben.<br />

Schlussprotokoll<br />

Zu Artikel VIII:<br />

(1) Ungeachtet der in Artikel VII angeordneten Aufhebung besteht<br />

während eines Zeitraums von drei Jahren die Möglichkeit, von Artikel -<br />

XII, Nr. 1 der Vereinbarung vom 5. August 1950 Gebrauch zu machen.<br />

(2) Die Priester und Diakone, die vor dem Datum des Inkrafttretens der<br />

vorliegenden Vereinbarung geweiht wurden, sowie die Ordensleute, die<br />

ihre Profess ebenfalls früher abgelegt haben, behalten, unabhängig von<br />

ihrem Alter, gemäß Artikel XII der aufzuhebenden Vereinbarung das<br />

Recht auf Befreiung vom Militärdienst während des Friedens.<br />

(3) Jene, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Vereinbarung in<br />

Vorbereitung auf das Priestertum oder auf die Ordensprofess kirchliche<br />

Studien absolvieren, können einen Einberufungsaufschub zweiter Klasse<br />

beantragen, wenn sie von dieser Vergünstigung Gebrauch machen wollen<br />

und sie ihnen auf Grund ihres Alters zusteht.<br />

Die vorliegende Vereinbarung, deren Texte in spanischer und italienischer<br />

Sprache gleichermaßen maßgebend sind, wird in Kraft treten, sobald<br />

die Ratifizierungsurkunden ausgetauscht sind.<br />

Erstellt in zweifacher Urschrift.<br />

Vatikanstadt, 3. Januar 1979<br />

Marcelino Oreja Aguirre<br />

Minister für Auswärtige Angelegenheiten<br />

Kardinal Jean Villot<br />

Präfekt des Rates für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche<br />

172<br />

Spanien


KuK 3 / p. 173 / 7.7.2005<br />

Dokumentenanhang<br />

Anhang I<br />

Artikel I<br />

Die Militärkapläne üben ihr Amt unter der Jurisdiktion des Militärgeneralvikars<br />

aus.<br />

Artikel II<br />

Die Jurisdiktion des Militärgeneralvikars und der Militärkapläne ist eine<br />

persönliche. Sie erstreckt sich, ungeachtet der jeweiligen militärischen Lage,<br />

auf alle Soldaten zu Lande, zu Wasser und in der Luft, auf die Schüler<br />

der Militärakademien, auf deren Ehefrauen, Kinder und Familienangehörige,<br />

die mit ihnen zusammenleben, und auf alle Gläubigen beider Geschlechter,<br />

ob Laien oder Ordensleute, die in den Kasernen oder an der<br />

Militärgerichtsbarkeit unterstehenden Orten wie auch immer geartete<br />

ständige Dienste leisten oder für gewöhnlich dort wohnen. Ebenso erstreckt<br />

sich die besagte Jurisdiktion auf die minderjährigen Waisen oder<br />

Zöglinge und auf die Witwen von Soldaten, solange sie in diesem Stande<br />

sind.<br />

Artikel III<br />

Die Militärkapläne haben Pfarrkompetenz in Bezug auf die im vorangegangenen<br />

Artikel erwähnten Personen. Falls eine Ehe vor dem Militärkaplan<br />

geschlossen wird, muss dieser sich an die kanonischen Vorschriften<br />

halten.<br />

Artikel IV<br />

(1) Die Jurisdiktion des Militärvikariats tritt also neben die der Diözesanordinarien.<br />

(2) An allen Orten oder Einrichtungen, die den Streitkräften zur Verfügung<br />

stehen oder umständehalber von ihnen besetzt wurden, üben diese<br />

Jurisdiktion vorzüglich und hauptsächlich der Militärgeneralvikar und die<br />

Militärkapläne aus. Wenn diese fehlen oder abwesend sind, üben ihre Jurisdiktion<br />

stellvertretend, aber immer kraft eigenen Rechts, die Diözesanordinarien<br />

und die Ortspfarrer aus. Die Ausübung dieser kumulativen<br />

Jurisdiktion wird geregelt mittels Vereinbarungen zwischen der diözesanen<br />

und der militärischen kirchlichen Obrigkeit. Diese informiert die entsprechenden<br />

Militärbehörden.<br />

(3) Außerhalb der oben aufgeführten Orte und in Bezug auf die in Artikel<br />

II dieses Anhangs erwähnten Personen sind die Diözesanbischöfe<br />

173


KuK 3 / p. 174 / 7.7.2005<br />

und, wenn dies für sie beantragt wird, die Ortspfarrer in der Ausübung<br />

ihrer Jurisdiktion frei.<br />

Artikel V<br />

(1) Wenn die Militärkapläne außerhalb der Kirchen, Einrichtungen, Truppenlager<br />

und sonstiger für die Streitkräfte bestimmter Plätze ihres Amtes<br />

zu walten haben, müssen sie sich im voraus an die Diözesanbischöfe und<br />

an die Ortspfarrer oder –rektoren wenden, um die entsprechende Erlaubnis<br />

zu erhalten.<br />

(2) Diese Erlaubnis ist nicht erforderlich, um Gottesdienste im Freien<br />

für Militäreinheiten abzuhalten, die infolge von Feldzügen, Manövern,<br />

Märschen, Paraden oder anderen dienstlichen Gründen ausgerückt sind.<br />

Artikel VI<br />

Wenn er es für die Seelsorge nötig hält, setzt sich der Militärvikar mit den<br />

Diözesanbischöfen und den höheren Ordensoberen ins Benehmen, um<br />

eine angemessene Zahl von Priestern und Ordensleuten zu benennen, die,<br />

ohne die in ihren Diözesen oder Instituten bekleideten Ämter zu verlassen,<br />

die Militärkapläne unterstützen. Diese Priester und Ordensleute üben<br />

ihr Amt auf Weisung des Militärgeneralvikars aus, von dem sie die „facultates<br />

ad nutum“ erhalten. Sie erhalten als Vergütung ein Honorar oder ein<br />

Gehalt.<br />

Anhang II<br />

Artikel I<br />

(1) Die Einberufung der Militärkapläne erfolgt nach den vom Heiligen<br />

Stuhl approbierten Normen im Einvernehmen mit der Regierung. Für<br />

die Wahrnehmung der Funktion des Bischofsvikars ist erforderlich, dass er<br />

(a) den Titel eines Lizentiaten oder einen gleichwertigen akademischen<br />

Grad jener kirchlichen oder zivilen Disziplin besitzt, die der Militärgeneralvikar<br />

zur Ausübung der Seelsorge bei den Streitkräften für notwendig<br />

erachtet,<br />

(b) dass er gemäß den Normen, die der Militärgeneralvikar erlässt, für<br />

kanonisch geeignet erklärt worden ist.<br />

(2) Die kirchliche Ernennung der Kapläne erfolgt durch den Militärgeneralvikar.<br />

Die Abstellung zur jeweiligen Einheit oder Einrichtung erfolgt<br />

durch das Verteidigungsministerium auf Vorschlag des Militärgeneralvikars.<br />

174<br />

Spanien


KuK 3 / p. 175 / 7.7.2005<br />

Dokumentenanhang<br />

Artikel II<br />

Die Kapläne unterstehen – als Priester und auf Grund der territorialen<br />

Zuständigkeit – auch der Disziplin und Aufsicht der Diözesanbischöfe,<br />

die in dringenden Fällen geeignete kanonische Maßnahmen ergreifen können,<br />

die sie in solchen Fällen nachträglich dem Militärgeneralvikar mitzuteilen<br />

haben.<br />

Artikel III<br />

Die Diözesanordinarien sollen angesichts der Notwendigkeit einer angemessenen<br />

seelsorglichen Begleitung für alle, die Dienst unter Waffen tun,<br />

dem Militärgeneralvikar eine ausreichende Zahl eifriger, gut ausgebildeter<br />

Priester zur Verfügung stellen, die ihre wichtige und schwierige Mission<br />

würdig erfüllen können.<br />

Die vorliegende Vereinbarung ist am 4. Dezember 1979, dem Datum des<br />

Austauschs der Ratifizierungsurkunden, in Kraft getreten.<br />

175


sPaNIENs PROBLEM MIt RELIgION uND NatION<br />

sPaNIENs PROBLEM MIt RELIgION<br />

uND NatION<br />

Die Geschichte beginnt vor mehr als hundert<br />

Jahren» – so eröffnet der Kartäusermönch<br />

im Film «Broken Silence» (1995) von Wolfgang<br />

Panzer sein Bekenntnis in New York vor einem<br />

Beichtvater, der es eilig hat und nervös auf die Uhr<br />

schaut. Zum Verständnis des spanischen Problems<br />

mit Religion und Nation muss man weit ins 19. Jahrhundert<br />

zurückgehen. Damals ging es um die Ausein<br />

andersetzung zwischen katholischem Traditionalismus<br />

und liberalem Progressismus. Die einen glaubten<br />

mit José Donoso Cortés an die besondere Auserwählung<br />

Spaniens und hielten den Katholizismus<br />

für die stimmigste Gesellschaftslehre angesichts der<br />

politischen Pseudoreligionen der Moderne. Die anderen<br />

– etwa José Ortega y Gasset und Manuel Azaña<br />

– plädierten für den Bruch mit der Tradition und den<br />

Anschluss an Europa als Lösung des spanischen Problems.<br />

Die Grundform dieser Querele, nämlich ihre<br />

kulturkämpferische Vehemenz, ist auch im gegenwärtigen<br />

Streit über Laizität und Nation präsent. Ein<br />

Bild Goyas aus der Zeit des Bürgerkrieges um 1820<br />

ist weiterhin für Spanien prägend: Zwei Ganoven stecken<br />

bis zum Knie im Schlamm fest und versuchen,<br />

einander mit einem dicken Prügel zu schlagen. Da sie<br />

sich nicht bewegen können, endet der Kampf wohl<br />

erst mit dem Tod des Gegners.<br />

In der FAZ vom 5. März 2007 stellte Leo Wieland<br />

einen eisigen «Hauch der Polarisierung» in der<br />

spanischen Politik fest, der an «die Zeiten der ‹zwei<br />

Spanien› vor dem Bürgerkrieg» erinnere. Heute hat<br />

sich das Klima so verschlechtert, das selbst die mit<br />

den Sozialisten sympathisierende Zeitung «El País» in<br />

der Wiedergewinnung des Konsenses und der Kompromissfähigkeit<br />

den einzigen Ausgang aus dem Loch<br />

sieht, in das Spanien unter der Regierung von José<br />

Luis Rodríguez Zapatero zu versinken droht. Gerade<br />

diese Eigenschaften hatten den Übergang zur Demokratie<br />

und die Verfassung von 1978 geprägt.<br />

Die Laizität<br />

In Art. 16 hält die Verfassung fest, dass keine Konfession<br />

oder Religion staatlichen Charakter besitzt und<br />

«die Gesinnungsfreiheit, die Religionsfreiheit und<br />

die Kultfreiheit der einzelnen Individuen und der<br />

Gemeinschaften» garantiert werden. Darüber hinaus<br />

verpflichtet sich der Staat, die religiösen Überzeugungen<br />

der spanischen Gesellschaft zu berücksichtigen<br />

und «entsprechende Beziehungen der Zusammenarbeit<br />

mit der katholischen Kirche und den anderen<br />

Konfessionen» zu unterhalten. Die Verfassung atmet<br />

den Geist einer «gesunden Laizität». Sie verbindet<br />

Trennung, Neutralität und Kooperation miteinan­<br />

der. Sie trägt dem Gewicht der katholischen Kirche<br />

in Spaniens Geschichte und Gegenwart Rechnung,<br />

ohne die anderen Konfessionen und Religionen zu<br />

diskriminieren. Sie ist aber heute unter den Laizisten<br />

umstritten. Der Sozialist Gregorio Peces­Barba, einer<br />

der Väter der Verfassung und Parlamentspräsident<br />

unter der ersten sozialistischen Regierung von Felipe<br />

González (1982–1986), hält die ausdrückliche Nennung<br />

der katholischen Kirche für einen Fehler.<br />

Es ist kein Zufall, dass Papst Benedikt XVI.<br />

nach 2006 (V. Welttreffen der Familien in Valencia)<br />

und 2010 (Feier des Jakobsjahres in Santiago, Einweihung<br />

der Gaudí­Basilika Sagrada Familia in Barcelona)<br />

anlässlich des XIV. Weltjugendtags in Madrid vom<br />

18. bis zum 21. August 2011 bereits zum dritten Male<br />

Spanien besuchen wird. Dies hat nicht nur mit den erwähnten<br />

kirchlichen Ereignissen zu tun, sondern auch<br />

mit seiner Überzeugung, dass Spanien ein besonders<br />

paradigmatischer Schauplatz für die moderne Auseinandersetzung<br />

zwischen Laizität/Relativismus und dem<br />

christlichen Glauben geworden ist.<br />

Am 6. November 2010, unterwegs nach Santiago<br />

de Compostela, sagte er im Flugzeug: «Spanien ist<br />

seit jeher eines der ‹Ursprungsländer› des Glaubens;<br />

denken wir nur daran, dass das Wiedererstehen des<br />

Glaubens in der modernen Zeit vor allem Spanien zu<br />

verdanken ist; grosse Gestalten wie der hl. Ignatius<br />

von Loyola, die hl. Teresa von Avila und der hl. Johannes<br />

von Avila sind Gestalten, die den katholischen<br />

Glauben wirklich erneuert und die Physiognomie des<br />

modernen Katholizismus geformt haben. Es ist aber<br />

ebenso wahr, dass in Spanien auch eine Laizität, ein<br />

Antiklerikalismus, ein starker und aggressiver Säkularismus<br />

entstanden ist, wie wir es insbesondere in den<br />

30er­Jahren gesehen haben, und diese Auseinandersetzung,<br />

oder eher dieser Zusammenprall zwischen<br />

Glaube und Moderne, die beide sehr lebendig sind,<br />

ist auch in der gegenwärtigen Zeit in Spanien festzustellen:<br />

die Zukunft des Glaubens und der Begegnung,<br />

nicht der Konfrontation, sondern der Begegnung<br />

zwischen Glaube und Laizität hat daher auch<br />

gerade in der spanischen Kultur einen ihrer zentralen<br />

Punkte.»<br />

Diese Worte entfachten zunächst in der regierungsnahen<br />

Presse einen Sturm der Entrüstung.<br />

Der Vergleich mit den 1930er­Jahren wurde als unangebracht<br />

bezeichnet. Man erinnerte den Papst daran,<br />

dass in Spanien derzeit keine Kirchen in Brand<br />

gesetzt und keine Kirchenvertreter verfolgt werden.<br />

Zapatero sagte sogar, dass in keinem Land Europas es<br />

der Kirche besser ginge als in Spanien. Aber die Diagnose<br />

des Papstes hat einen Wahrheitskern. Denn in<br />

33–34/2011<br />

spanien<br />

Mariano Delgado ist<br />

Professor für Mittlere und<br />

Neuere kirchengeschichte an<br />

der universität Freiburg i. Ü.,<br />

Dekan der theologischen<br />

Fakultät der universität<br />

Freiburg und Präsident der<br />

Vereinigung für schweizerische<br />

kirchen geschichte.<br />

525


sPaNIENs PROBLEM MIt RELIgION uND NatION<br />

526<br />

spanien<br />

keinem anderen Land Europas wird um die Laizität<br />

des Staates so intensiv und ideologisch gestritten wie<br />

eben in Spanien seit der Wahl Zapateros im März<br />

2004.<br />

Zapateros Projekt<br />

In der sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) ringen<br />

aber zwei Konzepte der Laizität miteinander: Auf<br />

der einen Seite stehen diejenigen, die eine «inklusive<br />

Laizität» vertreten und Christen in das sozialistische<br />

Projekt integrieren möchten; auf der anderen<br />

Seite finden sich die Befürworter einer «Laizität der<br />

Neutralisierung» und gar der «Exklusion» des religiösen<br />

Phänomens. Gerade diese Tendenz setzte sich<br />

zunächst durch, wie aus dem Manifest «Verfassung,<br />

Laizität und staatsbürgerliche Erziehung» zu entnehmen<br />

ist, das die Sozialisten anlässlich des 28. Jahrestags<br />

der Verfassung am 6. Dezember 2006 verabschiedet<br />

haben. Es bringt die Religionspolitik der<br />

Verfassung von 1978 mit der von 1931 in Zusammenhang<br />

und ist von einer Hermeneutik des Verdachts<br />

gegenüber dem religiösen Phänomen geprägt,<br />

das nur in seinem «fundamentalistischen Potential»<br />

wahrgenommen wird.<br />

Das Verfassungsjubiläum diente zum Anlass,<br />

ein «laizistisches» Gesetz der Religionsfreiheit zu<br />

postulieren. Das Manifest sagt nämlich, dass die<br />

Verfassung mit der Neustrukturierung des Staates in<br />

«autonome Gemeinschaften» der territorialen Vielfalt<br />

Spaniens Rechnung getragen habe; unterdessen<br />

sei aber eine neue Form von Vielfalt eingetreten: da<br />

die spanische Gesellschaft durch Säkularisierung und<br />

Migration «moralisch und religiös» pluraler geworden<br />

sei, brauche man eine neue legale Basis für die<br />

Ausübung des Rechtes auf Gewissensfreiheit. Diese<br />

Basis könne nur die Laizität sein, die als einzige «das<br />

Zusammenleben zwischen den Kulturen, Ideen und<br />

Religionen garantiert – ohne Unterordnung oder<br />

Vorrangstellung von Glaubensformen. Die Laizität<br />

ist der Raum der Integration. Ohne Laizität gäbe<br />

es keine neuen Bürgerrechte, und einige Errungenschaften<br />

der Freiheit, wie die freiwillige Unterbrechung<br />

der Schwangerschaft oder die Ehe unter<br />

gleichgeschlechtlichen Personen, wären noch vom<br />

Zivilrecht geahndet».<br />

Unter «mehr Laizität» wird in den Beschlüssen<br />

des 37. Kongresses der PSOE vom 4. bis 6. Juli 2008<br />

vor allem das Zurückdrängen des Einflusses der katholischen<br />

Kirche in der Öffentlichkeit verstanden.<br />

Denn die anvisierte Reform des Gesetzes über die<br />

Religionsfreiheit von 1980 soll nicht nur dazu beitragen,<br />

der religiösen Pluralisierung der Gesellschaft<br />

besser Rechnung zu tragen, sondern auch die konfessionellen<br />

«Privilegien» (d. h. die vier völkerrechtlichen<br />

Vereinbarungen vom 3. Januar 1979 zwischen<br />

dem spanischen Staat und dem Heiligen Stuhl betr.<br />

juristische, Unterrichts­, Kultur­ und finanzielle Fra­<br />

33–34/2011<br />

gen und schliesslich die Seelsorge in den Streitkräften)<br />

sowie die religiösen und liturgischen (d. h. katholischen)<br />

Symbole im öffentlichen Raum und bei<br />

den Staatsakten (katholische Staatsbegräbnisse, Bibel<br />

und Kruzifix beim Amtseid u. a.) abzuschaffen.<br />

Doch obwohl José María Contreras Mazarío,<br />

Professor für Staatskirchenrecht an einer Madrider<br />

Universität und Generaldirektor für die Beziehungen<br />

zu den Religionsgemeinschaften im Innenministerium,<br />

im April 2010 davon überzeugt war, dass der von<br />

ihm erarbeitete Entwurf zum neuen Gesetz über die<br />

Religionsfreiheit, eine der erklärten Prioritäten Zapateros<br />

in seiner zweiten Legislaturperiode, demnächst<br />

im Parlament diskutiert werden sollte, blieb dieser<br />

bisher in der Schublade. Am 10. Juni 2010 besuchte<br />

Zapatero erstmals den Vatikan und teilte dem Papst<br />

persönlich mit, dass es vorerst kein solches Gesetz<br />

geben werde; und ebenso wenig wolle man die völkerrechtlichen<br />

Vereinbarungen von 1979 kündigen.<br />

Stattdessen werde man eine Institution zur Pflege<br />

des religiösen Pluralismus schaffen. Die Befürworter<br />

eines militanten Laizismus konnten sich in der PSOE<br />

also nicht durchsetzen.<br />

Es hat auch manchmal den Anschein, dass<br />

die Parteistrategen unter Zapatero die Debatte um<br />

die Laizität (oder andere Themen kulturrevolutionärer<br />

Art wie neuerdings der Entwurf eines Gesetzes<br />

«über den würdigen Tod», der vor wenigen Tagen angesichts<br />

des Machtverlustes Zapateros an der ersten<br />

Hürde im Parlament scheiterte) wie ein rotes Tuch<br />

aus wahltaktischen Gründen gezielt schwingen: damit<br />

die katholische Kirche und das konservative Lager<br />

wie ein wütender Stier auf die Strasse gehen und<br />

so bei den Wählern das Gespenst einer intoleranten<br />

Rekatholisierung Spaniens wie in der Franco­Zeit geweckt<br />

werden kann.<br />

Die Bischöfe<br />

Die Bischöfe, die bei der Krönungsmesse für König<br />

Juan Carlos am 27. November 1975 bekanntlich<br />

um keinerlei Privileg baten, sondern lediglich «um<br />

das Recht, das ganze Evangelium zu verkünden»,<br />

scheinen im Laizismus die Wurzel aller Übel zu sehen,<br />

statt sich vorrangig mit den eigenen Versäumnissen<br />

als Ursache der Identitäts­ und Relevanzkrise<br />

der katholischen Kirche in den letzten Jahrzehnten<br />

zu beschäftigen. In einer pastoralen Instruktion mit<br />

dem Titel «Moralische Orientierungen angesichts der<br />

aktuellen Lage Spaniens» vom 29. November 2006<br />

geisselten sie die «starke Laizismuswelle». Sie sei dabei,<br />

eine Gesellschaft zu prägen, die «den fundamentalen<br />

Werten» unserer Kultur radikal widerspricht.<br />

Hier helfen weder Konfrontation noch «Belehrung»,<br />

sondern nur das kluge diskursive Eintreten für eine<br />

gesunde Laizität auf dem Boden der Religionsfreiheit,<br />

wie dies nicht zuletzt Papst Benedikt XVI. bei seiner<br />

Frankreichreise im September 2008 getan hat.


sPaNIENs PROBLEM MIt RELIgION uND NatION<br />

Die Nation<br />

In Art. 1 der Verfassung wird festgehalten, dass die nationale<br />

Souveränität beim spanischen Volk liegt, «von<br />

dem alle Gewalten des Staates herkommen». Und in<br />

Art. 2 wird betont, dass die Verfassung «auf der unauflöslichen<br />

Einheit der spanischen Nation» beruht,<br />

die als «gemeinsames und untrennbares Vaterland aller<br />

Spa nier» bezeichnet wird. Die Verfassung anerkennt<br />

und garantiert zugleich «das Recht der Nationalitäten<br />

und Regionen, die sie bilden, auf Autonomie sowie<br />

die Solidarität unter ihnen allen». Dahinter steckt der<br />

liberale Geist der ersten spanischen Verfassung von<br />

1812, mit der Spanien begann, das Ancien Régime abzuschütteln,<br />

und sich als eine politische Willensnation<br />

freier und gleichberechtigter Bürger konstituieren wollte.<br />

Aber weder die unauflösliche Einheit Spaniens noch<br />

der Auto nomieartikel sind von den baskischen und<br />

katalanischen Nationalisten verinnerlicht worden. Sie<br />

träumen eher vom Separatismus und Föderalismus.<br />

Die Basken<br />

Es wäre zu einfach, wollte man den baskischen Separatismus<br />

als blosse Reaktion auf die sprachliche und<br />

kulturelle Zwangsassimilation durch den extremen<br />

spanischen Unitarismus des 19. Jahrhunderts und der<br />

Franco­Zeit erklären. Vielmehr lebt er aus der «Wirsie­Dialektik»<br />

des Ethnonationalismus, wie aus den<br />

Schriften seines Begründers Sabino Arana († 1903)<br />

ersichtlich wird. Seine Artikel «Sind wir Spanier?» und<br />

«Sie und wir» sind von dieser Dialektik durchzogen.<br />

Die Basken seien die «Ureinwohner» der Iberischen<br />

Halbinsel, ja West­ und Südeuropas und Nordafrikas,<br />

und sie hätten ihre Reinheit bewahrt, während<br />

die Spanier ein römisch­gotisch­arabisches Völkergemisch<br />

mit schwachen phönizischen, griechischen und<br />

karthagischen Einflüssen seien. Ein Kind von Basken,<br />

das in Madagaskar oder Dahomey geboren wird, ist<br />

demnach, wie Arana ausdrücklich betont, genauso<br />

baskisch, wie wenn es im Baskenland geboren worden<br />

wäre, während ein im Baskenland geborenes Kind von<br />

Spaniern niemals ein Baske sein kann. Eine logische<br />

Folge des ethnonationalen Diskurses ist das Vermischungsverbot,<br />

nicht nur zur Rettung der ethnischen<br />

Reinheit der Basken, sondern auch der moralischen<br />

Integrität. Im Artikel «Die Wirkungen der Invasion»<br />

hält Arana das Zusammenleben der Kinder der baskischen<br />

Nation mit denen der spanischen aufgrund<br />

der Migration im Schatten der Industrialisierung Bilbaos<br />

für das grösste Übel des Baskenlandes, schlimmer<br />

noch als das Absterben der Sprache, das Vergessen der<br />

Geschichte, der Verlust der baskischen Institutionen<br />

oder die politische Versklavung. Denn dieses Zusammenleben<br />

schleuse die liberalen Laster ein und zerstöre<br />

die kerngesunde baskische Gesellschaft selbst,<br />

sodass die Basken «ihre Seele» verlieren. Daher könne<br />

die Lösung nur in der Separation «mittels der politischen<br />

Unabhängigkeit» liegen.<br />

Dieses ethnonationale Gedankengut, das im<br />

heutigen Europa nicht politisch korrekt klingt, offenbart<br />

den pseudoreligiösen Charakter des baskischen<br />

Nationalismus (vgl. Ex 34,12), gleich ob er von der<br />

extremen Linke unter Kontrolle der ETA oder von<br />

den sogenannten gemässigten «Christdemokraten»<br />

des «Partido Nacionalista Vasco» (PNV) vertreten<br />

wird. Auch Letztere scheuen sich nicht, als Argument<br />

für die Unabhängigkeitsbestrebungen die 7000­jährige<br />

Geschichte des baskischen Volkes (sic!) anzuführen.<br />

Sie beweisen damit, dass sie der ethnischen Nation<br />

und der Mythenbildung näher stehen als der politischen<br />

Staatsnation und der Geschichtswissenschaft.<br />

Die Katalanen<br />

Der katalanische Nationalismus ist hingegen kein ethnischer,<br />

sondern ein kultureller. Er basiert auf linguistischer<br />

Assimilation. Die Debatte ist nicht zuletzt dadurch<br />

vergiftet, dass selbst konservative katalanische<br />

Nationalisten wie Jordi Pujol, der langjährige Präsident<br />

der autonomen Regierung, sich nicht scheuen,<br />

die anderen Spanier mit Behauptungen dieser Art zu<br />

provozieren: «Während Katalonien eine Nation ist, ist<br />

dies Spanien nicht (…). Wenn Katalonien, Euskadi<br />

oder Galicien Nationen sind, ist es schwierig, dass der<br />

Staat, der diese enthält, auch eine Nation ist.» Auch<br />

wenn der (friedliche) Separatismus bei manchen linken<br />

Gruppierungen wie «Esquerra Republicana de<br />

Catalunya» (ERC) nicht fehlt, ist der Irredentismus<br />

in der Form eines (kon)föderalen Konzeptes Spaniens<br />

für den katalanischen Nationalismus prägend. Demnach<br />

ist Spanien höchstens eine «Nation aus Nationen».<br />

Daher ist das Ziel der katalanischen Nationalisten<br />

die Verwandlung Spaniens nach helvetischem<br />

Modell in eine Art «Confoederatio hispanica». So<br />

das Idearium der Begründer des katalanischen Nationalismus<br />

Enric Prat de la Riba († 1917) und Antoni<br />

Rovira i Virgili († 1949). Letzterer schreibt z. B.:<br />

«Die Schlussfolgerung der ganzen hier dargelegten<br />

Doktrin ist die Beanspruchung eines katalanischen<br />

Staates in einer föderativen Einheit mit den anderen<br />

spanischen Nationalitäten. Aus der Tatsache der<br />

katalanischen Nationalität ergibt sich das Recht zur<br />

Gründung eines eigenen Staates, eines katalanischen<br />

Staates. Aus der Tatsache der jetzigen politischen Einheit<br />

Spaniens, aus der Tatsache des jahrhundertealten<br />

Zusammenlebens verschiedener Völker, ergibt sich<br />

ein Einheits element, ein Gemeinschaft stiftendes<br />

Element, das die vereinten Völker zu erhalten und<br />

zu festigen haben.» Er hat auch einen Vorschlag für<br />

die jeweiligen Kompetenzen des partikularen Staates<br />

und der Föderation ausgearbeitet. Demnach blieben<br />

dieser praktisch nur Aussenpolitik und Verteidigung<br />

vorbehalten.<br />

Die (kon)föderative Idee zur Lösung der Frage<br />

nach der Staatsform ist kein Exklusivbesitz katalanischer<br />

Nationalisten. Es gibt auch kastilische Vertreter<br />

33–34/2011<br />

spanien<br />

527


sPaNIENs PROBLEM MIt RELIgION uND NatION<br />

528<br />

spanien<br />

derselben wie etwa den Sozialisten Anselmo Carretero<br />

(† 2002), der grossen Einfluss auf Zapatero ausgeübt<br />

hat. Für ihn bestünde Spanien sogar aus 16 Nationen,<br />

Portugal eingeschlossen, denn die «Iberische Union»<br />

ist ein alter Traum der Föderalisten (diesen Traum<br />

hegte auch der portugiesische Nobelpreisträger José<br />

Saramago, und etwa 40 Prozent seiner Landsleute<br />

wären dafür). Bei der Diskussion des neuen Autonomiestatuts<br />

2005, in dessen Präambel Katalonien als<br />

«Nation» bezeichnet wird, erhielt die Idee Spaniens<br />

als «Nation aus Nationen» neue Brisanz. Zapatero<br />

selbst regte die Diskussion an, indem er «spanische<br />

Nation» als strittigen Begriff bezeichnete – ungeachtet<br />

dessen, dass die Verfassung nur von Spanien als<br />

politischer Staatsnation spricht.<br />

Die Kritiker des (kon)föderativen Konzeptes<br />

betonen, dass die Geschichte Spaniens nicht vergleichbar<br />

sei mit der Donau­Monarchie oder der Schweiz.<br />

Im Zuge einer Verfassungsreform müsse man aber, so<br />

der angesehene Historiker Fernando García de Cortázar,<br />

«die Grenzen der Dezentralisierung definieren,<br />

die Spanien als Idee vertragen kann». Aber die Grundvoraussetzung<br />

zu dieser Reform ist das Bekenntnis<br />

der einzelnen Teile zu Spanien als «Willensnation».<br />

Die Befürworter des helvetischen Modells vergessen<br />

zudem, dass zum friedlichen Austritt aus der Eidgenossenschaft<br />

eine doppelte absolute Mehrheit nötig<br />

ist: im zentrifugalen Teil und im Ganzen. Dessen ungeachtet<br />

organisieren die Nationalisten in Katalonien<br />

immer wieder illegale Referenden, um den Grad der<br />

Zustimmung «ihres» Volkes zur Unabhängigkeit zu<br />

messen.<br />

Und die Kirche?<br />

Kardinal Antonio Cañizares Llovera, der ehemalige<br />

Erzbischof Toledos und derzeitige Präfekt der Kongregation<br />

für den Gottesdienst und die Sakramen tenordnung,<br />

plädierte bei der Vollversammlung der Bischofskonferenz<br />

im Frühjahr 2006 vergeblich für die<br />

Verabschiedung eines Dokumentes, das die nationale<br />

Einheit Spaniens als «vorpolitisches, moralisches Gut»<br />

bezeichnet. Stattdessen wird in den oben erwähnten<br />

moralischen «Orientierungen» vom November 2006<br />

die Legitimität eines «friedlichen» Nationalismus verteidigt,<br />

der auf demokratischem Wege die politische<br />

Einheit Spaniens verändern möchte, sofern die nationalistischen<br />

Positionen das Gemeinwohl «aller» Menschen<br />

berücksichtigen, die direkt oder indirekt davon<br />

betroffen sind. Am 21. Mai 2011 haben die katalanischen<br />

Bischöfe ein Dokument verlautbart, in dem<br />

sie die «nationale» Identität «ihres» Volkes anerkennen<br />

sowie das «Recht» verteidigen, alles zu erkämpfen und<br />

zu fördern, was nach der Soziallehre der Kirche damit<br />

verbunden ist, einschliesslich der Frage einer neuen politischen<br />

Ordnung der Beziehungen des katalanischen<br />

Volkes im aktuellen europäischen Kontext «zu den<br />

anderen Brüdervölkern» Spaniens. Diese kirch lichen<br />

33–34/2011<br />

Stellungnahmen zeigen indirekt, dass der katholische<br />

Glaube als gemeinsame Klammer für die Einheit Spaniens<br />

ausgedient hat. An seiner Stelle ist aber nicht<br />

eine moderne «Willensnation» getreten, sondern der<br />

zentrifugale Rückzug auf Nationalismen und partikulare<br />

Identitäten, eine «Kirchturmpolitik» also.<br />

Ideologielastigkeit<br />

Die «zwei Spanien» haben zwar aufgehört, ihre Konflikte<br />

gewaltsam auszutragen. Aber zu einer optimistischen<br />

Beurteilung der Lage, wie sie Joaquín Ruiz<br />

Giménez 1984 vornahm, als er meinte, die «zwei<br />

Spanien» seien nun endgültig versöhnt, gibt es heute<br />

wenig Anlass. Nach schmerzlichen Bürgerkriegserfahrungen<br />

hat Spanien in den letzten zwei Jahrhunderten<br />

manche ideologische Pathologien überwunden:<br />

Der Katholizismus ist nicht mehr die (intolerante)<br />

Staatsreligion, und Spanien ist heute kein Monopol<br />

konservativer und liberaler Parteien, sondern bietet<br />

Platz für alle Strömungen, die das parlamentarische<br />

System akzeptieren. Die Pathologien des Laizismus<br />

und des Nationalismus sind aber noch virulent.<br />

Mariano Delgado<br />

Päpstliche Diplomatie<br />

Michael F. Feldkamp: Geheim und effektiv. Über<br />

1000 Jahre Diplomatie der Päpste. (Sankt Ulrich<br />

Verlag) Augsburg 2010, 208 Seiten.<br />

Der Heilige stuhl führt über 170 eigene diplomatische<br />

Vertretungen bei den meisten Ländern<br />

dieser Erde und bei mehreren internationalen<br />

Organisationen. Damit verfügt der Papst, dem<br />

Völkerrechtssubjektivität zukommt, über ein sehr<br />

dichtes Netz – eine hervorragende, ja einzigartige<br />

Informationsquelle. Einzelne Nuntien übten<br />

ihr amt so eindrucksvoll und geschickt aus, dass<br />

sie besondere aufmerksamkeit auf sich zogen,<br />

so etwa Erzbischof Fernando Filoni, der 2003<br />

als einziger ausländischer Diplomat während des<br />

Irakkrieges in Bagdad ausharrte und mit dem<br />

spitznamen «Nuntius Courage» geehrt wurde,<br />

aber auch Erzbischof karl-Josef Rauber, der wohl<br />

als erster Nuntius in der vielfältigenschweiz unsere<br />

Mentalität wirklich begriffen hat. Es gibt aber<br />

auch Nuntien, deren Inkompetenz offensichtlich<br />

ist, auch deren fehlender Wille, sich in das<br />

gastland hineinzudenken und als Brückenbauer<br />

zwischen der Ortskirche und Rom zu dienen.<br />

angesichts der Wichtigkeit eines Nuntius z. B.<br />

bei Bischofsernennungen wird deutlich, welche<br />

wichtige aufgabe dieser einnimmt. umso mehr<br />

lohnt sich ein Blick in die geschichte und gegenwart<br />

dieser Institution. Wer sich dafür interessiert,<br />

ist gut beraten, die Überblicksdarstellung<br />

von Michael Feldkamp zur Hand zu nehmen, der<br />

gekonnt und in gut lesbarer Form die wichtigsten<br />

Fakten und Zusammenhänge aufzeigt, aber leider<br />

die innerkirchliche Bedeutung der Nuntien (s.o.)<br />

zuwenig thematisiert. Urban Fink-Wagner


Mariano Delgado<br />

Religiöse Pluralisierung und Laizismus-Debatte<br />

in Spanien<br />

„Katholisch, aber weniger“ – so interpretierte eine katholische Zeitschrift die religionssoziologischen<br />

Analysen des „Centro de Investigaciones Sociológicas“ (CIS)<br />

im Vorfeld des Spanienbesuchs von Papst Benedikt XVI. im Juli 2006 1 . Die letzten<br />

Erhebungen des CIS im Juli 2008 bei 2468 Personen bestätigen diesen Trend und geben<br />

Einblick in die religiöse Lage Spaniens: 75,8 Prozent halten sich für katholisch,<br />

aber nur 14,7 Prozent nehmen regelmäßig am Gottesdienst teil; 2,2 Prozent bekennen<br />

sich zu anderen Konfessionen und Religionen. Weitere 6,4 Prozent bezeichnen<br />

sich als Atheisten, 13,1 Prozent als nichtgläubig und 2,4 Prozent antworten nicht 2 ,<br />

wobei in diesen letzten drei Gruppen viele getaufte Katholiken sein dürften. Religionssoziologisch<br />

gesehen ist Spanien heute weder ein katholisches Land im kirchlichen<br />

Sinn (die Mehrheit der Befragten sind weder praktizierende Katholiken noch<br />

akzeptieren sie das kirchliche Lehramt in Fragen der Moral), noch ein agnostisches<br />

oder religiös gleichgültiges Land (die sich als religiös deklarierenden Spanier sind<br />

doppelt so viele wie die nichtreligiösen), sondern ein stark säkularisiertes, religiös<br />

pluralistisches Land mit einer großen, katholisch getauften Bevölkerungsmehrheit,<br />

die bei Umfragen über Glaube und Moral ähnlich antwortet wie die Katholiken anderer<br />

westlicher Länder.<br />

Vom konfessionellen Staat zur Religionsfreiheit<br />

Bis zum Zweiten Vatikanum hat die katholische Kirche bekanntlich den Weg zur<br />

Religionsfreiheit nicht gerade geebnet, und die spanische Verfassungsgeschichte ist<br />

ein gutes Beispiel dafür. Mit Ausnahme der Verfassung von 1869 und des nie approbierten<br />

Verfassungsentwurfs von 1873, die eine sehr vorsichtige Anerkennung der<br />

Religionsfreiheit enthalten, entsprachen alle Verfassungen des 19. Jahrhunderts<br />

sowie das Konkordat von 1851 dem Anliegen von Traditionalismus und Ultramontanismus<br />

(katholischer Kult als Staatsreligion, ohne Duldung anderer Kulte).<br />

Die Verfassung der Zweiten Republik von 1931 stellt hingegen den kompromißlosen<br />

Durchbruch des militanten Laizismus und Antiklerikalismus dar. Paradigmatisch<br />

kommt die Weltanschauung dieses Lagers in der Parlamentsrede<br />

Manuel Azañas vom 13. Oktober 1931 zum Ausdruck. Nachdem er klargestellt<br />

hat, man solle nicht so sehr nach dem fragen, was Spanien der katholischen Kir-<br />

3/2009 – www.stimmen-der-zeit.de<br />

197


Mariano Delgado<br />

che verdanke, als nach dem, was diese Spanien zu verdanken habe, formuliert er<br />

seine Prämisse:<br />

„Spanien ist nicht mehr katholisch. Das sich daraus ergebende Problem besteht darin, den<br />

Staat so zu organisieren, daß er dieser neuen und historischen Phase des spanischen Volkes<br />

angepaßt wird.“ 3<br />

Die Verfassung von 1931 ist in der spanischen Verfassungsgeschichte beispiellos<br />

und kann – vor allem aufgrund der Maßnahmen gegen die Orden und der Einschränkung<br />

der Bürgerrechte des Klerus – als die verspätete spanische Variante<br />

des „Kulturkampfes“ verstanden werden. Art. 26 betrachtet alle Konfessionen als<br />

Vereinigungen, „die einem besonderen Gesetz unterworfen werden sollen“; er<br />

hebt die staatliche Finanzierung des Klerus auf, die Gesellschaft Jesu wird verboten.<br />

In Art. 27, der die Religions- und Gewissensfreiheit proklamiert, wird das<br />

Auftreten von Religion in der Öffentlichkeit sehr restriktiv geregelt. Verschärft<br />

wurden diese Maßnahmen durch das „Gesetz über die Konfessionen und die religiösen<br />

Orden und Kongregationen“ vom 17. Mai 1932, das sich eindeutig gegen<br />

die katholische Kirche richtete, die staatliche Kontrolle verschärfte und unter anderem<br />

alle Kirchen, Pfarrhäuser, Bischofspaläste, Seminarien, Klöster und sonstigen<br />

Gebäude des katholischen Kultes zum staatlichen Besitz erklärte, deren Gebrauch<br />

der Kirche nur nach Nachweis des öffentlichen Nutzens erlaubt werden<br />

sollte.<br />

Mit der Enzyklika „Dilectissima nobis Hispania“ vom 3. Juni 1933 protestierte<br />

Papst Pius XI. gegen die antikirchliche und antireligiöse Gesetzgebung der Zweiten<br />

Republik. Aber auch bei aufrechten Liberalen rief diese radikale Politik herbe Kritik<br />

hervor. Salvador de Madariaga, der den spanischen Katholizismus als „klerikal,<br />

abergläubisch, intolerant und kurzsichtig“ 4 scharf kritisierte, sprach vom „antiklerikalen<br />

Eifertum“ der wichtigsten Politiker der Republik bzw. von einem „engen<br />

und revanchistischen Antiklerikalismus“ und von einer „selbstmörderischen Politik“<br />

5 , die der Rechten die Argumente lieferte, um sich zu reorganisieren.<br />

Das Grundgesetz von 1945 und das Konkordat von 1953 aus der Franco-Zeit stehen<br />

wiederum in Einklang mit den Postulaten von Traditionalismus und Ultramontanismus.<br />

Verschiedene Versuche des Franco-Regimes, ein Gesetz über die Religionsfreiheit<br />

zu verabschieden – nicht zuletzt, um den USA und Großbritannien<br />

entgegenzukommen, die sich über die Benachteiligung der protestantischen Konfessionen<br />

und Bibelgesellschaften beklagten und nicht zuletzt auch deshalb Spanien<br />

in den internationalen Organisationen boykottierten –, scheiterten stets am Widerstand<br />

der spanischen Bischöfe. 1948 schrieben sie, erstmals seit dem Bürgerkrieg, einen<br />

kollektiven Hirtenbrief gegen die Religionsfreiheit. Die spanischen Bischöfe<br />

waren der Syllabus-Mentalität verhaftet und dachten folglich, daß nur der wahren<br />

Religion, nicht jedoch dem Irrtum Freiheit zustehe, und sie wurden darin von Rom<br />

unterstützt. Denn im selben Jahr betonte die einflußreiche Jesuitenzeitschrift „La<br />

198


Religiöse Pluralisierung und Laizismus-Debatte in Spanien<br />

Civiltà cattolica“ dieses Prinzip unter ausdrücklichem Bezug auf die Ansprüche<br />

spanischer Protestanten:<br />

„Aber die katholische Kirche, die aufgrund ihres göttlichen Privilegs davon überzeugt ist,<br />

die einzig wahre Kirche zu sein, muß für sich allein das Recht auf Freiheit reklamieren; denn<br />

dieses kann allein der Wahrheit, niemals aber dem Irrtum zustehen.“ 6<br />

Mit dieser Mentalität nahmen die spanischen Bischöfe am Zweiten Vatikanischen<br />

Konzil teil. Sie lehnten noch 1964 einen zweiten Gesetzesentwurf der Regierung<br />

über die Religionsfreiheit ab. Nach dem Konzil, das sich am 7. Dezember 1965 – einen<br />

Tag vor dem Abschluß (!) – zur Religionsfreiheit bekannt hatte, konnten sie,<br />

der ultramontanen Logik folgend, Konzil und Papst ihre Gefolgschaft nicht verweigern.<br />

So war der Weg für das Gesetz über die Religionsfreiheit von 1967 frei.<br />

Zu einer wirklich liberalen Verfassung unter Anerkennung der Religionsfreiheit<br />

kommt es erst in der jungen Demokratie, nachdem die Kirche selbst das Konkordat<br />

von 1953 zur Disposition gestellt hatte. Die Verfassung von 1978 betont den akonfessionellen,<br />

d.h. weder katholischen noch laizistisch-militanten Charakter des<br />

Staates, und hebt zugleich in Art. 16 die katholische Kirche als einzige Konfession<br />

namentlich hervor:<br />

„1. Die Gesinnungsfreiheit, die Religionsfreiheit und die Kultfreiheit der einzelnen Individuen<br />

und der Gemeinschaften werden garantiert; in deren Äußerungen werden sie nur<br />

durch das zur Aufrechterhaltung der von dem Gesetz geschützten öffentlichen Ordnung<br />

Nötige eingeschränkt.<br />

2. Niemand darf gezwungen werden, seine Gesinnung, seine Religion oder seine Glaubensüberzeugungen<br />

zu deklarieren.<br />

3. Keine Konfession wird staatlichen Charakter besitzen. Die öffentlichen Gewalten<br />

werden die religiösen Überzeugungen der spanischen Gesellschaft berücksichtigen und entsprechende<br />

Beziehungen der Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche und den anderen<br />

Konfessionen unterhalten.“<br />

Diese kluge Formulierung, die Trennung, Neutralität und Kooperation miteinander<br />

verbindet und dem Gewicht der katholischen Kirche in Spaniens<br />

Geschichte und Gegenwart Rechnung trägt, ohne die anderen Konfessionen und<br />

Religionen zu diskriminieren, ist aber heute vielfach umstritten. Der Sozialist<br />

Gregorio Peces-Barba, einer der Väter der Verfassung und Parlamentspräsident<br />

unter der ersten sozialistischen Regierung von Felipe González (1982–1986), hält<br />

inzwischen die ausdrückliche Nennung der katholischen Kirche in Art 16.3 für<br />

einen Fehler.<br />

Dieser Artikel führte zu den vier „völkerrechtlichen“ Vereinbarungen von 1979<br />

zwischen dem Staat und dem Heiligen Stuhl, die das Konkordat von 1953 ablösten<br />

und juristische Belange, Unterrichts- und Kulturfragen, finanzielle Fragen sowie<br />

die Beziehung der Kirche zu den Streitkräften betreffen. Weil dies jedoch den<br />

Ärger des laizistischen Lagers sowie der anderen Konfessionen und Religionen<br />

199


Mariano Delgado<br />

hervorrief, wurde die katholische Kirche im Gesetz über die Religionsfreiheit vom<br />

5. Juli 1980 nicht mehr namentlich erwähnt:<br />

„Art. 1. Der Staat garantiert das fundamentale Recht der Religions- und Kultfreiheit, das<br />

in der Verfassung im Einklang mit dem in diesem Gesetz Verfügten anerkannt wurde.<br />

Art. 2. Die religiösen Überzeugungen werden keinen Grund für Ungleichheit oder Diskriminierung<br />

vor dem Gesetz darstellen. Keine religiösen Gründe dürfen angegeben werden,<br />

um jemanden an der Ausübung irgendeiner Arbeit oder Tätigkeit oder der Bekleidung von<br />

öffentlichen Ämtern oder Aufgaben zu hindern.<br />

Art. 3. Keine Konfession wird staatlichen Charakter besitzen.“ 7<br />

In Art. 7 verpflichtet sich der Staat, mit den Konfessionen und Religionen, die<br />

„aufgrund ihres Wirkungsbereichs und der Zahl der Gläubigen ... eine notorische<br />

Verwurzelung in Spanien“ nachweisen können, Vereinbarungen zur Zusammenarbeit<br />

abzuschließen, die aber immer „das Gleichheitsprinzip“ respektieren sollen.<br />

Eine weitere Bedingung für den Abschluß von Vereinbarungen ist, daß die Konfessionen<br />

und Religionen in das entsprechende Register des Justizministeriums als<br />

Vereinigungen eingetragen sind und Dachverbände gründen, die vom Staat als repräsentative<br />

Rechtspersönlichkeiten akzeptiert werden können.<br />

Auf dieser Grundlage kam es 1992 zu Vereinbarungen mit dem Bund Evangelischer<br />

Glaubensgemeinschaften Spaniens (FEREDE = Federación de Entidades Religiosas<br />

Evangélicas de España), mit dem Bund Jüdischer Gemeinden Spaniens<br />

(FCJE = Federación de Comunidades Judías de España) und mit der Islamischen<br />

Kommission Spaniens (CIE = Comisión Islámica de España). Diese Vereinbarungen<br />

sind aber weder rechtlich noch inhaltlich mit den Vereinbarungen zwischen<br />

dem Spanischen Staat und dem Heiligen Stuhl von 1979 zu vergleichen.<br />

Seither tobt in Spanien – je nach der ideologischen Zusammensetzung der verschiedenen<br />

Regierungen – der Konflikt der Interpretationen. Für das konservative<br />

Lager wären die spanischen Regierungen gut beraten, weiterhin vor allem „entsprechende<br />

Beziehungen der Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche“ zu unterhalten,<br />

wie es in Art 16.3 der Verfassung heißt. Für das laizistische Lager scheint<br />

nun unter José Rodríguez Zapatero die Zeit gekommen zu sein, die besondere Rolle<br />

der katholischen Kirche in Frage zu stellen, einen militanten Laizismus zu praktizieren<br />

und die seit 1931 ersehnte Kulturrevolution nachzuholen.<br />

Die Laizismus-Debatte<br />

In der Laizismus-Debatte lassen sich verschiedene Standpunkte unterscheiden: 1.<br />

das laizistische Lager, vertreten durch die Regierung und die ihr nahestehenden Intellektuellen,<br />

zu denen auch die sogenannten „kritischen“ Christen gehören, also<br />

jene, die oft im Konflikt mit der eigenen Kirche stehen und im säkularen Staat den<br />

200


Religiöse Pluralisierung und Laizismus-Debatte in Spanien<br />

Garanten von Freiheit und Menschenrechten „in der Kirche“ sehen; 2. die katholische<br />

Kirche, vertreten durch die Bischöfe und die mit ihnen verbundenen Theologen<br />

und Intellektuellen; 3. schließlich die Vertreter und Sympathisanten anderer<br />

Konfessionen und Religionen.<br />

Der spanische Laizismus ist von der Ideologie des „Krausismo“ geprägt, d.h.<br />

durch ethischen Relativismus sowie durch den Versuch, einen „neuen Menschen“<br />

jenseits des Einflusses der katholischen Kirche zu schaffen; ihm geht es letztendlich<br />

um die kulturelle und moralische Hegemonie in der Öffentlichkeit. Aber Laizismus<br />

ist nicht gleich Laizismus. Während Izquierda Unida (IU), die Partei der Kommunisten<br />

und linken Ökologen, einen antiklerikalen „Laizismus der Exklusion“ befürwortet,<br />

ringen in der Partido Socialista Obrero Español (PSOE) zwei Tendenzen<br />

miteinander: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die einen „inklusiven Laizismus“<br />

vertreten und Christentum und Religion in das sozialistische Projekt integrieren<br />

möchten; auf der anderen Seite finden sich die Befürworter eines „Laizismus der<br />

Neutralisierung“ des religiösen Phänomens 8 . Unter Berufung auf die moralische<br />

und religiöse Veränderung der Gesellschaft in den letzten Jahren plädieren Letztere<br />

für ein Laizitäts-Statut, das die sorgfältige Trennung von Staat und Kirche/Religion<br />

im öffentlichen Raum regeln soll, sowie für ein neues Gesetz über die Religionsfreiheit.<br />

Gerade diese Tendenz scheint sich derzeit in der PSOE durchzusetzen, wie dem<br />

Manifest „Verfassung, Laizität und staatsbürgerliche Erziehung“ (Constitución,<br />

laicidad y educación para la ciudadanía) zu entnehmen ist, das die Sozialisten anläßlich<br />

des 28. Jahrestags der Verfassung am 6. Dezember 2006 verabschiedet haben 9 .<br />

Denn es bringt die Verfassung von 1978 mit der von 1931 in Zusammenhang und ist<br />

zudem von einer Hermeneutik des Verdachts gegenüber dem religiösen Phänomen<br />

geprägt, das nur in seinem „fundamentalistischen Potential“ wahrgenommen wird.<br />

Darin heißt es:<br />

„Die monotheistischen oder religiösen Fundamentalismen schaffen Grenzen unter den<br />

Bürgern. Die Laizität ist der Raum der Integration. Ohne Laizität gäbe es keine neuen Bürgerrechte,<br />

und einige Errungenschaften der Freiheit, wie die freiwillige Unterbrechung der<br />

Schwangerschaft oder die Ehe unter gleichgeschlechtlichen Personen wären noch vom Zivilrecht<br />

geahndet.“<br />

Das Verfassungsjubiläum ist nur der Vorwand für das Manifest. Die wahre<br />

Absicht besteht darin, die Einführung des neuen Pflichtfachs „Staatsbürgerliche<br />

Erziehung“ (Educación para la ciudadanía) ab dem Schuljahr 2008/09 zu einer „laizistischen“<br />

Neuinterpretation der Verfassung angesichts des gesellschaftlichen<br />

Wandels zu nutzen. Der Text besagt nämlich, daß die Verfassung mit der Neustrukturierung<br />

des Staates in „Autonome Gemeinschaften“ der territorialen Vielfalt des<br />

pluralen Spanien Rechnung getragen hat, aber daß unterdessen eine neue Form von<br />

Vielfalt eingetreten sei, die geregelt werden müsse: Da die spanische Gesellschaft<br />

201


Mariano Delgado<br />

sich durch das Migrationsphänomen in eine „multikulturelle und plurireligiöse“<br />

Gesellschaft verwandelt habe, brauche man nun eine neue Basis für die freie und<br />

plurale Ausübung des Rechts auf Gewissensfreiheit. Diese Basis soll also die Laizität<br />

sein, die als einzige „das Zusammenleben zwischen den Kulturen, Ideen und<br />

Religionen garantiert – ohne Unterordnung oder Vorrangstellung von Glaubensformen“.<br />

Was damit gemeint ist, hat die PSOE bei ihrem 37. Kongreß vom 4. bis 6. Juli 2008<br />

verdeutlicht. Unter „mehr Laizität“ wird in den Beschlüssen 10 vor allem das<br />

Zurückdrängen des Einflusses der katholischen Kirche in der Öffentlichkeit<br />

verstanden. Das anvisierte Laizitäts-Statut und die Reform des Gesetzes über die<br />

Religionsfreiheit von 1980 sollen dazu helfen, die konfessionellen Privilegien (d.h.<br />

die Vereinbarungen vom 3. Januar 1979 zwischen dem spanischen Staat und dem<br />

Heiligen Stuhl) sowie die religiösen und liturgischen (d.h. katholischen) Symbole<br />

im öffentlichen Raum und bei Staatsakten (katholische Staatsbegräbnisse, Bibel und<br />

Kruzifix beim Amtseid usw.) abzuschaffen.<br />

Eine größere Verdeutlichung der Stoßrichtung gegen die katholische Kirche gewinnt<br />

das Vorhaben der Sozialisten in den Büchern und Schriften über Laizität aus<br />

der Feder der Rechtsphilosophen, Theologen und Staatskirchenrechtler, die den<br />

„Laizismus der Neutralisierung“ befürworten. Darin wird der Verfassung von 1978<br />

und dem Gesetz über die Religionsfreiheit von 1980 vorgehalten, daß sie ein „Vertragssystem“<br />

zwischen Staat, Konfessionen und Religionen hervorgerufen haben,<br />

das Ungleichheit zwischen den Bürgern aus religiösen Gründen generiere. So sei die<br />

katholische Kirche aufgrund des „völkerrechtlichen“ Charakters der Vereinbarungen<br />

zwischen dem Staat und dem Heiligen Stuhl sowie aufgrund der Inhalte derselben<br />

in einer besseren Position als andere Konfessionen und Religionen. Eine Angleichung<br />

nach oben unter Erweiterung der „Privilegien“ der katholischen Kirche<br />

auf die anderen Konfessionen und Religionen wäre für die Laizisten keine Lösung.<br />

Denn das alte Modell, entstanden unter den Bedingungen eines konfessionellen<br />

Monokulturalismus, berücksichtige nicht den moralischen und religiösen Pluralismus<br />

und bringe die Laizität des Staates nicht deutlich zur Geltung. Heute sei ein<br />

neues Modell nötig, das die Rechtsgleichheit aller Bürger in religiösen Fragen<br />

garantiere und die Qualität der spanischen Demokratie verbessere. Dies ist auch der<br />

Tenor des jüngsten Manifestes von Peces-Barba. Nachdem er der katholischen Kirche<br />

insgesamt – nicht nur den spanischen Bischöfen – eine Leugnung der positiven<br />

Werte der Moderne und trotz „Gaudium et spes“ eine prinzipielle Unverträglichkeit<br />

mit der Demokratie vorgehalten hat, verkündet er mit einem rhetorischen<br />

Feuerwerk sein laizistisches „Non possumus“:<br />

„Wir können die Ablehnung der Laizität nicht akzeptieren. Denn diese stellt das Wesen<br />

moderner Demokratie dar und garantiert die Gleichbehandlung aller Bürger. Wir können die<br />

öffentliche Anwesenheit religiöser Symbole nicht akzeptieren, die andere Religionen diskriminieren<br />

...<br />

202


Religiöse Pluralisierung und Laizismus-Debatte in Spanien<br />

Wir können schließlich die Haltung der Kirche gegenüber der Demokratie, die sie niemals<br />

als das einzig legitime politische Regime anerkannt hat, nicht akzeptieren; auch nicht die<br />

Betrachtung des Relativismus als ein moralisches Übel, denn er ist Ausdruck der Gewissensfreiheit<br />

und des Respekts vor der Selbstbestimmung, in der die Menschenwürde besteht.<br />

Non possumus! Wir können das alles nicht akzeptieren, wenn wir uns Respekt verschaffen<br />

wollen.“ 11<br />

Die katholische Kirche<br />

Die konservative Volkspartei schweigt eher darüber – nicht zuletzt weil diese Partei,<br />

anders als die deutschen Schwesterparteien CDU/CSU, keine klassische christlich-demokratische<br />

Partei ist, sondern ein Konglomerat aus Christdemokraten,<br />

Wertkonservativen und Liberalen. Eine intellektuelle Debatte nach Art des Gesprächs<br />

zwischen Jürgen Habermas und dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger<br />

in München im Jahr 2004 über die Dialektik der Säkularisierung und die ethischen<br />

Grundlagen der Demokratie findet nicht statt. Doch bemühen sich einige Theologen<br />

und Kirchenleute in einer Flut von Literatur um eine Klärung der „gesunden<br />

Laizität“. Auch Stimmen aus dem Ausland verschaffen sich dabei Gehör. So präsentierte<br />

der venezianische Patriarch, Kardinal Angelo Scola, am 8. November 2007 in<br />

Madrid sein Werk „Una nueva laicidad. Temas para una sociedad plural“ (Eine neue<br />

Laizität. Themen für eine pluralistische Gesellschaft). Er hielt dabei fest, daß der<br />

laikale Staat nicht mit Gleichgültigkeit gegenüber den Religionen und Kulturen zu<br />

verwechseln sei. Vor allem könne dieser gegenüber den Werten der vorherrschenden<br />

Tradition, die ihn historisch geprägt hat, nicht gleichgültig bleiben, wie die allgemeine<br />

Verfassungsgeschichte zeige.<br />

Besonderer Aufmerksamkeit erfreute sich aber die kritische und rasche Antwort,<br />

die Fernando Sebastián Aguilar, der emeritierte Erzbischof von Pamplona und seit<br />

etwa 40 Jahren der beste theologische Kopf im spanischen Episkopat, auf das oben<br />

erwähnte Manifest der PSOE vom 6. Dezember 2006 gegeben hat 12 . Er weist darauf<br />

hin, daß darin jene gesunde Laizität, die als Neutralität des Staates verstanden<br />

und von der katholischen Kirche akzeptiert wird, mit einem militanten „Laizismus“<br />

verwechselt wird, der im religiösen Pluralismus nur eine Gefahr für die<br />

Demokratie sieht und so durch eine „verarmte und entstellte Sicht des religiösen<br />

Phänomens“ geprägt ist. Man scheine vorauszusetzen, daß die Religionen keine gemeinsamen<br />

sittlichen Überzeugungen zur Begründung des friedlichen Zusammenlebens<br />

der Menschen in der pluralen Gesellschaft beisteuern könnten, sondern daß<br />

sie eher Quelle von Intoleranz und Gefahren seien. Eine solche Sicht werde zumindest<br />

dem Selbstverständnis der katholischen Kirche nach dem Konzil sowie ihrer<br />

Rolle in der spanischen Gesellschaft seit 1971 (das war die Zeit, in der die Bischofskonferenz<br />

begann, sich immer kritischer über das Franco-Regime zu äußern und<br />

203


Mariano Delgado<br />

die demokratischen Bestrebungen zu fördern) nicht gerecht. Darüber hinaus sei<br />

fraglich, ob der Anspruch auf moralische Gewissensbildung, den das Manifest und<br />

das neue Schulfach erheben, mit der Verfassung von 1978 konform sei. Alles in allem,<br />

so Sebastián Aguilar, scheine es, daß die PSOE mit einem solchen Manifest eher<br />

an die Verfassung von 1931 denn an die von 1978 anknüpfen möchte.<br />

Ob die Befürworter eines militanten Laizismus sich bei der PSOE durchsetzen<br />

werden, ist noch offen. In der PSOE sind nämlich auch viele Katholiken engagiert,<br />

die den „Laizismus der Inklusion“ vertreten und die Kirche im Dorf lassen wollen.<br />

Manchmal hat es den Anschein, daß die Parteistrategen unter Rodríguez Zapatero<br />

den „Laizismus der Neutralisierung“ wie ein rotes Tuch aus wahltaktischen Gründen<br />

gezielt schwingen: damit die katholische Kirche und das konservative Lager wie<br />

ein wütender Stier auf die Straße gehen und bei den Wählern das Gespenst einer intoleranten<br />

Rekatholisierung Spaniens wie in der Franco-Zeit geweckt werden kann.<br />

Andere Konfessionen und Religionen<br />

Den anderen Konfessionen und Religionen ist die Klage gegen die „privilegierte“<br />

Stellung der katholischen Kirche gemeinsam. Die Lösung sehen sie aber nicht in der<br />

radikalen Laizität, sondern in einer Angleichung ihrer Vereinbarungen mit dem<br />

spanischen Staat nach oben, um eine Gleichstellung mit der katholischen Kirche zu<br />

erreichen. Sieht man genauer hin, so merkt man auch einige Unterschiede in der<br />

Wahrnehmung der religiösen Lage Spaniens.<br />

1. Die Protestanten: Ihre Zahl nimmt erst seit dem Gesetz über die Religionsfreiheit<br />

von 1967 deutlich zu, sie sind aber seit der Abschaffung der Inquisition 1834<br />

präsent und halten sich für die größte religiöse Minderheit des Landes mit einer<br />

globalen Schätzung von gut einer Million Mitgliedern. Der Bund Evangelischer<br />

Glaubensgemeinschaften Spaniens (FEREDE) mit seinen über 2000 Gemeinden<br />

umfaßt aber lediglich ca. 400 000 Mitglieder; d.h. daß die meisten Protestanten – vor<br />

allem freikirchlicher und evangelikaler Herkunft – in der FEREDE nicht integriert<br />

sind und auch keine Vereinbarungen mit dem Staat haben. Zulauf bekommen letztere<br />

vor allem durch die vielen Einwanderer aus Lateinamerika.<br />

Die FEREDE beklagt, daß weder die Verfassung von 1978 noch das Gesetz über<br />

die Religionsfreiheit von 1980 ein egalitäres System ermöglicht haben. Die Ungleichbehandlung<br />

oder gar Diskriminierung von Protestanten konnte für sie<br />

aufgrund folgender Hindernisse nicht behoben werden: Zum einen mangelt es am<br />

politischen Willen, die im Gesetz über die Religionsfreiheit vorgesehenen und 1992<br />

abgeschlossenen Vereinbarungen mit Leben zu füllen und denen mit der katholischen<br />

Kirche inhaltlich anzupassen; zum anderen stelle die völkerrechtliche Geltung<br />

der Vereinbarungen mit dem Heiligen Stuhl eine unzulässige Privilegierung<br />

der katholischen Kirche dar, so daß in Spanien de facto der konfessionelle Staat wei-<br />

204


Religiöse Pluralisierung und Laizismus-Debatte in Spanien<br />

ter existiere. Die Protestanten wundern sich darüber, daß – angesichts der Migrationsbewegungen<br />

und der fortschreitenden Säkularisierung – der Staat eine Änderung<br />

oder Kündigung besagter Vereinbarungen noch nicht intendiert habe 13 .<br />

Dieser antikatholische Affekt in vielen Stellungnahmen spanischer Protestanten ist<br />

wohl ein Zeichen dafür, daß historische Verletzungen immer noch eine Rolle spielen<br />

und der ökumenische Dialog mit der katholischen Kirche verbesserungsbedürftig<br />

ist.<br />

2. Die Juden: Im Bund Jüdischer Gemeinden Spaniens sind derzeit ca. 20000 Juden<br />

traditioneller oder orthodoxer Gemeinden eingetragen, von denen die größten<br />

sich in Madrid, Barcelona und an der Costa del Sol (Málaga) befinden. Man nimmt<br />

aber an, daß es mindestens weitere 20000 residierende Juden in Spanien gibt, die religiös<br />

nicht organisiert sind. Unter den eingetragenen Juden sind die meisten in den<br />

letzten Jahrzehnten aus Marokko und Argentinien gekommen. Im Schatten des Ersten<br />

Weltkriegs etablierte sich auch eine jüdische Diaspora in Spanien, so daß beim<br />

Ausbruch des Bürgerkriegs 1936 ca. 6000 Juden vor allem in Barcelona lebten. Die<br />

erste Phase des Franco-Regimes (1939–1945) war durch eine paradoxe Judenpolitik<br />

gekennzeichnet: Einerseits waren die in Spanien verbliebenen Juden gezwungen,<br />

ihre Religion im Untergrund zu praktizieren, andererseits verhalf der Franco-Staat<br />

mit spanischen Pässen Tausenden von Juden aus Ungarn und dem Balkan zur<br />

Flucht nach Lateinamerika; allein in Budapest wurden 3000 Juden, gleich ob sie<br />

spanischer Herkunft waren oder nicht, vor dem Nazi-Zugriff gerettet. Wie andere<br />

religiöse Minderheiten auch, so haben die Juden in Spanien den Weg von der Exklusion<br />

zur Toleranz und dann zur Religionsfreiheit beschritten.<br />

Im allgemeinen sind die Juden gegenüber der katholischen Kirche eher versöhnlich<br />

eingestellt. Sie erkennen zum Beispiel an, daß sich diese mit dem Zweiten<br />

Vatikanum grundlegend gewandelt hat. Gleichwohl beklagen sie, daß das bestehende<br />

Vertragssystem zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften das<br />

Prinzip der Gleichbehandlung verletze. Zugleich plädiert der Bund Jüdischer<br />

Gemeinden nicht für eine automatische Angleichung nach oben, sondern für eine<br />

differenzierte Gleichbehandlung nach dem Prinzip: Jeder bekommt das, was ihm<br />

nach dem Gesetz zusteht. Ein neues Gesetz über die Religionsfreiheit sei fraglich,<br />

weil heute (anders als 1980) der nötige Konsens zwischen den großen Volksparteien<br />

fehle. Aus jüdischer Sicht genüge es, wenn der Rahmen des bestehenden Gesetzes<br />

und der Vereinbarungen von 1992 voll ausgeschöpft werde.<br />

Der Bund Jüdischer Gemeinden gibt auch dem Staat und den Laizisten zu bedenken,<br />

daß zur Regelung der religiösen Frage Kooperationsmodelle besser als die<br />

radikalen Trennungsmodelle seien, ja, daß selbst Frankreich, dessen Gesetz von<br />

1905 als Paradigma der radikalen Trennung gelte, in den letzten Jahren die Kooperation<br />

und die positive Laizität betone. Die Lösung der religiösen Frage hängt aber<br />

nicht nur von der Haltung des Staates und der kleinen Religionsgemeinschaften ab,<br />

sondern wesentlich auch von einem Umdenken in der katholischen Kirche als der<br />

205


Mariano Delgado<br />

Mehrheitskonfession: Es sei sehr traurig, daß das linke Lager und die katholische<br />

Kirche noch „wie im 19. Jahrhundert“ miteinander fechten 14 . Zwischen den Zeilen<br />

wünschen sich die Juden weniger militanten Laizismus seitens der sozialistischen<br />

Regierung und weiter, daß die katholische Kirche nicht nur an die Regelung ihrer<br />

„Sache“ mit dem Staat denkt, sondern auch daß sie den religiösen Pluralismus positiv<br />

wertet und eine advokatorische Aufgabe für die anderen Konfessionen und<br />

Religionsgemeinschaften wahrnimmt.<br />

3. Die Muslime: Derzeit gibt es in Spanien etwa eine Million Muslime. Die Hälfte<br />

davon sind Ausländer, zumeist aus Marokko und Algerien. Unter den „Spaniern“<br />

sind die meisten eingebürgerte Einwanderer seit Ende des Bürgerkriegs oder deren<br />

Nachfahren. Ca. 16000 sind aber herkömmliche Spanier, die sich zum Islam als der<br />

„eigentlichen“ Religion Spaniens zurückbekehrt haben 15 . Sie tragen dann arabische<br />

Vornamen und spanische Familiennamen. Als „Conversos“ sind viele von einem<br />

antikatholischen Affekt geprägt. Die Islamische Kommission Spaniens ist die vom<br />

Staat offiziell anerkannte Vertretung der Muslime. Sie entstand 1992 als Dachverband<br />

der ansonsten recht unterschiedlichen Federación Española de Entidades<br />

Religiosas Islámicas und der Unión de Comunidades Islámicas de España.<br />

Die Muslime der Unión werten die Vereinbarungen von 1992 grundsätzlich positiv,<br />

denn sie seien in Europa einzigartig. Ebenso schätzen sie die Zusammenarbeit<br />

mit der Bischofskonferenz in Migrationsfragen und die wissenschaftlichen Kongresse,<br />

die sich mit der Rolle der drei abrahamischen Monotheismen in Spaniens<br />

Geschichte und Gegenwart befassen. Positiv bewertet wird die zunehmende politische<br />

und mediale Aufmerksamkeit für den Islam. Bedauert werden hingegen die<br />

Vorurteile, die nach wie vor bestehen und zum Teil auch geschürt werden, sowie<br />

daß in manchen Bereichen (sozialer Dialog, Moscheen und Friedhöfe, Imame, Religionslehrer,<br />

Familie, Arbeitswelt, kulturelles Erbe, finanzielle Unterstützung)<br />

noch viel zu tun ist.<br />

Aus der Sicht der Federación mangelt es – vor allem während der konservativen<br />

Regierung zwischen 1996 und 2004 – an politischem Willen, die Vereinbarungen<br />

von 1992 inhaltlich zu füllen und sie den Vereinbarungen mit der katholischen Kirche<br />

anzupassen. Von der sozialistischen Regierung erwartet man ein Entgegenkommen<br />

in zwei wichtigen Forderungen: Anerkennung des islamischen Familienrechts<br />

einschließlich der Polygamie; denn es sei nicht einzusehen, warum diese<br />

Familienform rechtlich nicht anerkannt werden soll, während man dies mit der<br />

gleichgeschlechtlichen Ehe getan habe. Die zweite Forderung betrifft die Pflege des<br />

islamischen Kulturerbes einschließlich der Rückgabe der Moschee von Córdoba 16 .<br />

Die Muslime Spaniens sehen keinen Widerspruch darin, daß sie einerseits das<br />

Scharia-Recht und damit den „konfessionellen Staat“ für die islamische Welt befürworten<br />

(auch für Spanien und Europa, wenn sie eines Tages die Mehrheit sein<br />

sollten), während sie sich anderseits auf die Laizität des Staates berufen, um die privilegierte<br />

Stellung der katholischen Kirche zu beklagen und ihren eigenen Einfluß<br />

206


Religiöse Pluralisierung und Laizismus-Debatte in Spanien<br />

in der Öffentlichkeit zu stärken. Außerdem sehen sie keinen Widerspruch darin,<br />

daß sie der katholischen Seite Missionseifer oder die Besetzung des öffentlichen<br />

Raums mit ihrer Symbolik vorwerfen, während sie von der spirituellen Leere des<br />

säkularisierten Spaniens bzw. Europas sprechen und den Islam und seine Lebensform<br />

als die Lösung propagieren. Die meisten Muslime, die in den letzten Jahren<br />

nach Spanien eingewandert sind, sind in den zwei genannten Vereinigungen gar<br />

nicht integriert. Sie bestreiten deren Repräsentativität.<br />

Kirche und religiöse Pluralisierung unter den Bedingungen der Moderne<br />

Spanien ist in den letzten Jahrzehnten plurireligiöser geworden. Zu den genannten<br />

Glaubensgemeinschaften wären noch die Orthodoxen zu rechnen, die ca. 800000<br />

zählen und vor allem rumänische Einwanderer sind. Doch dies ist erst ein Phänomen<br />

des letzten Jahrzehnts, das noch der religionsrechtlichen Gestaltung harrt. Das<br />

spanische System der öffentlich-rechtlichen Anerkennung kennt im übrigen viel<br />

weniger Hürden als das deutsche oder das schweizerische: Es genügt, die Eintragung<br />

als religiöse Vereinigung in das entsprechende Register des Justizministeriums<br />

vorzunehmen, die „notorische Verwurzelung“ der Glaubensgemeinschaft in<br />

Spanien nachzuweisen und eine Rechtspersönlichkeit als Ansprechpartner ins<br />

Leben zu rufen. Daß die „notorische Verwurzelung“ sehr flexibel gehandhabt wird,<br />

zeigt sich nicht zuletzt daran, daß Scientology dabei ist, dieses Prädikat zu erreichen.<br />

Vielleicht sollte man auch in Spanien über verschiedene Anerkennungs- und<br />

Vereinbarungsmodelle nachdenken, je nach den Bedürfnissen und dem Grad der<br />

„notorischen Verwurzelung“ der jeweiligen Glaubensgemeinschaften.<br />

Für die katholische Kirche stellen die religiöse Pluralisierung auf der einen Seite<br />

und die radikal-laizistischen Tendenzen in der PSOE auf der anderen Seite eine<br />

große Herausforderung dar. Diese betrifft ihre Rolle in der Öffentlichkeit, aber<br />

auch ihr interreligiöses Engagement.<br />

Was Ersteres angeht, so bläst der Kirche derzeit seitens der PSOE, die sich darin<br />

– zumindest im Hinblick auf die Infragestellung der Rolle der Kirche im öffentlichen<br />

Raum – von Teilen der Protestanten und der Muslime unterstützt weiß, ein eisiger<br />

Wind ins Gesicht. Aber beide Seiten täten gut daran, sich um eine sachliche,<br />

entideologisierte und selbstkritische Annäherung auf dem Boden der Laizität der<br />

Moderne zu bemühen: die katholische Kirche, weil sie bis in die jüngste Vergangenheit<br />

Spaniens hinein mit Andersdenkenden wenig duldsam war und ihre Monopolstellung<br />

zum eigenen Vorteil ausnutzte; die Sozialisten, weil sie aus ihrer eigenen<br />

Parteigeschichte und dem Antiklerikalismus in der Zweiten Republik die Lehren<br />

ziehen sollten. Zudem ist die radikale Verdrängung religiöser Symbole aus dem<br />

öffentlichen Raum in einem Land, in dem der Katholizismus auch „Kultur“ und<br />

„Lebensform“ geworden ist, ein riskantes Unternehmen.<br />

207


Mariano Delgado<br />

Im allgemeinen scheinen die Bischöfe, die bei der Krönungsmesse für König Juan<br />

Carlos am 27. November 1975 durch den Mund des Madrider Kardinals Vicente<br />

Enrique y Tarancón bekanntlich um keinerlei Privileg baten, sondern lediglich „um<br />

das Recht, das ganze Evangelium zu verkünden“ 17 , im Laizismus die Wurzel aller<br />

Übel zu sehen, statt sich vorrangig mit den eigenen Versäumnissen als Ursache der<br />

Relevanz- und Identitätskrise der katholischen Kirche unter den Bedingungen der<br />

Moderne zu beschäftigen. Am 29. November 2006 geißelte die Bischofskonferenz<br />

in einer Instruktion mit dem Titel „Moralische Orientierungen angesichts der jetzigen<br />

Lage in Spanien“ (Orientaciones morales ante la situación actual de España) erneut<br />

die „starke Laizismuswelle“; sie sei dabei, eine Gesellschaft zu prägen, die „den<br />

fundamentalen Werten“ der spanischen Kultur radikal widerspricht 18 .<br />

So findet derzeit in Spanien ein „ideologischer Bürgerkrieg“ statt 19 . Auf der einen<br />

Seite stehen diejenigen, die unter Trennung von Kirche und Staat oder konfessioneller<br />

Neutralität des Staates nicht primär die Gewährleistung und Förderung der Religionsfreiheit<br />

verstehen, sondern eher die Verbreitung eines militanten Laizismus, der<br />

dem religiösen Phänomen mit Mißtrauen begegnet und unter Berufung auf die plurireligiöse<br />

Gesellschaftssituation die historisch gewachsene öffentliche Relevanz der<br />

katholischen Kirche in Frage stellt. Auf der anderen Seite stehen feuereifrige Katholiken,<br />

die den Kampf gegen den Laizismus mit einer ähnlichen Militanz aufgenommen<br />

haben, indem sie ihm Materialismus und Sittenlosigkeit vorwerfen. Hier helfen<br />

weder Konfrontation noch „Belehrung“, sondern nur das kluge diskursive Eintreten<br />

für eine gesunde Laizität auf dem Boden der Religionsfreiheit, wie dies nicht zuletzt<br />

Papst Benedikt XVI. bei seiner Frankreichreise im September 2008 getan hat. Beruhigend<br />

wirkt die Erklärung von Ministerpräsident Rodríguez Zapatero, daß eine<br />

Kündigung der völkerrechtlichen Vereinbarungen mit dem Heiligen Stuhl von 1979<br />

„derzeit“ nicht in Frage kommt. Der Madrider Kardinal und neue Präsident der spanischen<br />

Bischofskonferenz, Antonio María Rouco Varela, hat gleich nach seiner Wahl<br />

im März 2008 der Regierung „Zusammenarbeit“ für das Gemeinwohl signalisiert.<br />

Neuerdings gibt er zu, daß die Staat-Kirche-Beziehungen besser als in Frankreich<br />

sind, wenn auch nicht so gut wie „im beneidenswerten Deutschland“ 20 .<br />

Was das interreligiöse Engagement betrifft, so braucht die katholische Kirche in<br />

Spanien zumindest mehr Sensibilität. Sie ist auf dem Weg dazu. Um nur ein Beispiel<br />

zu nennen: Als nach dem Attentat vom 11. März 2004 ein katholisches „Staatsbegräbnis“<br />

in der Madrider Kathedrale gefeiert wurde, obwohl viele Opfer anderen<br />

Konfessionen und Religionen angehörten, haben deren Vertreter – vor allem Protestanten<br />

und Muslime – Staat und Kirche mangelndes Gespür vorgeworfen. Auch im<br />

Vorfeld des katholischen „Staatsbegräbnisses“ für die Opfer des Flugzeugunglücks<br />

vom 20. August 2008 hagelte es Kritik. Radikale Laizisten befürworteten eine Abschaffung<br />

der Staatsbegräbnisse und deren Ersetzung durch rein zivile Staatsakte.<br />

Andere, wie die Protestanten, beklagten vor allem, daß sie nicht daran beteiligt<br />

wären, obwohl ein Opfer evangelischer Pastor war. Sie drohten sogar mit einem<br />

208


Religiöse Pluralisierung und Laizismus-Debatte in Spanien<br />

Protest beim Europäischen Gerichtshof wegen Menschenrechtsverletzung. Am<br />

Ende blieb dies ein Sturm im Wasserglas. Der Madrider Kardinal lud einen Vertreter<br />

des Evangelischen Bundes ein, am Ende der Messe einige Worte an die Anwesenden<br />

zu richten. Dieser war sichtlich zufrieden, daß er eine kurze Rede halten und<br />

seinen Segen erteilen konnte, weshalb er sich beim Kardinal für die ökumenische<br />

Gastfreundschaft ausdrücklich bedankte.<br />

Dies ist sicherlich erst der Anfang einer Entwicklung, an der sich die katholische<br />

Kirche wird gewöhnen müssen: die Teilung des öffentlichen Raums und der Staatsakte<br />

mit den Vertretern anderer Konfessionen und Religionen. Nur so kann sie<br />

schließlich diesen und den Befürwortern eines „Laizismus der Inklusion“ in der<br />

PSOE entgegenkommen und so auch ihre eigene Rolle in der Öffentlichkeit indirekt<br />

verteidigen.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Vgl. 21RS. La revista cristiana de hoy, Nr. 890 (Juli 2006) 28f.<br />

2 Vgl. das Ergebnis der CIS-Umfrage in: www.cis.es/cis/opencms/–Archivos/Marginales/2760_2779/<br />

2769/e276900.html (Stand: 25.9.2008); zur katholischen Kirche vgl. La Iglesia Católica en España. Estadística.<br />

Edición 2007, hg. v. J. D. Rojas (Madrid 2007).<br />

3 M. Azaña, Obras completas, Bd. 2 (México 1966) 51f.<br />

4 R. García y García de Castro, Menéndez Pelayo y su „Historia de los heterodoxos Españoles“, in:<br />

M. Menéndez Pelayo, Historia de los heterodoxos Españoles, Bd. 2 (Madrid 1987) 1041–1064,1061f.<br />

5 S. de Madariaga, España. Ensayo de historia contemporánea (Madrid 141979) 333f.<br />

6 F. Cavalli, La Condizione dei Protestanti in Spagna, in: CivCatt 99 (1948) Bd. 2,33.<br />

7 Vgl. Wortlaut des Gesetzes in: www.ferede.org/pdf/norm2.pdf (Stand 10.12.2008).<br />

8 Vgl. R. Díaz-Salazar, España laica (Madrid 2007) 141–149.<br />

9 Vgl. offizielle Homepage der PSOE: www.psoe.es/ambito/brunete/news/index. do?action=view&id=<br />

99149 (Stand: 10.12.2008).<br />

10 Vgl. ebd: www.psoe.es/ambito/saladeprensa/docs/index.do?action=View&id=205507 (Stand: 10.12.<br />

2008).<br />

11 G. Peces-Barba, Versión laica del „non possumus“, in: El País, 15.8.2008.<br />

12 Vgl. Homepage der spanischen Bischofskonferenz: www.conferenciaepiscopal.es/obispos/autores/<br />

sebastianaguilar/11.htm (Stand: 10. 12. 2008).<br />

13 S. Grau Beltrán, El Protestantismo en España, situación actual, in: La nueva realidad religiosa española:<br />

25 años de la Ley Orgánica de Libertad Religiosa (Madrid 2006) 71–112,93.<br />

14 Vgl. A. Benasuly, Los judíos en la España contemporánea, in: La nueva realidad religiosa (A. 13) 113–<br />

129,124,129.<br />

15 R. Tatary Bakry, El Islam en España, in: ebd. 131–157,132–139.<br />

16 Vgl. M. Escudero, El Islam, hoy en España, in: ebd. 159–196,170–175.<br />

17 J. Andrés-Gallego u. A. M. Pazos, La Iglesia en la España contemporánea, Bd. 2 (Madrid 1999) 208.<br />

18 Vgl. Conferencia Episcopal Española, Orientaciones morales ante la situación actual de España, in:<br />

Vida Nueva, Nr. 2545 (9.12.2006) 23–38,24–27,34–37.<br />

19 Vgl. L. Siedentop, La guerra civil de Europa, in: ABC, 22.4.2008,3.<br />

20 Vgl. www.periodistadigital.com/religion/object.php?o=990278 (Stand: 10.12.2008).<br />

209


Weltjugendtag<br />

Licht und Schatten<br />

Die katholische Kirche in Spanien vor dem Weltjugendtag<br />

Während Johannes Paul II., der größte Freund der spanischen<br />

Mystik auf dem Stuhl Petri, in seinem langen Pontifikat fünf<br />

Spanienreisen unternahm, wird Benedikt XVI. nach 2006 (V.<br />

Welttreffen der Familien in<br />

Mariano Delgado (geb. 1955<br />

in Berrueces/Valladolid),<br />

1985 Promotion zum<br />

Dr. theol. (Innsbruck); 1994<br />

Promotion zum Dr. phil.<br />

(Berlin); 1995 Habilitation an<br />

der Theo logischen Fakultät<br />

der Universität Innsbruck;<br />

seit 1997 Professor für<br />

Mittlere und Neuere Kirchengeschichte<br />

an der Universität<br />

Freiburg (Schweiz).<br />

Zum bevorstehenden Weltjugendtag wird Benedikt XVI. erneut Spanien besuchen.<br />

Er trifft dort auf eine katholische Kirche, die im Dauerclinch mit der sozialistischen<br />

Regierung liegt und besonders massiv auf einen Kurs der Neuevangelisierung setzt.<br />

Spanien ist inzwischen ein stark säkularisiertes, religiös pluralistisches Land.<br />

Valencia) und 2010 (Feier<br />

des Jakobsjahres in Santiago,<br />

Einweihung der Gaudí-Basilika<br />

Sagrada Familia in Barcelona)<br />

im August 2011 (XIV.<br />

Weltjugendtag in Madrid)<br />

bereits zum dritten Male Spanien<br />

besuchen. Dies hat nicht<br />

nur mit den erwähnten<br />

kirchlichen Ereignissen zu<br />

tun, sondern auch mit seiner<br />

Überzeugung, dass Spanien<br />

ein besonders paradigmati-<br />

scher Schauplatz für die moderne Auseinandersetzung zwischen<br />

Laizität beziehungsweise Relativismus und dem christlichen<br />

Glauben geworden ist.<br />

Am 6. November 2010, unterwegs nach Santiago de Compostela,<br />

sagte er im Flugzeug: „Spanien ist seit jeher eines der ,Ursprungsländer‘<br />

des Glaubens; denken wir nur daran, dass das<br />

Wiedererstehen des Glaubens in der modernen Zeit vor allem<br />

Spanien zu verdanken ist (…) Es ist aber ebenso wahr, dass in<br />

Spanien auch eine Laizität, ein Antiklerikalismus, ein starker<br />

und aggressiver Säkularismus entstanden ist, wie wir es insbesondere<br />

in den dreißiger Jahren gesehen haben, und diese Auseinandersetzung,<br />

oder eher dieser Zusammenprall zwischen<br />

Glaube und Moderne, die beide sehr lebendig sind, ist auch in<br />

der gegenwärtigen Zeit in Spanien festzustellen: die Zukunft des<br />

Glaubens und der Begegnung, nicht der Konfrontation, sondern<br />

der Begegnung zwischen Glaube und Laizität hat daher auch gerade<br />

in der spanischen Kultur einen ihrer zentralen Punkte.“<br />

Diese Worte entfachten zunächst in der regierungsnahen<br />

Presse (etwa „El País“) einen Sturm der Entrüstung. Der Vergleich<br />

mit den dreißiger Jahren wurde als unangebracht bezeichnet.<br />

Man erinnerte den Papst daran, dass in Spanien derzeit<br />

keine Kirchen in Brand gesetzt und keine Kirchenvertreter<br />

verfolgt werden. Der spanische Ministerpräsident José Luis Rodríguez<br />

Zapatero sagte sogar, dass in keinem Land Europas es<br />

der Kirche besser ginge als in Spanien. Aber die Diagnose des<br />

Papstes hat einen Wahrheitskern: In keinem anderen Land Europas<br />

wird um die Laizität des Staates so intensiv und ideologisch<br />

gestritten wie eben in Spanien seit der Wahl Zapateros<br />

im Frühjahr 2004. Fernando Sebastián Aguilar, emeritierter<br />

Erzbischof von Pamplona und einer der klügsten und moderatesten<br />

Köpfe des spanischen Episkopats seit dem Konzil, hat es<br />

so ausgedrückt: „Wir gehen dem Verschwinden der gegenwär-<br />

398 Herder Korrespondenz 65 8/2011


tigen spanischen Gesellschaft und der Vernichtung unserer<br />

historischen und kulturellen Identität mit der entschlossenen<br />

Kollaboration dieser Regierung entgegen (…) Die politische<br />

Macht ist dabei, uns eine andere Kultur aufzuerlegen.“<br />

In der Tat wird Zapatero vor allem durch seine Massnahmen<br />

zur Umwandlung der traditionellen Werte in Erinnerung bleiben:<br />

Das Gesetz zur Anerkennung der gleichgeschlechtlichen<br />

Ehe einschliesslich des Adoptionsrechts gehört zu den progressivsten<br />

der Welt; dasselbe gilt für die „Expressscheidung“ nach<br />

dreimonatiger Trennung ohne Angabe von Gründen und für<br />

die Liberalisierung der Abtreibung, die nunmehr als „Recht“<br />

und nicht als unter besonderen Bedingungen straffreies Übel<br />

verstanden wird. Dass Zapatero in der Debatte um die Laizität<br />

nicht so weit gegangen ist, wie ursprünglich intendiert, hängt<br />

nur mit seinem realpolitischen Instinkt zusammen.<br />

Mit Zapatero kam jener Teil der spanischen Linken an die<br />

Macht, der seit dem 19. Jahrhundert durch ethischen Relativismus<br />

sowie durch den Versuch, einen „neuen Menschen“ jenseits<br />

des Einflusses der katholischen Kirche zu schaffen, geprägt<br />

ist; es geht letztendlich um die kulturelle und moralische<br />

Hegemonie in der Öffentlichkeit, um die Kulturrevolution. In<br />

Spanien nennt man diesen utopischen Sozialismus nach dem<br />

deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause (gestorben<br />

1832) „krausismo“.<br />

Aber in der sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) ringen zwei<br />

Konzepte der Laizität miteinander: Auf der einen Seite stehen<br />

diejenigen, die einen „inklusiven Laizismus“ vertreten und<br />

Christen in das sozialistische Projekt integrieren möchten; auf<br />

der anderen Seite finden sich die Befürworter eines „Laizismus<br />

der Neutralisierung“ und gar der „Exklusion“ des religiösen<br />

Phänomens. Unter Berufung auf die moralische und religiöse<br />

Veränderung der Gesellschaft in den letzten Jahren plädieren<br />

Letztere für ein Laizitäts-Statut, das die sorgfältige Trennung<br />

von Staat und Kirche/Religion im öffentlichen Raum regeln<br />

soll, sowie für ein neues Gesetz über die Religionsfreiheit.<br />

Gerade diese Tendenz setzte sich zunächst in der PSOE durch,<br />

wie aus dem Manifest „Verfassung, Laizität und staatsbürgerliche<br />

Erziehung“ (Constitución, laicidad y educación para la<br />

ciudadanía) zu entnehmen ist, das die Sozialisten anlässlich<br />

des 28. Jahrestags der Verfassung am 6. Dezember 2006 verabschiedet<br />

haben. Denn es bringt die Religionspolitik der Verfassung<br />

von 1978 mit der von 1931 in Zusammenhang und ist<br />

zudem von einer Hermeneutik des Verdachts gegenüber dem<br />

religiösen Phänomen geprägt, das nur in seinem „fundamentalistischen<br />

Potenzial“ wahrgenommen wird. Darin heißt es<br />

beispielsweise: „Die monotheistischen oder religiösen Fundamentalismen<br />

schaffen Grenzen unter den Bürgern. Die Laizität<br />

ist der Raum der Integration. Ohne Laizität gäbe es keine<br />

neuen Bürgerrechte, und einige Errungenschaften der Freiheit,<br />

wie die freiwillige Unterbrechung der Schwangerschaft<br />

oder die Ehe unter gleichgeschlechtlichen Personen wären<br />

noch vom Zivilrecht geahndet.“<br />

Weltjugendtag<br />

Das Verfassungsjubiläum war nur der Vorwand für das Manifest.<br />

Die wahre Absicht bestand darin, die Einführung des<br />

neuen Pflichtfaches „Staatsbürgerliche Erziehung“ (Educación<br />

para la ciudadanía) ab dem Schuljahr 2008–2009 zu einer<br />

„laizistischen“ Neuinterpretation der Verfassung angesichts<br />

des gesellschaftlichen Wandels zu nutzen. Der Text sagt nämlich,<br />

dass die Verfassung mit der Neustrukturierung des Staates<br />

in „Autonome Gemeinschaften“ der territorialen Vielfalt<br />

des pluralen Spanien Rechnung getragen habe, aber dass unterdessen<br />

eine neue Form von Vielfalt eingetreten sei, die geregelt<br />

werden müsse: Da die spanische Gesellschaft sich durch<br />

das Migrationsphänomen in eine „multikulturelle und plurireligiöse“<br />

Gesellschaft verwandelt habe, brauche man nun eine<br />

neue Basis für die freie und plurale Ausübung des Rechtes auf<br />

Gewissensfreiheit.<br />

Was damit gemeint ist, hat die PSOE bei ihrem 37. Kongress<br />

vom 4. bis 6. Juli 2008 verdeutlicht. Unter „mehr Laizität“ wird<br />

in den Beschlüssen vor allem das Zurückdrängen des Einflusses<br />

der katholischen Kirche in der Öffentlichkeit verstanden.<br />

Das anvisierte Laizitäts-Statut und die Reform des Gesetzes<br />

über die Religionsfreiheit von 1980 sollen dazu helfen, der religiösen<br />

Pluralisierung der Gesellschaft besser Rechnung zu<br />

tragen, aber auch die konfessionellen Privilegien (also die vier<br />

Vereinbarungen von 3. Januar 1979 zwischen dem spanischen<br />

Staat und dem Heiligen Stuhl betreffend juristische, Unterrichts-,<br />

Kultur- und finanzielle Fragen und schließlich die<br />

Seelsorge in den Streitkräften) sowie die religiösen und liturgischen<br />

(katholischen) Symbole im öffentlichen Raum und bei<br />

den Staatsakten (katholische Staatsbegräbnisse, Bibel und<br />

Kruzifix beim Amtseid und anderem) abzuschaffen.<br />

Kompromisse mit der sozialistischen Regierung<br />

Doch obwohl José María Contreras Mazarío, Professor für<br />

Staatskirchenrecht an einer Madrider Universität und Generaldirektor<br />

für die Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften<br />

im Innenministerium, im April 2010 davon überzeugt war,<br />

dass der von ihm erarbeitete Entwurf zum neuen Gesetz über<br />

die Religionsfreiheit, eine der erklärten Prioritäten Zapateros<br />

in seiner zweiten Legislaturperiode, demnächst im Parlament<br />

diskutiert werden sollte, blieb dieser bisher in der Schublade.<br />

Am 10. Juni 2010 besuchte Zapatero erstmals den Vatikan und<br />

teilte dort dem Papst persönlich mit, dass es vorerst kein neues<br />

Gesetz über die Religionsfreiheit geben werde; ebenso wenig<br />

wolle man die völkerrechtlichen Vereinbarungen von 1979<br />

kündigen. Stattdessen werde man eine Institution zur Pflege<br />

des religiösen Pluralismus schaffen.<br />

Die Befürworter eines militanten Laizismus, die eher an die<br />

Verfassung von 1931 denn an die von 1978 anknüpfen möchten,<br />

konnten sich in der PSOE also nicht durchsetzen. Es hat<br />

auch manchmal den Anschein, dass die Parteistrategen unter<br />

Zapatero die Debatte um die Laizität (oder andere Themen kul-<br />

Herder Korrespondenz 65 8/2011 399


Weltjugendtag<br />

turrevolutionärer Art wie neuerdings der Entwurf eines Gesetzes<br />

„über den würdigen Tod“, der vor wenigen Tagen angesichts<br />

des Machtverlustes Zapateros an der ersten Hürde im Parlament<br />

scheiterte) wie ein rotes Tuch aus wahltaktischen Gründen<br />

gezielt schwingen: damit die katholische Kirche und das<br />

konservative Lager wie ein wütender Stier auf die Straße gehen<br />

und bei den Wählern das Gespenst einer intoleranten Rekatholisierung<br />

Spaniens wie in der Francozeit geweckt werden kann.<br />

Der Kirche ist unter Zapatero gelungen, einen tragfähigen<br />

Kompromiss in Sachen Finanzierung zu erreichen. In Spanien<br />

gilt seit der Vereinbarung von 1979 über finanzielle Fragen das<br />

so genannte italienische Modell: Bei der Steuererklärung können<br />

die Steuerzahler einen kleinen Anteil von 0,5 Prozent ihrer<br />

normalen Steuerlast für bestimmte soziale Zwecke umwidmen,<br />

auch für die Kirche. 1979 hatte sich der Staat verpflichtet,<br />

die Differenz zur früheren Dotation unter Franco zunächst für<br />

drei Jahre zu übernehmen, während die Kirche sich bereit erklärte,<br />

„von sich aus ausreichende Einkünfte für ihre Bedürfnisse<br />

anzustreben“. Aus den drei Jahren wurde quasi ein Dauerzustand,<br />

weil die Einkünfte aus den 0,5 Prozent nicht<br />

ausreichten und keine Regierung sich traute, die Kirche zu einer<br />

kompromissfähigen Lösung zu drängen. Zapatero und die<br />

Kirche waren – aus jeweils verschiedenen Gründen – bestrebt,<br />

die staatliche Dotation zu beenden.<br />

Als die Kirche vorschlug, sie sei zum Verzicht auf diese bereit,<br />

wenn man den Wahl-Anteil bei der Steuerklärung auf mindes-<br />

tens 0,7 Prozent erhöhe, war man sich schnell einig: so muss<br />

die PSOE ihren laizistischen Wählern nicht erklären, warum<br />

der Staat noch die Kirche finanziell unterstütze, und diese wird<br />

ihrerseits vom Staat unabhängiger. Lediglich etwa 35 Prozent<br />

der Steuerzahler denken bei ihrer Steuererklärung an die Kirche:<br />

das sind derzeit etwa sieben Millionen bei einer erfreulichen<br />

Zunahme von 800 000 Personen in den letzten drei Jahren.<br />

Die damit erreichten 250 Millionen Euro machen etwa 25<br />

Prozent des Finanzierungsbedarfs der Kirche aus. Der Rest<br />

kommt aus den Kollekten und anderen privaten Quellen.<br />

In der Wahrnehmung der Menschen gilt die Kirche als eine<br />

reiche Institution, mit viel Prunk, Grundstücken und Immobilien.<br />

Ihre soziale Nützlichkeit muss immer wieder in Erinnerung<br />

gerufen werden. Alljährlich führt die Kirche Werbekampagnen<br />

durch, um die Steuerzahler zu motivieren: „Fülle das<br />

X für die Kirche in der Steuererklärung aus“, oder „Die Kirche<br />

leistet für die Gesellschaft viel mehr, als sie von den Steuern<br />

empfängt“. Im letzten Rechenschaftsbericht, den die Kirche<br />

alljährlich vorlegt, heißt es, dass ihre soziale Tätigkeit (Krankenhäuser,<br />

Heime für Waise, Obdachlose, alte Menschen, Behinderte,<br />

misshandelte Frauen, Caritas …) etwa 2,7 Menschen<br />

erreicht und dem Staat Sozialausgaben von über 30 Milliarden<br />

Euro erspart hat. Francisco Vázquez – einer der prominenten<br />

Katholiken in der PSOE und letzter Boschafter Spaniens beim<br />

Heiligen Stuhl, der sich brüstet, zur Rücknahme des Entwurfs<br />

des neuen Gesetzes über die Religionsfreiheit entscheidend<br />

400 Herder Korrespondenz 65 8/2011


eigetragen zu haben – empfiehlt der Kirche, ihre soziale<br />

Nützlichkeit besser zur Geltung zu bringen: etwa indem sie<br />

sich in der Öffentlichkeit mehr über die Ungerechtigkeit und<br />

weniger über den Sittenverfall entrüstet.<br />

Spannungen innerhalb der Bischofskonferenz<br />

Obwohl das Land eine Rekordzahl von etwa fünf Millionen<br />

Arbeitslosen hat, ist die Stimme der Bischöfe in diesen Fragen<br />

kaum vernehmbar. Sie sind eher mit dem Papstbesuch und<br />

dem Weltjugendtag beschäftigt. Die knappe, vierseitige Erklärung<br />

der Bischofskonferenz vom 27. November 2009 angesichts<br />

der „moralischen und wirtschaftlichen Krise“ klingt<br />

eher wie eine ermahnende Pflichtübung, die keinerlei Lösungen<br />

skizziert. Kein Ruhmesblatt in der Heimat der Schule von<br />

Salamanca, die sich vorzüglich um die Fragen von Gerechtigkeit<br />

und Recht kümmerte und dabei auch Konkreteres zu sagen<br />

wusste. Viel ausführlicher (31 Seiten), kritischer und relevanter<br />

ist der Fastenhirtenbrief der Bischöfe des Baskenlandes<br />

und Navarras vom 9. März 2011 ausgefallen: „Eine Wirtschaft<br />

im Dienst der Menschen. Bekehrung und Solidarität angesichts<br />

der Krise“. Dies lässt auf Spannungen, schlechte Koordination<br />

und mangelnde Sensibilität bei den Fragen der Zeit in<br />

der Bischofskonferenz schließen.<br />

Ein anderes Spannungsfeld ist die Einstellung gegenüber den<br />

peripheren Nationalismen, die unter Zapatero einen starken<br />

Schub erhalten haben. Kardinal Antonio Cañizares Llovera, der<br />

ehemalige Erzbischof von Toledo und derzeitige Präfekt der<br />

Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung,<br />

plädierte im Frühjahr 2006 vergeblich für die Verabschiedung<br />

eines Dokumentes, in dem die nationale Einheit Spaniens<br />

als „vorpolitisches, moralisches Gut“ bezeichnet werden sollte.<br />

Stattdessen wurden am 23. November 2006 einige „Moralische<br />

Orientierungen angesichts der aktuellen Lage Spaniens“ veröffentlicht.<br />

Darin wird die Legitimität eines „friedlichen“ Nationalismus<br />

verteidigt, der auf demokratische Wege die politische<br />

Einheit Spaniens verändern möchte, sofern die nationalistischen<br />

Positionen das Gemeinwohl „aller“ Menschen berücksichtigen,<br />

die direkt oder indirekt davon betroffen sind.<br />

Am 21. Mai 2011 haben die katalanischen Bischöfe ein Dokument<br />

verlautbart, in dem sie die „nationale“ Identität „ihres“<br />

Volkes anerkennen sowie das „Recht“ verteidigen, alles zu erkämpfen<br />

und zu fördern, was nach der Soziallehre der Kirche<br />

damit verbunden ist, einschliesslich der Frage einer neuen politischen<br />

Ordnung der Beziehungen des katalanischen Volkes<br />

im aktuellen europäischen Kontext „zu den anderen Brüdervölkern“<br />

Spaniens. Diese kirchlichen Stellungnahmen zeigen<br />

indirekt, dass der katholische Glaube als gemeinsame Klammer<br />

für die Einheit Spaniens ausgedient hat. An seiner Stelle<br />

ist aber nicht eine moderne, föderale Willensnation getreten,<br />

sondern der Rückzug auf Regionalismen und nationale Identitäten,<br />

eine „Kirchturmpolitik“ also.<br />

Weltjugendtag<br />

Anfang März 2011 wurde der Madrider Erzbischof, Kardinal<br />

Antonio M. Rouco Varela, erneut zum Vorsitzenden der Bischofskonferenz<br />

für die Periode 2011 bis 2014 gewählt, obwohl<br />

er im Sommer 75 Jahre alt wird. Seine Wahl wird als Votum<br />

für Kontinuität in Krisenzeiten gedeutet. Er ist eine starke<br />

Persönlichkeit von galizischer Bauernschläue und prägt die<br />

Kirche in Spanien in den letzten Jahrzehnten wie kein anderer<br />

Kirchenfürst seit Kardinal Vicente Enrique y Tarancón, der am<br />

Ende der Francozeit tätig war und die Kirche beim Übergang<br />

zur Demokratie klug lenkte.<br />

Als Mitglied der Bischofskongregation konnte Rouco auf die<br />

Besetzung von vielen Bistümern mit Kandidaten Einfluss nehmen,<br />

die sein Kirchenprojekt teilen: kluge, aber zähe Verhandlungen<br />

mit den politischen Akteuren, vor allem wenn diese,<br />

wie Zapatero, eine Kulturrevolution anstreben; dezidierte Stellungnahmen<br />

zum „Sittenverfall“ Spaniens; Förderung von bischofsnahen<br />

theologischen Fakultäten; Unterstützung der<br />

kirchlichen Erneuerungsbewegungen und eines besonders loyalen<br />

Priesternachwuchses. 2014 wird sich zeigen, ob es ihm<br />

auch gelungen ist, die Weichen für seine eigene Nachfolge zu<br />

stellen oder ob es eine Pendelbewegung zu jenen Bischöfen<br />

geben wird, die heute im Vatikan weniger zu sagen haben.<br />

Theologische Fakultäten und<br />

Erneuerungsbewegungen<br />

Obwohl in Madrid die Gesellschaft Jesu an der Universität Comillas<br />

über eine renommierte theologische Fakultät verfügt,<br />

setzte Rouco die Gründung einer eigenen Bistumshochschule<br />

mit theologischer, philosophischer und kirchenrechtlicher Fakultät<br />

in Rom durch. Die ihm nahe stehenden Bischöfe, so etwa<br />

in Bilbao, Granada und Sevilla, schicken ihre Studenten nicht<br />

mehr in die benachbarten Jesuitenfakultäten von Deusto oder<br />

Granada, sondern orientieren sich nach der Hochschule des Bischofs<br />

von Madrid. Und auch die traditionsreiche theologische<br />

Fakultät Salamancas, die 1940 von Pius XII. auf Bitten des Episkopats<br />

neu errichtet wurde, muss fürchten, Boden zu verlieren.<br />

Lediglich die Fakultäten in Burgos, Pamplona (Opus Dei), Barcelona<br />

und Valencia konnten sich diesem Sog entziehen.<br />

Juan Rubio, Direktor der angesehenen kirchlichen Zeitschrift<br />

„Vida Nueva“, spricht vom „Abbau einiger theologischer Zentren“<br />

zugunsten von Madrid. Viele Bischöfe haben kein Verständnis<br />

für den legitimen theologischen Pluralismus. Unter<br />

den Fakultätstheologen fehlt es an Pionier- und Prophetiegeist.<br />

Die Dissidenten, die emeritiert sind oder an staatlichen<br />

Universitäten Christentums- und Religionswissenschaften<br />

lehren, flüchten in die hierarchiekritische, befreiungs- und liberaltheologisch<br />

geprägte Theologenvereinigung Juan XXIII.<br />

Sie werden von den regierungsnahen Laizisten hofiert und<br />

von den Bischöfen geächtet.<br />

Der Altersdurchschnitt des Klerus liegt in Spanien bei 65 Jahren.<br />

Viele Seminare sind leer. Nach der Statistik des letzten „Tags<br />

Herder Korrespondenz 65 8/2011 401


Weltjugendtag<br />

der Priesterberufungen“ am 19. März 2011 gibt es insgesamt<br />

1227 Priesteramtskandidaten, bei 162 Neupriestern 2010. Besonders<br />

schlimm sieht es im Baskenland und in Katalonien aus,<br />

in jenen Regionen also, in denen der Nationalismus eine neue<br />

(Pseudo-)Religion geworden ist. Die Lösung sehen viele Bischöfe<br />

in der Förderung der Erneuerungsbewegungen, die den<br />

neuen Humus bilden, aus dem eine Großzahl der Priesteramtskandidaten<br />

kommt. In sieben Bistümern, allen voran in Madrid,<br />

haben die Neokatechumenalen ihre Seminare „Redemptoris<br />

Mater“ gegründet. Mit insgesamt 200 Seminaristen stellen sie<br />

bereits ungefähr 18 Prozent aller Kandidaten – nicht immer<br />

nach strengen Qualitätskriterien ausgewählt. Auch in der Gemeindeseelsorge<br />

sind sie immer präsenter. Diejenigen, die sie<br />

fördern, sehen sie als willkommene Mitarbeiter am Weinberg<br />

des Herrn. Andere haben Mühe mit ihrer Mentalität.<br />

Juan Rubio spricht von einem schleichenden pastoralen<br />

Schisma, das von oben gefördert wird und die einfachen Katholiken<br />

manichäisch in gut oder schlecht teilt, je nachdem ob<br />

sie mit den Erneuerungsbewegungen sympathisieren oder<br />

nicht. Sie werden als „Wächter der Orthodoxie“ empfunden,<br />

die die Erwachsenenkatechese, die Kommunikationsmittel, die<br />

akademischen Hörsäle an den theologischen Fakultäten und<br />

den katholischen Universitäten, die Seminare, die Weiterbildungszentren,<br />

die bischöflichen Ordinariate und auch einige<br />

Bischofssitze nach und nach an sich ziehen. Sie seien zu schnell<br />

und zu sehr gewachsen, heißt es; in manchen Bistümern habe<br />

der Vertreter bestimmter Erneuerungsbewegungen einen grösseren<br />

Einfluss auf die Pastoral als der Bischof selbst.<br />

Rubio meint auch, eine der dringenden Aufgabe in der heutigen<br />

Kirche sei die Einberufung einer Synode, die sich mit der<br />

Communio-Ekklesiologie und dem Verhalten der Erneuerungsbewegungen<br />

befassen sollte. Bischof Sebastián Aguilar<br />

sieht die Gefahr, dass die Erneuerungsbewegungen zu sehr um<br />

sich kreisen und sich nicht den Bischöfen oder Pfarrern zur<br />

Verfügung stellen.<br />

Gewiss, in einigen Erneuerungsbewegungen mit ihrer militanten<br />

Haltung gegenüber der säkularen Gesellschaft und der inneren<br />

Säkularisierung vieler Kirchendiener sowie mit ihrem<br />

Neu-Evangelisierungskonzept, das auf eine Heimholung der<br />

Welt in den Schoss der Kirche hinzielt, lebt gewissermassen<br />

das Gedankengut des spanischen Traditionalismus fort. Sie<br />

stellen einen „Antimodernismus mit modernen Mitteln“ dar.<br />

Andererseits kann man ihnen nicht absprechen, dass sie Menschen<br />

für die Nachfolge Jesu zu begeistern versuchen. Sie wirken<br />

selbst attraktiv für Mitglieder traditioneller Ordensgemeinschaften.<br />

In Valencia hat sich eine Gruppe von Schulbrüdern (Piaristen)<br />

dem neokatechumenalen Weg angeschlossen. Und in Lerma<br />

(bei Burgos) spricht man von einem „Phänomen“ oder „Wunder“:<br />

In den letzten Jahren wuchs die Gemeinschaft der Klarissen<br />

unter dem Einfluss der charismatischen Mutter Veronica<br />

(ihr Bruder, Raúl Berzosa, ist Bischof von Ciudad Rodrigo) so<br />

stark, dass es eng wurde im Kloster und eine zweite Niederlas-<br />

sung bezogen werden musste. Die neuen Novizinnen und<br />

Schwestern kommen so gut wie ausnahmslos aus bürgerlichen<br />

Familien, die von den Erneuerungsbewegungen und dem<br />

Weltjugendtag geprägt sind; vor dem Klostereintritt haben sie<br />

eine universitäre Ausbildung abgeschlossen oder einige Jahre<br />

studiert. Sie sind blutjung, gebildet und begeistert für Jesus.<br />

Noch ein „katholisches Land“?<br />

Nach einer Periode der Unterscheidung der Geister entschloss<br />

sich Mutter Veronica zur Gründung eines neuen Ordens. Rom<br />

genehmigte das Ansinnen und erhob die neue Gemeinschaft<br />

schnell zum Institut päpstlichen Rechtes (ohne den Zwischenschritt<br />

des bischöflichen Rechtes) unter dem Namen „Iesu<br />

Communio“. Sie wollen sich vorrangig der „Evangelisierung<br />

der Jugend“ widmen, aber auch die Kontemplation pflegen.<br />

Ihr Ordensgewand ist aus blauem Jeansstoff. Am 12. Februar<br />

2011 haben die ersten 177 Mitglieder im Alter von 18 bis 35<br />

Jahren bei einer Eucharistie in der Kathedrale von Burgos ihr<br />

feierliches Ja zur neuen Gemeinschaftsform gegeben. Manche<br />

vergleichen bereits Mutter Veronica mit Mutter Teresa von<br />

Avila. Andere wiederum sind aufgrund der Nähe zu den Erneuerungsbewegungen<br />

eher skeptisch. Man wird sie früher<br />

oder später an ihren Früchten messen.<br />

In Spanien gibt es aber auch eine andere Jugend als die der Erneuerungsbewegungen,<br />

die im August Papst Benedikt und den<br />

Weltjugendtag als religiöses Event feiern wird. Im Bericht „Jóvenes<br />

españoles 2010“, der die Marianistenstiftung SM alle fünf<br />

Jahre herausgibt, erfährt man von einer kirchenfernen Jugend,<br />

die von Arbeitslosigkeit und anderen Problemen des Alltags<br />

geplagt ist. Nur 53 Prozent bezeichnen sich als katholisch, während<br />

44 Prozent sich für nicht-religiös halten und 2 Prozent<br />

eine andere Religion haben. 61,8 Prozent gehen nie in die Kirche,<br />

10,5 Prozent nur zu Weihnachten, Ostern oder einem<br />

Volksfest, 5 Prozent einmal im Monat. 60 Prozent beten nie,<br />

und fast 70 Prozent derjenigen, die sich für katholisch halten,<br />

meinen, dass man den Glauben individuell, ohne Gemeinschaftsbezug<br />

leben kann. Die Kirche hat bei dieser Jugend sehr<br />

wenig Ansehen. Sie erscheint an letzter Stelle der gefragten Institutionen<br />

nach den Streitkräften! 75 Prozent halten sie für zu<br />

reich, wenn auch 60 Prozent ihre soziale Tätigkeit schätzen.<br />

„Katholisch, aber weniger…“ – so interpretierte eine katholische<br />

Zeitschrift die religionssoziologischen Analysen des CIS<br />

(Centro de Investigaciones Sociológicas) im Vorfeld des Besuchs<br />

von Benedikt XVI. im Juli 2006. Die letzten Erhebungen<br />

des CIS im Mai 2011 bei 2482 Personen bestätigen diesen<br />

Trend: 72,1 Prozent halten sich für katholisch, aber nur 13,9<br />

Prozent nehmen regelmäßig am Gottesdienst teil; 2,4 Prozent<br />

bekennen sich zu anderen Konfessionen und Religionen. Weitere<br />

8,3 Prozent bezeichnen sich als Atheisten, 15,6 Prozent als<br />

nicht-gläubig und 1,6 Prozent antworten nicht, wobei in diesen<br />

402 Herder Korrespondenz 65 8/2011


letzten drei Gruppen viele getaufte Katholiken sein dürften.<br />

Religionssoziologisch ist Spanien heute weder ein katholisches<br />

Land im kirchlichen Sinne (die Mehrheit der Befragten sind<br />

weder praktizierende Katholiken noch akzeptieren sie das<br />

kirchliche Lehramt in Fragen der Moral) noch ein agnostisches<br />

oder religiös gleichgültiges Land (die sich als religiös deklarierenden<br />

Spanier sind doppelt so viele wie die nicht-religiösen),<br />

sondern ein stark säkularisiertes, religiös pluralistisches Land<br />

mit einer großen katholisch getauften Bevölkerungsmehrheit,<br />

die bei Umfragen über Glaube und Moral ähnlich antwortet<br />

wie die Katholiken anderer westlicher Länder.<br />

Mit der Volkskatechese nach Trient und in der ultramontanen<br />

Zeit (etwa 1850 bis 1950) ist der Glaube gewiss „Kultur“ geworden,<br />

und diese Kultur ist in Spanien immer noch auf<br />

Kirche<br />

Schritt und Tritt spürbar: in den historischen Denkmälern, in<br />

den vielen Wallfahrtskirchen, die Maria gewidmet sind, in den<br />

Prozessionen (Karwoche, Fronleichnam) und in den Volksfesten.<br />

Aber heute muss man fürchten, dass der Glaube „nur“<br />

Kultur geworden ist und das Leben der Menschen immer weniger<br />

davon geprägt wird. Nach der Francozeit hatte Spanien<br />

einen Nachholbedarf. Bei seiner nötigen Modernisierung verfiel<br />

es den Pathologien der Moderne, die es in den dreißiger<br />

Jahren bereits heimgesucht hatten; und die Kirche geriet in die<br />

Defensive, ja, sie wurde zunehmend ratlos, weil sie darauf<br />

nicht vorbereitet war. Die moralische und spirituelle Erneuerung<br />

unter den Bedingungen der Moderne (Religionsfreiheit,<br />

Pluralismus, kirchliche Demut) wird eine Riesenaufgabe sein.<br />

Aber war es im 16. Jahrhundert leichter? Mariano Delgado<br />

Herder Korrespondenz 65 8/2011 403


Toleranz und Religionsfreiheit<br />

Konvergenz und Divergenz zwischen Europa und der islamischen Welt<br />

von Mariano Delgado<br />

Die westliche Welt ist für Verletzungen der Religionsfreiheit besonders empfindlich.<br />

Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die US-Regierung, der Vatikan<br />

und verschiedene Menschenrechtsorganisationen sich immer wieder, wenn<br />

auch aus unterschiedlichen Motiven, dazu äußern und zu globalen Anwälten<br />

der Religionsfreiheit geworden sind. Die 1998 von der Clinton-Administration<br />

eingesetzte „United States Commission on International Religious Freedom“<br />

(USCIRF) legt jährlich einen Bericht vor, zuletzt z.B. im Mai 2006. 1 Darin<br />

empfiehlt die Kommission folgende Ländereinteilung im Hinblick auf die<br />

Verletzung der Religionsfreiheit: Countries Named as CPCs (= Countries of<br />

Particular Concern) by the Department of State (Burma, China, Eritrea, Iran,<br />

Nordkorea, Saudi Arabien, Sudan und Vietnam), Countries Recommended for<br />

CPC Designation by the Commission (außer den bereits genannten: Pakistan,<br />

Turkmenistan und Usbekistan), Countries on the Commission’s Watch List<br />

(Afghanistan, Bangladesch, Weißrussland, Kuba, Ägypten, Indonesien und<br />

Nigeria). Die Länder der ersten Gruppe gelten als „Severe Religious Freedom<br />

Violators“. 2 Es fällt auf, dass es sich bei den drei Gruppen zumeist um islamische<br />

oder kommunistische Länder handelt.<br />

Ähnlich ist der Tenor im Bericht über die Religionsfreiheit des Hilfswerkes<br />

„Hilfe für die Kirche in Not“, mit dem die Katholische Kirche auf Länder aufmerksam<br />

macht, die besonders die Religionsfreiheit der Katholiken und anderer<br />

Christen einschränken. 3<br />

Anlässlich des Tages der Menschenrechte am 10. Dezember 2005 verwies<br />

die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in einer Pressemitteilung<br />

unter dem Titel „Bei Übertritt zum Christentum: Diskriminierung<br />

bis Mord“ darauf, dass in mehreren islamischen Staaten Konvertiten die Todesstrafe<br />

droht. 4 Ausdrücklich genannt wurden darin Mauretanien, Sudan,<br />

Saudi Arabien und Iran. Aber auch in „liberalen“ islamischen Ländern wie<br />

Malaysien und Ägypten seien Konvertierte in Haft und Psychiatrie gekommen.<br />

1 Annual Report of the United States Commission on International Religious Freedom,<br />

Washington 2006, online zugänglich unter: http://www.uscirf.gov (Stand 31.08.2006).<br />

2 Ebd., 82.<br />

3 Vgl. Rapporto 2006 sulla Libertà Religiosa nel Mondo, Roma 2006.<br />

4 Vgl. Meldung vom 9.12.2005 in: http://www.igfm.de, unter PresseArchiv (Stand 31.08.06).


326<br />

Mariano Delgado<br />

Auch in Sri Lanka und Indien sieht die IGFM das Recht auf Religionswahl<br />

bedroht.<br />

Diesen Berichten über die Verletzungen der Religionsfreiheit liegt die Überzeugung<br />

zugrunde, dass diese, so wie sie im westlich-christlichen Kulturraum<br />

verstanden wird, ein „universelles und unteilbares“ Menschenrecht ist, ja die<br />

unentbehrliche Voraussetzung für Religion in der Öffentlichkeit.<br />

Ich werde im Folgenden auf die historische Konvergenz und Divergenz in<br />

Sachen Toleranz und Religionsfreiheit zwischen Europa und der islamischen<br />

Welt aufmerksam machen sowie die Religionsfreiheit, wie sie in der Allgemeinen<br />

Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und in anderen internationalen<br />

Verträgen verstanden wird, als ein Kind westlicher Staats- und<br />

Gesellschaftsentwicklung mit universalem Geltungsanspruch darstellen. In<br />

einem weiteren Schritt soll gezeigt werden, wie die größte christliche Konfession,<br />

nämlich die römisch-katholische Kirche, sich beim Zweiten Vatikanischen<br />

Konzil zur Religionsfreiheit bekannt hat. Danach sollen einige Konfliktfelder<br />

zwischen Europa und der islamischen Welt im Schatten der heute vorhandenen<br />

Divergenz im Verständnis der Religionsfreiheit angesprochen sowie<br />

einige Aufgaben aufgezeigt werden.<br />

1. Konvergenz im (spanischen) Mittelalter:<br />

das christliche Europa lernt von der islamischen Welt<br />

Islam und Christentum ist die deutliche Ablehnung des Zwangs im Glauben<br />

gemeinsam. Während es im Koran (2,256) heißt: „In der Religion gibt es<br />

keinen Zwang“, hat christliche Theologie spätestens seit Augustinus folgenden<br />

Grundsatz betont: „credere voluntatis est“, Glauben ist Sache des (freien)<br />

Willens. Sofern beide Religionen aber einen absoluten Wahrheitsanspruch<br />

kennen und mit ihrem Ethos alle Bereiche des Lebens und so auch den gesellschaftlichen<br />

und politischen Raum regeln möchten, wurden ihnen Toleranz und<br />

Religionsfreiheit nicht in die Wiege gelegt.<br />

(1) Der Islam vertritt von Anfang an die Einheit von Religion und Politik.<br />

Der Koran enthält z.B. allerlei Empfehlungen für eine gute islamische Regierung,<br />

so dass er von vielen Muslimen als Grundlage islamischer Rechtsprechung<br />

betrachtet wird, die islamischen Theologen also auch Rechtsgelehrte<br />

sein müssen. Der Koran enthält auch ein Konzept für so etwas wie eine „plurireligiöse“<br />

Gesellschaft unter islamischer Führung. Darin ist nämlich für die<br />

Gläubigen anderer Buchreligionen (Juden, Christen und Zarathustra-Anhänger),<br />

die sich der islamischen Herrschaft vertraglich unterwerfen und die<br />

Grund- und Kopfsteuern zahlen, der Status von „Schutzbefohlenen“ oder


Toleranz und Religionsfreiheit 327<br />

„Schutzberechtigten“ vorgesehen. 5 Sie stehen dann unter dem direkten Schutz<br />

des jeweiligen islamischen Herrschers und sind so etwas wie Vasallen minderen<br />

Rechtes. Denn dieser Status bietet Schutz und religiöse Toleranz unter<br />

Inkaufnahme einiger Diskriminierungen, wie etwa den Verzicht auf jede Kritik<br />

des Islam und seines Propheten, den Verzicht auf missionarische Expansion,<br />

auf den Bau neuer Kulthäuser und auf den Aufbau neuer Gemeindestrukturen.<br />

Bei Mischehen, die nur zwischen Muslimen und christlichen oder jüdischen<br />

Frauen stattfinden dürfen, hat die Religion des muslimischen Teils Vorrang,<br />

denn es steht dem Mann zu, die Religion des Kindes zu bestimmen. Wenn in<br />

einer jüdischen oder christlichen Ehe ein Teil zum Islam konvertiert, gilt die<br />

Ehe als geschieden. Bekehrungen aus dem Islam zum Christentum oder Judentum<br />

werden als Apostasie mit dem Tod bestraft. Weitere Einschränkungen<br />

betreffen z.B. das Einkleiden öffentlicher Ämter, das nur erlaubt ist, wenn<br />

Muslime dabei die jeweils höhere Position innehaben; oder die Zeugnisfähigkeit<br />

vor Gericht, denn das Zeugnis eines Schutzbefohlenen gilt als wenig aussagekräftig<br />

und ist dem eines Muslims nicht gleichwertig. In der Öffentlichkeit<br />

müssen sich Juden und Christen zeitweilig durch die Farbe eines Gürtels als<br />

Nichtmuslime zu erkennen geben. Ansonsten können sie in eigenen Quartieren<br />

leben und sich nach den eigenen Gesetzen weitgehend selbst verwalten, aber in<br />

Streitsachen zwischen einem Muslim und einem Schutzbefohlenen liegt die<br />

alleinige Zuständigkeit bei dem muslimischen Richter.<br />

Dieses plurireligiöse Gesellschaftsmodell in der Asymmetrie einer herrschenden<br />

Staatsreligion und anderer mit bestimmten Einschränkungen geduldeter<br />

Religionen stellte zunächst einen Fortschritt gegenüber dem im christlichen<br />

Europa praktizierten Modell dar. Es erklärt z.T. auch die beispiellose<br />

Expansion des Islam innerhalb eines Jahrhunderts von Südfrankreich bis an die<br />

zentralasiatischen Grenzen Chinas. Aber dass Christen und Juden nicht der<br />

Übertritt zum Islam direkt abverlangt wird, verhinderte nicht deren progressive<br />

Arabisierung und gar Islamisierung. Betrug der Anteil der Muslime an der<br />

Gesamtbevölkerung des islamischen Spanien um die Mitte des 8. Jahrhunderts<br />

knapp 10 Prozent und hundert Jahre später kaum über 20 Prozent, so liegt er<br />

Mitte des 10. Jahrhunderts zur Zeit des Kalifats bei 50 Prozent und Ende des<br />

12. Jahrhunderts im Schatten der Herrschaft fundamentalistischer nordafrikanischer<br />

Muslime bei 80 Prozent. Dieses Wachstum geht zumeist auf Kosten der<br />

Christen, während die Juden sich arabisieren lassen, ohne zum Islam zu konvertieren.<br />

(2) Das Christentum, das im Neuen Testament keine vergleichbare Grundlage<br />

zum Aufbau einer christlichen Gesellschaftsordnung hat – mit der Bergpredigt<br />

lässt sich bekanntlich nicht regieren –, musste erst seinen Weg durch<br />

5 Vgl. dazu Adel Theodor Khoury, Der Islam. Sein Glaube, seine Lebensordnung, sein<br />

Anspruch, Freiburg 1992, 203–209; Yohanan Friedmann, Tolerance and Coercion in Islam. Interfaith<br />

Relations in the Muslim Tradition, Cambridge 2003.


328<br />

Mariano Delgado<br />

die Geschichte finden. Das „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und<br />

Gott, was Gott gehört“ (Mk 12,17) wurde spätestens dann obsolet, als der Kaiser<br />

selbst christlich wurde und sich mit der Erhebung des Christentums zur<br />

Staatsreligion (381) als obersten Schutzherrn des konziliaren, dogmatisch definierten<br />

Christentums verstand. Nun entstand eine Verschmelzung von Staat<br />

und Christentum als „Polis-Religion“ oder öffentlicher Religion, die nach altrömischem<br />

Vorbild nationalbegrenzte Minderheitsreligionen wie das Judentum<br />

unter bestimmten Voraussetzungen dulden konnte, aber für heterodoxe, von<br />

der Staatsreligion abweichende Bewegungen im Prinzip keinen Platz kannte.<br />

Die Judengesetze der aus dem Arianismus zum katholischen Christentum konvertierten<br />

Westgoten („Fuero Juzgo“) in Spanien sind ein gutes Beispiel für die<br />

in der vorislamischen christlichen Welt geübte „Toleranz“, denn sie spiegeln<br />

im rechtlichen Bereich den religiösen Antijudaismus der christlichen Welt<br />

wider. Demnach sind die Juden „de iure und de facto“ Untertanen christlicher<br />

Fürsten, aber als „Gäste“ im Prinzip zu dulden und gut zu behandeln. Da<br />

Kirche und Staat jedoch jederzeit Zwangsgesetze zum Wohl des christlichen<br />

Gemeinwesens erlassen können, ergibt sich eine Rechtslage, welche der Unterdrückung<br />

der Juden Tür und Tor öffnet, wo immer die Staatsräson dies für<br />

notwendig erachtet.<br />

König Sisebut beispielsweise wird 612 ein Vertreibungsedikt veröffentlichen,<br />

welches das spätere Edikt der katholischen Könige aus dem Jahr 1492<br />

in vielerlei Hinsicht vorwegnimmt und nur noch eine Alternative vorsieht:<br />

Bekehrung oder Auswanderung. Daraufhin lassen sich viele Juden unter<br />

Zwang taufen, während andere ins Frankenreich auswandern. Nach Sisebuts<br />

Tod im Jahre 621 kehren viele Neuchristen zum Judentum zurück. Dies ist<br />

aber der Kirche ein Ärgernis, da die bereits Getauften in ihrem Schoß bleiben<br />

sollen. So wird beim IV. Konzil von Toledo im Jahre 633 mit Augustinus zwar<br />

daran festgehalten, dass der Glaube dem freien Willen entspringe und Juden<br />

deshalb zur Taufe nicht gezwungen werden dürfen. Die bereits „Bekehrten“<br />

sollen jedoch unter strenger Aufsicht der Kirche gehalten werden und in der<br />

sakramental empfangenen Glaubensgnade verweilen. 6 Andernfalls dringt man<br />

auf strenge Judengesetze: auf eine Ghettoisierung der Juden und die Herabminderung<br />

ihres Status zu „Gästen“ minderen Rechts, die z.B. keine öffentlichen<br />

Ämter bekleiden oder keine christlichen Diener haben dürfen. Bei der<br />

Königswahl mussten die westgotischen Könige von nun an schwören, dass sie<br />

nie die „perfiden“ Juden gegenüber den Christen begünstigen würden.<br />

6 Der berühmte Canon „De Iudaeis“, wo dies festgehalten wird, hat sogar Eingang in das<br />

„Decretum Gratiani“ (D.45, c.5: c.57 des IV. Konzils von Toledo) gefunden: Corpus Iuris Canonici.<br />

Pars prior: Decretum Magistri Gratiani, ed. Emil Friedberg, Graz 1959, 161f. Vgl. auch: Sacrorum<br />

Conciliorum nova et amplissima collectio … ed. Ioannes Dominicus Mansi, Band 10 (590–653),<br />

Graz 1960, 633 (c.57). Weitere Judencanones dieses Konzils, das der „Judenfrage“ besondere Aufmerksamkeit<br />

schenkte: ebd., 633–66 (c.58 bis c.66).


Toleranz und Religionsfreiheit 329<br />

Nun, wenn es in dieser Epoche der Verschmelzung von Staat und Christentum<br />

in Europa so etwas wie eine „plurireligiöse Gesellschaft“ gegeben hat, so<br />

fand sie im spanischen Mittelalter unter ausdrücklicher Nachahmung der muslimischen<br />

Gesetze für die Schutzbefohlenen statt. Die Juden- und Muslimengesetze<br />

des kastilischen Königs Alfons des Weisen aus dem 13. Jahrhundert 7<br />

sprechen z.B. von den Synagogen und Moscheen als Häusern des Gebetes, die<br />

unter dem Schutz der Krone stehen. Auch hier wird Juden und Muslimen die<br />

öffentliche Religionsausübung gestattet, sofern sie sich der christlichen Herrschaft<br />

vertraglich unterwerfen, die Steuern zahlen und bestimmte Einschränkungen<br />

in Kauf nehmen, wie etwa den Verzicht auf Proselytismus, auf den Bau<br />

neuer Kulthäuser und auf den Aufbau neuer Gemeindestrukturen. Bei Mischehen,<br />

die auch hier nur zwischen Christen und jüdischen oder muslimischen<br />

Frauen stattfinden dürfen, hat die Religion des christlichen Teils Vorrang.<br />

Wenn in einer jüdischen oder islamischen Ehe ein Teil zum Christentum konvertiert,<br />

gilt die Ehe als geschieden. Bekehrungen aus dem Christentum zum<br />

Islam oder Judentum werden als Apostasie mit dem Tod bestraft. Juden und<br />

Muslime können in eigenen Quartieren leben und sich nach den eigenen<br />

Gesetzen weitgehend selbst verwalten, sofern sie mit dem öffentlichen christlichen<br />

Recht nicht in Konflikt geraten. Américo Castro ist zuzustimmen, wenn<br />

er schreibt:<br />

Zwischen den barbarischen westgotischen Gesetzen des ‚Fuero Juzgo‘, die sich gegen die<br />

Juden richteten, und der milden Gesetzgebung Alfons’ des Weisen liegen fünfhundert Jahre<br />

Islam. 8<br />

Ansonsten gibt es in der islamischen wie christlichen Welt des Mittelalters<br />

für religiöses Dissidententum wie Häresie kein Pardon, denn das wurde als<br />

Kapitalverbrechen gegen die politisch-religiöse Staatsräson verstanden.<br />

7 Vgl. Las Siete Partidas ..., nuevamente glosadas por el Licenciado Gregorio López del Consejo<br />

Real de Indias de su Magestad, Salamanca 1555 (Nachdruck: 3 Bände, Madrid 1974): 7, 24 (Judengesetze)<br />

und 7, 25 (Muslimengesetze). Für die Ketzer (7, 26) hingegen gab es keinerlei Toleranz.<br />

Vgl. dazu: Mariano Delgado, Juden und Christen in Spanien. Anmerkungen zu einem wichtigen<br />

Kapitel europäischer Geschichte, in: Stimmen der Zeit 214 (1996) 111–123; ders., Der Mythos<br />

„Toledo“ – Zur Konvivenz der drei monotheistischen Religionen und Kulturen im mittelalterlichen<br />

Spanien, in: Sabine Hering (Hg.), Toleranz – Weisheit, Liebe oder Kompromiss? Multikulturelle<br />

Diskurse und Orte, Opladen 2004, 69–91; Michael Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen. Die<br />

Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., München 2006; María<br />

Rosa Menocal, Muslime, Juden und Christen im alten Andalusien, Berlin 2003.<br />

8 Américo Castro, Spanien. Vision und Wirklichkeit, Köln/Berlin 1957, 225.


330<br />

Mariano Delgado<br />

2. Divergenz ab der Renaissance oder Religionsfreiheit als Ergebnis<br />

westlicher Staats- und Gesellschaftsentwicklung<br />

Die Religionsfreiheit als einklagbares Menschenrecht ist Ergebnis westlicher<br />

Staats- und Gesellschaftsentwicklung, wenn auch auf dem „zweiten mühsamen<br />

Weg“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde), d.h. nach der Überwindung der Verschmelzung<br />

von Staat und Christentum. Diese bestand in Europa generell bis<br />

zur Französischen Revolution und hatte zur Folge, dass der Staat sich um das<br />

Seelenheil seiner Untertanen im Sinne der jeweils herrschenden Konfession zu<br />

kümmern hatte, während andere christliche Bekenntnisse (oder andere Religionen<br />

wie das Judentum) bestenfalls geduldet wurden. Aber bereits unter den<br />

Bedingungen des Ancien Régime sind Entwicklungen festzustellen, die den<br />

Weg für die heutige Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht vorbereitet<br />

haben:<br />

(1) Spätestens seit dem 11. Jahrhundert gibt es im westlichen Christentum<br />

eine Tendenz zur deutlichen Unterscheidung der Kompetenzen zwischen der<br />

politischen und der geistlichen Gewalt. Katholischerseits ist in diesem Zusammenhang<br />

an die Lehre der zwei Gewalten und an die damit gegebene prinzipielle<br />

Unterscheidung von Staat und Kirche zu erinnern, wobei sich beide als<br />

societas perfecta verstanden, die mit den Merkmalen einer sich selbst genügenden<br />

Gesellschaft ausgestattet und auf das Seelenheil der Menschen zugeordnet<br />

sind. Die Kirche war bemüht den Vorrang des Geistlichen sowie zumindest<br />

ein indirektes Einmischungsrecht in die zeitlichen Angelegenheiten zu<br />

verteidigen. Der katholische Staat versuchte, nicht nur die Einmischungstendenzen<br />

der Kirche abzuwehren, sondern auch diese zu kontrollieren und sich<br />

sogar in ihre inneren Belange einzumischen. Investiturstreit im Mittelalter<br />

sowie Gallikanismus, Regalismus und Josephinismus in der frühen Neuzeit<br />

stehen paradigmatisch für diese Kompetenzstreitigkeiten. Evangelischerseits<br />

ist an die Zwei-Reiche-Lehre und an die damit verbundene größere Verschmelzung<br />

mit dem Staat zu erinnern. Besonders der lutheranische Protestantismus<br />

verzichtete weitgehend auf die klassische katholische Unterscheidung<br />

von Kirche und Staat und übertrug diesem als weltlichem Regiment die cura<br />

religionis, die die Abwehr falscher öffentlicher Lehre umgreift und „bis zur<br />

Aufrichtung ‚rechter Gottesdienst und Lehre‘ reichen“ kann. 9<br />

(2) Im Schatten der Konfessionalisierung des 16. Jh. entsteht – zunächst in<br />

der Schweiz – eine lebhafte Toleranzdebatte, die zur Anerkennung der Gewissensfreiheit<br />

und Ablehnung des Ketzerrechtes führen wird. Von besonderer<br />

Bedeutung sind dabei die Worte, die der Spanier Michael Servet und der Savoyarde<br />

Sebastian Castellio einwarfen.<br />

9 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt (Schriften<br />

zu Staat, Geselschaft, Kirche Bd. 3), Freiburg 1990, 128.


Toleranz und Religionsfreiheit 331<br />

Am 22. August 1553 schrieb Servet in einem Rekurs an die Genfer Staatsräte:<br />

Ich sage demütig, dass die Verfolgung aufgrund der Meinungen über die Heilige Schrift<br />

oder der Dinge, die mit ihr zusammenhängen, eine neue Erfindung ist, die die Apostel und Jünger<br />

der alten Kirche nicht kannten. [...] Aus diesem Grund und der Lehre der alten Kirche folgend,<br />

in der nur die geistliche Bestrafung erlaubt war, ersuche ich hiermit, dass dieser Kriminalprozess<br />

für null und nichtig erklärt wird. 10<br />

Und Ende 1553 – nach der infamen Hinrichtung Servets – schrieb Castellio<br />

an die Adresse Calvins jenen denkwürdigen Satz, der in die Geschichte der<br />

Toleranz eingegangen ist: „Einen Menschen töten heißt nicht, eine Lehre<br />

verteidigen, sondern einen Menschen töten.“ 11<br />

(3) Seit der Renaissance gewinnt die philosophisch-theologische Debatte<br />

über die „Würde des Menschen“ an Bedeutung. So verschärfen Philosophen<br />

wie B. Spinoza, J. Locke und P. Bayle die Toleranzforderung durch die Annahme<br />

eines individuellen Naturrechts auf Religions- und Gewissensfreiheit,<br />

das im Falle Bayles z.B. auch die Freiheit für die Atheisten einschließt. Dies<br />

führt dann zum Toleranzdiskurs der Aufklärung, wonach die Religionsfreiheit<br />

ein „geheiligtes Gut“ ist, das jedem Bürger zusteht, das man mit keiner Amtsgewalt<br />

aufheben darf und das auch die Freiheit von der Religion beinhaltet.<br />

(4) Seit dem epochalen Ereignis, das als die „Französische Revolution“ in<br />

die Geschichte eingegangen ist, sind in der westlichen Welt die Voraussetzungen,<br />

auf denen das Christentum als Polis-Religion verstanden werden konnte,<br />

nach und nach gefallen – und dies nicht zuletzt auch als Folge der Religionskriege<br />

und der damit verbundenen europäischen Erfahrung, dass die Religion<br />

als das „Wesen des Unterschieds“ (Karl Marx) keine tragfähige Grundlage zur<br />

Regelung des friedlichen Zusammenlebens in einem politischen Gemeinwesen<br />

darstellt. Die Kirchen dürfen nicht vergessen, dass die Entwicklung zur religiös-weltanschaulichen<br />

Neutralität des Staates und zur säkular-pluralistischen<br />

Gesellschaft aus einer historischen Zwangslage der westlichen Welt entstand,<br />

„die gerade von den Kirchen – als den damaligen Religionsparteien – herbeigeführt<br />

worden ist“ 12. Die damalige Unfähigkeit der Religionsparteien, die<br />

öffentlich-verbindliche Existenzform der Religion mit dem Recht der Person<br />

auf Glaubens- und Gewissensfreiheit in Einklang zu bringen, zwang den Staat,<br />

die Verschmelzung mit der jeweils herrschenden Religion tendenziell zu beenden:<br />

als Bedingung dafür, „daß das Freiheitsrecht der Person sich verwirklichen<br />

konnte“ 13.<br />

10 Marcelino Menéndez Pelayo, Historia de los Heterodoxos españoles, vol. 1, Madrid 1986, 913.<br />

11 Religiöse Toleranz. Dokumente zur Geschichte einer Forderung, hg. Hans R. Guggisberg,<br />

Stuttgart 1984, 88. Vgl. dazu auch Heinrich Schmidinger (Hg.), Wege zur Toleranz. Geschichte einer<br />

europäischen Idee in Quellen, Darmstadt 2002.<br />

12 Böckenförde, Religionsfreiheit (Anm. 9), 207.<br />

13 Ebd., 208.


332<br />

Mariano Delgado<br />

Wie Ernst-Wolfgang Böckenförde betont hat, erfolgte der Abschied des modernen<br />

Staates von der alten Polis-Auffassung in zwei Schritten: zunächst in<br />

der Form, dass der Staat neben dem eigenen christlichen Bekenntnis „andere<br />

Bekenntnisse und Religionen zulässt (Glaubensfreiheit und Toleranz)“; dann<br />

aber auch in der Form, „daß er sich gegenüber Religionen und Weltanschauungen<br />

grundsätzlich für neutral erklärt (religiös-weltanschauliche Neutralität)“ 14.<br />

So entsteht der staatsrechtliche Begriff der Religionsfreiheit, zu dem Folgendes<br />

gehört:<br />

(1) Individuelle Religionsfreiheit: positiv bedeutet dies die Freiheit des<br />

Individuums, einen religiösen Glauben zu haben, zu bekennen und in sonstiger<br />

Weise auszuüben, sowie die Lebensführung an religiösen Geboten auszurichten;<br />

aber auch die Freiheit des Individuums, die Religion zu wechseln. Negativ<br />

bedeutet dies die Freiheit von staatlichem Zwang zu glauben und Glaubensbetätigung<br />

verschont zu bleiben, sowie die Freiheit, keine Religion zu haben.<br />

(2) Kollektive Religionsfreiheit: Sie beinhaltet die Freiheit der Religionsgemeinschaften<br />

zu eigenständiger Ordnung ihrer Angelegenheiten nach dem<br />

jeweiligen Selbstverständnis und die Freiheit ihres Wirkens in Staat und Gesellschaft<br />

(dies kommt einer staatlichen Anerkennung der Libertas ecclesiae<br />

unter den Bedingungen der modernen Trennung von Staat und Kirche gleich).<br />

(3) Weltanschauungsfreiheit / Neutralität des Staates: Demnach darf sich<br />

der Staat nicht der Durchsetzung irdischer Heilslehren und Ideologien verschreiben,<br />

d.h. der Staat darf nicht zur „Kirche“ werden. Die daraus folgende<br />

religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates bildet daher das notwendige<br />

Korrelat der Religionsfreiheit.<br />

Die hier skizzierte Sicht der Religionsfreiheit als Ergebnis westlicher Staats-<br />

und Gesellschaftsentwicklung dürfte in der Forschung auf Konsens stoßen. Die<br />

Geister scheiden sich nur, wenn es darum geht, die Rolle der Religion in der<br />

Öffentlichkeit angesichts der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates<br />

zu definieren. Besonders diskussionswürdig sind in diesem Zusammenhang die<br />

Positionen von Ernst-Wolfgang Böckenförde und Jürgen Habermas.<br />

Der Staatsrechtler und Katholik Böckenförde geht davon aus, dass gerade<br />

unter den Bedingungen der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates<br />

und der damit zusammenhängenden Religionsfreiheit, welche die kirchliche<br />

Wirksamkeit nicht auf den Bereich des Privaten zurückdrängt, sondern erst<br />

recht „ihre Entfaltung in der Öffentlichkeit“ ermöglicht 15, die Kirche sich<br />

öffentlich einmischen sollte, besonders wenn es um ethische Fragen und normative<br />

Voraussetzungen geht, für die der säkulare Staat als solcher nicht zuständig<br />

ist. Böckenförde hat dies Mitte der 1960er Jahre auf die prägnante,<br />

seitdem vielfach zitierte Formel gebracht, dass der freiheitliche, säkularisierte<br />

14 Ebd., 133.<br />

15 Ebd., 160.


Toleranz und Religionsfreiheit 333<br />

Staat von normativen Voraussetzungen lebt, „die er selbst nicht garantieren<br />

kann“ 16.<br />

Der sich als im Weberschen Sinne religiös unmusikalisch bezeichnende<br />

Philosoph Jürgen Habermas ist gegenüber den normativen Ressourcen des säkularen<br />

Staats nicht so skeptisch wie Böckenförde. Im Münchner Gespräch mit<br />

dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger schlägt er vor, die Frage, ob sich<br />

eine ambivalente Moderne allein aus säkularen Kräften einer kommunikativen<br />

Vernunft stabilisieren wird, „undramatisch als eine offene empirische Frage zu<br />

behandeln“ 17. Zugleich tritt er für einen schonenden Umgang des Staates mit<br />

allen kulturellen Quellen ein, „aus denen sich das Normbewusstsein und die<br />

Solidarität von Bürgern speist“ 18. Zu diesen Quellen zählt er neuerdings auch<br />

die sich als säkularisierungsresistent erwiesene Religion. 19 Man hat in den<br />

letzten Jahren den Eindruck, dass Habermas – zum Wohle des liberalen Staats<br />

– sowohl eine Lernbereitschaft der Vernunft gegenüber der Religion als auch<br />

eine in der Religionsfreiheit begründete genuine Einmischung dieser in die<br />

politische Öffentlichkeit fordert, statt sich mit der kognitiv anspruchslosen Anpassung<br />

des religiösen Ethos an die von der säkularen Gesellschaft auferlegten<br />

Gesetze zufrieden zu geben. Es sei ein längeres Zitat erlaubt:<br />

Diese normative Erwartung, mit der der liberale Staat die religiösen Gemeinden konfrontiert,<br />

trifft sich mit deren eigenen Interessen insofern, als sich diesen damit die Möglichkeit eröffnet,<br />

über die politische Öffentlichkeit einen eigenen Einfluss auf die Gesellschaft im ganzen<br />

auszuüben. Zwar sind die Folgelasten der Toleranz, wie die mehr oder weniger liberalen Abtreibungsregelungen<br />

zeigen, nicht symmetrisch auf Gläubige und Ungläubige verteilt; aber<br />

auch das säkulare Bewusstsein kommt nicht kostenlos in den Genuss der negativen Religionsfreiheit.<br />

Von ihm wird die Einübung in einen selbstreflexiven Umgang mit den Grenzen der<br />

Aufklärung erwartet. [...] Die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt, die gleiche ethische<br />

Freiheiten für jeden Bürger garantiert, ist unvereinbar mit der politischen Verallgemeinerung<br />

einer säkularisierten Weltsicht. Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als<br />

Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen,<br />

noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge<br />

zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den<br />

säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge<br />

aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen. 20<br />

16 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in:<br />

ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte,<br />

Frankfurt/M. 21992, 112.<br />

17 Vorpolitische moralische Grundlagen eines einheitlichen Staates. Stellungnahme Prof. Dr. Jürgen<br />

Habermas, in: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 34 (2004), Heft 1, II.<br />

18 Vgl. ebd., III.<br />

19 Vor allem seit seiner Rede 2001 in der Frankfurter Pauluskirche, vgl. Jürgen Habermas,<br />

Glauben und Wissen: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, in: Ansprachen aus Anlass der<br />

Verleihung, Frankfurt/M. 2001, 37–56. Vgl. auch außer dem bereits zitierten Münchner Gespräch:<br />

ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 2005.<br />

20 Zur Debatte (Anm. 17), III.


334<br />

Mariano Delgado<br />

3. Die Religionsfreiheit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil<br />

Wir kommen nun zur Erklärung über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen<br />

Konzils, mit der sich die katholische Kirche zu den Rahmenbedingungen<br />

der Moderne für Religion in der Öffentlichkeit eindrucksvoll bekennt –<br />

und somit der islamischen Welt zeigt, dass solches in einer Religionsgemeinschaft,<br />

die einst dem Paradigma der Polis-Religion verhaftet war, durchaus<br />

möglich ist.<br />

Die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ ist nach Meinung<br />

vieler Experten das Konzilsdokument, „welches [...] im außerkirchlichen<br />

und außertheologischen Raum am meisten Beachtung gefunden hat“ 21 sowie<br />

„innerhalb der Konzilsaula die wohl leidenschaftlichste Diskussion verursacht<br />

und am Ende den vielleicht bedeutendsten theologischen Fortschritt gebracht<br />

hat“ 22. Johannes Paul II. selbst hat „Dignitatis humanae“ „zweifelsohne einer<br />

der revolutionärsten Konzilstexte“ genannt und hinzugefügt, dass die Wirkungsgeschichte<br />

über jede Erwartung der Konzilsväter hinausgegangen ist:<br />

Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit hat dazu beigetragen, enorme moralische<br />

und religiöse Energien frei zu setzen, die einen realen Einfluss auf die sozialen und politischen<br />

Veränderungen der letzten Jahre ausgeübt haben, aber auch auf die innere Struktur der internationalen<br />

Beziehungen. 23<br />

„Dignitatis humanae“ (= DH) 24 ist ein vielschichtiger Text mit verschiedenen<br />

Argumentationsebenen. 25 Die in DH 1 wiederholten Beteuerungen, es<br />

21 Walter Kasper, Wahrheit und Freiheit. Die „Erklärung über die Religionsfreiheit“ des II.<br />

Vatikanischen Konzils, Heidelberg 1988, 5. Vgl. auch ders., Die theologische Begründung der<br />

Menschenrechte, in: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. FS zum 65.<br />

Geburtstag von Paul Mikat, hg. von Dieter Schwab u.a., Berlin 1989, 99–118. Für Kasper ist die<br />

Erklärung über die Religionsfreiheit „das beste Beispiel“ für eine wirkliche Dogmengeschichte auf<br />

der Grundlage der „Lehrentwicklung“: ders., Zum Dialog zwischen den Religionen und zur<br />

Geschichtlichkeit des religiösen Bekenntnisses, in: Johannes Schwartländer, Freiheit der Religion.<br />

Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz 1993, 365–369, 368.<br />

22 Kasper, Wahrheit (Anm. 21), 6.<br />

23 La libertà religiosa negli insegnamenti di Giovanni Paolo II (1978–1998), a cura di Alessandro<br />

Colombo, Milano 2000, 46 (1995).<br />

24 Die Übersetzungen der Konzilstexte entnehmen wir dem neuen Kommentarwerk: Peter<br />

Hünermann / Bernd Jochen Hilberath (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen<br />

Konzil, Freiburg 2004, Band 1.<br />

25 Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte vgl. Jérôme Hamer, Histoire du Texte de la<br />

Déclaration, in: La liberté religieuse. Déclaration „Dignitatis humanae personae“. Texte latin et traduction<br />

française ... sous la direction de Jérôme Hamer et Yves Congar, Paris 1967, 53–110. Zur<br />

Textgeschichte und zu Inhalt vgl. auch Pietro Pavan, in: LThK 2, Ergänzungsband: Das Zweite<br />

Vatikanische Konzil, Band 2, 704–748; Roman A. Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung<br />

über die religiöse Freiheit Dignitatis humanae, in: Herders theologischer Kommentar zum<br />

Zweiten Vatikanischen Konzil, hg. von Peter Hünermann / Bernd Jochen Hilberath, Bd. 4, Freiburg<br />

2005, 125–218 (dort auch zahlreiche Literaturhinweise); vgl. auch: Religious liberty. Paul VI and


Toleranz und Religionsfreiheit 335<br />

gelte dabei aus der heiligen Tradition und der Lehre der Kirche „immer Neues“<br />

hervorzuholen, „das stets mit dem Alten übereinstimmt“ bzw. es gehe um die<br />

Weiterführung der „Lehre der jüngeren Päpste über die unverletzlichen Rechte<br />

der menschlichen Person sowie über die rechtliche Ordnung der Gesellschaft“,<br />

entsprechen dem hermeneutischen Grundsatz, den Johannes XXIII. in seiner<br />

Ansprache zur Eröffnung des Konzils vom 11. Oktober 1962 aufstellte; 26 sie<br />

sind aber auch Ausdruck der Sorge, dass viele Leser die Erklärung über die<br />

Religionsfreiheit als etwas grundsätzlich Neues, als Traditionsbruch missverstehen<br />

könnten. Im Text selbst sind dann zumindest folgende Argumentationsebenen<br />

zu unterscheiden:<br />

(1) Die anthropologisch-individuelle Ebene geht nicht mehr vom Primat der<br />

Wahrheit, sondern von der Würde und Freiheit der menschlichen Person aus,<br />

„so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst<br />

erkannt wird“ (DH 2), und duldet keinen Zwang. Nach dieser Ebene ist Religionsfreiheit<br />

ein in der Würde und Freiheit des Menschen wurzelndes „individuelles<br />

Recht“; die neuzeitliche Autonomie des Subjektes wird nun theonom<br />

verstanden.<br />

(2) Die ontologische Ebene geht vom Nexus zwischen Wahrheit und Freiheit<br />

aus. Demnach duldet auch die Wahrheit keinen Zwang, sondern setze sich<br />

nur „kraft der Wahrheit selbst, die zugleich sanft und stark in die Gemüter<br />

eindringt“ (DH 1) durch. Johannes Paul II. hat dies „das goldene Prinzip“ des<br />

Konzils genannt. 27 Zu der ontologischen Ebene gehört auch die Pflicht und das<br />

Recht eines jeden Menschen, „die Wahrheit im religiösen Bereich zu suchen“<br />

(DH 3). Aber das Recht auf religiöse Freiheit bleibt auch denjenigen erhalten,<br />

„die der Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen und ihr anzuhangen, nicht<br />

Genüge tun; [...] solange nur die gerechte öffentliche Ordnung gewahrt wird“<br />

(DH 2). Dies impliziert das Recht einem irrenden Gewissen zu folgen bzw. die<br />

Duldung des Irrtums um eines höheren Gutes willen.<br />

(3) Die kollektive Ebene folgt weitgehend der klassischen Argumentationsfigur<br />

der libertas ecclesiae; sie versteht Religionsfreiheit als die Freiheit einer<br />

Religionsgemeinschaft, sich frei zu organisieren und im Gemeinwesen frei zu<br />

Dignitatis humanae. A Symposium sponsored by the Istituto Paolo VI and the Catholic University of<br />

America Washington, D.C., 3–5 June 1993 (Pubblicazioni dell’Istituto Paolo VI 16), ed. by John T.<br />

Ford, Brescia/Roma 1995; Gwendoline Jarczyk, La liberté religieuse. 20 ans après le Concile, Paris<br />

1984; Gabrio Lombardi, Persecuzioni, laicità, Libertà religiosa. Dall’Editto di Milano alla „Dignitatis<br />

humanae“, Roma 1991; Franz Xaver Bischof, Die Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis<br />

humanae, in: ders. / Stephan Leimgruber (Hg.), Vierzig Jahre II. Vatikanum. Zur Wirkungsgeschichte<br />

der Konzilstexte, Würzburg 2004, 334–354; Mariano Delgado, Vierzig Jahre „Dignitatis<br />

humanae“ oder Die Religionsfreiheit als Bedingung für Mission und interreligiösen Dialog, in:<br />

Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 89 (2005) 297–310.<br />

26 Vgl. die Ansprache in: Ludwig Kaufmann / Nikolaus Klein, Johannes XXIII. Prophetie im<br />

Vermächtnis, Fribourg 1990, 116–150.<br />

27 La libertà religiosa (Anm. 23), 226 (1994).


336<br />

Mariano Delgado<br />

wirken, so dass ihre Mitglieder öffentlich eine Religion praktizieren und ihre<br />

Kinder in diesem Geist erziehen können.<br />

(4) Aber am wichtigsten in unserem Zusammenhang ist die Verfassungsebene,<br />

die unter gewandelten Bedingungen die Rolle der Kirche in der Öffentlichkeit<br />

einklagt. Die Staatsgewalt wird ermahnt, den Schutz der religiösen<br />

Freiheit aller Bürger wirksam und tatkräftig zu übernehmen und für die Förderung<br />

des religiösen Lebens günstige Bedingungen zu schaffen (DH 6). Die<br />

konziliare Religionsfreiheit zielt auf die prinzipielle Trennung von Staat und<br />

Kirche mit der Überwindung des konstantinischen Zeitalters des Christentums<br />

als Staatsreligion hin (DH 6), sieht aber auch vor, dass in Anbetracht besonderer<br />

Umstände in einem Volk einer einzigen religiösen Gemeinschaft in der<br />

Rechtsordnung des Staates eine spezielle bürgerliche Anerkennung gezollt<br />

wird, sofern dadurch das Recht auf Freiheit in religiösen Dingen für alle Bürger<br />

und religiösen Gemeinschaften anerkannt und gewahrt sowie keine Diskriminierung<br />

erlaubt wird (DH 6); ebenso wird das Recht gefordert, sich in<br />

Freiheit einer religiösen Gemeinschaft anzuschließen oder sie zu verlassen<br />

(DH 6). Die Kirche ermahnt schließlich die Regierenden, das Recht auf Religionsfreiheit<br />

in den verschiedenen juristischen Ordnungen und Staatsverfassungen<br />

zu verankern (DH 12 u. 15), weil man darin ein unverzichtbares regulatives<br />

Prinzip des Zusammenlebens in der modernen Gesellschaft sieht, besonders<br />

angesichts der offenen Tatsache, „dass alle Völker immer mehr eine Einheit<br />

werden, dass Menschen verschiedener Kultur und Religion enger miteinander<br />

in Beziehung kommen und dass das Bewußtsein der eigenen Verantwortlichkeit<br />

im Wachsen begriffen ist“ (DH 15).<br />

(5) Man könnte auch von einer strategischen oder pädagogischen Ebene<br />

bei der Textpräsentation sprechen, sofern zunächst, etwa in den Nr. 2–8, eine<br />

allgemeine Grundlegung der Religionsfreiheit geboten wird, die durch die<br />

Vernunft selbst erkannt werden soll, während in den wenig gelungenen und<br />

wie ein theologischer Überbau wirkenden Nr. 9–15 die Religionsfreiheit als in<br />

der göttlichen Offenbarung wurzelnd begründet wird. Diese Strategie erweckt<br />

den Anschein, dass der erste Teil universal gehalten ist und sich an alle Menschen<br />

guten Willens wendet, während der zweite dazu dienen soll, die binnenkirchliche<br />

Plausibilität zu stärken.<br />

Böckenförde hat scharfsinnig vermerkt, dass die katholische Kirche nun im<br />

Zeichen der Religionsfreiheit keine Forderung an die Staaten mehr erhebt, „die<br />

wahre Religion vorab als ihre Grundlage anzunehmen und sich auf ihren Boden<br />

zu stellen. An ihre Stelle tritt die Forderung, die Freiheit der Kirche anzuerkennen,<br />

ihr die Möglichkeit zu eröffnen, für die christliche Wahrheit zu wirken,<br />

sie frei zu verkünden, den Menschen nahezubringen und ihren Auftrag in<br />

der ihr eigenen Weise zu erfüllen (DH 13)“. 28<br />

28 Böckenförde, Religionsfreiheit (Anm. 9), 134.


Toleranz und Religionsfreiheit 337<br />

In der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (= GS), die sich ausdrücklich<br />

mit dem Selbstverständnis und den Aufgaben der Kirche in der Welt von heute<br />

befasst, nimmt die Kirche „immer und überall“ das Recht in Anspruch, „in<br />

wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzutun, ihren<br />

Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten<br />

einer sittlichen Beurteilung (iudicium morale) zu unterstellen,<br />

wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es<br />

verlangen“ (GS 76). Johannes Paul II. hat sogar die „Kraft des Geistes“, die<br />

einzige Kraft genannt, „über die die Kirche in voller Achtung vor der Autonomie<br />

der zeitlichen Herrschaft verfügt“ 29. Dies kann als eine zeitgemäße<br />

Weiterführung des klassischen Einmischungsrechtes der Kirche in zeitlichen<br />

Angelegenheiten verstanden werden. Man kann sagen, dass die Kirche mit dem<br />

Konzil nicht mehr an Rechten für sich fordert, „als sich aus dem Recht der<br />

Religionsfreiheit ohnehin ergibt“ 30.<br />

Johannes Paul II. hat zudem wiederholt betont, dass die Religionsfreiheit der<br />

„Grund“ 31, die „Garantie“ 32 der „Eckstein“ 33, das „Maß“ 34, das „Herz“ 35, die<br />

„Quelle“ und die „Synthese“ 36 sowie die „Wurzel“ 37 aller anderen Menschenrechte<br />

und „einer der Eckpfeiler der zeitgenössischen Zivilisation“ 38 ist. Sie ist<br />

für ihn auch „Voraussetzung und Garantie für alle Freiheiten, die das Gemeinwohl<br />

der Menschen und der Völker sichern“. 39 In der Sozialenzyklika „Sollicitudo<br />

rei socialis“ spricht er sogar von einer neuen Form der Armut, die in der<br />

Verneinung oder Beschränkung der fundamentalen Menschenrechte, besonders<br />

der Religionsfreiheit, liegt. 40<br />

Ich kann hier auf den Interpretationsstreit, ob die Erklärung über die Religionsfreiheit<br />

in lebendiger Kontinuität mit der katholischen Tradition steht oder<br />

einen Bruch mit derselben darstellt, nicht eingehen. 41 Aber im Zusammenhang<br />

mit der Wirkungsgeschichte von DH kann zumindest dies festgestellt werden:<br />

29 Predigt in Recife (Brasilien) am 7. Juli 1980, in: Osservatore Romano (deutsch) Nr. 30 vom<br />

25. Juli 1980, 8, hier zitiert nach Böckenförde, Religionsfreiheit (Anm. 9), 134.<br />

30 Böckenförde, Religionsfreiheit (Anm. 9), 160.<br />

31 La libertà religiosa (Anm. 23), 7 (1980), 12 (1984), 46 (1995), 259 (1998).<br />

32 Ebd., 9 (1980).<br />

33 Ebd., 14 (1987), 158 (1988), 225 (1994).<br />

34 Ebd., 16 (1987), 145 (1988), 158 (1988).<br />

35 Ebd., 51 (1998).<br />

36 Ebd., 185 (1991).<br />

37 Ebd., 220 (1993).<br />

38 Ebd., 231 (1995).<br />

39 Ebd., 181 (1990).<br />

40 Vgl. ebd., 144 (1987).<br />

41 Vgl. dazu Delgado, Vierzig Jahre (Anm. 25), 302f.


338<br />

Mariano Delgado<br />

Die Katholische Kirche, die noch vor einem Jahrhundert als der Feind der (modernen) Freiheiten<br />

erschien, befindet sich heute an der äußersten Front im Kampf für die Freiheit und die<br />

Menschenrechte. 42<br />

Der Kern der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit findet sich in folgender<br />

– viel zitierter – Stelle enthalten:<br />

Diese Vatikanische Synode erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse<br />

Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von Zwang von<br />

Seiten sowohl Einzelner als auch gesellschaftlicher Gruppen und jedweder menschlicher<br />

Macht, und zwar so, dass im religiösen Bereich weder jemand gezwungen wird, gegen sein<br />

Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat oder öffentlich, entweder allein oder<br />

mit anderen verbunden, innerhalb der gebührenden Grenzen nach seinem Gewissen zu handeln.<br />

Überdies erklärt sie, dass das Recht auf religiöse Freiheit wahrhaft in der Würde der menschlichen<br />

Person selbst gegründet ist, wie sie sowohl durch das geoffenbarte Wort Gottes als auch<br />

durch die Vernunft selbst erkannt wird. (DH 2)<br />

Aus den Konzilsakten 43 geht hervor, dass eine beträchtliche Minderheit der<br />

Konzilsväter die klassische vorkonziliare, metaphysisch-scholastisch argumentierende<br />

Lehre vertrat, wonach nur der wahren Religion, nicht dem Irrtum<br />

Freiheit zustehe. Noch 1948 hatte die einflussreiche Jesuitenzeitschrift La<br />

civiltà cattolica dieses ontologische Prinzip wortgewaltig betont. 44 In der zustande<br />

gekommenen Erklärung über die Religionsfreiheit sahen diese Konzilsväter<br />

die Gefahr des Relativismus und Indifferentismus enthalten, etwas, das<br />

die Päpste des 19. Jahrhunderts bekanntlich wiederholt verurteilt hatten. Die<br />

meisten dieser Konzilsväter nahmen den Text schließlich an, wenn auch nicht<br />

ohne Bedenken. Aber bei der Abschlussabstimmung vom 7. Dezember gab es<br />

immerhin 70 Nein-Stimmen, was die höchste Zahl an ablehnenden Voten darstellt,<br />

„die auf diesem Konzil je bei einem Dokument erreicht wurde“ 45.<br />

Bei der Präzisierung der Religionsfreiheit durch das nachkonziliare Lehramt<br />

hat die Katholische Kirche einerseits die libertas ecclesiae als den ihr eigenen<br />

Begriff von Freiheit betont und andererseits im Sinne des Verständnisses von<br />

Religionsfreiheit in den westlichen Menschenrechtserklärungen auch das Recht<br />

auf Religionswechsel, ja auf Übernahme einer atheistischen Weltanschauung<br />

42 La liberté religieuse dans le judaïsme, le christianisme et l’islam (Colloque International à<br />

l’Abbaye de Sénanque). Préface de Claude Geffré. Actes mis en forme par Eric Binet et Roselyne<br />

Chenu, Paris 1981, 7–8.<br />

43 Vgl. Acta synodalia sacrosancti concilii oecumenici vaticani II, Vatikanstadt 1970f, darin vor<br />

allem die Akten der III. Sitzungsperiode, Bd. 2 und der IV. Sitzungsperiode, Bd. 1. Vgl. dazu David<br />

Neuhold, Konzilsväter und Religionsfreiheit. Eine Vielfalt an Meinungen und Konzepten, aber nur<br />

zwei Wege, in: <strong>Schweizerische</strong> Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 99 (2005) 105–125.<br />

44 Vgl. Fiorello Cavalli SJ, La Condizione dei Protestanti in Spagna, in: Civiltà Cattolica 99<br />

(1948), Bd. II, 33: „Ora la Chiesa cattolica, convinta per le sue divine prerogative di essere l’unica<br />

vera chiesa, deve reclamare per sè sola il diritto alla libertà, perchè unicamente alla verità, non mai<br />

all’errore, questo può competere [...].“<br />

45 Kasper, Wahrheit (Anm. 21), 18.


Toleranz und Religionsfreiheit 339<br />

verteidigt. 46 Nicht zuletzt mit einem Seitenblick auf die islamische Welt wird<br />

betont, dass die Anerkennung einer Staatsreligion im Prinzip die Menschenrechte<br />

nicht verletzt, solange die volle Religionsfreiheit garantiert wird einschließlich<br />

des Rechtes auf Religionswechsel.<br />

4. Konvergenz im 21. Jh.?<br />

Könnte die islamische Welt von Europa lernen?<br />

Aus dem Gesagten gehen drei Schlüsse deutlich hervor:<br />

(1) Zum einen, dass der „Meilenschritt“ von der Toleranz als gnadenhafter<br />

Gabe religiös-politischer Obrigkeit zum einklagbaren Menschenrecht auf individuelle<br />

und kollektive Religionsfreiheit historisch ein Ergebnis der westlichen<br />

Staats- und Gesellschaftsentwicklung ist – wenn auch auf dem „zweiten, mühsamen<br />

Weg“ und gegen den Widerstand der christlichen Konfessionen.<br />

(2) Zum anderen – und damit zusammenhängend –, dass die Religionsfreiheit<br />

in ihrer Entstehung nicht den Kirchen, nicht den Theologen und auch nicht<br />

dem christlichen Naturrecht verdankt wird, „sondern dem modernen Staat, den<br />

Juristen und dem weltlichen rationalen Recht“ 47. Die Religionsfreiheit ist also<br />

nicht ontologischen Wahrheitsdiskussionen oder den Offenbarungsquellen einer<br />

bestimmten Religion entsprungen, sondern der Not, das praktische Zusammenleben<br />

zwischen den Menschen im Zeitalter des religiösen und weltanschaulichen<br />

Pluralismus zu regeln.<br />

(3) Und schließlich, dass das westliche Christentum, am eindruckvollsten<br />

etwa die Katholische Kirche mit der Erklärung über die Religionsfreiheit des<br />

Zweiten Vatikanischen Konzils, sich zu diesem Verständnis von Religionsfreiheit<br />

bekannt hat, wenn auch mit eigenen Akzenten: die Religionsfreiheit wurzelt<br />

für das Konzil in der schöpfungstheologischen Würde des Menschen und<br />

dem Naturrecht.<br />

Das ein solches Bekenntnis zur Religionsfreiheit und so auch zu den Bedingungen<br />

der Moderne für Religion in der Öffentlichkeit in den meisten Ländern<br />

der islamischen Welt bisher nicht möglich war, ist der Hauptgrund für die<br />

heutige Divergenz mit Europa.<br />

Während das Christentum jene Phase überwunden hat, in der es für Häresie<br />

und Glaubensabfall kein Pardon gab und die Kirchen nicht davor zurück<br />

46 So zuletzt der vatikanische „Außenminister“ Erzbischof Giovanni Lajolo, am 3. Dezember<br />

2004 in einer Rede zum Abschied des US-Botschafters beim Heiligen Stuhl im Rahmen der an der<br />

Gregoriana stattfindenden Konferenz „Religious Freedom, Cornerstone of Human Dignity“, vgl.:<br />

http://www.vatican.va/roman_curia/secretariat_state/2004/documents/rc_seg-st_20041203_ lajolo<br />

-gregorian-univ_en.html (Stand: 30. August 2006).<br />

47 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Kirchlicher Auftrag und politisches Handeln (Schriften zu<br />

Staat, Gesellschaft, Kirche Bd. 2), Freiburg 1989, 18.


340<br />

Mariano Delgado<br />

schreckten, das zeitliche Schwert mit der Vollstreckung der Todesstrafe zu<br />

beauftragen, herrscht in den meisten islamischen Ländern ein anderes Verständnis<br />

von Religionsfreiheit, das die kollektive libertas anderer Religionen in<br />

der Öffentlichkeit weitgehend einschränkt und individuelle Bekehrungen zu<br />

anderen Religionen streng verfolgt. Trotz verschiedener Anläufe hat sich die<br />

islamische Welt zum westlichen Verständnis der Religionsfreiheit, das im<br />

Namen der Menschenwürde den Anspruch auf universelle und unteilbare Geltung<br />

stellt, bisher nicht uneingeschränkt bekennen können.<br />

In den Verfassungen der islamischen Staaten „findet man einerseits im Rahmen<br />

einer Aufzählung von Freiheiten und Pflichten des Bürgers das Recht auf<br />

Glaubensfreiheit und auf freie Ausübung religiöser Zeremonien, andererseits<br />

aber auch, daß das islamische Recht (Scharia) eine oder sogar die Quelle der<br />

Gesetze oder der Gesetzgebung sei“ 48. Ähnlich ist der Tenor in den verschiedenen<br />

islamischen Menschenrechtserklärungen, so etwa in der „Allgemeinen<br />

Islamischen Menschenrechtserklärung“ des Islamischen Rates für Europa vom<br />

19. September 1981 49, in der „Kairoer Erklärung über die Menschenrechte im<br />

Islam“ der Islamischen Konferenz der Außenminister vom 5. August 1990 50,<br />

und in der „Arabischen Charta der Menschenrechte“ des Rates der Liga der<br />

arabischen Staaten vom 15. September 1994 51. Lediglich die „Islamische<br />

Char-ta“ des Zentralrates der Muslime in Deutschland zur Beziehung der<br />

Muslime zum (deutschen) Staat und zur (deutschen) Gesellschaft vom 20.<br />

Februar 2002 bekennt sich zum westlichen Verständnis der Religionsfreiheit,<br />

aber nicht im universalen, uneingeschränkten Sinne, sondern im<br />

Zusammenhang mit dem Prinzip der Anerkennung des Rechtes des Gastlandes,<br />

das für Muslime „in der Diaspora“ gilt, weshalb diese Charta von den Kritikern<br />

als „Mogelpackung“ bezeichnet wird 52. Dort heißt es in Art. 11:<br />

Ob deutsche Staatsbürger oder nicht, bejahen die im Zentralrat vertretenen Muslime daher<br />

die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grund-<br />

48 Martin Forstner, Das Menschenrecht der Religionsfreiheit und des Religionswechsels als<br />

Problem der islamischen Staaten, in: Kanon, Kirche und Staat im christlichen Osten X (1991) 105–<br />

186, hier 105.<br />

49 Vgl. Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen (Bundeszentrale für Politische Bildung,<br />

Schriftenreihe 397), Bonn 2004 (4. aktualisierte und erweiterte Aufl.), 546–561 (darin Art. 11).<br />

50 Ebd., 562–567 (darin Art. 10, Art. 22 und Art. 25).<br />

51 Ebd., 568–574 (darin Präambel, Art. 26 und Art. 27).<br />

52 Vgl. den offiziellen Wortlaut in: http://www.islam.de/3035.php (Stand 30. August 2006); vgl.<br />

dazu Rainer Brunner, Die „Islamische Charta“ des Zentralrats der Muslime in Deutschland, in:<br />

http://www.gazette.de/Archiv/Gazette-September2002/Brunner04.html (Stand 30. August 2006).<br />

Ähnlich ist m.E. das seit dem 7. Juli 2006 von Tariq Ramadan in verschiedenen Zeitungen<br />

publizierte „Manifesto for a new ‚WE’ – An Appeal to the western Muslims, and their fellow Citizens“<br />

(online: http://www.tariqramadan.com/article.php3?id_article=743&lang=en) zu verstehen, in<br />

dem empfohlen wird, „that Muslims are expected to respect the laws of the countries in which they<br />

reside, and to which they must be loyal“ – könnte es denn anders sein? Vgl. dazu Ralph Ghadban,<br />

Tariq Ramadan und die Islamisierung Europas, Berlin 2006.


Toleranz und Religionsfreiheit 341<br />

ordnung der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich des Parteienpluralismus, des aktiven<br />

und passiven Wahlrechts der Frau sowie der Religionsfreiheit. Daher akzeptieren sie auch das<br />

Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben. Der Koran untersagt<br />

jede Gewaltausübung und jeden Zwang in Angelegenheiten des Glaubens.<br />

Den genannten islamischen Menschenrechtserklärungen und Verfassungen<br />

liegt ein Denken zugrunde, das man „islamischen Kommunitarismus“ nennen<br />

könnte. Die Religionsfreiheit wird darin den anderen nicht als universelles und<br />

unteilbares Recht zugestanden, das der Würde der menschlichen Person und<br />

dem Naturrecht entspringt, sondern nur sofern sie mit den Prinzipien der Scharia<br />

und des Islam, die zwar keinen Zwang in der Religion dulden, aber zugleich<br />

von der Vorherrschaft des Islam als öffentlicher Religion ausgehen und Bekehrungen<br />

zu anderen Religionen untersagen, 53 kompatibel sind. Die Flut von<br />

Literatur über Religionsfreiheit und Islam kann nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass für die Mitglieder anderer Religionen in den meisten islamischen Ländern<br />

nur die Rolle von „Schutzbefohlenen“ reserviert ist – gemäß der im Koran<br />

empfohlenen „Toleranz“. 54<br />

Diese Situation belastet die westlich- und die christlich-islamischen Beziehungen.<br />

Es ist daher kein Wunder, dass Papst Johannes Paul II. im Hinblick<br />

auf den Islam ernüchternd eine „korrekte Beziehung“ 55 empfohlen hat, die<br />

einerseits sich des beträchtlichen Unterschiedes zwischen der europäischen<br />

Kultur, mit ihren christlichen Wurzeln, und dem muslimischen Denken bewusst<br />

ist, und andererseits die Einhaltung der Gegenseitigkeit bei der Zusicherung<br />

der Religionsfreiheit verlangt, so dass die christlichen Minderheiten in<br />

den islamischen Ländern ebenso davon profitieren können wie die Muslime in<br />

Europa.<br />

Man vermisst in der islamischen Welt z.B., dass höchste religiöse Autoritäten<br />

sich ähnlich advokatorisch wie Johannes Paul II. äußern, der die Christen<br />

aufgefordert hat, Anwälte der Rechte der anderen zu sein:<br />

53 Forstner – Menschenrecht (Anm. 48), 115 – hält als Ergebnis seiner akribischen Untersuchung<br />

fest: „Das Recht, die Religion zu wechseln, betrifft nur den Übertritt zum Islam. Der immer wieder<br />

zitierte Koranvers: ‚Es gibt keinen Zwang in der Religion’ kann durch einen Muslim nicht so<br />

ausgelegt werden, als ob es ihm gestattet sei, den Islam aufzugeben und eine andere Religion oder<br />

irgendeine andere Weltanschauung anzunehmen.“<br />

54 Vgl. dazu u.a. außer dem bereits zitierten Beitrag von Forstner, Menschenrecht (Anm. 48):<br />

Schwartländer, Freiheit der Religion (Anm. 21), darin vor allem den Beitrag von Adel Theodor<br />

Khoury, Das Problem der religiösen Minderheiten im Islam, 380–384; Johannes Müller, Christentum<br />

und Islam – „Kampf der Kulturen“? Religionsfreiheit zwischen Anspruch und Wirklichkeit,<br />

in: Stimmen der Zeit 219 (2001) 795–806; Walter Kerber (Hg.), Wie tolerant ist der Islam?<br />

München 1991; Karl-Heinz Peschke, Europa und die islamische Welt, in: Die Neue Ordnung 53<br />

(1999), Heft 1, 64–71; Adel Theodor Khoury / Franz-Georg Rips, Der Islam und die<br />

Religionsfreiheit (Aktuelle Fragen 2), Altenberge 1981; Muddathir Ábd al-Rahim, The Islamic<br />

tradition (Human rights and the world’s major religions 3), London 2005; William H. Brackney,<br />

The Christian tradition (Human rights and the world’s major religions 2), London 2005.<br />

55 Vgl. Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Ecclesia in Europa“ von Papst Johannes Paul II.<br />

vom 28. Juni 2003 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 161), Bonn 2003, Nr. 57: S. 54.


342<br />

Mariano Delgado<br />

Erhebt eure Stimme, wenn die Menschenrechte Einzelner, von Minderheiten und von Völkern<br />

verletzt werden, nicht zuletzt auch das Recht auf Religionsfreiheit [...], befaßt euch nach<br />

Maßgabe von Gerechtigkeit und Unparteilichkeit und im Geiste einer großen Solidarität mit<br />

dem wachsenden Phänomen der Migration, damit sie eine neue Quelle für die europäische Zukunft<br />

werde. 56<br />

Auch die nach Europa eingewanderten Muslime haben Probleme mit dem<br />

westlichen Verständnis von Religionsfreiheit. Sie beanspruchen zwar gerne –<br />

und nicht zu Unrecht – die kollektive Religionsfreiheit oder die öffentlichrechtliche<br />

Anerkennung, um sich als Glaubensgemeinschaft ähnlich wie die<br />

Kirchen organisieren zu können: Bau von Moscheen und Kulturzentren, Religionsunterricht<br />

an den Schulen, Ausbildung von Imamen, geistliche Betreuung<br />

in Spitälern, eigene Friedhöfe und anderes mehr. Zugleich haben sie Schwierigkeiten<br />

mit der theoretischen wie praktischen Anerkennung der positiven wie<br />

negativen individuellen Religionsfreiheit, 57 die ein wesentliches Merkmal der<br />

Religionsfreiheit ist und von unseren Gesellschaften oft als Gradmesser für die<br />

Integration und Bedingung für die Gewährung der kollektiven Religionsfreiheit<br />

verstanden wird, denn eine solche Anerkennung wäre Ausdruck der Loyalität<br />

zu unserer Rechtskultur. Immer wieder berichten aber die Zeitungen davon,<br />

dass europäische Muslime, die westlich leben wollen oder zum Christentum<br />

konvertieren, von Mitgliedern der eigenen Familie verfolgt und gar getötet<br />

werden.<br />

5. Aufgaben angesichts der westlich-islamischen Divergenz<br />

im Verständnis der Religionsfreiheit<br />

Ich möchte abschließend einige Aufgaben beschreiben, die sich m.E. aus der<br />

westlich-islamischen Divergenz im Verständnis der Religionsfreiheit ergeben.<br />

(1) Die durch Migration und Missionierung erfolgte religiöse Transformation<br />

der westlichen Gesellschaften, die unterdessen nicht nur plurikonfessionell,<br />

sondern auch „plurireligiös“ geworden sind, erfordert hierzulande ein<br />

verstärktes Nachdenken über Religionsfreiheit als Bedingung für Religion in<br />

der Öffentlichkeit. Vielfach wird auch schon darüber geforscht. 58<br />

56 Ebd., Nr. 115: S. 95.<br />

57 Vgl. Ulrich Rudolph, Religionsfreiheit – kollektiv und individuell. Debatte um die Integration<br />

von Muslimen auf zwei Ebenen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 7. Dezember 2004, 14.<br />

58 Vgl. exemplarisch u.a.: Axel Frhr. v. Campenhausen, Neue Religionen im Abendland I, in:<br />

ders., Gesammelte Schriften, Tübingen 1995, 409–444; ders., Aktuelle Aspekte der Religionsfreiheit.<br />

Neue Religionen im Abendland II, in: ebd., 445–454; Christoph Winzeler, Fremde Religionen in der<br />

Schweiz unter Gesichtspunkten der Religionsfreiheit und des Religionsverfassungsrechts, in:<br />

Zeitschrift für <strong>Schweizerische</strong>s Recht 117 (1998) 237–261; Thomas M. Schmidt, Religionsfreiheit in<br />

pluralistischen Gesellschaften – Ausschluß des Religiösen aus der politischen Öffentlichkeit?, in:


Toleranz und Religionsfreiheit 343<br />

(2) Ebenso nötig ist eine behutsame Universalisierung der Religionsfreiheit,<br />

die aus den Fehlern bei der ersten Globalisierung lernt. Die Probleme, die<br />

man heute mit der Religionsfreiheit in der islamischen Welt, aber auch in Indien<br />

oder in China hat, sind nur bedingt unter Rekurs auf die dortigen religiösen<br />

und kulturellen Traditionen zu erklären, die Menschenrechte anders als im<br />

Westen und im Christentum verstehen. Diese Probleme sind z.T. auch Ausdruck<br />

eines Widerstandes gegen die westlich-christliche Dominanz, die sich<br />

seit der zweiten, von der Aufklärung geprägten Achsenzeit (Karl Jaspers) weltweit<br />

ausbreitet und im Schatten der jetzigen Globalisierung eine besondere<br />

Beschleunigung erlebt. Darauf reagieren die nicht-westlichen Kulturkreise mit<br />

einer Halbierung der Moderne: die Errungenschaften der wissenschaftlichtechnischen<br />

Zivilisation nehmen sie gerne an, aber die Universalisierung westlicher<br />

Werte wollen sie nur dulden, wenn diese mit ihren eigenen Werten kompatibel<br />

sind oder sich ihnen unterordnen lassen. Kein geringerer als der jetzige<br />

Papst Benedikt XVI. hat als Kardinal Ratzinger im berühmten Gespräch mit<br />

Jürgen Habermas, das im Januar 2004 in München stattfand, darauf aufmerksam<br />

gemacht:<br />

Der Islam hat einen eigenen, vom westlichen abweichenden Katalog der Menschenrechte<br />

definiert. China ist zwar heute von einer im Westen entstandenen Kuturform, dem Marxismus,<br />

bestimmt, stelle aber, soweit ich informiert bin, doch die Frage, ob es sich bei den Menschenrechten<br />

nicht um eine typisch westliche Erfindung handele, die hinterfragt werden müsse. 59<br />

Dem setzen die westliche Kultur und die sie maßgeblich prägende Religion<br />

ein Verständnis der Welt als universaler Kommunikationsgemeinschaft, als<br />

Menschheitsfamilie sowie ein Verständnis der Menschrechte als universaler,<br />

weil in der unveräußerlichen Würde des Menschen wurzelnder Rechte entgegen.<br />

60 Darauf spielen z.B. auch die letzten Worte von „Dignitatis humanae“<br />

an, die von der Notwendigkeit der Religionsfreiheit „besonders in der<br />

gegenwärtigen Situation der Menschheitsfamilie“ handeln:<br />

Religion – Staat – Gesellschaft. Zeitschrift für Glaubensformen und Weltanschauungen 1 (2000)<br />

323–337; René Pahud de Mortanges / Erwin Tanner (Hg./éd.), Muslime und schweizerische Rechtsordnung<br />

/ Les musulmans et l’ordre juridique suisse (Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht<br />

13), Freiburg Schweiz 2002.<br />

59 Vorpolitische moralische Grundlagen eines einheitlichen Staates. Stellungnahme Joseph<br />

Kardinal Ratzinger, in: Zur Debatte (Anm. 17), S. IV.<br />

60 Vgl. dazu die philosophische Diskussion um den universalen Anspruch der Menschenrechte,<br />

so u.a.: Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 1993;<br />

Die universale Geltung der Menschenrechte, hg. v. der Hanns-Seidel-Stiftung, Grünwald 1995;<br />

Otfried Höffe, Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt/M.<br />

1996; ders., Aufbruch zur politischen Globalisierung. Westliche oder universale Werte? 13. Peter<br />

Kaiser-Vortrag vom 19. September 2002 im Haus Stein-Egerta, Schaan (Veranst. vom Liechtenstein-<br />

Institut), Vaduz 2002; Thomas Hoppe, Menschenrechte im Spannungsfeld von Freiheit, Gleichheit<br />

und Solidarität. Grundlagen eines internationalen Ethos zwischen universalem Geltungsanspruch und<br />

Partikularitätsverdacht (Theologie und Frieden 17), Stuttgart 2002.


344<br />

Mariano Delgado<br />

Es ist nämlich offenkundig, dass alle Völker von Tag zu Tag mehr eins werden, dass Menschen<br />

verschiedener Kultur und Religion durch engere Beziehungen untereinander verbunden<br />

werden, dass schließlich das Bewusstsein von der je eigenen Verantwortung wächst. Daher ist<br />

es, damit friedliche Beziehungen und Eintracht im Menschengeschlecht hergestellt und gestärkt<br />

werden, erforderlich, dass überall auf Erden die religiöse Freiheit durch einen wirksamen<br />

rechtlichen Schutz gesichert wird und die höchsten Pflichten und Rechte der Menschen, ihr religiöses<br />

Leben in der Gesellschaft frei zu führen, beachtet werden. (DH 15)<br />

Gewiss, die Universalisierung der Religionsfreiheit ist ein wichtiges, unverzichtbares<br />

Prinzip. Man darf aber dabei nicht vergessen, dass der Art. 18 der<br />

„Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen von<br />

1948 („Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit;<br />

dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltanschauung<br />

zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung<br />

allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre,<br />

Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen“ 61) den aggressivmissionarisch<br />

gesinnten protestantischen Internationalismus der Zwischenkriegszeit<br />

widerspiegelt, „der Religionsfreiheit primär als Freiheit zur Verbreitung<br />

des eigenen Glaubens und Bekehrung zum Christentum verstand.“ 62<br />

Nicht zuletzt aus diesem Grund muss die Universalisierung der Religionsfreiheit<br />

sehr behutsam geschehen, d.h. unter Berücksichtigung der Fehler, die<br />

der Westen im Schatten der ersten Globalisierung im Entdeckungszeitalter begangen<br />

hat. Auch damals betrachtete man die Welt als eine einzige Republik<br />

oder „Kommunikationsgemeinschaft“; auch damals beanspruchte man das<br />

Recht auf Universalisierung der eigenen Kultur und Religion. Aber dieser Diskurs<br />

war nicht ganz herrschaftsfrei. Selbst der nüchterne Salamanca-Theologe<br />

Francisco de Vitoria sah z.B. in der – nötigenfalls gewaltsamen – Durchsetzung<br />

des Missions- und Migrationsrechtes letzten Endes auch eine Tür zur<br />

Führung von gerechten Kriegen, um sich nach und nach die Herrschaft fremder<br />

Länder und Völker anzueignen. 63<br />

Es wäre daher gut, wenn der Westen und das Christentum sich der „Last der<br />

Geschichte“ 64 wirklich bewusst werden und unmissverständlich zeigen, dass<br />

mit der Universalisierung der Menschenrechte keinerlei Herrschaftsansprüche<br />

verbunden sind. „Die Überzeugung des Verstandes mit Vernunftgründen und<br />

61 Menschenrechte (Anm. 49), 54–58.<br />

62 Brian Stanley, Religionsfreiheit VI.: Missionswissenschaftlich, in: RGG 4 Bd. 7, 314–315, 314.<br />

63 Vgl. Francisco de Vitoria, De Indis / Über die Indianer III,11, in: ders., Vorlesungen II.<br />

Völkerrecht, Politik, Kirche, hg. von Ulrich Horst / Heinz-Gerhard Justenhoven / Joachim Stüben<br />

(Theologie und Frieden 8), Stuttgart 1997, 474–477; vgl. dazu Mariano Delgado, Abschied vom<br />

erobernden Gott. Studien zur Geschichte und Gegenwart des Christentums in Lateinamerika (Supplementa<br />

der NZM 43), Immensee 1996, 46–52.<br />

64 Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog / Kongregation für die Evangelisierung der<br />

Völker, Dialog und Verkündigung. Überlegungen und Orientierungen zum interreligiösen Dialog und<br />

zur Verkündigung des Evangeliums vom 19. Mai 1991 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls<br />

102), Bonn 1991, hier Nr. 74.


Toleranz und Religionsfreiheit 345<br />

die sanfte Anlockung und Ermahnung des Willens“ 65, die Bartolomé de Las<br />

Casas im Schatten der ersten Globalisierung als die einzige Art der Verbreitung<br />

des Christentums verteidigte, um der aggressiven Auslegung des Missionsrechts<br />

den Wind aus dem Segel zu nehmen, müsste auch heute – säkular<br />

gewendet – die einzige Art der Universalisierung der Menschenrechte sein.<br />

Hinter dem Widerstand gegen die Universalisierung westlicher Werte steckt<br />

nicht immer der so genannte „Kampf der Kulturen“. Manchmal verbirgt sich<br />

dahinter die Angst, dass wir nach fünf Jahrhunderten Globalisierung nichts<br />

dazu gelernt haben könnten. 66<br />

(3) Sowohl die in Europa lebenden Muslime als auch die islamische Welt<br />

werden nicht umhin kommen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob der<br />

Islam im Allgemeinen und der „Islam in Europa“ im Besonderen zu einer<br />

differenzierten Auseinandersetzung mit der Moderne nach dem Prinzip von<br />

„Anpassung und Widerspruch“ und zu einer Bejahung der Religionsfreiheit<br />

als Bedingung für Religion in der Öffentlichkeit fähig sein wird, wie dies etwa<br />

die Katholische Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil getan hat, oder<br />

ob er vielmehr – ähnlich dem Katholizismus des 19. Jahrhunderts – eine antimodernistische<br />

„Islamisierung Europas“ intendieren wird. Für das europäischislamische<br />

Gespräch sowie für das Gedeihen des Zusammenlebens in unseren<br />

Gesellschaften ist dies eine grosse Unbekannte. 67<br />

(4) Schließlich verlangt die zunehmende Relevanz des religiösen Faktors<br />

bei der Gestaltung des Weltfriedens eine besondere Aufmerksamkeit für den<br />

Beitrag der Religionen zu den Menschenrechten bzw. zur Ethik im Allgemeinen.<br />

68 Im erwähnten Gespräch mit Habermas spricht Kardinal Ratzinger von<br />

65 Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 1: Missionstheologische Schriften, hg. von<br />

Mariano Delgado, Paderborn 1994, 107 u.a.<br />

66 Vgl. Delgado, Vierzig Jahre (Anm. 25) und Müller, Christentum und Islam (Anm. 54).<br />

67 Vgl. dazu Ghadban, Tariq Ramadan (Anm. 52); Jytte Klausen, Europas muslimische Eliten.<br />

Wer sie sind und was sie wollen, Frankfurt/M. 2006; Bassam Tibi, Europa ohne Identität?<br />

Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, München 22001; Katajun Amirpur / Ludwig Ammann (Hg.),<br />

Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion, Freiburg<br />

2006; Karl Gabriel, Religionen im öffentlichen Raum: Perspektiven in Europa (Jahrbuch für<br />

christliche Sozialwissenschaften.44), Münster 2003 (dort Lit.); Franz-Xaver Kaufmann, Religion<br />

und Modernität. Sozialwissenschaft-liche Perspektiven, Tübingen 1989; Urs Altermatt / Heinz<br />

Hürten / Nikolaus Lobkowicz (Hg.), Moderne als Problem des Katholizismus (Eichstätter Beiträge<br />

28; Abteilung Philosophie und Theologie 6), Regensburg 1995.<br />

68 Vgl. dazu exemplarisch außer der bereits oben (Anm. 54) zitierten Literatur: La liberté religieuse<br />

(Anm. 43); Roberto Mancini u.a., La libertà religiosa tra tradizione e moderni diritti<br />

dell’uomo. Le prospettive delle grandi religioni, Torino 2002; La liberté religieuse dans le monde.<br />

Analyse doctrinale et politique (Actes du colloque international organisé les 21 et 22 avril 1989 à<br />

Aix-en-provence), sous la direction de Joël-Benoît d’Onorio, avec la collaboration de Philippe-<br />

Ignace André-Vincent, Paris 1991; Franz Wolfinger, Die Religionen und die Menschenrechte. Eine<br />

noch unentdeckte Allianz, München 2000; Joseph Runzo (Ed.), Human rights and responsibilities in<br />

the world religions (The library of global ethics and religion 4), Oxford 2003; Human rights.<br />

Christianity and other religions (Studia missionalia 39), Roma 1990; Leroy S. Rouner (Ed.), Human<br />

rights and the world's religions, Notre Dame, Ind. 1988; Leonard Swidler (Ed.), Religious liberty


346<br />

Mariano Delgado<br />

einer „notwendigen Korrelationalität von Vernunft und Glaube, Vernunft und<br />

Religion, die zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind und die<br />

sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig anerkennen müssen“ 69. Er fordert<br />

auch, dass diese Korrelationalität im „interkulturellen Kontext“ unserer<br />

Gegenwart konkretisiert werden muss:<br />

Ohne Zweifel sind die beiden Hauptpartner in dieser Korrelationalität der christliche Glaube<br />

und die westliche säkulare Rationalität. Das kann und muss man ohne falschen Eurozentrismus<br />

sagen. Beide bestimmen die Weltsituation in einem Maß wie keine andere der kulturellen<br />

Kräfte. Aber das bedeutet doch nicht, dass man die anderen Kulturen als eine Art ‚quantité<br />

négligeable‘ beiseite schieben dürfte. Dies wäre nun doch eine westliche Hybris, die wir teuer<br />

bezahlen würden und zum Teil schon bezahlen. Es ist für die beiden großen Komponenten der<br />

westlichen Kultur wichtig, sich auf ein Hören, eine wahre Korrelationalität auch mit diesen<br />

Kulturen einzulassen. Es ist wichtig, sie in den Versuch einer polyphonen Korrelation hineinzunehmen,<br />

in der sie sich selbst der wesentlichen Komplementarität von Vernunft und Glaube<br />

öffnen, so dass ein universaler Prozess der Reinigungen wachsen kann, in dem letztlich die von<br />

allen Menschen irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen neue<br />

Leuchtkraft gewinnen können, so dass wieder zu wirksamer Kraft in der Menschheit kommen<br />

kann, was die Welt zusammenhält. 70<br />

Ein nachhaltiger Weltfriede hängt heute nicht zuletzt davon ab, ob es uns<br />

gelingen wird, die hier angemahnte „polyphone Korrelation“ von Vernunft und<br />

Religion sowie der wesentlichen Werte und Normen in den Religionen und<br />

Kulturen zustande zu bringen.<br />

Zusammenfassung: Der Beitrag macht auf die historische Konvergenz und Divergenz in Sachen<br />

Toleranz und Religionsfreiheit zwischen Europa und der islamischen Welt aufmerksam und stellt<br />

die Religionsfreiheit, wie sie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten<br />

Nationen und in anderen internationalen Verträgen verstanden wird, als ein Kind westlicher<br />

Staats- und Gesellschaftsentwicklung mit universalem Geltungsanspruch dar. Darüber hinaus zeigt<br />

der Beitrag wie die größte christliche Konfession, nämlich die römisch-katholische Kirche, sich<br />

beim Zweiten Vatikanischen Konzil zur Religionsfreiheit bekannt hat. Danach werden einige<br />

and human rights in nations and in religions, Philadelphia 1986; W. A. R. Shadid / P. S. van<br />

Koningsveld (Ed.), Religious freedom and the neutrality of the state. The position of Islam in the<br />

European Union, Leuven 2002; Religion and human rights. An international journal, Leiden 2006;<br />

Carrie Gustafson (Ed.), Religion and human rights. Competing claims?, Armonk, NY 1999; Paul M.<br />

Taylor, Freedom of religion. UN and European human rights law and practice, Cambridge 2005;<br />

Carolyn Evans, Freedom of religion under the European Convention on Human Rights, Oxford<br />

2001; Jean-François Renucci, Article 9 on the European Convention on Human Rights. Freedom of<br />

thought, conscience and religion (Humanrights files 20), Strasbourg 2005; Natan Lerner, Religion,<br />

beliefs, and international human rights, Maryknoll N.Y. 2000; Hans Küng, Projekt Weltethos,<br />

München 72002; Wozu Weltethos? Religion und Ethik in Zeiten der Globalisierung. Hans Küng im<br />

Gespräch mit Jürgen Hoeren, Freiburg 2002; Christen Hasselmann, Weltreligionen entdecken ihr<br />

gemeinsames Ethos. Der Weg zur Weltethoserklärung. Mit einem Vorwort von Hans Küng, Mainz<br />

2002; Anton Grabner-Haider (Hg.), Ethos der Weltkulturen. Religion und Ethik. Mit einem Vorwort<br />

von Hans Küng, Göttingen 2006.<br />

69 Zur Debatte (Anm. 17), S. V.<br />

70 Ebd., S. V und VI.


Toleranz und Religionsfreiheit 347<br />

Konfliktfelder zwischen Europa und der islamischen Welt im Schatten der heute vorhandenen<br />

Divergenz im Verständnis der Religionsfreiheit angesprochen sowie einige Aufgaben aufgezeigt.<br />

Sumamry: The contribution draws attention to the historical convergence and divergence as<br />

regards matters of tolerance and religious freedom in and between Europe and the Islamic world.<br />

It depicts religious freedom with its universal claim to validity in the way it is understood in the<br />

Universal Declaration of Human Rights of the United Nations and in other international treaties as<br />

an offspring of the development of the state and society in the West. In addition, the contribution<br />

shows how the largest Christian denomination, namely the Roman Catholic Church, declared its<br />

support for religious freedom at the Second Vatican Council. It subsequently mentions several<br />

areas of conflict between Europe and the Islamic world in the shadow of the currently existing<br />

divergence in the understanding of religious freedom, and then identifies some tasks.


Die spanischen Bibelübersetzungen<br />

in der Frühen Neuzeit<br />

Mariano Delgado<br />

Spanien gilt als ein Land, das in der Frühen Neuzeit Bibelübersetzungen in die<br />

Volkssprache streng verfolgt bzw. nicht zugelassen hat. Und doch waren zunächst<br />

die Voraussetzungen dafür gerade in Spanien besonders günstig. Bereits<br />

während des Hochmittelalters wurde z.B. die Bibel ins Spanische übersetzt, und<br />

zwar sowohl von Christen als auch von Juden. Unter den christlichen Übersetzungen,<br />

die zumeist der Vulgata folgen, ragt die «alfonsinische Bibel» heraus,<br />

so genannt, weil König Alfons X. sie um 1280 in seine General e Grand Estoria<br />

aufnahm. Sie ist vielfach eher eine Paraphrase des Alten Testamentes im Stil<br />

mittelalterlicher Chroniken. Die jüdischen Übersetzungen erfolgen aus dem Hebräischen<br />

oder dem Aramäischen, beschränken sich naturgemäss auf die «hebräische<br />

Bibel» und werden anhand des masoretischen Textes nach dem Prinzip<br />

der buchstäblichen Übersetzung erstellt. Man spricht auch von vier verschiedenen<br />

«nachalfonsinischen» Versionen, die z.T. verschollen oder nur fragmentarisch<br />

erhalten sind und von denen die bedeutendste die «Bibel von Alba» aus der<br />

Zeit um 1430 ist, so genannt, weil sie sich im Besitz des Hauses Alba befindet. 1<br />

1 Vgl. dazu und zu den mittelalterlichen spanischen Bibelübersetzungen (in Auswahl): Mª<br />

del Carmen Fernández López, Edición crítica del «Libro de Isaías» de la Tercera Parte de<br />

la «General estoria» (Microfilm), Alcalá de Henares 1998; A. Castro/A. Millares Carlo/A.<br />

J. Battistessa (Hg.), Biblia medieval romanceada. Según los ms. escurialenses I-j-3, I-j-8 y<br />

I-j-b, Buenos Aires 1927; M. G. Littlefield (Hg.), Biblia romanceada I.I.8. The 13thcentury<br />

Spanish Bible contained in Escorial MS. I.I.8, Madison 1983; L. Amigo, El<br />

Pentateuco de Constantinopla y la Biblia medieval romanceada judeoespañola. Criterios y<br />

fuentes de traducción, Salamanca 1983; J. Llamas (Hg.), Biblia medieval romanceada<br />

judio-cristiana. Versión del Antiguo Testamento en el siglo XIV, sobre textos hebreo y<br />

latino, 2 vols., Madrid 1950; M. Lazar (Hg.), Biblia Romanceada. Real Academia de la<br />

Historia, MS.87, 15th century, Madison 1994; A. Paz y Melia (Hg.), Biblia (Antiguo<br />

Testamento), traducida del hebreo al castellano por Rabí Mose Arragel de Guadalfajara<br />

(1422–1433?) y publicada por el Duque de Berwick y de Alba, 2 vols., Madrid 1920–1922;<br />

La Biblia de Alba. An illustrated manuscript Bible in Castilian, commissioned in 1422 by<br />

Don Luis de Guzmán and now in the Library of the Palacio de Liria, Madrid, with transl. and<br />

commentaries by M. Arragel, Madrid 1992; L. Amalia Isod, La Biblia de la Casa de Alba.<br />

SZRKG, 101 (2007), 209–224<br />

08.11.2007 – 10:59:00


210<br />

08.11.2007 – 10:59:00<br />

Mariano Delgado<br />

In der Frühen Neuzeit nimmt auch in Spanien die wissenschaftliche Beschäftigung<br />

mit der Bibel zu. Ausdruck davon sind nicht nur die vielen - oft auch<br />

höchstem Niveau erstellten – Bibelkommentare, 2 sondern auch die polyglotten<br />

Bibelausgaben für den wissenschaftlichen Gebrauch, wie etwa die Complutense<br />

Bibel, 1514–1517 unter dem Patronat des Kardinals Jiménez de Cisneros in Alcalá<br />

de Henares gedruckt, und die Antwerpener Bibel, auch Biblia Regia genannt,<br />

die unter der Schirmherrschaft des spanischen Königs Philipp II. zwischen<br />

1569 und 1573 von Benito Arias Montano in Antwerpen herausgegeben wurde.<br />

Mitte des 16. Jahrhunderts waren die Würfel für die spanische Sonderentwicklung<br />

in Sachen Bibelübersetzung noch nicht gefallen. Juan de Zumárraga<br />

(ca. 1468–1548), Franziskaner, Humanist und erster Bischof von Mexiko-Stadt,<br />

konnte daher 1546 am Ende seiner ebendort gedruckten Doctrina cristiana mit<br />

gesundem Menschenverstand wie freimütig festhalten:<br />

«Und ich bin nicht der Meinung derjenigen, die sagen, dass die idiotas und<br />

Ungebildeten [= die Laien] die Evangelien und die Episteln nicht in der Sprache<br />

eines jeden Volkes lesen sollten. Denn es wäre wohl gegen den Willen Christi,<br />

dass seine Lehre und Geheimnisse nicht in der ganzen Welt bekannt werden. Daher<br />

meine ich, es wäre zweckmässig, dass jede Person, gleich wie ungebildet sie<br />

wäre, die Evangelien und die Episteln des heiligen Paulus lesen könnte. Gott gebe,<br />

dass sie in alle Sprachen übersetzt werden, damit alle Völker, auch wenn sie<br />

Barbaren wären, sie lesen könnten. Unserem Herrn gefiele, dass ich dies in meinen<br />

Tagen noch erlebe» 3 .<br />

Noch 1558 empfahl der Dominikaner, Trienter Theologe und Erzbischof von<br />

Toledo Bartolomé Carranza de Miranda (1520–1576) im Prolog an den Leser zu<br />

seinem Werk Comentarios sobre el Catechismo christiano (Antwerpen) einen<br />

konzilianten Weg. Da einige Teile der Bibel das Dogma und die Glaubensartikel<br />

betreffen, andere aber die Erbauung und den Trost der Seelen sowie die gute<br />

christliche Lebensführung, solle man differenzierter vorgehen. Die Bücher der<br />

ersten Gruppe sind für das Volk nicht nötig, da die Kirche deren Inhalt im Glau-<br />

Un ejemplo de miniatura rabínica, in: Sefárdica (Buenos Aires), (1/1984), 35–44; M.<br />

Morreale, La biblia de Alba, in: Arbor, 47 (1960), 47–54; J. Barranco Luna, El mesianismo<br />

de Arragel en el salterio de la Biblia de la casa de Alba, Rom 1938; R. Galdós, Biblia de la<br />

Casa de Alba, in: Razón y Fe, 73 (1925), 224–236; A. Enrique-Arias, Texto subyacente hebreo<br />

e einfluencia latinizante en la traducción de la Biblia de Alba de Moisés Arragel, in: V.<br />

Alsina et al., Traducción y estandarización. La incidencia de la traducción en la historia de<br />

los lenguajes especializados, Madrid-Frankfurt/M. 2004, 99–111; M. Pérez /J. Trebollé, Historia<br />

de la Biblia, Madrid 2006.<br />

2 Vgl. K. Reinhardt, Bibelkommentare spanischer Autoren (1500–1700), 2 vols., Madrid<br />

1990–1999. Für bio-bibliographische Angaben über die in diesem Beitrag genannten Personen<br />

möge man diese Werke konsultieren: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon,<br />

begr. u. hg. v. F. Wilhelm Bautz, fortgef. v. T. Bautz, Hamm 1990ff; Jüdisches Lexikon,<br />

begr. v. G. Herlitz, Frankfurt a. M. 1987.<br />

3 J. de Zumárraga, Suplemento del catecismo o enseñanza del cristiano (segunda parte de la<br />

«doctrina cristiana» más cierta y verdadera para gente sin erudición y letras...), in: J. G.<br />

Durán (Hg.), Monumenta catechetica hispanoamericana. Siglos XVI-XVIII, 2. vols., Buenos<br />

Aires 1990, 115–159, hier 159.


08.11.2007 – 10:59:00<br />

Die spanischen Bibelübersetzungen<br />

bensbekenntnis bereits zusammengefasst hat: «Wer sich hier einmischt, ohne<br />

von Amts wegen dazu befugt zu sein, würde schlecht handeln und sich der Strafe<br />

würdig erweisen.» Die Bücher der zweiten Art sollten aber zweifelsohne von<br />

allen gelesen werden, obwohl deren Inhalt auch in der Lehre der Kirche, in der<br />

geistlichen Literatur, den Predigten und Homilien zu finden ist. Diese Bücher<br />

(Carranza nennt konkret Sprichwörter, Ecclesiasticus oder das Buch Jesus Sirach,<br />

die historischen Bücher des Alten Testamentes, einige Evangelien und<br />

Episteln, deren Sinn klar ist, sowie die Apostelgeschichte) sollte man hingegen<br />

gefahrlos in die Volkssprache übersetzen und verbreiten, wenn auch mit den nötigen<br />

Randbemerkungen, «um den schweren geistlichen Wein leichter trinkbar<br />

zu machen». Die Übersetzung sollte aber eher in der Form der Paraphrase erfolgen.<br />

Carranza bemerkt auch, dass es im Christenvolk sehr kluge und andächtige<br />

Personen gibt, denen man die Lektüre der ganzen Bibel erlauben könnte, «sogar<br />

eher als vielen anderen, die Latein können und gebildet sind», denn «der Heilige<br />

Geist hat seine Schüler, die er erleuchtet und unterstützt». 4 Carranza plädiert dafür,<br />

dies dem klugen Urteil der Hirten und Seelenärzte zu überlassen, die, weil<br />

sie die Schafe Christi durch Beichte und Umgang besser kennen, diesen von Fall<br />

zu Fall erlauben könnten, die Bibel in der Volkssprache zu lesen.<br />

Carranzas Mitbruder und ebenfalls Trienter Theologe Melchior Cano (1509–<br />

1560) sprach sich aber 1559 in einem Gutachten zu diesem Werk gegen die Bibelübersetzung<br />

in die Volkssprache und deren Lektüre durch das einfache Volk,<br />

vor allem durch die Frauen, vehement aus, denn die Bibel sei nichts für «Zimmermannsfrauen»:<br />

«... auch wenn die Frauen mit unersättlichem Appetit danach<br />

verlangen, von dieser Frucht zu essen, ist es nötig, sie zu verbieten und ein Feuermesser<br />

davor zu stellen, damit das Volk nicht zu ihr gelangen könne.» 5 Cano<br />

ermahnt zum Beibehalten des Lateinischen in den Bibelübersetzungen sowie in<br />

den Stundenbüchern und den Schriften über wichtige geistliche Dinge, damit das<br />

Volk wenig davon versteht; wenn nämlich der Ruf des Geheimnishaften, der mit<br />

dem Lateinischen beim Volk verbunden werde, verloren ginge, ginge auch die<br />

Macht des Klerus verloren.<br />

Aus dieser schroffen Position, vertreten durch denselben Theologen, der mit<br />

seinem Hauptwerk De locis theologicis (1563 posthum erschienen) die katholische<br />

Theologie zwischen dem Tridentinum und dem 2. Vaticanum wie kein anderer<br />

methodisch prägen sollte, spricht nicht Frauen- oder Laienfeindschaft, sondern<br />

«die Sorge um die Kirche» unter scholastischen Theologen in jenen turbulenten<br />

Zeiten. Diese sehen in den Bibelübersetzungen in die Volkssprache ein offenes<br />

Tor für allerlei Irrtümer, vor allem aber für die «deutsche Ketzerei», wie<br />

der Protestantismus allgemein genannt wurde. Gerade diese Sicht setzte sich bei<br />

der Inquisition durch. Daraufhin wurden diese Bibelübersetzungen streng verboten<br />

und verfolgt. Ausdruck davon sind der Index von Grossinquisitor Fernando<br />

4 B. Carranza de Miranda, Comentarios sobre el Catechismo Christiano, ed. J. I. Tellechea Idígoras,<br />

3 vols., Madrid 1972–1999, hier vol. 1, 114.<br />

5 F. Caballero, Conquenses ilustres, vol. 2: Melchor Cano, Madrid 1871, 536–615, hier 542.<br />

Das Gutachten wurde auch von Canos Mitbruder und alter ego D. de Cuevas unterzeichnet.<br />

211


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Mariano Delgado<br />

de Valdés 1559, der alle Bibelübersetzungen in die Volkssprache, auch die partiellen,<br />

verurteilte, sowie der Index von Grossinquisitor Gaspar de Quiroga 1583,<br />

der in der VI. Regel dieses Verbot bekräftigt, wenn auch mit einigen Ausnahmen:<br />

diese betreffen die Klauseln, Sentenzen oder Kapitel, die in katholischen<br />

Büchern kommentierend zitiert werden, sowie die Stellen aus den Episteln und<br />

Evangelien, die bei der heiligen Messe gesungen werden, sofern diese von den<br />

entsprechenden Homilien begleitet werden, die zur Erbauung der Gläubigen<br />

durch katholische Autoren geschrieben wurden. Die IV. Regel des Trienter Index<br />

ist hingegen eher im Sinne Carranzas ausgefallen. Sie hält fest, dass Bischöfe<br />

und Inquisitoren in begründeten Fällen die Bibelübersetzungen in die Volkssprache<br />

erlauben dürfen. 6<br />

Aufgrund dieser Prämissen sind Bibelübersetzungen ins Spanische in der<br />

Frühen Neuzeit das Werk von vertriebenen Juden oder mit der Reformation sympathisierenden<br />

Exulanten. Es handelt sich also um spanische Bibeln aus dem<br />

Exil. 7 Sie sollen nun unter besonderer Berücksichtigung der in den Prologen und<br />

Ermahnungen an den Leser enthaltenen Begründungen und Apologien der Bibelübersetzung<br />

chronologisch vorgestellt werden.<br />

Francisco de Enzinas und sein Neues Testament (1543)<br />

Sieht man von den Übersetzungen des Matthäusevangeliums, des Römerbriefes,<br />

des 1. Korintherbriefes und der Psalmen ab, die der brillante Humanist Juan de<br />

Valdés (ca.1510–1541) aus dem Griechischen bzw. aus dem Hebräischen anfertigte,<br />

aber erst im 19. Jahrhundert gedruckt wurden, so gebührt dem Humanisten<br />

Francisco de Enzinas (ca. 1520–1552) die Ehre, die erste spanische Gesamtübersetzung<br />

des Neuen Testamentes aus dem Griechischen (nach der Edition des<br />

Erasmus) erstellt zu haben. Sie wurde 1543 in Antwerpen gedruckt. 8 Bis dahin<br />

6<br />

Vgl. dazu Delgado, Spanische Inquisition und Buchzensur, in: Stimmen der Zeit, 224<br />

(2005), 461–474.<br />

7<br />

Vgl. E. Fernández y Fernández, Las Biblias castellanas del exilio. Historia de las Biblias castellanas<br />

del siglo XVI, Miami 1976. Vgl. dazu allgemein: S. Berger, Les Bibles castillanes et<br />

portugaises, in: Romania, 28 (1899), 360–408, 508–567; E. Boehmer, Spanish Reformers of<br />

Two Centuries from 1520, 3 vols., Strassburg 1874, 1883, 1904; Jaime Contreras, The Impact<br />

of Protestantism in Spain 1520–1600, in: S. Holiczer (Hg.), Inquisition and Society in<br />

Early Modern Europe, London/Sydney 1987, 47–63; Carlos Gilly, Spanien und der Basler<br />

Buchdruck bis 1600. Ein Querschnitt durch d. spanische Geistesgeschichte aus d. Sicht einer<br />

europäischen Buchdruckerstadt, Basel/Frankfurt 1985; A. G. Kinder, Three Spanish Reformers<br />

of the Sixteenth Century. Juan Pérez, Cassiodoro de Reina, Cipriano de Valera,<br />

Sheffield 1971 (Diss.); ders., Spanish Protestants and Reformers in the Sixteenth Sentury. A<br />

Bibliography, London 1983; ders., Spanish Protestants and Reformers in the Sixteenth Century.<br />

Supplement I, London 1994; M. Menéndez Pelayo, Historia de los Heterodoxos españoles,<br />

2 vols., Madrid 1986–1987; E. H. J. Schäfer, Beiträge zur Geschichte d. spanischen<br />

Protestantismus und der Inqusition im 16. Jahrhundert, 2 vols., Gütersloh 1902; J. Stoughton,<br />

The Spanish Reformers, Their Memories and Dwellingplaces, London, 1883.<br />

8<br />

El NUEVO TESTAMENTO / De nuestro Redemptor y Salvador / Jesu Christo, / traduzido<br />

de Griego en len-/ gua Castellana, por Fran-/ cisco de Enzinas, Antwerpen 1543, bei der<br />

Druckerei des Estevan Mierdmanno, 352 fols. Hier zitierte moderne Ausgabe: El Nuevo Tes


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Die spanischen Bibelübersetzungen<br />

war Spanien so gut wie das einzige europäische Land, das im Zeitalter der Reformation<br />

noch keine gedruckte Bibelübersetzung in der Volkssprache hatte. Enzinas<br />

(hellenisiert Dryander genannt) kam 1539 an die Universität Löwen und<br />

setzte im Herbst 1541 das Studium in Wittenberg fort, wo Philipp Melanchthon<br />

ihn in sein Haus aufnahm und für die Übersetzung des Neuen Testamentes begeisterte.<br />

Gleich nach dem Druck überreichte er am 25. November 1543 ein<br />

Exemplar persönlich Karl V., der sich in Brüssel aufhielt. Daraufhin wurde er am<br />

13. Dezember auf Veranlassung des Dominikaners Pedro de Soto, des Beichtvaters<br />

des Kaisers, verhaftet. Nach katholischem Verständnis und unter ausdrücklichem<br />

Verweis auf das Kapitel «De aliis tribus causis iisque externis, unde haereses<br />

oriuntur» aus dem Werk Adversus omnes haereses (Paris 1534) des Franziskaners<br />

Alfonso de Castro, in dem dieser die Katholischen Könige für das Verbot<br />

der Bibelübersetzungen ins Spanische als «Häresiequelle» lobt, sah Soto in<br />

der Bibelübersetzung eine grosse Gefahr für den Glauben. Der vierte Punkt der<br />

Anklage gegen Enzinas lautet, dieser habe das Neue Testament in spanischer<br />

Sprache «gegen die Anweisungen des Kaisers» gedruckt. 9 Dass Enzinas den ursprünglichen<br />

Titel (El Nuevo Testamento, o la nueva alianza de nuestro Redemptor<br />

y solo Salvador, Jesucristo) nach dem Druck änderte und in allen Exemplaren<br />

durch ein neues Titelblatt ersetzte, weil Begriffe wie «Alianza» (Bund)<br />

und «solo Salvador» (einziger Erlöser) «protestantisch» klangen, nutzte also<br />

nichts. Nachdem er am 1. Februar 1545 die Gefängnistore offen vorgefunden<br />

hatte, floh er nach Antwerpen und von dort nach Wittenberg. Später hielt er sich<br />

in den Hochburgen der oberrheinischen Reformation (Strassburg, Basel, Zürich,<br />

St. Gallen, Konstanz) sowie in England auf, wo er 1548–1549 Professor der<br />

griechischen Sprache an der Universität Cambridge wurde, bevor er nach<br />

Deutschland zurückkehrte.<br />

Das Widmungsschreiben an Karl V., das Enzinas seiner Übersetzung voranstellt,<br />

kann als eine der scharfsinnigsten Apologien für die Bibelübersetzung sowie<br />

als eine geschickte Katholikentäuschung betrachtet werden. Drei Gründe<br />

werden angeführt: zum einen wird unter Bezug auf den Rat des Gamaliel (Apg<br />

5,38–39) betont, dass keine Gewalt dieser Welt die Verbreitung der Heiligen<br />

Schrift verhindern kann; zum anderen wird an die Ehre Spaniens appelliert, denn<br />

in allen anderen Nationen sei die Bibel bereits in die Volkssprache übersetzt<br />

worden und man halte die Spanier für abergläubisch, weil sie es nicht tun; wenn<br />

nun die Spanier sich rühmen, auf allen anderen Gebieten die ersten zu sein, so<br />

sei nicht verständlich, warum sie gerade in der wichtigsten Sache die letzten<br />

sind; und schliesslich weil bisher weder der Kaiser noch der Papst die Bibelübersetzungen<br />

ausdrücklich verboten haben, obwohl sie sehr viele Gesetze über an-<br />

tamento de Nuestro Redentor y Salvador Jesucristo. Traducido del griego en lengua castellana<br />

por Francisco de Enzinas, 1543. Con notas bibliográficas e históricas por B. Forster<br />

Stockwell. Edición conmemorativa Cuarto Centenario 1543–1943, Buenos Aires 1943; J. L.<br />

Nelson, «Solo Salvador» Printing the 1543 New Testament of Francisco de Enzinas, in: JEH,<br />

50 (1999), 94–116.<br />

9 Menéndez Pelayo, Historia (wie Anm. 7), hier vol. 1, 860.<br />

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Mariano Delgado<br />

dere Themen verabschiedet haben; und wenn jemand meint, die Bibelübersetzungen<br />

stellen eine Häresiegefahr dar, so sei zu bedenken, dass die Häresien<br />

nicht durch die Bibelübersetzungen entstehen, sondern weil diese von vielen gegen<br />

die Lehre der Kirche interpretiert werden, «die Säule und solides Fundament<br />

der Wahrheit ist». 10<br />

Enzinas’ Übersetzung ist sehr gelobt worden. Dem Autor werden grosse<br />

Kenntnisse des Griechischen bescheinigt, aber auch hier und da eine zu starke<br />

Abhängigkeit vom Text des Erasmus; einerseits hat Enzinas den evangelischen<br />

Stil nicht verändert, andererseits aber die Worttreue gelegentlich übertrieben. Die<br />

Sprache ist elegant und wohlklingend, wie es sich für das Spanisch des 16. Jahrhunderts<br />

gehört, wenn auch nicht frei von Galizismen.<br />

Enzinas übersetzte auch vier Schriften des Alten Testamentes (Hiob, Psalmen,<br />

Sprichwörter, Jesus Sirach) nach der von seinem Freund Sebastian Castellio angefertigten<br />

lateinischen Version, die dieser ihm noch vor ihrem Druck in der Bibel<br />

von 1551 zur Verfügung stellte. Enzinas liess sie, wie Carlos Gilly klargestellt<br />

hat, 11 1550 in Strassburg drucken (bei Augustinus Frisius), obwohl darin –<br />

wohl zur leichteren Einfuhr und Verbreitung in Spanien – Lyon als Druckort und<br />

Sebastian Grypho als Drucker genannt werden. Bei der Übersetzung sowohl des<br />

Buches Hiob wie auch des ganzen Psalters folgt er ziemlich getreu der lateinischen<br />

Vorlage. Bei der Übertragung der Sprüche Salomons geht er über Castellios<br />

Text paraphrasierend hinaus und fügt Teile aus anderen Büchern ein. In<br />

der Übersetzung des Buchs Jesus Sirach lässt Enzinas sämtliche Stellen aus, die<br />

Castellio mit einem L. (d.h. als nur in der Vulgata vorkommend) bezeichnet<br />

hatte, und macht eine neue Kapitelteilung, unter Beibehaltung der von Castellio<br />

eingeführten klassizistischen Latinisierung von hebräischen Namen. Enzinas’ ehrgeiziges<br />

Projekt einer vollständigen Bibelübersetzung blieb leider unvollendet.<br />

Die spanischen Juden und die Bibel von Ferrara (1553)<br />

Für diese Bibel 12 zeichnen die sefardischen Juden Yom Tob Atías (Jerónimo de<br />

Vargas) und Abraham Usque (Duarte Pinel) verantwortlich. Sie wurde in Ferrara<br />

gedruckt, weil der IV. Herzog, Ercole II. (1508–1559), die liberale Politik seines<br />

Vorgängers Alfonso I. (1476–1534) gegenüber den aus Spanien und Portugal<br />

vertriebenen Juden fortsetzte – eine Toleranz, die er unter dem Einfluss seiner<br />

10 El nuevo Testamento (wie Anm. 8), 41.<br />

11 Vgl. Gilly, Spanien (wie Anm. 7), 347ff.<br />

12 BIBLIA / En lengua Española traduzida palabra por palabra / de la verdad Hebraica / por<br />

muy excelentes letrados, vi-/sta y examinada por el oficio / de la Inquisición, Ferrara 1553<br />

(5313 nach dem jüdischen Kalender). Hier zitierte moderne Ausgabe: M. Lazar (Hg.), Biblia<br />

de Ferrara, Madrid 1996. Vgl. dazu: M. Lazar, The Ladino Bible of Ferrara (1553), Culver<br />

City 1992; I. M. Hassán (Hg.), Introducción a la Biblia de Ferrara. Actas del Simposio Internacional<br />

sobre la Biblia de Ferrara, Madrid 1994; H. den Boer, La Biblia de Ferrara y otras<br />

traducciones españolas de la Biblia entre los sefardíes de origen converso, in: Hassán Introducción,<br />

251–296; C. Ricci, La Biblia de Ferrara, in: Publicaciones del Instituto de Investigaciones<br />

Históricas. Facultad de Filosofía y Letras, Buenos Aires, 35 (1926), 1–47; S.<br />

Rypins, The Ferrara Bible at Press, in: The Library, 10 (1955), 244–269; L. Wiener, The<br />

Ferrara Bible, in: Modern Language Notes, 10 (1895), 14–43; 11 (1896), 42–53.


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Die spanischen Bibelübersetzungen<br />

Frau Renée, Tochter Ludwigs XII. von Frankreich, auf die Protestanten ausdehnen<br />

sollte. Da der Druck in einer limitierten Auflage sowie in drei verschiedenen<br />

Ausgaben und Formaten (Grossformat auf speziellem blauem Papier, Grossformat<br />

auf normalem Papier und Kleinformat) erfolgte und darin Korrekturen von<br />

Druckfehlern sowie typographische und lexikalische Varianten zu finden sind,<br />

dachte man früher, dass es eine Ausgabe für Christen und eine andere für Juden<br />

gegeben habe. Eher ist von einem work in progress auszugehen, d.h. dass während<br />

eine Ausgabe im Druck war, eine korrigierte und verbesserte Ausgabe in<br />

Angriff genommen wurde. Eine Ausgabe wird von Jerónimo de Vargas und<br />

Duarte Pinel dem Herzog von Ferrara gewidmet, die andere von Yom Tob Atías<br />

und Abraham Usque der Ex-Marranin und einflussreichsten Jüdin ihrer Zeit<br />

Doña Gracia Naci (Gracia Mendes oder Beatriz de Luna als Marranin). Eine<br />

wichtige Variante in den verschiedenen Ausgaben findet sich in Jesaja 7,14: in<br />

einigen Exemplaren heisst es «moça», also «junge Frau», in anderen jedoch «virgen»,<br />

also «Jungfrau» im christlichen Sinne, und in anderen wiederum heisst es<br />

«alma», d.h. die Transliteration des hebräischen Vokabels.<br />

Die Bibel von Ferrara stellt keine neue Übersetzung aus dem Hebräischen<br />

oder Aramäischen dar, sondern eine Bearbeitung und Weiterführung der «nachalfonsinischen»<br />

Übersetzungen, die unter den sefardischen Juden seit dem 13.<br />

Jahrhundert zirkulierten. Viele davon wurden im Schatten der Judenfeindschaft<br />

zwischen 1391 und 1492 verbrannt. Die Chronik berichtet z.B., dass nach der<br />

Vertreibung allein am 25. September 1492 in Salamanca zwanzig dieser Bibeln<br />

verbrannt wurden. Gleichwohl – und nicht zuletzt aufgrund des Verlustes vieler<br />

mittelalterlicher Codices wie der Komplexität der jüdischen Tradition – ist die<br />

Forschung nicht imstande, eine Genealogie zwischen den verschiedenen mittelalterlichen<br />

Übersetzungen und der Bibel von Ferrara präzis zu rekonstruieren. Man<br />

geht aber davon aus, dass im Manuskript E3 (oder Ms. I-j-3) aus El Escorial vom<br />

Ende des 14. oder Anfang des 15. Jahrhunderts, das eine wörtliche Übersetzung<br />

des masoretischen Textes darstellt, der Urahne der sefardischen Bibel des 16.<br />

Jahrhunderts zu sehen ist. Wie in dieser folgt darin die Kapiteleinteilung des<br />

Pentateuchs der hebräischen Ordnung in parasiyot oder Wochenperikopen. Darüber<br />

hinaus werden in beiden Texten die Namen von Orten oder Personen generell<br />

auf Hebräisch belassen. Für Herr werden Worte wie Adonai und Dio statt<br />

Señor benutzt. Das darin verwendete Spanisch wird auch «Ladino» oder Spanisch<br />

der sefardischen Juden genannt – genauso wie die Juden seit dem Exil von<br />

Babel durch Hebräisierung der umliegenden Sprachen neue Verkehrssprachen<br />

für die jüdische Diaspora schufen, in die dann die hebräische Bibel übersetzt<br />

wurde: jüdisch-aramäisch, jüdisch-griechisch, jüdisch-arabisch, jüdisch-persisch,<br />

jüdisch-deutsch (jiddisch), jüdisch-spanisch (ladino) oder jüdisch-italienisch. Die<br />

Hebräisierung entsteht durch die allzu wörtliche Übersetzung der biblischen<br />

Texte in diese Sprachen, wobei neue Wortschöpfungen entstehen und die Syntax<br />

des Hebräischen zumeist beibehalten wird. Diese Übersetzungstechnik wurde<br />

seit der Antike in den jüdischen Gemeinden verwendet und perfektioniert; sie<br />

wird als «servile» oder «buchstäbliche» Übersetzung bezeichnet, da die Struktur<br />

einer Sprache in die andere praktisch transferiert wird.<br />

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Mariano Delgado<br />

Im Prolog wird die Übersetzung der Bibel begründet. Sie erfolgte nicht zuletzt,<br />

weil die spanische Sprache die am meisten verbreitete und geschätzte in<br />

Europa sei und gerade darin eine gute Übersetzung fehle. Den Herausgebern ist<br />

bewusst, dass dieses Spanisch manchem Lesern als «barbarisch und fremdartig»<br />

anmuten mag, da es von dem gepflegten klassischen Spanisch des 16. Jahrhunderts<br />

sehr verschieden ist. Dies sei aber der unumgängliche Preis dafür, dass<br />

die Übersetzung dem Hebräischen so nah wie möglich folgen soll, indem man<br />

Wort für Wort «aus der hebräischen Wahrheit» 13 übersetze und den Stil rettet.<br />

Die Bibel von Ferrara stellt die erste vollständige Version des Alten Testamentes<br />

im Ladino dar und war vor allem für die sefardischen Juden bestimmt,<br />

die im 16. Jahrhundert ihr Marranen- oder Conversodasein verliessen und in Italien<br />

oder Amsterdam sich zum Judentum wieder offen bekannten (die Sefarden<br />

im osmanischen Reich oder im orientalischen Raum werden eher von der Übersetzung<br />

der Psalmen und des Pentateuchs 1540 bzw. 1547 in Konstantinopel geprägt<br />

sein). Bis 1762 wurde die Bibel von Ferrara fleissig verwendet und errang<br />

in dieser Zeit für die Conversos «kanonischen Wert». Es gab mindestens sechs<br />

vollständige Neudrucke (1611, 1630, 1646, 1661, 1726 und 1762), neun Teildrucke<br />

des Pentateuchs mit Prophetentexten (1627, 1643, 1655, 1691, 1697,<br />

1705, 1718, 1724 und 1733) und vier Ausgaben der Psalmen (1628, 1650, 1723<br />

und 1733) – zumeist in Amsterdam erschienen. Diese Ausgaben sind Ausdruck<br />

sowohl von Bewunderung wie von Kritik gegenüber der Bibel von Ferrara, denn<br />

hier und da werden lexikalische Archaismen korrigiert. Manche Autoren dieser<br />

Korrekturen müssen zugeben, dass unter einigen kultivierten Sefarden die Übersetzung<br />

der spanischen Protestanten Casiodoro de Rei(y)na (1569) und<br />

Ci(y)priano de Valera (1602) mehr Anklang fand, weil diese nicht so wörtlich<br />

vorgehen und ein gepflegteres Spanisch benutzen. In der Tat war vielen Conversos<br />

das klassische Spanisch vertrauter als die hebräisierende Sprache der Bibel<br />

von Ferrara. So lag deren grösster Nachteil für den Rabbiner Yosef Franco Serrano<br />

aus Amsterdam darin, dass sie zur Rejudaisierung der Conversos gedruckt<br />

wurde, aber deren archaische Sprache «oft ein weiteres Hindernis für dieselbe<br />

darstellte». 14<br />

Unter den Teildrucken des Pentateuchs mit Prophetentexten sind die des Rabbiners<br />

und Druckers Menasseh ben Israel 1627 und 1655 in Amsterdam hervorzuheben.<br />

Während die erste Ausgabe von der Bibel von Ferrara kaum abweicht,<br />

enthält die zweite einige morphologische und lexikalische Anpassungen. Dieser<br />

Text wird für die weiteren Ausgaben des Pentateuchs im Ladino massgebend<br />

bleiben. In der Ausgabe von 1705 wird erstmals «Dios» statt «El Dio» verwendet.<br />

Obwohl im spanischen «Dios» bereits die Einzahlform ist (Mehrzahl «Dioses»),<br />

hatten die spanischen Juden seit den ersten mittelalterlichen Übersetzungen mit der<br />

Wendung «El Dio» die Singularität Gottes besonders hervorheben wollen.<br />

13 Biblia de Ferrara, ed. Lazar (wie Anm. 12), 4.<br />

14 H. den Boer, Biblia (wie Anm. 12), 256.


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Die spanischen Bibelübersetzungen<br />

In seiner Ermahnung an den Leser bezeichnet Reina 1569 die Bibel von Ferrara<br />

als «ein Werk, das (nach dem Urteil aller, die etwas davon verstehen) unten<br />

den vorhandenen Übersetzungen die höchste Wertschätzung verdient», wirft ihr<br />

zugleich vor, einige für die Christen besonders wichtige Stellen, wie z.B. Jesaja<br />

9,6, mit «rabbinischer Bosheit» übersetzt zu haben 15 .<br />

Das Neue Testament (1556) und die Psalmen (1557) des Juan Pérez de Pineda<br />

Die «anonyme» Übersetzung des Neuen Testamentes von 1556, die, um sie in<br />

Spanien besser verbreiten zu können, Venedig als Druckort angibt, 16 obwohl sie<br />

in Genf bei Jean Crespin gedruckt wurde, geht auf den spanischen Kalvinisten<br />

Juan Pérez de Pineda (ca.1480/90–1567) zurück. In Genf, wo er, hoch geschätzt<br />

von Calvin und Beza, als Minister der spanischen reformierten Gemeinde wirkte,<br />

besorgte Pérez de Pineda ab 1556 verschiedene Übersetzungen von Teilen der<br />

Bibel und theologischen (kalvinistischen) Schriften ins Spanische. Später wurde<br />

er Prediger in Blois und Hauskaplan der Herzogin Renée von Ferrara, die sich<br />

nach dem Tode ihres Mannes auf das Schloss von Montargis zurückgezogen<br />

hatte und von dort aus die kalvinistisch-hugenottische Bewegung in Frankreich<br />

unterstützte. Angeregt von Juan de Valdés und Francisco de Enzinas wollte er eigentlich<br />

die ganze Bibel ins Spanische übertragen, konnte aber nur die Übersetzung<br />

der Psalmen und des NT vollenden. Sein Freund und Gesinnungsgenosse<br />

Juan (Juanillo) Hernández wurde, als er die Bücher nach Sevilla einschmuggelte,<br />

von der Inquisition verhaftet und 1560 in einem Autodafe dem Scheiterhaufen<br />

überantwortet; Pérez selbst wurde in effigie verbrannt. Er verfügte testamentarisch,<br />

dass sein gesamtes Vermögen für die Drucklegung einer Bibel in spanischer<br />

Sprache verwendet werden sollte. Obwohl er mit seinen Übersetzungen<br />

einen Beitrag zur Verbreitung reformatorischen Gedankengutes in Spanien zu<br />

leisten versuchte, dürften seine Werke wegen der inquisitorischen Gegenmassnahmen<br />

nur in beschränktem Masse nach Spanien gekommen sein. Sie fanden<br />

aber in den Exulantenkreisen Verbreitung.<br />

15 LA BIBLIA,/ QUE ES, LOS SA-/CROS LIBROS DEL/ VIEIO Y NVEVO TE-/STA-<br />

MENTO. 1569 (ohne Nennung des Druckortes noch des Namens des Druckers und des<br />

Übersetzers), (Basel), bei der Druckerei des Thomas Guarinus, 16 Blätter, 1438, 544, 508<br />

Spalten, 4 Blätter, Madrid 1970: Faksimil-Ausgabe des Originals von 1569. Hier zitierte moderne<br />

Ausgabe: J. Guillén Torralba (Hg.), La Biblia del Oso. Según la traducción de Casiodoro<br />

de Reina, publicado en Basilea en el año 1569, 2 vols., Madrid 1987, hier 10.<br />

16 EL TESTAMEN-/TO NUEVO DE NUES-/TRO SEÑOR Y SALVA-/DOR JESUCHRIS-<br />

TO. Nueva y fielmente traduzido del original Grie-/go en romance Castellano, Venedig<br />

[Genf] 1556, bei der Druckerei des Iuan Philadelpho [Crespin], 12 + 746 + 4 fols. Hier<br />

zitierte moderne Ausgabe: J. Pérez de Pineda, El Testamento Nuevo (1556) / Epístola Consolatoria<br />

(1560), ed. B. Forster Stockwell, Buenos Aires 1958. Vgl. dazu: A. Gordon Kinder,<br />

Juan Pérez de Pineda (Pierius). Un ministro calvinista español del Evangelio en el siglo XVI<br />

en Ginebra, in: Diálogo Ecuménico, 21 (1986), 31–64; P. N. Tablante Garrido, Del Nuevo<br />

Testamento traducido por el docttor Juan Pérez, Mérida 1960.<br />

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Mariano Delgado<br />

Pérez de Pineda, dessen theologischen Gedanken dem Kalvinismus nahe standen,<br />

hat keine neue Übersetzung aus dem Griechischen erstellt, sondern lediglich<br />

die von Francisco de Enzinas stilistisch (und «kalvinistisch») bearbeitet. Die vorgenommenen<br />

Änderungen erfolgten vor allem aufgrund der in Genf verbreiteten<br />

französischen Übersetzungen des Neuen Testamentes (1552 druckte Robert Estienne<br />

in Genf «Le Nouveau Testament» mit dem lateinischen Text des Erasmus<br />

und der französischen Übersetzung von Olivetan, 1554 druckte Conrad Badius in<br />

Genf eine ähnliche Version). Gleichwohl ist die stilistische Bearbeitung so<br />

gründlich, dass diese Version für viele als die beste aller spanischen Übersetzungen<br />

des Neuen Testamentes in der Frühen Neuzeit gilt.<br />

In der Epistel, die Pérez de Pineda seiner Ausgabe voranstellt, erklärt er die<br />

zwei Gründe, die ihn zur Übersetzung ins Spanische bewogen haben: zum einen<br />

weil das Evangelium an kein besonderes Volk, an keine besonderen Menschen<br />

und an keine besondere Sprache gebunden ist, sondern universalen Charakter<br />

hat. Da die Autoren des Neuen Testamentes sich nicht des Hebräischen, sondern<br />

des Griechischen, d.h. der Verkehrssprache ihrer Zeit bedient haben, sollten wir<br />

es genauso tun und das Evangelium in die jeweiligen Volkssprachen übersetzen.<br />

Zum anderen weil er seiner spanischen Nation einen Dienst erweisen möchte, die<br />

sich rühmt, in Sachen des Glaubens die reinste und makelloseste aller christlichen<br />

Nationen zu sein, ohne die Irrlehren zu dulden, die andernorts gegen den<br />

christlichen Glauben verbreitet werden. Anders als die Inquisition, die zur Wahrung<br />

dieser Glaubensreinheit den Übersetzungen der Bibel in die Volkssprache<br />

misstraute, argumentiert Pérez de Pineda, dass gerade diese Übersetzungen nötig<br />

sind, damit das Volk den wahren Glauben verstehen und bekennen kann und so<br />

alle das Heil erreichen können, wie Gott in seiner Barmherzigkeit will – d.h. elegant<br />

bürstet er die Argumente der Inquisition gegen den Strich und wirbt für die<br />

Übersetzung der Heiligen Schrift ins Spanische als einer gottgefälligen und<br />

«heilsnotwendigen» Sache.<br />

Nicht mehr anonym, aber weiterhin mit dem fiktiven Druckort Venedig, publizierte<br />

Pérez de Pineda 1557 seine Übersetzung der Psalmen. 17 Menéndez Pelayo<br />

hielt diese Übersetzung für die beste in spanischer Sprache: «sie ist in einer<br />

reinen, korrekten, klaren und sehr frischen und schönen Sprache verfasst», 18 wie<br />

es sich für die Schule des Humanisten Juan de Valdés gehört – ohne Hebräismen<br />

und exotische Ausdrücke, eher wörtlich als im Stil der Paraphrase.<br />

In seiner einführenden Erklärung über die Frucht und den Nutzen der Psalmen<br />

bezeichnet sie Pérez de Pineda, sehr poetisch und zugleich bemüht um die Täuschung<br />

der katholischen Leser in Spanien, als «sehr festen Anker, damit wir in<br />

der Einheit des Glaubens und des Geistes Gottes verweilen und von den vielen<br />

Sekten und Irrtümern, die es auf der Welt gibt, nicht von der Einheit mit seiner<br />

17 Los/ PSALMOS DE/ DAVID CON SUS SU-/MARIOS EN QUE SE DE-/clara con brevedad<br />

lo con-/tenido en cada/ Psalmos agora nueva y fielmente traduzidos en/ romançe Castellano<br />

por el doctor Ian Perez, conforme a la verdad de la lengua/sancta, Venedig [Genf]<br />

1557, bei der Druckerei des Pedro Daniel [Crespin], 15 + 118 + 3 fols. Hier zitierte moderne<br />

Ausgabe: J. Pérez de Pineda, Los Salmos de David, Buenos Aires 1951.<br />

18 Menéndez Pelayo, Historia (wie Anm. 7), hier vol. 2, 92.


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Die spanischen Bibelübersetzungen<br />

Kirche getrennt werden». 19 Die Psalmen zeigen uns, wie Gott der «Befreier» (libertador)<br />

ist. 20 Manche Psalmen sind wie Wegweiser, die uns zu Gott führen,<br />

andere spornen uns an, von ihm Hilfe zu erflehen, andere helfen uns, unsere<br />

Konkupiszenz zu zügeln, wiederum andere sind wie der Feuerstahl, der den Feuerstein<br />

unseres Herzens verwundet und in ihm den Funken der Liebe zu Gott<br />

springen lässt. Andere sind wie Salben eines sehr sanften Duftes, um uns vor der<br />

Korruption und den Lastern zu schützen, andere wie Wecker, die uns entflammen<br />

und zum Lob Gottes für die immerwährend erhaltenen Wohltaten bewegen;<br />

andere schliesslich sind wie Hirtenstäbe, mit denen wir uns aufrichten und an denen<br />

wir uns an der Hoffnung auf das ewige Leben halten können. So ist der Psalter<br />

wie «ein sehr üppiger Garten und wie ein irdisches Paradies». 21<br />

Casiodoro de Reina und seine Basler Bibel von 1569<br />

Die Basler Bibel von 1569, 22 aufgrund des Bärenmotivs auf dem Titelblatt auch<br />

«Biblia del Oso» genannt, stellt den ersten Druck einer spanischen Übersetzung<br />

der gesamten Bibel dar. Der Autor, Casiodoro de Rei(y)na, auch bekannt unter<br />

Reginaldus Gonsalvius Montanus, war ein spanischer Protestant (ca.1520–1594)<br />

aus der Kaste der Morisken Granadas. Vor seiner Flucht 1557 nach Genf war er<br />

zunächst Mönch im Hieronymitenkloster San Isidro del Campo in Sevilla. Er<br />

widmete sich bereits früh dem Studium der Bibel. Als geistiger Kopf der Kryptoprotestanten<br />

in Sevilla wurde er von der Inquisition verurteilt und beim Autodafe<br />

am 26. April 1562 in effigie verbrannt. Aus verschiedenen Gründen – theologische<br />

Unterschiede mit anderen Protestanten, Intrigen Philipps II. von Spanien,<br />

der eine erhebliche Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt hatte, finanzielle<br />

Schwierigkeiten, spanische Politik in Flandern, Druck seiner Bibelübersetzung –<br />

musste er den Wohnsitz zwischen Frankfurt am Main, wo er Mitglied der französisch-reformierten<br />

Gemeinde wurde, sich mit seiner Familie niederliess und am<br />

16. August 1571 das Bürgerrecht erwarb, London, Antwerpen, Bergerac, Chateau<br />

de Montargis, Basel, Strassburg und wieder Frankfurt wechseln. Dabei hat<br />

Reina seine theologischen Positionen innerhalb des Protestantismus (Kalvinismus/Luthertum)<br />

mehrfach gewechselt. Ihm kommt die Ehre zu, der erste Übersetzer<br />

der gesamten Bibel aus den Originalsprachen ins Spanische gewesen zu<br />

sein.<br />

19<br />

Pérez de Pineda, Salmos (wie Anm. 17), 30.<br />

20<br />

Ebenda, 20.<br />

21<br />

Ebenda, 31.<br />

22<br />

La Biblia del Oso (wie Anm. 15). Vgl. dazu: J. A. González, Casiodoro de Reina, traductor<br />

de la Biblia en español, México 1969; P. J. Hauben, Three Spanish Heretics and the<br />

Reformation. Antonio del Corro, Cassiodoro de Reina, Cypriano de Valera, Genève 1967; L.<br />

J. Hutton, The Spanish Heretic. Cipriano de Valera, in: Church History, 27 (1958), 23–31;<br />

A. G. Kinder, Casiodoro de Reina. Spanish Reformer of the Sixteenth Century, London<br />

1975; ders., Cipriano de Valera, reformador español (1532–1602?), in: Diálogo ecuménico,<br />

20 (1985), 165–179.<br />

219


220<br />

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Mariano Delgado<br />

Die in Basel 1569 erstmals erschienene Ausgabe, deren Druck nicht zuletzt mit<br />

Hilfe der von Pérez de Pineda vermachten Gelder finanziert werden konnte, erlebte<br />

viele Nachdrucke und Überarbeitungen (die erste 1602 durch Cipriano de Valera,<br />

s.u., die letzte 1995) und wird unter spanischsprechenden Protestanten heute noch<br />

verwendet. Obwohl Reina in der Basler Ausgabe ausser in der «praefatio hispanici<br />

interpraetis», die er mit C.R. unterzeichnet, namentlich nicht vorkommt, ist nicht<br />

daran zu zweifeln, dass er die Bibel übersetzt und für den Druck vorbereitet hat.<br />

Der Praefatio folgt eine «Ermahnung … an den Leser und die gesamte Kirche», in<br />

der er uns Rechenschaft über Sinn, Methode und Zweck seiner Übersetzung gibt.<br />

Zunächst rechtfertigt er die Übersetzung der Bibel ins Spanische mit vier<br />

Gründen: die Heilig Schrift ist «das echte und legitime Instrument», 23 damit die<br />

Menschen das Heil erlangen; der Vorwand, eine solche Übersetzung verletze die<br />

der Schrift geschuldeten «Ehrfurcht», sei in den Formen des Aberglaubens und<br />

Götzendienstes begründet, die sich vom wahren Gott entfernen; die Übersetzung<br />

zu verbieten, käme einem Affront gegen das Licht und die Wahrheit gleich, die<br />

das göttliche Wort bezeugt; schliesslich ist das Studium des Wortes Gottes allen<br />

auferlegt worden, wie zahlreiche Zeugnisse aus beiden Testamenten belegen.<br />

Anschliessend bezieht sich Reina sehr geschickt auf die III. und IV. Regel des<br />

Trienter Index, die er auf der Rückseite des ersten Blattes wörtlich abgedruckt<br />

hatte. Während das Konzil in der IV. Regel betont, dass Bischöfe und Inquisitoren<br />

in Ausnahmefällen die Lektüre der Bibel in den Volksprachen schriftlich<br />

denjenigen erlauben dürfen, von denen sie sicher sind, dass sie davon eher<br />

Nutzen für den Glauben und die Frömmigkeit als Schaden ziehen würden und<br />

sofern die Übersetzung von «katholischen Autoren» erstellt wurde, 24 sieht Reina<br />

darin – sie extensiv auslegend – eine weit offene Tür für die Bibelübersetzungen.<br />

Was die Methode angeht, so gibt er vor, der lateinischen Version, d.h. der<br />

Vulgata, nicht gefolgt zu sein, weil sie voller Irrtümer ist. Gleichwohl habe er sie<br />

als Variante immer wieder konsultiert, wie andere Versionen auch. Reina übersetzte<br />

vielmehr aus den Ursprachen Hebräisch und Griechisch, so weit als möglich.<br />

Dabei hält er fest, vor allem die Bibel von Ferrara verwendet zu haben, obwohl<br />

auch diese grosse Irrtümer enthält, einerseits weil an manchen Stellen «der<br />

Hass auf Christus» durchschimmert, 25 andererseits weil die Juden selbst die hebräische<br />

Sprache vergessen haben. Des Langen und Breiten erklärt Reina, warum<br />

er diese und jene Vokabel gewählt habe, z.B. Jehova als Bezeichnung Gottes.<br />

Darüber hinaus gibt er uns Rechenschaft über die Randbemerkungen, die der Erklärung<br />

von «Worten, Stilfiguren und Sprachformen» dienen, 26 aber auch andere<br />

Dinge erläutern. Kurz erklärt er, warum jedem Kapitel eine ausführliche Zusammenfassung<br />

desselben vorangestellt wird. Zum Schluss bemüht er einerseits die<br />

Demutsfloskel, indem er schreibt, dass es in der spanischen Nation qualifiziertere<br />

Bibelkenner gäbe und seine Übersetzung, weil sie die erste ist, vielleicht un-<br />

23<br />

La Biblia del Oso (wie Anm. 15), 4.<br />

24<br />

J. Martínez de Bujanda, Índices de libros prohibidos del siglo XVI, in: J. Pérez Villanueva/B.<br />

Escandell Bonet (Hg.), Historia de la Inquisición en España y América, 3 vols.,<br />

Madrid 1984–2000, 773–828, hier 820.<br />

25<br />

La Biblia del Oso (wie Anm. 15), 10.<br />

26<br />

Ebenda, 17.


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Die spanischen Bibelübersetzungen<br />

vollständig und verbesserungsbedürftig sein werde; andererseits hält er selbstbewusst<br />

fest, dass Gott keinem anderen Spanier «den Willen noch die Kühnheit»<br />

zu einem solchen Werk bisher verliehen hat. 27 Klug interpretiert er abschliessend<br />

nochmals die Trienter Regeln zu seinen Gunsten, in dem er daraus die doppelte<br />

Empfehlung herausliest, eine bessere Vulgata-Version für das Theologiestudium<br />

und eine Übersetzung in die Volkssprache für das allgemeine Volk zu leisten,<br />

von der man dann so viele Drucke und Nachdrucke wie nötig vornehmen sollte.<br />

Ausser der Bibel von Ferrara scheint Reina die Version von Sanctes Pagnini,<br />

die lateinische Zürcher Bibel sowie z.T. auch die Version Castellios, aus der er<br />

u.a. den Namen «Jehova» entnommen hat, benutzt zu haben. Da er seine Übersetzung<br />

nach Spanien einschmuggeln lassen wollte, versteht sich von selbst, dass<br />

er in der oben zitierten «Ermahnung» diese «häretischen» Quellen sowie die<br />

Verwendung der Übersetzungen von Juan de Valdés, Francisco de Enzinas und<br />

Juan Pérez de Pineda verschweigt, denn sie alle standen bereits in Rom und Spanien<br />

auf dem Index. Obwohl im Druck von 1569 weder Übersetzer noch Druckort<br />

genannt werden, erfuhr die Inquisition bereits im Januar 1571, dass der<br />

Druckort Basel war. Sie verfügte die Konfiszierung aller Exemplare, die man<br />

finden konnte. Darauf hin wurde bei den in Antwerpen noch lagernden Stücken<br />

die Titelseite durch die des berühmten Wörterbuchs von Ambrogio Calepino<br />

ausgetauscht, was die Inquisition alsbald auch aufspürte. Von den ca. 1400<br />

Exemplaren, die für die Einfuhr in Spanien geplant waren, kann daher nicht genau<br />

gesagt werden, wie viele wirklich der Kontrolle durch die Inquisition entkamen.<br />

Weite Verbreitung und nachhaltige Wirkung werden allerdings angenommen.<br />

Reina war ein profunder Kenner der biblischen Originalsprachen. Seine<br />

Übersetzungsmethode kommt der heutigen Translationswissenschaft nahe, da sie<br />

nicht wörtliche Wiedergabe intendiert, sondern die sinngemässe Rekonstruktion<br />

des ideologischen Kontextes der jeweiligen Vokabel.<br />

Cipriano de Valera und seine Revisionen der Übersetzungen Reinas<br />

Da Reina nicht Kalvinist, sondern Lutheraner war, entspricht seine Bibel weder<br />

in den Anmerkungen am Rande noch in der Reihenfolge der Bücher dem reformierten<br />

Kanon. Dies war dem strengen Kalvinisten Cipriano de Valera (1532–<br />

1602) ein Ärgernis. Nicht zuletzt deshalb arbeitet er ab 1582 an einer Revision<br />

der Basler Bibel. Valera war wie Reina Mönch im Hieronymitenkloster San Isidro<br />

del Campo in Sevilla, und kam nach der Flucht 1557 zunächst nach Genf und<br />

dann 1558 nach England, wo er in Cambridge und Oxford Professor wurde.<br />

«Seine» Bibel wurde erst 1602 in Amsterdam gedruckt, nicht zuletzt weil er den<br />

Tod Reinas (1594) abwarten wollte. Im langen Prolog, das wie üblich interessante<br />

Bemerkungen über die Bibelübersetzung in die Volkssprache enthält, widmet<br />

er dem wahren Übersetzer kaum vier Zeilen, während sein eigener Name mit<br />

grossen Buchstaben auf dem Titelblatt fungiert. 28 Man hat kritisch angemerkt,<br />

27 Ebenda, 20.<br />

28 LA BIBLIA …/ Segunda Edicion/ Revista y conferida con los textos Hebreos y Griegos/ y<br />

con diversas translaciones./ Por CYPRIANO DE VALERA, Amsterdam 1602, bei der<br />

Druckerei des Lorenço Jacobi, 8 Blätter, 742 Seiten.<br />

221


222<br />

08.11.2007 – 10:59:00<br />

Mariano Delgado<br />

dass Valeras Arbeit bloss darin besteht, gemäss den kalvinistischen Bibelausgaben<br />

Genfs manche Randbemerkungen zu streichen oder hinzuzufügen, die Zusammenfassungen<br />

der einzelnen Kapitel zu kürzen sowie die Reihenfolge der<br />

Bücher dem reformierten Kanon anzupassen. Seine Sprachkorrekturen stellen<br />

nicht immer eine Verbesserung dar und sein Sprachstil – nicht zuletzt aufgrund<br />

der zahlreichen Galizismen – gehört nicht zu den besten.<br />

Nach derselben Methode, wenn auch diesmal ohne Nennung seines eigenen Namens,<br />

hatte Valera 1596 in London eine Übersetzung des Neuen Testamentes<br />

drucken lassen. 29 Während die meisten Forscher darin eine geringfügige Revision<br />

des Neuen Testamentes aus der Basler Bibel von 1569 sehen, behauptet B.<br />

Forster Stockwell, dass es sich eher um eine Revision der Version von Juan Pérez<br />

de Pineda 1556 handelt. 1708 besorgte Sebastián de la Enzina eine revidierte<br />

Ausgabe in Amsterdam.<br />

Die befreiende Kraft des Wortes Gottes<br />

Die 1546 geäusserte Hoffnung des ersten Bischofs von Mexiko ist unterdessen<br />

Wirklichkeit geworden: Die Bibel kann heute so gut wie in allen Sprachen der<br />

Welt gelesen werden. Aber der Weg zu den ersten spanischen Bibelübersetzungen<br />

war sehr mühsam, weil sich die vorherrschende Konfession zunächst<br />

dagegen aussprach – aus Gründen, die im katholischen Lager damals religionspolitisch<br />

einleuchteten, uns aber heute eher nachdenklich stimmen. So verdanken<br />

wir die ersten spanischen Bibelübersetzungen protestantischen Exulanten und<br />

vertriebenen Juden. Ihr Beitrag für die Bibelverbreitung – unter widrigen Umständen<br />

geleistet! – kann nicht hoch genug geschätzt werden, auch wenn er nicht<br />

zuletzt im Dienste anderen religionspolitischen Zielen stand. Die darin enthaltenen<br />

Prologe und Ermahnungen an den Leser geben uns Auskunft über ihre<br />

Übersetzungstechniken und -interessen. Sie enthalten auch – heute noch wichtige<br />

– Plädoyers für Sinn und Zweck der Bibelübersetzung sowie für die befreiende<br />

Kraft des Wortes Gottes, das, wie Enzinas wusste, von keiner Gewalt dieser Welt<br />

aufgehalten werden kann.<br />

Aber diese frühen Bibelübersetzungen sind nicht nur von theologischem, sondern<br />

auch von philologischem und kulturhistorischem Wert. So ist die Sprache<br />

sefardischer Juden nach der Vertreibung durch die Bibel von Ferrara und die der<br />

spanischsprechenden Protestanten durch die Bibel Reinas (und Valeras) geprägt<br />

worden. Gleichwohl war der Humanist Enzinas der bessere Sprachstilist. Nicht<br />

ganz unbegründet ist daher die Vermutung von Carlos Gilly: «Wäre die Bibel<br />

des Burgalesen zustandegekommen, so könnte sie bestimmt, und mit mehr Recht<br />

als die Bibel von Casiodoro de Reyna, als klassischer Text der spanischen Sprache<br />

gelten.» 30<br />

29 EL/ TESTAMENTO/ NUEVO DE NUE-/stro Señor Jesu Christo ..., London 1596, bei der<br />

Druckerei des Ricardo del Campo [Richard Field], 742 S.<br />

30 Gilly, Spanien (wie Anm. 7), 350.


08.11.2007 – 10:59:00<br />

Die spanischen Bibelübersetzungen<br />

Die spanischen Bibelübersetzungen in der Frühen Neuzeit<br />

Obwohl es im Mittelalter bereits Bibelübersetzungen ins Spanische gegeben hat und Spanien<br />

im 16. Jahrhundert – nicht zuletzt aufgrund der vielen Bekehrungen aus dem Judentum<br />

– ein Land von Bibelwissenschaftlern war, die Aufsehen erregende polyglotte Bibelausgaben<br />

besorgten, entschieden sich Krone und Kirche im konfessionellen Zeitalter<br />

gegen die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache. Die spanischen Bibelübersetzungen<br />

der Frühen Neuzeit sind daher das Werk von vertriebenen Juden oder mit der Reformation<br />

sympathisierenden Exulanten. Letztere hielten sich vielfach in Genf und Basel auf, wo sie<br />

ihre Übersetzungen drucken liessen. Der Beitrag geht den Gründen für die spanische Entscheidung<br />

gegen die Bibelübersetzung in die Volkssprache nach und stellt die Übersetzungen<br />

vor, die ausserhalb Spaniens gedruckt wurden: das Neue Testament des Francisco<br />

de Enzinas (1543), die Bibel von Ferrara der spanischen Juden (1553), das Neue<br />

Testament (1556) und die Psalmen (1557) des Juan Pérez de Pineda, die Basler Bibel des<br />

Casiodoro de Reina (1569) und schliesslich deren Revision durch Cipriano de Valera<br />

(1602). Die darin enthaltenen Prologe und Ermahnungen an den Leser geben uns Auskunft<br />

über ihre Übersetzungstechniken und -interessen. Sie enthalten auch – heute noch<br />

wichtige – Plädoyers für Sinn und Zweck der Bibelübersetzung sowie für die befreiende<br />

Kraft des Wortes Gottes, das, wie Enzinas wusste, von keiner Gewalt dieser Welt aufgehalten<br />

werden kann.<br />

Les traductions de la bible en espagnol à l’époque moderne<br />

Bien qu’il y ait déjà eu, au Moyen-Âge, des traductions de la bible en espagnol, et que<br />

l’espagne était au XVIe siècle – pas uniquement à cause des nombreuses conversions à<br />

partir du judaisme – un pays d’exégètes qui produisaient des éditions remarquées de la<br />

bible, la couronne et l’Eglise, dans l’ombre de la Réforme, refusèrent une traduction de la<br />

bible en langue vulgaire. Les traductions espagnoles de la bible à l’époque moderne<br />

étaient l’oeuvre de juifs déportés ou d’exilés sympathisants de la Réforme. Ces derniers<br />

s’établissaient souvent à Genève et à Bâle, où ils faisaient imprimer leurs traductions. Le<br />

présent article s’attache aux raisons du refus par l’Espagne d’une traduction de la bible en<br />

langue vulgaire et présente les traductions qui furent imprimées hors d’Espagne: le<br />

Nouveau testament de Francisco de Enzinas (1543), la bible de Ferrare du juif espagnol<br />

(1553), le Nouveau testament (1556) et les psaumes (1557) de Juan Pérez de Pineda, la<br />

bible bâloise de Casiodoro de Reina (1569) et enfin la révision de cette dernière par Cipriano<br />

de Valera (1602). Les préfaces et les exhortations contenues dans ces ouvrages<br />

nous informent sur les techniques et les intérêts de la traduction. Ils contiennent aussi des<br />

pladoyers – aujourd-hui toujours importants – pour le sens et le but de la traduction de la<br />

bible comme pour la force libératrice de la parole de Dieu qui, comme Enzinas le savait,<br />

ne peut être retenue par aucune autorité de ce monde.<br />

Translations of the Bible into Spanish in the Early Modern Period<br />

The medieval period had seen early translations into Spanish and by the 16 th century, with<br />

many conversions from Judaism, Spain had become a land of biblical scholars whose<br />

multilingual editions had aroused great interest. Nevertheless, against the threatening<br />

backdrop of the Reformation, both the Crown and the Church in Spain decided against<br />

allowing translations into popular speech. The translations that were made into Spanish in<br />

the early modern period were therefore the work of displaced Jews or exiles who sympathized<br />

with the Reformation. Such exiles settled in Geneva and Basel, and their translations<br />

were printed in these Swiss cities. This paper examines the reasons for the Spanish<br />

rejection of translation of the Bible into popular speech and introduces the translations<br />

which were printed outside Spain: Francisco de Enzinas’ New Testament (1543), Ferrara’s<br />

Bible (1553), Juan Pérez de Pineda’s New Testament (1556) and Psalms (1557), the<br />

Basel Bible by Casiodoro de Reina (1569) and finally the revised edition of this Bible<br />

produced by Cipriano de Valera (1602). The prologues and warnings to the readers gin<br />

these editions offer insight into the translation techniques employed and what were seen<br />

as points of interest. Beyond this, they contain pleas which remain important today for the<br />

sense and purpose of Bible translation and for the liberating power of the Word of God,<br />

which, as Enzinas knew, no earthly power could inhibit.<br />

223


224<br />

08.11.2007 – 10:59:00<br />

Mariano Delgado<br />

Schlüsselwörter – Mots clés – Keywords<br />

Bibelübersetzungen und Inquisition– traductions de la bible et inquisition – Bible translations<br />

and the Inquisition, Religion und Politik– religion et politique – Religion and<br />

Politics, Konfessionspolemik– politique confessionnelle – Confessional polemics, europäische<br />

Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit – histoire culturelle européenne de l’époque<br />

moderne – European cultural history of the Early Modern Period<br />

Mariano Delgado, Dr. theol., Dr. phil., Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte<br />

an der Universität Freiburg/Schweiz


3/2011 • 20. JANUAR • 179. JAHRGANG ISSN 1420-5041 • FACHZEITSCHRIFT UND AMTLICHES ORGAN<br />

«NUR DER MYSTIKER WUSSTE ES …»<br />

Mystik hat Konjunktur – in der Erlebnis-<br />

und Konsumgesellschaft erst recht. In<br />

Berlin gibt es ein «Haus der Mystik».<br />

Im Schaufenster fi ndet man duftende<br />

Kerzen und Seifen in allen Farben des Regenbogens,<br />

bunt gemischte esoterische Literatur, zumeist<br />

indianischer und orientalischer Herkunft und<br />

vielfach in katholischen Verlagen erschienen, aber<br />

– mit Ausnahme der Kochrezepte der Hildegard<br />

von Bingen – kein einziges Buch von Klassikern der<br />

christlichen Mystik und Spiritualität. Diese scheint<br />

es heute nicht leicht zu haben. Individualisierung<br />

heisst ein zeitdiagnostisches Stichwort; entsprechend<br />

wird der mystische Weg als ausgesprochen<br />

subjektiv verstanden, tendenziell auch unpolitisch<br />

und nicht selten im Kontrast, ja im Widerspruch<br />

zu den Kirchen.<br />

Eine billige Kirchenkritik nach dem Motto<br />

«Jesus ja, Kirche nein» oder «Abschied von der<br />

Papstkirche» hat seit den späten 1960er-Jahren<br />

ebenfalls Konjunktur – genauso wie die Betrachtung<br />

der gesamten Kirchengeschichte unter der<br />

Perspektive des Verdachts als eine «Kriminalgeschichte»,<br />

von der man sich nur abwenden kann.<br />

Metallikone von<br />

Josua Boesch im<br />

Lassalle-Haus,<br />

Bad Schönbrunn,<br />

in Edlibach (ZG).<br />

Darin fühlt man sich auch bestärkt durch den<br />

Herrschaftsmissbrauch und das Gegenzeugnis einiger<br />

Amtsträger heute, die sich wie die schlechten<br />

Hirten benehmen, von denen der Prophet Ezechiel<br />

(Ez 34,3.10) oder Jesus von Nazareth (Lk 11,52)<br />

sprachen.<br />

Christliche Spiritualität ist wieder<br />

gefragt<br />

Es gibt aber auch andere Trends, wie etwa Suchbewegungen<br />

nach «christlicher Spiritualität». Viele<br />

Christen kennen das «Oh, wie schön ist Panama»-<br />

Syndrom. Als meine Töchter im Kindergarten waren,<br />

las ich ihnen dieses Kultbuch von Janosch oft<br />

vor. Die zwei Freunde Tiger und Bär fi schen eine<br />

leere Holzkiste mit der Aufschrift «Panama» aus<br />

dem Fluss in der Nähe ihres Zuhauses. Der Tiger<br />

ist neugierig und will nun alles von diesem Panama<br />

wissen. Der Bär erzählt ihm fantasievoll, dass Panama<br />

ein wunderbarer Ort sei. Dort soll alles grösser<br />

und schöner sein als zu Hause. Am nächsten<br />

Tag machen sich die beiden mit ihren sieben Sachen<br />

auf den Weg nach Panama.<br />

Während ihrer Reise treff en sie auf die verschiedensten<br />

Tiere, die ihnen angeblich den Weg<br />

zeigen, obwohl sie gar nicht wissen, wo Panama<br />

tatsächlich liegt. Schliesslich kommen sie nach langer<br />

Zeit wieder in ihrem Zuhause an und wissen<br />

diesen Ort erst jetzt recht zu schätzen.<br />

So geht es vielen, die sich nun der christlichen<br />

Spiritualität zuwenden und «aus der eigenen<br />

Quelle» trinken wollen. Sie haben verstanden, dass<br />

der Mensch gewordene Gott «lebendiges Wasser»<br />

(Joh 4,7) und «Worte des ewigen Lebens» (Joh<br />

6,67) hat.<br />

33<br />

SPIRITUALITÄT<br />

35<br />

LESEJAHR<br />

000<br />

36<br />

KARDINAL<br />

KURT KOCH<br />

000<br />

38<br />

CHRISTLICHER<br />

DIALOG<br />

000<br />

41<br />

KIPA-WOCHE<br />

000<br />

45<br />

INTER-<br />

RELIGIÖSER<br />

DIALOG<br />

000<br />

48<br />

AMTLICHER<br />

TEIL<br />

000<br />

I–XII<br />

REGISTER 2010


«NUR DER MYSTIKER WUSSTE ES…»<br />

SPIRITUALITÄT<br />

Mariano Delgado ist ord.<br />

Professor für Mittlere und<br />

Neuere Kirchengeschichte<br />

an der Universität Freiburg,<br />

Dekan der Theologischen<br />

Fakultät und Präsident der<br />

Vereinigung für <strong>Schweizerische</strong><br />

Kirchen geschichte.<br />

1 Für nähere Auskunft vgl.:<br />

http://www.unifr.ch/theo und<br />

http://www.lassalle-haus.<br />

org. Die wissenschaftliche<br />

Leitung besteht aus Prof.<br />

DDr. Mariano Delgado, Prof.<br />

Dr. Franz Mali, Dr. Christian<br />

Rutishauser SJ und PD Dr.<br />

Simon Peng-Keller. An der<br />

Kursleitung ist auch Dr. Ingeborg<br />

Peng-Keller beteiligt.<br />

Vgl. folgende Publikationen<br />

von ihnen: M. Delgado /<br />

G. Fuchs (Hrsg.): Die Kirchenkritik<br />

der Mystiker. Prophetie<br />

aus Gotteserfahrung,<br />

3 Bde. (Freiburg 2004 f.);<br />

S. Peng-Keller: Einführung in<br />

die Theologie der Spiritualität<br />

(Darmstadt 2010);<br />

Ch. M. Rutishauser: Vom<br />

Geist ergriffen dem Zeitgeist<br />

antworten. Christliche<br />

Spiritualität für heute<br />

(Ostfildern 2011).<br />

34<br />

Nur der Mystiker wusste es …<br />

Kennen Sie die Erzählung «Die Harfe Gottes» von<br />

Gabriela Mistral? Darin heisst es: «Der, den David<br />

den ‹ersten Musiker› nannte, hat wie er eine Harfe:<br />

Seine Harfe ist gewaltig. Ihre Saiten sind die Därme<br />

der Menschen. Keinen Augenblick der Stille kennt<br />

diese Harfe, keine Ruhe die Hand des glutvollen<br />

Harfenschlägers. Von Sonne zur Sonne lässt Gott auf<br />

seine Geschöpfe Melodien herabströmen. (…) Der<br />

göttliche Spieler hört die Seelen, die er schuf, und<br />

wird bald mutlos, bald begeistert. Gleitet seine Hand<br />

von den dürren zu den vollklingenden, so lächelt er,<br />

oder es tropft seine Träne auf die Saite. Und niemals<br />

schweigt die Harfe, und niemals ruht die Hand des<br />

Spielers, noch die Himmel, die lauschen. Der Mann,<br />

der im Schweisse seines Angesichts den Acker aufreisst,<br />

weiss nicht, dass der Herr, den er manchmal<br />

leugnet, sein Gedärm schlägt. Die Mutter, die<br />

das Kind zur Welt bringt, weiss auch nicht, dass ihr<br />

Schrei das Blau des Himmels zerreisst und in diesem<br />

Augenblicke ihre Saite blutend wird. Nur der Mystiker<br />

wusste es: Kaum hörte er diese Harfe, da riss er<br />

seine Wunden auf, um mehr zu geben, um bis in alle<br />

Ewigkeit in den himmlischen Gefi lden zu singen.»<br />

Der Mystiker wird hier als ein bewusster Hörer<br />

der himmlischen Musik (des Wortes in der klassischen<br />

Sprache der Theologie) beschrieben, der immer<br />

wieder bereit ist, sich mit seinem Lob und seiner<br />

Klage Gott hin zu wenden – ein schönes Bild für die<br />

Sache, um die es in der christlichen Mystik geht!<br />

Kriterien christlicher Spiritualität<br />

Es gibt einige Kriterien echter christlicher Spiritualität:<br />

– Gott ist Anfang und Ende der mystischen<br />

Erfahrung, Auslöser und Vollender, denn er sucht<br />

immer schon den Menschen und wirbt um dessen<br />

Liebe: «Wenn die Menschenseele Gott sucht, so<br />

sucht sie ihr Geliebter noch viel dringlicher» –<br />

schreibt Johannes vom Kreuz; man erinnere sich<br />

auch der Erzählung Gabriela Mistrals: «Und niemals<br />

schweigt die Harfe, und niemals ruht die Hand des<br />

Spielers, noch die Himmel, die lauschen.»<br />

– Ziel der Begegnung zwischen Gott und<br />

Mensch ist die Vergöttlichung des Menschen, die<br />

Geburt des neuen Menschen «aus Wasser und<br />

Geist» (Joh 3,5) bzw. die «Christusförmigkeit»:<br />

«Ich lebe, doch nicht mehr ich, Christus lebt in<br />

mir» (Gal 2,20).<br />

– Der Weg dazu ist das Wagnis des Glaubens<br />

und der Nachfolge Christi. Dazu gehört die<br />

Erfahrung des Kreuzes, aber auch die Gelassenheit,<br />

dass Gott allein genügt («Solo Dios basta»). Wir<br />

sollten darauf setzen, dass der Glaube der Kirche,<br />

obwohl «dunkel» wie alles in dieser Welt, der sicherste<br />

Führer zu einem Gott ist, dessen Wesen<br />

wir als «Liebe» verstehen dürfen.<br />

3/2011<br />

– Christliche Mystik betont die Einheit von<br />

Gottes- und Nächstenliebe; denn gerade die Mystiker<br />

wissen, dass wir am Abend «nur» in der Liebe<br />

geprüft werden sollen (vgl. Mt 25). Die Liebe<br />

hat eine prophetische Dimension: Sie teilt Gottes<br />

Op tion für die Armen und Kleinen der Geschichte,<br />

tritt für Gerechtigkeit und Recht ein und beteiligt<br />

sich so am Aufbau des Reiches Gottes in<br />

dieser Welt. Das ist es, was heute mit der Metapher<br />

«Mystik der off enen Augen» ausgedrückt<br />

wird oder die Anfangsworte von «Gaudium et<br />

spes» uns zu verstehen geben: «Freude und Hoff -<br />

nung, Trauer und Angst der Menschen, besonders<br />

der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch<br />

Freude und Hoff nung, Trauer und Angst der Jünger<br />

Christi.»<br />

– Schliesslich gehört dazu auch die Reform<br />

der Kirche, damit diese als Braut Christi «christusförmiger»<br />

werde. Daher ist der echte Mystiker<br />

immer und zu allen Zeiten ein scharfsinniger Kritiker<br />

der Kirche. Seine Kritik kommt aber nicht<br />

von «links» und nicht von «rechts», und weder von<br />

«oben» noch von «unten», sondern aus der Mitte<br />

des Glaubens und der Tiefe der Liebe. Daher ist sie<br />

sehr ernst zu nehmen.<br />

Ein Masterangebot der Theologischen<br />

Fakultät Freiburg in Zusammenarbeit<br />

mit dem Lassalle-Haus<br />

Christliche Mystik heisst, sich dessen bewusst werden,<br />

dass die Gottebenbildlichkeit unsere Bestimmung<br />

ist. Denn es gibt in Wahrheit nur eine letzte<br />

Berufung des Menschen, und das ist «die göttliche»<br />

(Gaudium et spes 22). Daher sollten wir uns dieser<br />

«erhabenen Würde» bewusst werden und Gott<br />

entgegengehen.<br />

Der beste Weg dazu ist das Hören auf den<br />

Guten Hirten, der als «der Weg, die Wahrheit und<br />

das Leben» (Joh 14,6) in die Welt gekommen ist<br />

und «sich in seiner Menschwerdung gewisser massen<br />

mit jedem Menschen vereinigt [hat]» (Gaudium<br />

et spes 22). Wichtig ist aber auch, dass wir bei<br />

denjenigen in die Schule gehen, die in den letzten<br />

2000 Jahren Meister der christlichen Spiritualität<br />

geworden sind. Auch wenn christliche Mystik davon<br />

ausgeht, dass Gott einen jeden Menschen auf<br />

je verschiedene Wege zu sich führt, so gilt auch,<br />

dass wir aus der geistlichen Erfahrung anderer<br />

lernen können, die vor uns aus dieser Quelle «lebendiges<br />

Wasser» getrunken haben, um «niemals<br />

mehr Durst [zu] haben» (Joh 4,14).<br />

Aus diesem Grund haben die Theologische<br />

Fakultät Freiburg und das Lassalle-Haus einen speziellen<br />

Master (MAS) in «Theologie der Spiritualität»<br />

gemeinsam konzipiert, der im März dieses<br />

Jahres starten wird. 1<br />

Mariano Delgado


Un pastorcico, solo, está penado,<br />

ajeno de placer y de contento,<br />

y en su pastora puesto el pensamiento,<br />

y el pecho del amor muy lastimado<br />

No llora por haberle amor llagado,<br />

que no le pena verse así afligido,<br />

aunque en el corazón está herido;<br />

mas llora por pensar que está olvidado.<br />

Que sólo de pensar que está olvidado<br />

de su bella pastora, con gran pena<br />

se deja maltratar en tierra ajena,<br />

el pecho de el amor muy lastimado.<br />

Y dice el pastorcico: ¡Ay, desdichado<br />

de aquel que de mi amor ha hecho ausencia<br />

y no quiere gozar la mi presencia,<br />

y el pecho por su amor muy lastimado!<br />

Y a cabo de un gran rato, se ha encumbrado<br />

sobre un árbol, do abrió sus brazos bellos,<br />

y muerto se ha quedado asido dellos,<br />

el pecho de el amor muy lastimado.<br />

(Originalversion, vier elfsilbige Strophen mit<br />

Jamben in der sechsten und zehnten Silbe)<br />

Drei Übersetzungen des Gedichtes Un pastorcico (Juan de la Cruz/Johannes vom Kreuz)<br />

Ein junger Hirt steht einsam und in Zagen,<br />

Dem Frieden fern und fern glücksel’gem Minnen;<br />

Bei seiner Hirtin weilt sein ganzes Sinnen,<br />

Sein Herz belasten schwer der Liebe Plagen.<br />

Nicht weint er, weil ihm Wunden hat geschlagen<br />

Die Lieb’; er klaget nicht ob herber Schmerzen,<br />

Wenn er verwundet gleich im tiefsten Herzen;<br />

Er weint, weil sie nicht Sorg’ um ihn getragen.<br />

Denn nur, weil keine Sorg’ um ihn getragen<br />

Die schöne Hirtin, duldet er Beschwerde,<br />

Läßt sich mißhandeln auf der fremden Erde,<br />

Das Herz belastet von der Liebe Plagen.<br />

„Wie bin ich Armer“, spricht er, „zu beklagen!<br />

Um sie, die meine Liebe stolz gemieden,<br />

Nicht kosten wollte meiner Nähe Frieden,<br />

Aus Lieb’ um sie belasten mich die Plagen.“<br />

An’s Kreuz erhob er sich nach vielen tagen.<br />

Und an den schönen Armen, weit erschlossen,<br />

Hat hangend er den letzten Hauch ergossen,<br />

Das Herz belastet von der Liebe Plagen.<br />

(In der Übertragung von Aloysius ab Immac.<br />

Conceptione, Kösel, München 1929)<br />

Ein kleiner Hirt einsam steht, bekümmert,<br />

abseits von Freude und Vergnügen,<br />

und auf seine Hirtin hat er seinen Sinn gerichtet,<br />

und sein Herz ist von Liebe tief versehrt.<br />

Er weint nicht, weil die Liebe ihn verwundet hat,<br />

es schmerzt ihn nicht, sich so gequält zu sehen,<br />

obgleich er im Herzen getroffen ist,<br />

er weint vielmehr, weil er denkt, er sei vergessen.<br />

Denn allein beim Gedanken, er sei vergessen<br />

von seiner schönen Hirtin, mit großem Schmerz<br />

läßt er sich im fremden Land mißhandeln,<br />

das Herz von Liebe tief versehrt.<br />

Und es spricht der kleine Hirt: Ach, unglückselig,<br />

wer sich von meiner Liebe abgewendet hat<br />

und sich meiner Gegenwart nicht erfreuen will,<br />

und um seiner Liebe willen ist sein Herz tief versehrt.<br />

Und am Ende einer langen Zeit, stieg er hinauf<br />

auf einem Baum, wo er seine schönen Arme breitete,<br />

und gestorben ist, an ihnen hangend,<br />

das Herz von Liebe tief versehrt.<br />

(In der Übertragung von Cornelia Capol, Johannes,<br />

Einsiedeln 1978)<br />

Ein junger Hirt, ganz einsam, hat wohl Kummer,<br />

abseits von jeder Freude und Vergnügung,<br />

und seiner Hirtin gilt die ganze Sehnsucht,<br />

die Brust ist ja aus Liebe tief verwundet.<br />

Er weint nicht, weil die Liebe ihn getroffen,<br />

nicht peinigt ihn, sich so bedrückt zu finden,<br />

obgleich er tief im Herzen ist verwundet;<br />

er weint nur, weil er denkt, er sei vergessen.<br />

Nur weil er eben denkt, er sei vergessen<br />

von seiner schönen Hirtin, liebestrunken<br />

läßt er sich in der Fremde dann mißhandeln;<br />

die Brust ist ja aus Liebe tief verwundet.<br />

So spricht der junge Hirt: „Unselig jene,<br />

die nicht in meiner Liebe sind gewandelt,<br />

und meine Gegenwart nicht kosten möchten,<br />

die Brust, um ihretwillen tief verwundet!“<br />

Nach einer langen Zeit ist er gestiegen<br />

auf einen Baum, die schönen Arme öffnend,<br />

nach seinem Tode blieb an ihnen hangend<br />

die Brust - sie ist aus Liebe tief verwundet.<br />

(In der Übertragung von Mariano Delgado,<br />

Christ in der Gegenwart, 1999, 110)


Ich lebe, ohne dass ich in mir lebe (JvK 1573) Die dunkle Nacht (JvK 1578)* Die Liebesflamme (JvK 1584)<br />

„Ich lebe, ohne dass ich in mir lebe<br />

Ich lebe, ohne dass ich in mir lebe<br />

Und dergestalt ist meine Hoffnung:<br />

Weil ich nicht sterbe, sterbe ich.<br />

1. In mir leb’ ich schon nicht mehr,<br />

und leben ohne Gott, das kann ich nicht,<br />

so bleib’ ich ohne ihn und mich:<br />

Was ist das für ein Leben?<br />

Es schafft mir tausend Tode,<br />

doch hoff’ ich auf mein eigenes Leben<br />

im Sterben, weil ich nicht mehr sterbe.<br />

2. Dieses Leben, das ich lebe,<br />

heisst, das Leben zu entbehren,<br />

und so ist’s ein stetes Sterben,<br />

bis dass ich leben darf in DIR.<br />

Mein Gott, hör auf das, was ich sage,<br />

denn so ein Leben will ich nicht,<br />

weil ich nicht sterbe, sterbe ich.<br />

3. Wenn fern von DIR ich weile –<br />

was für ein Leben kann ich haben,<br />

wenn nicht den Tod zu leiden,<br />

den grössten, den es jemals gab?<br />

Und Mitleid habe ich mit mir,<br />

da ich auf solche Art verharre:<br />

weil ich nicht sterbe, sterbe ich.<br />

4. Der Fisch, gerissen aus dem Wasser,<br />

entbehrt so der Tröstung nicht,<br />

denn in dem Tod, den er erleidet,<br />

ist er am Ende wirklich tot.<br />

Wo findet sich ein Tod, der passt<br />

Zu meinem jämmerlichen Leben?<br />

Je mehr ich lebe, desto mehr leid’ ich den Tod?<br />

5. Wenn ich mich zu trösten meine, 7. Befreie mich von diesem Tod,<br />

DICH zu sehen im Sakrament, mein Gott, gewähre mir das Leben;<br />

bereitet es mir noch mehr Schmerz, halt meine Seele nicht gebunden<br />

nicht an DIR mich zu erfreu’n. mit dieser Schlinge festem Knoten,<br />

Alles führt zu gröss’rer Busse: nimm wahr, wie ich verlange DICH zu sehen!<br />

Ich seh’ DICH nicht, wie ich es will, Mein Unglück ist so ganz und gar:<br />

weil ich nicht sterbe, sterbe ich. Weil ich nicht sterbe, sterbe ich.<br />

6. Und freu’ ich mich, o Herr, 8. Beweinen wird’ ich meinen Tod,<br />

voll Hoffnung, DICH zu sehn, mein leben werde ich beklagen:<br />

dann seh’ ich, dass ich DICH verlieren kann, da es durch diese meine Sünden<br />

und es verdoppelt sich mein Schmerz. in der Gefangenschaft verbleibt.<br />

Ich lebe in so grosser Furcht Mein Gott, wann wird es sein,<br />

In Hoffnung zwar, wie ich ja hoffe, dass ich in Wahrheit sagen kann:<br />

ersterbe ich, weil ich nicht sterbe. ich lebe schon, weil ich nicht sterbe?“<br />

1. In einer Nacht ganz dunkel,<br />

erfüllt von Sehnsucht und entflammt von Liebe<br />

- o du glückliche Stunde! -<br />

ging ich ganz unbesehen,<br />

als es schon still in meinem Haus geworden;<br />

2. im Dunkeln und ganz sicher,<br />

auf der geheimen Leiter und verkleidet<br />

- o du glückliche Stunde! -,<br />

im Dunkeln und in Tarnung,<br />

es war schon still in meinem Haus geworden;<br />

3. in der Nacht, die so glücklich,<br />

im Geheimen, als keiner mich bemerkte<br />

und mich auch nichts ablenkte,<br />

da war kein Licht, kein Führer,<br />

nur das, was mir im Herzen sehnlichst brannte.<br />

4. Das selbe war mein Führer<br />

gewisser als das Licht der Mittagsstunde<br />

dorthin, wo meiner harrte<br />

der mir so wohl Bekannte,<br />

zum Ort, an dem sich keiner ließ erblicken.<br />

5. O Nacht, die du geführt hast,<br />

o Nacht, voll Liebreiz mehr als Morgenröte!<br />

O Nacht, die du verbunden<br />

Geliebten und Geliebte,<br />

Geliebte dem Geliebten gleichgestaltet!<br />

6. An meiner Brust, die blühte<br />

und ganz für ihn allein sich aufbewahrte,<br />

dort ruhte er im Schlafe,<br />

da durft' ich ihn beschenken,<br />

als ihm der Zedern Wehen Kühlung brachte.<br />

7. Und dort der Hauch der Zinne<br />

- als streichelnd ich die Haare ihm gebreitet -,<br />

mit seiner Hand, so heiter!,<br />

hat mir den Hals verwundet,<br />

daß alle meine Sinne mir entschwanden.<br />

8. Da blieb ich und vergaß mich,<br />

das Antlitz neigt' ich über den Geliebten,<br />

alles verschwand, ich ließ mich,<br />

ließ fallen meine Sorge,<br />

vergessen lag sie unter Lilienblüten.<br />

1. O Liebesflamme, Leben,<br />

dein zarter Brand verwundet<br />

die Seele mir in ihrem tiefsten Grunde!<br />

Da du mir nicht mehr ausweichst:<br />

So du es willst, vollbring es,<br />

reiss ab den Schleier dieser holden Einung.<br />

2. O sanfte Glut des Geistes!<br />

Wundmale, mir geschenkte!<br />

O zarte Hand! O kostbare Berührung!<br />

Geschmack ewigen Lebens<br />

Und Tilgung aller Schulden:<br />

Du tötest, wandelst so den Tod zum Leben.<br />

3. O Lampen, feuerleuchtend,<br />

in deren Strahlenglanze<br />

die allertiefsten Höhlen meiner Sinne,<br />

- sie waren blind und dunkel -<br />

mit seltner Sanftheit Licht und<br />

Wärme spenden, mit dem Geliebten eines!<br />

4. Wie milde und wie liebreich<br />

erwachst du mir im Herzen,<br />

wo du geheimnisvoll allein nur wohnst,<br />

im Dufte deines Hauches von<br />

Glück und Seligkeit erfüllt:<br />

Von welcher Zartheit ist dein Liebeswerben!“


Alles Wissen überschreitend<br />

Johannes vom Kreuz’ Beschreibung einer mystischen<br />

Ekstase - neu übersetzt von Mariano Delgado<br />

Ich kam hin, wo ich nicht(s) wusste,<br />

und verharrte dort nichts wissend,<br />

alles Wissen überschreitend.<br />

1. Nicht wusst’ ich, wo hingekommen;<br />

als ich dort mich wahrgenommen<br />

und nicht wusste, wo ich weilte,<br />

Großes habe ich verstanden;<br />

nicht erzähl’ ich, was erfahren,<br />

da nichts wissend ich verharrte,<br />

alles Wissen überschreitend.<br />

2. Dort von Frieden und auch Mitleid<br />

war das Wissen ganz vollkommen,<br />

in der tiefsten Einsamkeit<br />

(auf direktem Weg) verstanden;<br />

so geheim war, was erfahren,<br />

dass ich stammelnd dort verharrte,<br />

alles Wissen überschreitend.<br />

3. So versunken ich gewesen,<br />

so versonnen und verwandelt,<br />

dass die Sinne mir verblieben<br />

der Wahrnehmung ganz enthoben,<br />

der Geist aber ausgestattet<br />

mit Verstehen, nicht-begrifflich,<br />

alles Wissen überschreitend.<br />

4. Wer dort wirklich hingekommen,<br />

wird des „ich“ gänzlich verlustig;<br />

was er früher sicher wusste,<br />

ihm sehr niedrig wird vorkommen;<br />

doch sein Wissen wird so wachsen,<br />

dass nichts wissend er wird harren,<br />

alles Wissen überschreitend.<br />

5. Und je höher aufgestiegen,<br />

desto weniger begriffen;<br />

sie ist finster diese Wolke,<br />

doch die Nacht hat sie erleuchtet;<br />

wer nun also um sie wusste,<br />

wird nichts wissend immer harren,<br />

alles Wissen überschreitend.<br />

6.Dieses Wissen im Nichtwissen<br />

ist von einer solchen Größe,<br />

das der Weisen Argumente<br />

es nie widerlegen werden;<br />

denn ihr Wissen wird nie können<br />

nicht-begrifflich doch verstehen,<br />

alles Wissen überschreitend.<br />

7. Es ist auch von solcher Größe<br />

dieses höchste allen Wissens,<br />

dass der Wissenschaften keine<br />

es erreichen jemals könnte;<br />

wer sich lässt derart bezwingen<br />

durch ein Wissen im Nichtwissen<br />

wird dann immer überschreitend.<br />

8. Und wenn ihr es nun wollt hören:<br />

dieses höchste allen Wissens<br />

ist erhabenes Erfahren<br />

Gottes Wesenheit und Größe;<br />

es ist Werk seines Erbarmens<br />

nicht-begrifflich zu verharren,<br />

alles Wissen überschreitend.


Die dunkle Nacht (Johannes vom Kreuz)* Die große Nacht (Rainer Maria Rilke, Januar 1913)** Das Lied von Namenlos (Peter. Handke)***<br />

1. In einer Nacht ganz dunkel,<br />

erfüllt von Sehnsucht und entflammt von Liebe<br />

- o du glückliche Stunde! -<br />

ging ich ganz unbesehen,<br />

als es schon still in meinem Haus geworden;<br />

2. im Dunkeln und ganz sicher,<br />

auf der geheimen Leiter und verkleidet<br />

- o du glückliche Stunde! -,<br />

im Dunkeln und in Tarnung,<br />

es war schon still in meinem Haus geworden;<br />

3. in der Nacht, die so glücklich,<br />

im Geheimen, als keiner mich bemerkte<br />

und mich auch nichts ablenkte,<br />

da war kein Licht, kein Führer,<br />

nur das, was mir im Herzen sehnlichst brannte.<br />

4. Das selbe war mein Führer<br />

gewisser als das Licht der Mittagsstunde<br />

dorthin, wo meiner harrte<br />

der mir so wohl Bekannte,<br />

zum Ort, an dem sich keiner ließ erblicken.<br />

5. O Nacht, die du geführt hast,<br />

o Nacht, voll Liebreiz mehr als Morgenröte!<br />

O Nacht, die du verbunden<br />

Geliebten und Geliebte,<br />

Geliebte dem Geliebten gleichgestaltet!<br />

6. An meiner Brust, die blühte<br />

und ganz für ihn allein sich aufbewahrte,<br />

dort ruhte er im Schlafe,<br />

da durft' ich ihn beschenken,<br />

als ihm der Zedern Wehen Kühlung brachte.<br />

7. Und dort der Hauch der Zinne<br />

- als streichelnd ich die Haare ihm gebreitet -,<br />

mit seiner Hand, so heiter!,<br />

hat mir den Hals verwundet,<br />

daß alle meine Sinne mir entschwanden.<br />

8. Da blieb ich und vergaß mich,<br />

das Antlitz neigt' ich über den Geliebten,<br />

alles verschwand, ich ließ mich,<br />

ließ fallen meine Sorge,<br />

vergessen lag sie unter Lilienblüten.<br />

Oft anstaunt ich dich, stand an gestern begonnenem Fenster,<br />

stand und staunte dich an. Noch war mir die neue<br />

Stadt wie verwehrt, und die unüberredete Landschaft<br />

finsterte hin, als wäre ich nicht. Nicht gaben die<br />

nächsten Dinge sich Müh, mir verständlich zu sein. An der Laterne<br />

drängte die Gasse herauf: ich sah, daß sie fremd war.<br />

Drüben ein Zimmer, mitfühlbar, geklärt in der Lampe —,<br />

schon nahm ich teil; sie empfandens, schlössen die Läden.<br />

Stand. Und dann weinte ein Kind. Ich wußte die Mütter<br />

rings in den Häusern, was sie vermögen, und wußte<br />

alles Weinens zugleich die untröstlichen Gründe.<br />

Oder es sang eine Stimme und reichte ein Stück weit<br />

aus der Erwartung heraus, oder es hustete unten<br />

voller Vorwurf ein Alter, als ob sein Körper im Recht sei<br />

wider die mildere Welt. Dann schlug eine Stunde —,<br />

aber ich zählte zu spät, sie fiel mir vorüber.<br />

Wie ein Knabe, ein fremder, wenn man endlich ihn zuläßt,<br />

doch den Ball nicht fängt und keines der Spiele<br />

kann, die die ändern so leicht aneinander betreiben,<br />

dasteht und wegschaut, wohin? — stand ich, und plötzlich,<br />

daß d u umgehst mit mir, spielest, begriff ich, erwachsene<br />

Nacht, und staunte dich an. Wo die Türme<br />

zürnten, wo abgewendeten Schicksals<br />

eine Stadt mich umstand, und nicht zu erratende Berge<br />

wider mich lagen, und im genäherten Umkreis<br />

hungernde Fremdheit umzog das zufällige Flackern<br />

meiner Gefühle: da war es, du Hohe,<br />

keine Schande für dich, daß du mich kanntest. Dein Atem<br />

ging über mich; dein aufweite Ernste verteiltes<br />

Lächeln trat in mich ein.<br />

Sie fielen einander in die Arme mit namenloser<br />

Schwäche.<br />

Sie hatten aneinander namenlose Freude.<br />

Sie lagen miteinander in namenloser<br />

Müdigkeit.<br />

Sie wachten auf in namenlosem Staunen.<br />

Sie schauten aus allen Fenstern mit namenloser<br />

Ungeduld.<br />

Sie fuhren weiter mit namenloser Geduld.<br />

Sie liebten einander namenlos.<br />

Sie wurden miteinander namenlos frei.<br />

Sie wurden miteinander namenlos kühn.<br />

Sie wurden miteinander namenlos dankbar.<br />

Sie belohnen einander namenlos.<br />

Sie schwitzten,<br />

schrien<br />

weinten,<br />

bluteten,<br />

schwiegen und<br />

erzählten einander namenlos.<br />

Sie trennten sich voneinander in namenloser<br />

Trauer.<br />

Sie gingen jeder in eine andere Richtung<br />

in namenlosem Zorn<br />

gegen Namenlos.<br />

* übersetzt von Günter Stachel<br />

und Mariano Delgado<br />

**Januar 1913 in Ronda oder Januar 1914 in<br />

Paris<br />

***In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem<br />

stillen Haus, Frankfurt/M. 1997, 310f.


Die Quelle<br />

Neu übersetzt von M. Delgado und G. Stachel<br />

Wie gut weiss ich die Quelle, die entspringt und fortfliesst,<br />

auch wen es Nacht ist.<br />

Die Ewigkeitenquelle hier, verborgen –<br />

Sie quillt hervor, das weiss ich sicher,<br />

auch wenn es Nacht ist.<br />

In solcher dunklen Nacht in diesem Leben,<br />

weiss ich im Glauben wohl die kühle Quelle,<br />

auch wenn es Nacht ist.<br />

Den Ursprung weiss ich nicht, denn sie hat keinen.<br />

Doch weiss ich: allem Ursprung gibt sie Herkunft,<br />

auch wenn es Nacht ist.<br />

Ich weiss, kein Ding kann solche Schönheit haben,<br />

ich weiss, dass Erd’ und Himmel aus ihr trinken,<br />

auch wenn es Nacht ist.<br />

Ich weiss, kein Grund ist, der in ihr sich findet,<br />

und keine Furt, dass keiner sie durchschreitet,<br />

auch wenn es Nacht ist.<br />

Ich weiss, ihr Glanz wird nie verfinstert werden,<br />

und alles Licht, von ihr ist es gekommen,<br />

auch wenn es Nach ist.<br />

Ich weiß, gewaltig strömen ihre Fluten<br />

dass sie bewässern Hölle, Himmel, Völker,<br />

auch wenn es Nacht ist.<br />

Geboren wird ein Strom aus dieser Quelle:<br />

Ich weiss, er ist voll Kraft, ja, ist allmächtig,<br />

auch wenn es Nacht ist.<br />

Der Strom, den diese zwei hervorgehn lassen:<br />

Ich weiss, dass beider keiner ihm vorangeht,<br />

auch wenn es Nach ist.<br />

Die drei, ich weiss, in einem Lebenswasser<br />

Wohnen, es stammt der eine aus dem andern,<br />

auch wenn es Nacht ist.<br />

Die Ewigkeitenquelle hier, verborgen<br />

In diesem Lebensbrot gibt sie uns Leben,<br />

auch wenn es Nacht ist.<br />

Hierher ruft man herbei die Kreaturen,<br />

sie trinken von dem Wasser, auch im Dunkeln.<br />

Da es ja Nacht ist.<br />

Die selbe Lebensquelle, meine Sehnsucht,<br />

erblicke ich in diesem Brot des Lebens,<br />

auch wenn es Nacht ist.<br />

****************************************<br />

Für all die Schönheit dieser Welt…<br />

9. Denn für alles, was man wahrnimmt,<br />

was im Jetzt begreifbar ist,<br />

und für alles, was verstehbar,<br />

sei es auch erhaben gross,<br />

nicht für Anmut, nicht für Schönheit<br />

wird’ ich je verlieren mich,<br />

wenn nicht für ein Was-ich-nicht-weiss,<br />

was sich einstellt nur durch Fügung.<br />

Für all die Schönheit dieser Welt (neu<br />

übersetzt von M. Delgado und G. Stachel)<br />

Für all die Schönheit dieser Welt<br />

Wird’ ich mich niemals verlieren,<br />

wenn nicht für ein Was-ich-nicht-weiss,<br />

was sich einstellt nur durch Fügung<br />

1. Genuss eines Guts, das vergänglich,<br />

das Höchste, das es wirken man –<br />

du wirst seiner überdrüssig,<br />

und es verdirbt dir den Geschmack;<br />

und darum für all die Süsse,<br />

wird’ ich mich niemals verlieren,<br />

wenn nicht für ein Was-ich-nicht-weiss,<br />

was sich einstellt nur durch Fügung.<br />

2. Ein Herz von edler Gesinnung,<br />

niemals strebet es zu rasten,<br />

wo man noch weiterkommen kann,<br />

sondern wo es äusserst schwer.<br />

Nichts wird ihm Anlass zur Sattheit,<br />

und hoch steigt sein Glaube hinauf,<br />

zu kosten ein Was-ich-nicht-weiss,<br />

was sich einstellt nur durch Fügung.<br />

3. Ihm, der aus Liebe erkrankt ist,<br />

weil Göttliches ihn getroffen,<br />

ist der Geschmack so verwirrt,<br />

dass ihm das Schmecken ganz entfällt;<br />

wie einer, der in Fieberhitze<br />

voll Ekel auf die Speisen blickt,<br />

begehrt er ein Was-ich-nicht-weiss,<br />

was sich einstellt nur durch Fügung.<br />

4. Wundert euch nur nicht darüber,<br />

dass der Geschmack ist so verwirrt;<br />

denn was verursacht das Übel,<br />

ist allem anderen fremd;<br />

wo also alle Kreaturen<br />

als fremd erfahren werden nun,<br />

kostet er ein Was-ich-nicht-weiss,<br />

was sich einstellt nur durch Fügung.<br />

5. Findet sich der Wille nämlich<br />

Von der Gottheit angerührt,<br />

kann ihm nicht Entlohnung werden<br />

ausser mit der Gottheit selbst;<br />

doch da sie ist von solcher Schönheit,<br />

dass man sie nur im Glauben sieht,<br />

schmeckt er sie in ein’m Was-ich-nicht-weiss,<br />

was sich einstellt nur durch Fügung.<br />

6. Nun, mit solchem Liebeswerber,<br />

sagt mir nur: habt ihr nicht Mitleid?<br />

Will ihm doch so gar nichts schmecken<br />

unter allem, was geschaffen;<br />

einsam. Ohne Form, gestaltlos,<br />

ohne Stütze, ohne Stand,<br />

schmeckt er ein Was-ich-nicht-weiss,<br />

was sich einstellt nur durch Fügung.<br />

7. Meinet nicht, das Innere,<br />

das von sehr viel grösserem Wert,<br />

findet Fröhlichkeit und Freude<br />

an dem, was im Diesseits schmeckt;<br />

doch über alle Schönheit hin<br />

und das, was ist und wird und war,<br />

schmeckt ihm jenseits ein Was-ich-nicht-weiss,<br />

was sich einstellt nur durch Fügung.<br />

8. Weit mehr richtet seine Sorge,<br />

wer sich fortzuschreiten müht,<br />

auf das, was noch zu gewinnen,<br />

als auf das, was schon gewonnen;<br />

und so um des Höhern willen<br />

wird’ ich stets hinneigen mich<br />

gerad’ zu ein’m Was-ich-nicht-weiss,<br />

was sich einstellt nur durch Fügung.


Die Beute in Reichweite<br />

Johannes vom Kreuz Beschreibung einer<br />

mystischen Ekstase<br />

neu übersetzt von Mariano Delgado<br />

Nach dem Kampf, wo Liebe brannte,<br />

von der Hoffnung ganz beflügelt,<br />

flog ich höher, immer höher,<br />

dass ich die Beute erreichte.<br />

1. Damit ich erreichen konnte<br />

diesen göttlichen Mitkämpfer<br />

musste ich derart weit fliegen,<br />

dass man mich nicht mehr gesehen;<br />

und doch trotz all der Anstrengung<br />

konnt' ich nicht weit genug fliegen;<br />

aber so hoch flog die Liebe,<br />

dass ich die Beute erreichte.<br />

2. Als am höchsten ich gestiegen,<br />

mir die Sicht war dann geblendet,<br />

der Eroberung die grösste<br />

wurd’ im Dunkeln dort vollzogen;<br />

da es war ein Kampf der Liebe,<br />

blind ins Dunkle bin gesprungen;<br />

hoch ich sprang und immer höher,<br />

dass ich die Beute erreichte.<br />

3. Und je höher ich gelangte<br />

in dem Kampf, der so erhaben,<br />

um so mehr niedrig, ergeben<br />

und geschlagen mich befunden;<br />

ich dacht’: Er ist unerreichbar;<br />

und ich war derart geschlagen,<br />

dass ich dann höher gelangte<br />

und die Beute doch erreichte.<br />

4. Ich auf wunderbare Weise<br />

tausend Flüge flog in einem,<br />

denn die Hoffnung auf den Himmel<br />

erreicht immer das Erhoffte;<br />

diesen Kampf ich nur ersehnte,<br />

nicht enttäuscht ward meine Hoffnung,<br />

da so hoch ich dann gelangte,<br />

dass ich die Beute erreichte.<br />

Ohne Halt und mit Halt wandelnd<br />

Johannes vom Kreuz Beschreibung seiner<br />

Gottessehnsucht<br />

neu übersetzt von Mariano Delgado<br />

Ohne Halt und mit Halt wandelnd,<br />

ohne Licht, im Dunkeln lebend,<br />

verzehrt wird mein ganzes Leben.<br />

1. Meine Seele ist entbunden<br />

von alledem, was geschaffen,<br />

und in sich selbst aufgerichtet<br />

in einem köstlichen Leben,<br />

nur an ihrem Gott gehalten.<br />

Man wird also sagen können,<br />

was ich hier am meisten schätze,<br />

sieht sich nunmehr meine Seele<br />

ohne Halt und mit Halt wandelnd.<br />

2. Obwohl an Dunkelheit leidend<br />

in dem Tal, das so sterblich,<br />

nicht allzu groß ist mein Leiden:<br />

wenn des Lichtes ich entbehre,<br />

ist mein Leben doch gar himmlisch;<br />

solches Leben schenkt die Liebe,<br />

um so blinder sie geworden;<br />

ihr ergeben ist die Seele,<br />

ohne Licht, im Dunkeln lebend.<br />

3. Bewirkt hat die Liebe solches,<br />

nachdem ich sie so erfahren:<br />

in mir Gutes und auch Böses<br />

sich nunmehr im Geschmack ähneln,<br />

in Lieb’ ist die Seel’ verwandelt;<br />

so durch die köstliche Flamme,<br />

die in mir ich nun erfahre,<br />

geschwind, restlos und vollkommen,<br />

verzehrt wird mein ganzes Leben.


Johannes vom Kreuz – Geistlicher Gesang (B)<br />

oder Vierzig Lieder zwischen der Braut und dem Bräutigam (Neuübersetzt von Mariano Delgado)<br />

Braut<br />

1. Wo hältst Du Dich verborgen,<br />

Geliebter, mich in tiefem Kummer lassend?<br />

Als Hirsch bist Du geflüchtet,<br />

nachdem Du mich verwundet;<br />

ich lief und rief nach Dir, als Du gegangen.<br />

2. Ihr Hirten, wenn ihr gehet<br />

durch diese Hürden hin auf der Anhöhe:<br />

Seht ihr vielleicht durch Fügung,<br />

den ich am meisten liebe,<br />

sagt ihm, daß ich an Pein und Qual ersterbe.<br />

3. Nach dem Geliebten suchend,<br />

durch Berge und durch Täler werd‘ ich laufen,<br />

nicht werd‘ ich Blumen pflücken<br />

noch wilde Tiere fürchten,<br />

die Festungen und Grenzen überschreitend.<br />

(Fragen an die Kreaturen)<br />

4. O Wälder und Dickichte,<br />

aus des Geliebten Händen doch entsprungen!<br />

O immergrüne Wiese,<br />

geschmückt von bunten Blumen:<br />

sagt mir, ob er hier ist hindurchgegangen!<br />

(Antwort der Kreaturen)<br />

5. Ausschüttend tausend Anmut,<br />

hat eilends diese Haine er durchschritten,<br />

sie flugs mit Blicken streifend,<br />

mit seinem bloßen Antlitz,<br />

geschmückt mit seiner Schönheit hinterlassend.<br />

Braut<br />

6. Ach, wer wird mich wohl heilen!<br />

Du sollst Dich nun mir ganz und gar hingeben;<br />

von heute an mir keinen<br />

der Liebe Boten senden:<br />

Nicht sagen können sie, was ich verlange.<br />

7. Die kommen und die gehen<br />

und mir von Dir erzählen tausend Anmut<br />

vertiefen meine Wunde;<br />

und es läßt mich schon sterben<br />

ich weiß nicht was, das sie am Ende stammeln.<br />

8. Wie harrst du aus, o Leben,<br />

wenn du kein Leben mehr im Leben findest,<br />

und dich schon sterben lassen<br />

die Pfeile, die dich treffen,<br />

wenn du an den Geliebten dich erinnerst?<br />

9. Warum, wenn Du’s verwundet,<br />

mein Herz nicht auch doch gleich hast Du gesundet?<br />

Da Du es mir geraubt hast:<br />

Warum hast Du’s verlassen,<br />

das Gut, das Du geraubt hast, nicht genommen?<br />

10. Du sollst den Kummer löschen,<br />

da sonst keiner vermag, ihn zu vertreiben,<br />

Dich sehen soll’n die Augen,<br />

da Du ihr Licht geworden,<br />

und ich allein für Dich sie haben möchte.<br />

11. Du sollst Dein Antlitz zeigen,<br />

und mögen mich dann Blick und Schönheit töten;<br />

bedenk doch, daß der Kummer<br />

der Liebe nicht kann heilen,<br />

nur durch des Liebsten Gegenwart und Antlitz.<br />

12. O kristallklare Quelle:<br />

Wenn du in deinem silbernen Aussehen<br />

Mir plötzlich widerspiegelst<br />

Die so ersehnten Augen,<br />

die ich in meinem Inneren gezeichnet!<br />

13. Du sollst sie wenden, Liebster,<br />

da ich schon fliege...<br />

Bräutigam<br />

...Kehr zu mir, Du Taube,<br />

da nun der Hirsch verwundet<br />

sich zeigt auf der Anhöhe,<br />

im Winde Deines Fluges Frische schnappend.<br />

Braut<br />

14. Geliebter, Du: die Berge,<br />

die Täler, die so einsam und bewaldet,<br />

die Inseln, so verwandelt,<br />

die Flüsse, die so klingen,<br />

das Säuseln dieser liebesschwanger’n Winde,<br />

15. die Nacht, die nun so heiter<br />

der Morgenröte Südwind wohl erwartet,<br />

und diese stille Musik,<br />

die Einsamkeit, so klingend,<br />

das Abendmahl, erquickend und umwerbend.<br />

16. Die Füchse sollt ihr fangen,<br />

denn unser Weinberg ist in Blütenfülle,<br />

aus Rosen wir indessen<br />

die schönen Kränze binden,<br />

und niemand hier im Weinberg soll erscheinen.<br />

17. Steh still du, toter Nordwind;<br />

Komm Südwind, du, die Liebe erweckend,<br />

herein in meinen Garten,<br />

daß seine Düfte schweben,<br />

in Blumen wird dann mein Geliebter weiden.<br />

18. O Nymphen von Judäa!<br />

Indessen in den Blumen, Rosenstöcken,<br />

der Ambarduft sich sammelt,<br />

verweilt in der Umgebung,<br />

versucht nicht diese Schwelle zu durchschreiten.<br />

19. Verbirg Dich schon, mein Liebster,<br />

und schau mit Deinem Lichte diese Berge;<br />

Du sollst es keinem sagen;<br />

sieh aber die Gesellschaft<br />

von der, die nun in fremden Ländern wandelt.


Bräutigam<br />

20. Die Vögel, die leicht fliegen,<br />

die Löwen, Hirsche, springenden Gemsböcke,<br />

die Berge, Täler, Auen,<br />

die Wasser, Winde, Hitze,<br />

die wachen Ängste vieler langer Nächte:<br />

21. Bei holden Leiertönen<br />

und der Sirenen Sang ich euch beschwöre:<br />

Besänftigt euren Zorne,<br />

entfernt euch von der Mauer,<br />

damit die Braut geborgener einschlafe.<br />

22. Die Braut hat schon betreten<br />

den holden Garten, den so tief ersehnten;<br />

sie ruht, wie‘s ihr gelüstet,<br />

den Nacken zart anlehnend<br />

an des Geliebten süssen, sanften Arme.<br />

23. In Apfelbaumes Schatten,<br />

hast Du mit mir den Ehebund geschlossen;<br />

dort reicht‘ ich Dir die Hände,<br />

daß Du erstanden wieder,<br />

wo deine Mutter einst wurde geschändet.<br />

Braut<br />

24. Aus Blüten unser Brautbett,<br />

von vielen Löwenhöhlen rings umgeben,<br />

auf Purpur ausgebreitet,<br />

auf Frieden fest errichtet,<br />

gekrönt ist es von tausend gold’nen Schilden.<br />

25. Sie folgen Deinen Spuren,<br />

die Jungfrauen, sie laufen auf der Strasse,<br />

geschwind gar wie ein Fünkchen<br />

dem süff’gen Wein entgegen:<br />

Ergießung eines göttlichen Balsames!<br />

26. Im inneren Weinkeller<br />

des Liebsten trank ich; doch als ich marschierte<br />

durch diese weiten Auen,<br />

schon wußt‘ ich nichts darüber,<br />

und ich verlor das Vieh, das ich gehütet.<br />

27. Dort seine Brust mich stillte,<br />

dort hat er mich gelehrt köstliches Wissen,<br />

dort hab‘ ich ihm gegeben<br />

von mir auch restlos alles:<br />

versprochen hab‘ ich, seine Braut zu werden.<br />

28. Ihm schenkt‘ ich meine Seele<br />

samt allen den Vermögen: seinem Dienste;<br />

nicht mehr soll ich Vieh hüten<br />

noch and‘re Arbeit üben:<br />

Nur lieben heißt von nun an die Aufgabe.<br />

29. Wenn ich nun auf der Weide<br />

nicht mehr geseh’n und nicht gefunden werde,<br />

mich haltet für verschollen;<br />

als ich, vor Liebe sterbend,<br />

unachtsam wurde, ward ich schon gewonnen.<br />

30. Aus Blumen und Smaragden,<br />

verlesen in den frischen Morgenstunden,<br />

wir werden Kränze binden,<br />

in Deiner Liebe blühend,<br />

in einer meiner Locken eingeflochten.<br />

31. In dieser einen Locke,<br />

die Du in meinem Nacken wehen sahest:<br />

als Du sie nun betrachtet,<br />

schon wurdest Du gefangen,<br />

mit einem meiner Augen lieb verwundet.<br />

32. Als Du mich lieb betrachtet,<br />

mir Deine Augen ihre Anmut prägten,<br />

da Du mich so zart liebtest,<br />

nun auch dadurch verdienten<br />

die meinen zu verehren, was sie sahen.<br />

33. Du sollst mich nicht abweisen,<br />

wenn Du mich allzu dunkel hast befunden;<br />

wohl kannst Du mich betrachten,<br />

nachdem Du mich berührt hast<br />

und Deine Anmut, Schönheit hinterlassen.<br />

Bräutigam<br />

34. Nun ist die weisse Taube<br />

mit Ölzweig in die Arche heimgeflogen,<br />

und schon die Turteltaube<br />

den tief ersehnten Partner<br />

in diesen grünen Auen hat gefunden.<br />

35. In Einsamkeit sie lebte,<br />

in Einsamkeit hat sie ihr Nest geflochten,<br />

in Einsamkeit nun führt sie<br />

alleine der Geliebte,<br />

auch er in Einsamkeit an Liebe leidend.<br />

Braut<br />

36. Genießen wir’s, Geliebter,<br />

nun wollen wir durch Deine Schönheit sehen<br />

den Berg und die Anhöhe,<br />

dort fließt das reine Wasser;<br />

betreten wir noch tiefer die Dickichte.<br />

37. Und dann auf diese Höhen,<br />

des Felsen Höhlen wollen wir aufsteigen,<br />

die sind ja gut verborgen,<br />

dorthin woll’n wir gelangen,<br />

des Granatapfels Most woll’n wir auskosten.<br />

38. Und dort wirst Du mir zeigen,<br />

all das, was meine Seele tief ersehnte,<br />

und auch wirst Du mir geben,<br />

dort Du allein, mein Leben!,<br />

all das, was Du mir einmal schon gegeben:<br />

39. den linden Hauch des Windes<br />

und den Gesang der süssen Philomele,<br />

die Anmut auch der Haine,<br />

in einer Nacht, so heiter!,<br />

mit Flamme, die verzehrt und doch nicht peinigt.<br />

40. Da niemand ihn beachtet...<br />

ließ sich Aminadab auch nicht mehr blicken;<br />

der Ring war überwunden,<br />

geschwind die Pferde ritten<br />

hinab, zur Wasserstelle, die gesichtet.<br />

2


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

Mystik und Kirchenkritik<br />

bei Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz<br />

von Mariano Delgado<br />

In Renaissance und Barock ist die Mystik bzw. die spirituelle Literatur in<br />

Spanien allgegenwärtig. Dank der Buchdruckpresse und der religiösen Orientierung<br />

von Gesellschaft und Kultur erreicht das Phänomen eine Breitenwirkung<br />

ungeahnten Ausmaßes. Ein bedeutender Forscher hat – ohne Anspruch<br />

auf Vollständigkeit – 1200 spirituell-mystische Werke chronologisch<br />

aufgelistet, die zwischen 1485 und 1750 erschienen. 1 Darunter sind manche<br />

Übersetzungen und Ausgaben der Devotio Moderna wie der allgemeinen mystischen<br />

Literatur zu finden, vor allem aber Werke spanischer Autoren der verschiedenen<br />

spirituellen Schulen. Dass die mystische Blüte mit dem Goldenen<br />

Zeitalter spanischer Kultur (Literatur, Kunst, Theologie/Philosophie, Recht)<br />

und dem Aufstieg Spaniens zu einem Weltreich, in dem die Sonne nicht unterging,<br />

zusammenhängt und so Teil jener spanischen „Klassik“ ist, die in der<br />

Frühen Neuzeit zur Referenz der abendländischen Kultur wurde, ist gewiss<br />

kein Zufall: Ein Volk scheint in dieser Zeit seine weltgeschichtliche Sendung<br />

gefunden zu haben, der es sich auch inbrünstig und mit quijotischer Großzügigkeit<br />

widmet. Aber während einige Spanier, wie der Kritiker imperialer Politik<br />

Bartolomé de Las Casas ironisch bemerkte, „sich für so geistreich und<br />

weise halten und Anspruch darauf erheben, die ganze Welt zu beherrschen,“ 2<br />

proklamieren andere – barfüßige – Spanier das grandiose „Sólo Dios basta“<br />

(Allein Gott genügt) 3 und werden zu gefragten Meistern der Gotteserkenntnis<br />

und der Selbsterkenntnis, die Kirche und Christen christusförmiger machen<br />

wollen. Sie wissen, dass es ja nicht daran liegt, „daß wir die Welt mit dem<br />

Kreuze durchdringen; sondern es liegt alles daran, daß wir über unserer Mühe<br />

1 Melquíades Andrés, Historia de la mística de la Edad de Oro en España y América, Madrid<br />

1994, 151–201.<br />

2 Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl 3/1: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften,<br />

hg. v. Mariano Delgado, Paderborn 1996, 518.<br />

3 Diese drei Worte stellen den Schlussvers eines kleinen Gedichtes dar (vgl. P 30 in: Santa<br />

Teresa de Jesús, Obras completas, ed. Efraín de la Madre de Dios / Otger Steggink, Madrid<br />

91997, 667), das als Merkzettel in den Büchern Teresas gefunden und Jahrhunderte lang ihr<br />

zugeschrieben wurde. Heute wird – nicht zuletzt aufgrund der lyrischen und theologischen<br />

Qualität – vermutet, dass es aus der Hand Johannes’ entstammt und ein Geschenk oder ein<br />

seelsorgerischer Rat von diesem an Teresa war. Wie es denn auch sei, ist darin sicherlich die<br />

gemeinsame Devise der spanischen Mystiker sowie ihre bleibende prophetische Kraft zu sehen.


184<br />

Mariano Delgado<br />

von ihm durchdrungen werden.“ 4<br />

Im Rahmen dieses Beitrags kann ich nicht den spirituellen Einflüssen nachgehen<br />

(aus dem Mittelmeerraum und Mitteleuropa, der Devotio Moderna und<br />

dem jüdisch-islamischen Erbe), die in die spanische Mystik konvergieren.<br />

Ebensowenig können hier die verschiedenen Protagonisten und Schulen (franziskanische,<br />

dominikanische, augustinische, jesuitische, karmelitische Gruppe,<br />

Weltpriester wie Juan de Ávila und Miguel de Molinos usw.) präsentiert werden.<br />

Vielmehr soll exemplarisch der Zusammenhang von Mystik und Kirchenkritik<br />

im Werk der weitaus bekanntesten – und relevantesten – Vertreter spanischer<br />

Mystik aufgezeigt werden: der Kirchenlehrerin Teresa de Ávila OCD 5<br />

und des Kirchenlehrers Johannes vom Kreuz OCD 6, der einzigen von Papst<br />

4 Reinhold Schneider, Las Casas vor Karl V. Szenen aus der Konquistadorenzeit, Darmstadt<br />

1953, 187.<br />

5 Die Werke Teresas werden nach folgenden Abkürzungen zitiert: CE (Camino de Perfección,<br />

códice de El Escorial; Weg der Vollkommenheit, Kodex von El Escorial), CV (Camino de<br />

Perfección, códice de Valladolid; Weg der Vollkommenheit, Kodex von Valladolid), F (Libro de<br />

las Fundaciones; Das Buch der Klosterstiftungen), M (Las Moradas/Castillo interior; Die<br />

Seelenburg/Die innere Burg), P (Poesías; Gedichte), Ve (Vejamen; Satirische Kritik). Für den<br />

Originaltext vgl. Santa Teresa de Jesús, Obras completas (Anm. 3). Für die deutsche Version vgl.:<br />

Teresa von Avila, Gesammelte Werke. Vollständige Neuübertragung, hg., übers. und eingel. von<br />

Ulrich Dobhan / Elisabeth Peeters, bisher zwei Bände erschienen: Bd. 1: Das Buch meines Lebens,<br />

Freiburg 32004; Bd. 2: Weg der Vollkommenheit (Kodex von El Escorial), Freiburg 2003;<br />

Sämtliche Schriften der hl. Theresia von Jesu, hg. Aloysius ab Immaculata Conceptione, 6 Bde.,<br />

München 1933ff.; Teresa von Avila, Seelen-Burg oder Die sieben inneren Wohnungen der Seele.<br />

Mit einer Einführung von Christian Feldmann, Freiburg 1999. Zu Teresa von Ávila vgl. Concordancias<br />

de los escritos de Santa Teresa de Jesús, 2 Vols., ed. Juan Luis Astigarraga, Roma 2000.<br />

Unter der sonstigen Sekundärliteratur vgl. besonders: Congreso Internacional Teresiano, 4–7<br />

octubre 1982, eds. Teófanes Egido Martínez / Victor García de la Concha / Olegario González de<br />

Cardedal, Salamanca 1983; Ulrich Dobhan, Gott, Mensch, Welt in der Sicht Teresas von Avila,<br />

Frankfurt am Main u.a. 1978; Teresa von Avila, hg., eingel. und übers. v. Ulrich Dobhan,<br />

Olten/Freiburg i.Br. 1979; Jutta Burggraf, Teresa von Avila. Humanität und Glaubensleben,<br />

Paderborn 1996; Waltraud Herbstrith, Teresa von Avila. Lebensweg und Botschaft, München u.a.<br />

1993; La recepción de los místicos. Teresa de Jesús y Juan de la Cruz (Ávila, 20 - 26 de septiembre<br />

de 1996), ed. Salvador Ros García, Salamanca 1997; Britta Souvignier, Die Würde des Leibes.<br />

Heil und Heilung bei Teresa von Avila (Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte<br />

30), Köln 2001; Michael Strucken, Trinität aus Erfahrung. Ansätze zu einer trinitarischen<br />

Ontologie in der Mystik von Ignatius von Loyola, Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz,<br />

Bonn 2001.<br />

6 Die Werke des Johannes vom Kreuz werden nach folgenden Abkürzungen zitiert: CA<br />

(Cántico espiritual; Geistlicher Gesang, 1. Fassung), CB (Cántico espiritual; Geistlicher Gesang,<br />

2. Fassung), D (Dichos de luz y amor; Worte von Licht und Liebe), Ep (Epistolario; Briefe); LA<br />

(Llama de amor viva; Liebesflamme, 1. Fassung), LB (Llama de amor viva; Liebesflamme, 2.<br />

Fassung), N (Noche oscura; Dunkle Nacht), P (Poesías; Gedichte), S (Subida del Monte Carmelo;<br />

Aufstieg auf den Berg Karmel). Für den Originaltext vgl. San Juan de la Cruz, Obras completas,<br />

ed. José Vicente Rodríguez / Federico Ruiz Salvador, Madrid 51993. Für die deutsche Version vgl.<br />

Johannes vom Kreuz, Gesammelte Werke. Vollständige Neuübertragung, hg. und übersetzt von<br />

Ulrich Dobhan / Elisabeth Hense / Elisabeth Peeters, Freiburg 1995ff. Werke wie CB oder LA,<br />

die darin noch nicht ediert wurden, werden entweder vom Verfasser selbst übersetzt oder folgen<br />

dieser Ausgabe: Johannes vom Kreuz, Gesammelte Werke, übersetzt von Aloysius ab Immaculata


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

Johannes Paul II. im Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte ausdrücklich<br />

genannten Mystiker, 7 bei denen der Weg zu Gott schlechthin erscheint,<br />

„der die für alle normative Gotterfahrung enthält“. 8<br />

1. Der religiöse Humus: „Schwere Zeiten“<br />

Teresa de Ávila (1515–1582) und Johannes vom Kreuz (1542–1591) wirkten<br />

bekanntlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Es ist die Zeit, in der<br />

sich jene konfessionellen Identitäten herausbilden, die die religiös-kulturelle<br />

Tiefengeschichte Europas bis in die Gegenwart hinein prägen werden, die Zeit,<br />

in der man zwischen dem protestantischen und dem katholischen Christsein<br />

wählen muss, keine Zeit für Kompromisse und Mittelwege also – jedenfalls<br />

nicht in Spanien nach der geistigen Wende von 1558–1560 (Inquisitionsprozesse<br />

und Autodafés gegen die Kryptoprotestanten in Valladolid und<br />

Sevilla, Verhaftung des spanischen Primas und Erzbischofs von Toledo Bartolomé<br />

Carranza OP, erster Index verbotener Bücher des Großinquisitors Fernando<br />

Valdés, Konfiskation und Verbrennung einiger geistlicher Bücher und Teilübersetzungen<br />

der Bibel in der Volkssprache, aber auch von Werken des<br />

Erasmus und seiner Schüler, verschiedene Begleitmaßnahmen durch Philipp<br />

II., um Spanien von manchen Tendenzen aus dem reformatorischen Europa frei<br />

Conceptione und Ambrosius a S. Theresia, 5 Bde., München 1924–1929. Die Gedichte des Johannes<br />

vom Kreuz werden in der eigenen Übertragung des Vf. zitiert. Eine Auswahl der deutschsprachigen<br />

Sekundärliteratur bis 1990 ist im folgenden Werk zugänglich: Ulrich Dobhan / Reinhard<br />

Körner (Hg.), Johannes vom Kreuz – Lehrer des „Neuen Denkens“. Sanjuanistik im deutschen<br />

Sprachraum, Würzburg 1991. Empfehlenswerte deutschsprachige Literatur, die nach 1991 erschienen<br />

ist, ist erfaßt im ersten Band der oben zitierten vollständigen Neuübertragung, 19f. Zu<br />

Johannes vom Kreuz vgl.: Concordancias de los escritos de San Juan de la Cruz, ed. Juan Luis<br />

Astigarraga / Agustí Borrell / F. Javier Martín de Lucas, Roma 1990. Unter der sonstigen Sekundärliteratur<br />

vgl. besonders: Reinhard Körner, Mystik – Quell der Vernunft. Die Ratio auf dem<br />

Weg der Vereinigung mit Gott bei Johannes vom Kreuz (Erfurter Studien zur Theologie 60),<br />

Leipzig 1990; Fernando Urbina, Die dunkle Nacht – Weg in die Freiheit. Johannes vom Kreuz<br />

und sein Denken, Salzburg 1986; Federico Ruiz Salvador (Ed.), Experiencia y pensamiento en<br />

San Juan de la Cruz, Madrid 1990; Actas del congreso internacional Sanjuanista. Ávila, 23–28 de<br />

Septiembre de 1991, 3 Vols., Valladolid 1991; Ulrich Dobhan / Reinhard Körner, Johannes vom<br />

Kreuz. Die Biographie, Freiburg 1992; Reinhard Körner, Johannes vom Kreuz (Meister des<br />

Weges 1), Freiburg i. Br. 1993; Mathias Behrens, Analogie und Mystik. Ein philosophisch-theologisches<br />

Gespräch mit dem heiligen Johannes vom Kreuz (Münchener theologische Studien: 2,<br />

Systematische Abteilung 57), St. Ottilien 2000.<br />

7 Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II.<br />

an die Bischöfe, den Klerus, die Ordensleute und an die Gläubigen zum Abschluss des Großen<br />

Jubiläums des Jahres 2000, 6. Januar 2001 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 150), Bonn<br />

2001, Nr. 33, S. 32.<br />

8 Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Band 2: Fächer der Stile,<br />

Teil 2: Laikale Stile, Einsiedeln 1962, 528.<br />

185


186<br />

Mariano Delgado<br />

zu halten). Teresa, der Anfang der sechziger Jahre zu ihrem großen Bedauern<br />

einige geistliche Bücher auf Spanisch konfisziert wurden, die ihr Erholung<br />

verschafften, fühlt sich in der Unmittelbarkeit der mystischen Erfahrung von<br />

Jesus Christus selbst getröstet: „Da sagte der Herr zu mir: ‚Sei nicht betrübt,<br />

denn ich werde dir ein lebendiges Buch geben‘“ (V 26,5) Ihre Epoche nennt sie<br />

– und zwar unter direkter Anspielung auf die überall lauernde Inquisition –<br />

„tiempos recios“ oder „schwere Zeiten“ (V 33,5). Im Spanien des 16. Jahrhunderts<br />

lassen sich vier geistige Tendenzen unschwer erkennen: 9<br />

(1) Die Alumbrados, auch Iluminados genannt, sind zumeist Laien und conversos<br />

oder Neuchristen aus dem Judentum. Sie gehen von der Berufung aller<br />

zur geistlichen Vollkommenheit aus, wozu das innere Gebet und die private<br />

Erleuchtung abseits der kirchlichen Vermittlung befürwortet werden. Sie gruppieren<br />

sich nicht selten um beatas oder Frauen, die eine besondere geistliche<br />

Ausstrahlung haben. Die „reine“ Liebe zu Gott, die weder der Hoffnung auf<br />

den Himmel noch der Angst vor der Hölle entspringt, ist für die Alumbrados<br />

das Ziel, und dies könne durch Gottes Fügung in jedem Stand erreicht werden.<br />

(2) Die Erasmianer sind zumeist gebildete Laien oder Kleriker mit niederen<br />

Weihen. Sie teilen mit Alumbrados (und Protestanten) die Berufung aller zur<br />

Vollkommenheit und äußern eine quasi-protestantische Kritik an der katholischen<br />

Kultpraxis und am Mönchtum, die Erasmus mit dem Satz „monachatus<br />

non est pietas“ plakativ formuliert. Zugleich sind die Humanisten eine ernsthafte<br />

Konkurrenz für die scholastischen Theologen; denn sie sind Vertreter<br />

einer „liberalen Theologie“ avant la lettre, die zu den Quellen gehen möchte:<br />

zu der hebräischen und griechischen Bibel, zu den Kirchenvätern und den<br />

antiken Philosophen. Die Humanisten gefallen zeitweise vielen, lösen aber<br />

kaum Begeisterung aus; denn sie sind kühle, elitäre Ireniker und Moralisten<br />

der internationalen Gelehrtenrepublik, keine Heiligen und Mystiker. Ihre Lektüre<br />

lässt vielfach die Seele austrocknen. Der kluge Ignatius berichtet, dass der<br />

Eifer in ihm lau wurde, sobald er anfing, die Schrift De Milite christiano des<br />

Erasmus zu lesen, die zwischen 1525 und 1530 in Spanien sieben Auflagen<br />

erreichte; und dass die Lauheit größer wurde, je mehr er davon las. So beschloss<br />

er, die Schriften des Erasmus nicht mehr zu lesen. Den Mitgliedern der<br />

Gesellschaft Jesu erlaubte er später deren Lektüre nur mit großer Vorsicht und<br />

allerlei Kautelen. 10 Bei Erasmus und den Humanisten vermisst Ignatius wohl<br />

jene Liebe zur realexistierenden Renaissance-Kirche, jenes sentire ecclesiam,<br />

das die spanischen Kirchenreformer und Mystiker auszeichnet. 11<br />

9 Näheres dazu in: Mariano Delgado, Mystik in harten Zeiten. Zum historischen Kontext der<br />

Mystik von Teresa de Ávila und Juan de la Cruz, in: ZKG 111 (2000) 56–69.<br />

10 Vgl. Vita Ignatii Loiolae... a Petro Ribadeneira... Rom 1589, lib. I, cap. XIII, S. 48f. (moderne<br />

Ausgabe in: Pedro Ribadeneira, Historias de la contrarreforma, Madrid 1945, 83).<br />

11 Vgl. dazu oben in diesem Band den Aufsatz von Peter Knauer, S. 163–181.


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

(3) Die Scholastiker vertreten einen theologischen Aristokratismus, wonach<br />

die sacra doctrina etwas für die akademisch Eingeweihten, nicht für das gemeine<br />

Volk, und schon gar nicht für die Frauen sei; sie lehnen nicht nur das<br />

innere Gebet, sondern auch die theologisch-geistliche Literatur in der Volkssprache<br />

ab oder stehen ihr misstrauisch gegenüber, da dies Verwirrung im<br />

Volk und Unruhe in Kirche und Gesellschaft hervorrufen kann; sie verachten<br />

zudem die Humanisten als Männer, die eher von Philosophie und Philologie als<br />

von Theologie etwas verstehen.<br />

(4) Die geistlichen Schriftsteller und Mystiker schreiben auf Spanisch, um<br />

der religiösen Bildungssehnsucht der Laien – besonders der Frauen – geistliche<br />

Nahrung zu geben; sie erreichen hohe Auflagen, da sie im Trend der Zeit liegen;<br />

anders als Kryptoprotestanten, alumbrados und Humanisten kritisieren sie<br />

nicht das Klosterleben oder die katholische Kultpraxis als solche, sondern nur<br />

die Missstände; aber auch sie befürworten die Lektüre der Bibel in der Volkssprache<br />

und halten das innere Gebet für die vollkommenere Form.<br />

Um die Mitte des 16. Jh. werden nun die scholastischen Theologen, allen<br />

voran die von Melchor Cano angeführten Dominikaner, eine geistige Wende<br />

gegen die anderen drei Tendenzen herbeiführen. In Canos Gutachten von 1559<br />

zum Katechismuskommentar seines Mitbruders und Erzbischofs von Toledo<br />

Bartolomé Carranza (Comentarios al Catechismo christiano, 1558) 12 kommt<br />

der theologische Aristokratismus am deutlichsten zum Vorschein. Gegen die<br />

Übersetzung der Bibel in die Volkssprache und das entsprechende Verlangen<br />

der frommen Frauen wendet sich Cano darin mit Worten, die wir heute nur<br />

noch mit großem Befremden lesen können:<br />

[...] auch wenn die Frauen mit unersättlichem Appetit danach verlangen, von dieser Frucht<br />

zu essen, ist es nötig, sie zu verbieten und ein Feuermesser davor zu stellen, damit das Volk<br />

nicht zu ihr gelangen könne. 13<br />

Nach der geistigen Wende und den Begleitmaßnahmen – die nicht zuletzt<br />

den Versuch von Krone und Kirche darstellen, die im Schatten der Buchdruckpresse<br />

neuaufkeimende (religiöse) Kultur zu kontrollieren und zu dirigieren –<br />

weiß man in Spanien, woran man ist. Aber innerhalb der gezogenen Grenzen<br />

gibt es eine erstaunliche Gestaltungsfreiheit. Dieselben Bücher des geistlichen<br />

Modeautors Luis de Granada, die 1559 indiziert wurden, können wenige Jahre<br />

später mit geringfügigen Änderungen betreff des inneren Gebets wieder erscheinen;<br />

Granada publizierte übrigens so gut wie sein ganzes Werk in eben<br />

diesen schweren Zeiten! Man kann durchaus sagen, dass die Verfasser geistli-<br />

12 Die spanische Version dieses Gutachtens findet sich in: Fermín Caballero, Conquenses<br />

ilustres, Vol. 2: Melchor Cano, Madrid 1871, 536–615; die lateinische Version findet sich in: José<br />

Sanz y Sanz, Melchor Cano. Cuestiones fundamentales de crítica histórica sobre su vida y sus<br />

escritos, Madrid 1959, 481–538. Das Gutachten wurde auch von Canos Mitbruder und alter ego<br />

Domingo de Cuevas unterzeichnet.<br />

13 Caballero, Conquenses (Anm. 12), 542.<br />

187


188<br />

Mariano Delgado<br />

cher Literatur nicht zu fürchten hatten, beim Heiligen Officium angeklagt zu<br />

werden, „wenn sie bei all ihrem Nachdruck auf dem inneren Gebet auch die<br />

Askese und die ‚Werke‘ betonten und sich der Liturgie, den Volksandachten<br />

und dem mündlichen Gebet gegenüber nicht völlig feindlich zeigten“. 14<br />

Das scholastische Misstrauen gegenüber der geistlichen Literatur in der<br />

Volkssprache hält Teresa und Johannes nicht davon ab, ihre mystische Erfahrung<br />

in eben dieser Sprache zu beschreiben und dabei Kritik an den Missbräuchen<br />

ihrer Zeit zu üben, nun aber mit allen möglichen Kautelen oder Sicherheitsmaßnahmen,<br />

die in der nachtridentinischen katholischen Kirche im Allgemeinen<br />

und in Spanien im Besonderen nötig waren. Beide halten dabei fest,<br />

dass vieles von dem, was sie berichten werden, den mit dem inneren Leben<br />

nicht vertrauten Menschen wie „Überflüssiges und auch Ungereimtes“ (1 M<br />

2,7) bzw. „Unsinn“ (CA, Prolog 1) erscheinen mag.<br />

Teresa überlässt ihre mystischen Erfahrungen und vielfältigen Unternehmungen<br />

der Prüfung und dem Urteil ihrer Beichtväter, ihrer Seelenführer und<br />

der besten Theologen der Zeit. Sie hebt den Wert liturgischer Handlungen und<br />

der volkstümlichen Andachten, versöhnt Martha und Maria, das heißt Werke<br />

und Beschauung miteinander, und beschreibt nachdrücklich ihre Heilsangst,<br />

indem sie sich nach dem Tode höchstens im Fegefeuer sieht (vgl. 7 M 24).<br />

Aber auch wenn sie sich in allem dem Urteil der Heiligen, Römischen, Katholischen<br />

Kirche unterwirft (vgl. ebd.), betont sie kühn die eigene Erfahrung als<br />

primäre Quelle ihrer Schriften: „Ich werde nichts sagen, was ich nicht aus<br />

Erfahrung von mir oder anderen weiß oder vom Herrn im Gebet zu verstehen<br />

gegeben bekam“ (CE, Prolog 3; vgl. CV, Prolog 3; V 12,12; CV 2,7 und 6 M<br />

9,4 u.a.). 15<br />

Johannes ist hingegen auffallend vorsichtiger, kennt er doch die theologischen<br />

Koordinaten nach Trient bestens, da er von 1564 bis 1567 scholastische<br />

Theologie in Salamanca studierte. Er schreibt kluge Prologe, in denen er sich<br />

gründlich absichert, alles dem Urteil der Heiligen Mutter Kirche unterstellt<br />

(vgl. Prologe zu CA, S und LA) und treuherzig bekundet, er werde beim Zitieren<br />

von Stellen aus der Heiligen Schrift folgendermaßen vorgehen: „Zuerst<br />

werde ich sie lateinisch angeben und sie dann im Hinblick auf das erklären,<br />

worauf sie sich beziehen“ (CA, Prolog 4). Darüber hinaus bekundet er, weder<br />

der Erfahrung noch der Wissenschaft allein zu vertrauen, sondern diesen drei<br />

Kriterien folgen zu wollen: der Heiligen Schrift, der Überlieferung und der<br />

Lehre der Heiligen Mutter Kirche (vgl. S, Prolog, 2). Da diese Kriterien gerade<br />

die ersten drei Fundorte in Canos Werk De locis theologicis (1563) sind, mit<br />

dem der Orthodoxiewächter die nachtridentinische katholische Theologie auf<br />

14 Alain Milhou, Die iberische Halbinsel. I. Spanien, in: Jean-Marie Mayeur u.a. (Hg.), Die<br />

Geschichte des Christentums, Bd. 8: Die Zeit der Konfessionen (1530–1620/30), hg. v. Marc<br />

Vernard. Deutsche Ausgabe hg. v. Heribert Smolinsky, Freiburg 1992, 662–726, 692.<br />

15 Vgl. dazu Burggraf, Teresa von Avila (Anm. 5), 330–337.


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

sicheres Quellenfundament stellen wollte, um „ein theologisches, historisches<br />

und pastorales Risiko um beinahe jeden Preis auszuschließen“, 16 können wir<br />

davon ausgehen, dass Juan, der kluge Mystiker und Theologe, dem neuen Paradigma<br />

katholischer Theologie sorgsam entsprechen wollte. Zudem ist er um<br />

einen Brückenschlag zwischen Scholastik und Mystik bemüht. Mit der scholastischen<br />

Theologie, schreibt er, verstehe man die göttlichen Wahrheiten, mit<br />

der mystischen aber erfahre und schmecke man sie durch Liebe; so sind scholastische<br />

und mystische Theologie aufeinander angewiesen (vgl. S, Prolog 3).<br />

Die Kommentare zu seinen Gedichten sind scholastisch-mystische Traktate. Er<br />

drückt sich darin immer wieder in scholastischer Sprache aus und zitiert präzis<br />

nicht nur die Bibel, sondern auch Agustinus und Dionysius Areopagita, Bernhard,<br />

Thomas und Aristoteles.<br />

Nicht zuletzt angeregt durch die Lektüre der Werke Teresas und Johannes’<br />

versuchen akademische Theologen um 1600 in scholastischen Formeln auszudrücken,<br />

was die Mystiker erfahren und durch Bilder, Vergleiche und Gleichnisse<br />

beschreiben. So kommen Scholastik und Mystik, seit dem 13. Jahrhundert<br />

immer mehr getrennt, bei der theologischen und spirituellen Erneuerung<br />

des spanischen Katholizismus einander näher – trotz des Aristokratismus akademischer<br />

Theologen, die gegenüber der sich auf innere Glaubenserfahrung<br />

berufenden Mystiker eher skeptisch sind, da sie dahinter immer die Gefahr des<br />

„Illuminismus“ wittern. Nach der mystischen Blüte, die vor allem dem Wirken<br />

Teresas und Johannes’ zu verdanken ist, behandeln die Professoren von Salamanca<br />

in Lehre und Forschung nicht nur alle theologischen, moralischen, juristischen,<br />

politischen und wirtschaftlichen Fragen der Zeit, 17 sondern sprechen<br />

auch noch vom Gebet und von der mystischen Vereinigung mit Gott 18. In der<br />

ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vertrat Francisco de Vitoria hingegen eine<br />

streng rationale Scholastik und bemerkte ironisch, wahre Kontemplation sei<br />

die Lektüre der Heiligen Schrift, wahre Weisheit ihr Studium; wer aber zum<br />

Studium nicht fähig sei, möge sich lieber dem Gebet hingeben 19.<br />

Für Teresa und Johannes ist christliche Mystik Vermählungs- oder Vereinigungsmystik,<br />

die nur danach trachtet, Gottes Willen zu tun; und sie ist auch<br />

eine christozentrische Mystik. Aus dieser Konzentration auf das Wesentliche<br />

gewinnt sie ihre prophetische Kraft. Als Johannes seine Kommentare schrieb,<br />

16 Ulrich Horst, Die Loci Theologici Melchior Canos und sein Gutachten zum Catechismo<br />

Christiano Bartolomé Carranzas, in: FZPhTh 36 (1989) 47–92, 92.<br />

17 Für Francisco de Vitoria, den Begründer der Schule von Salamanca, reichen Aufgabe und<br />

Amt des Theologen so weit, „daß offenbar kein Gegenstand, keine Untersuchung, kein Gebiet<br />

dem Fach und Vorhaben der Theologie fremd ist“. Francisco de Vitoria, Vorlesungen I: Völkerrecht,<br />

Politik, Kirche, hg. v. Ulrich Horst, u.a. (Theologie und Frieden Bd. 7), Stuttgart 1995, 116f<br />

(De potestate civili 1).<br />

18 Andrés, Historia (Anm. 1), 271, 267, 313.<br />

19 Francisco de Vitoria, Comentarios a la IIa–IIae de Santo Tomás. Vol. 6, Salamanca 1952,<br />

312 (Kommentar zu q. 182, a. 4).<br />

189


190<br />

Mariano Delgado<br />

war Teresas Werk bereits abgeschlossen. Sie zeigen eine grundsätzliche Übereinstimmung,<br />

20 aber auch unterschiedliche Akzente – nicht nur aufgrund des<br />

Geschlechtes, sondern vor allem wegen des je verschiedenen theologischen<br />

Hintergrunds.<br />

2. Dein Wille geschehe!<br />

Die Mystik Teresas und Johannes’ reduziert sich auf die Frage, wie der<br />

Mensch von der wesenhaften Gotteinung, an der er – gleich ob er es weiß oder<br />

nicht, ob er tugendhaft lebt oder ein großer Sünder ist – als Mensch durch den<br />

freien Schöpfungsakt Gottes teilhat, zu jener Vereinigung und Umgestaltung in<br />

Gott durch die Liebe gelangen kann, die nicht immer besteht, sondern nur dann<br />

vorhanden ist, wenn der Mensch in Liebe bewusst „Gottes Willen“ tut. Johannes<br />

vom Kreuz betont, „daß ein Mensch entsprechend seinem geringen oder<br />

großen Fassungsvermögen zur Gotteinung“ gelangen kann, „so doch nicht alle<br />

in demselben Grad, weil das so ist, wie der Herr es jedem geben will“ (2 S<br />

5,10), d.h. „jedem auf seine Weise“ (2 S 21,2), denn Gott passt sich jedem<br />

Menschen an. Eine seiner schönsten Beschreibungen Gottes lautet: „Gott ist<br />

wie die Quelle, aus der sich jeder soviel schöpft, wie sein Gefäß faßt“ (2 S<br />

21,2).<br />

Johannes hegt ein radikales Misstrauen gegen einen Verstand, ein Gedächtnis<br />

und einen Willen, die zunächst nicht gottförmig sind und der radikalen<br />

Entleerung bedürfen, damit sie durch Glauben, Hoffnung und Liebe gottähnlich<br />

werden können. Es genüge hier darauf hinzuweisen, wie sich dieser Transformationsprozess<br />

im Willensbereich vollzieht:<br />

Wenn sich also die Seele so vollständig dessen entäußert, was dem göttlichen Willen entgegen<br />

und nicht mit ihm gleichförmig ist, dann ist sie durch die Liebe in Gott umgestaltet [...]<br />

Nichts mehr darf in ihr Platz haben, was nicht mit dem Willen Gottes übereinstimmt. Nur so<br />

vollzieht sich die Umgestaltung in Gott (2 S 5,3).<br />

Nichts, absolut nichts außer nach dem Willen Gottes zu trachten (1 S 13,12)<br />

– ist die radikale Devise des Johannes vom Kreuz: „Um dahin zu kommen,<br />

alles zu besitzen, wolle in nichts etwas besitzen“ (1 S 13,11). Seine Behauptung,<br />

allein im Nichts lasse sich das Ganze erfassen, hat an grundstürzender<br />

Radikalität nicht seinesgleichen. Ähnliche Prozesse der Nichtswerdung spielen<br />

sich im Bereich des Verstandes und des Gedächtnisses auf dem Weg zur mystischen<br />

Vereinigung ab. In einer Zeichnung, mit der Johannes den mystischen<br />

Aufstieg auf den Berg Karmel, auf dem „nur die Ehre und die Herrlichkeit<br />

20 Vgl. Burggraf, Teresa (Anm. 5), 263–270. Teresas Hauptwerk, Seelenburg, ist z. B. unter<br />

dem Einfluss der Gespräche mit Juan entstanden, weshalb es in der Forschung auch als „Buch von<br />

zwei Händen“ bezeichnet wird, vgl. ebd., 250.


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

Gottes wohnen“, veranschaulichen möchte, hat er den schmalen, direkten Pfad<br />

zur mystischen Vereinigung, den „Weg der Vollkommenheit“, mit diesen<br />

Worten beschrieben: „nichts, nichts, nichts, nichts, nichts, nichts – und selbst<br />

auf dem Gipfel des Berges nichts“. 21<br />

Dieser mystische Nihilismus ist von dem philosophischen radikal verschieden,<br />

denn die Nichtswerdung dient der Gottförmigkeit, der Vereinigung mit<br />

dem Willen Gottes, der für uns „alles“ geworden ist, damit wir als verwandelte<br />

Menschen wie Gott handeln. Aber aufgrund seines radikalen, minutiösen Verdachts<br />

gegen alles, was im menschlichen Verstand, Gedächtnis und Willen der<br />

Gotteinung im Wege steht, zeigt sich uns Johannes vom Kreuz viel eher als<br />

Marx, Nietzsche oder Freud als ein „Meister des Verdachts“. Wer den Sinn des<br />

Lebens in der Vaterunser-Bitte „Dein Wille geschehe“ sieht, aber auch wer<br />

rein anthropologisch-philosophisch die Selbsterkenntnis vorantreiben möchte,<br />

wird an den geistigen Sezierübungen des doctor mysticus nicht vorbei kommen<br />

können. Das ist der Grund, warum sich Philosophen und Psychologen so intensiv<br />

mit seinem Werk befassen.<br />

Auch Teresa weiß um die mystische Dialektik des Nichts und des Alles, obwohl<br />

diese Worte in ihrem Wortschatz keine besondere Rolle spielen. Sie hat<br />

sie selber erfahren und in der Begegnung mit Menschen auf dem Weg der<br />

Vollkommenheit wahrgenommen. Von einem Ordensmann sagt sie, er habe in<br />

seiner Geistesfreiheit das vollkommene Glück erreicht, das man auf Erden<br />

erwarten kann, „denn da er nichts wünschte, besaß er alles“ (F 5,7). Sie selbst<br />

pflegt, sich erfrischender und unbefangener als Johannes darüber zu äußern.<br />

Sie hatte Gott vor allem als „guten Freund“, als „guten Jesus“ erfahren, der<br />

ihre ganze Sehnsucht stillte; sie wusste, dass Gott auf dem Weg der Gotteinung<br />

nichts Unmögliches verlangt, schon gar nicht einen asketischen Hindernislauf,<br />

sondern nur die Lauterkeit des Herzens und die Ergebung in seinen Willen.<br />

Sich immer nur auf Gott im Gebet konzentrieren zu wollen, schreibt sie mit<br />

fraulicher Weisheit, führe eher dazu, dass wir erst recht von tausend anderen<br />

Gedanken abgelenkt werden. (Inneres) Beten beschreibt sie als „Verweilen bei<br />

einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm<br />

zu sein, weil wir wissen, daß er uns liebt“ (V 8,5).<br />

Beiden ist gemeinsam, dass sie in der Vaterunser-Bitte „Dein Wille geschehe“<br />

alles ausgedrückt finden, worum es in der christlichen Mystik geht.<br />

Immer wenn wir uns bewusst in diese Vaterunser-Bitte ergeben, vollzieht sich<br />

die Umgestaltung in Gott durch Liebe. Und dennoch verstünden wir ihre<br />

Schriften falsch, wenn wir daraus eine dionysische „Willensmystik“ oder „Liebesmystik“<br />

im Gegensatz zur „Erkenntnismystik“ herausläsen, mit der<br />

Verstand und Vernunft also „nichts oder nur sekundär“ zu tun hätten. 22 Denn<br />

21 San Juan de la Cruz, Obras completas (Anm. 6), 137.<br />

22 Vgl. Körner, Mystik (Anm. 6), 146.<br />

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192<br />

Mariano Delgado<br />

bei Teresa – besonders aber bei Johannes – werden kontemplatives Leben und<br />

rationales Denken bewusst verknüpft.<br />

Johannes betont an einer Stelle eindrücklich, dass das Vaterunser als Gebet<br />

eines Christen genügt, denn in diesen sieben Bitten sind „all unsere spirituellen<br />

und zeitlichen Bedürfnisse“ enthalten (3 S 44,4). Teresa setzt auch hier eigene<br />

Akzente. In den schweren Zeiten, in denen sie lebte, wachten männliche Orthodoxiewächter<br />

eifrig darüber, dass die frommen Frauen nicht inneres Beten<br />

praktizieren, denn man wisse so letztlich nicht, was sie beten; sie sollten sich<br />

vielmehr auf Vaterunser und Avemaria beschränken, wie gute Alltagschristen.<br />

Teresa lässt sich nicht verbittern, sondern geht mit Humor in die Offensive.<br />

Statt sterile Diskussionen mit denjenigen zu führen, die weder den Wert des<br />

inneren Betens noch den Sinn der Kontemplation verstehen, lehrt sie ihre<br />

Töchter, wie man mündliches Gebet und innere Kontemplation vereinen kann.<br />

In der Tat genügen dann Vaterunser und Avemaria; damit ihre Töchter aber<br />

das Vaterunser richtig verstehen und beim mündlichen Gebet jede einzelne<br />

Bitte mit innerem Beten oder Kontemplation begleiten können, erklärt sie ihnen<br />

jede einzelne Bitte ausführlich. Ihre Auslegung des Vaterunsers ist ein<br />

gelungenes Beispiel mystagogischer Theologie aus der Hand einer theologisch<br />

ungebildeten, aber mystisch erfahrenen Frau. Besondere Aufmerksamkeit<br />

schenkt sie darin der Bitte „Dein Wille geschehe“ in Wort und Tat. Im Hauptwerk<br />

Seelenburg besingt sie die Freude, die sich einstellt, wenn wir Gottes<br />

Willen in uns (wozu auch das Leiden mit Gott gehört) geschehen lassen und<br />

die Seele nichts anderes weiß noch will, als dass Gott mit ihr tue, was ihm<br />

beliebt (vgl. 5 M 2,12.14).<br />

Teresa bevorzugt das innere, kontemplative Beten des Vaterunsers für die<br />

mystische Einung, betont aber, dass sie es immer mit dem mündlichen Gebet<br />

verbinden möchte (vgl. CE 37,3) und die Gotteinung uns auch bei diesem geschenkt<br />

werden kann:<br />

Ich kenne eine Schwester, die nie zu etwas anderem als mündlichem Gebet fähig war, aber<br />

während sie sich daran festhielt, wurde ihr alles zuteil [...] Sie war schon alt und hatte ihr<br />

Leben gut und fromm verbracht [...] Als ich sie fragte, was sie denn betete, erkannte ich an<br />

dem, was sie mir erzählte, daß der Herr sie, gestützt auf das Vaterunser, zum Gebet der<br />

Gotteinung erhobt. Ich lobte den Herrn also und beneidete sie um ihr mündliches Gebet (CE<br />

52,4; CV 30,7).<br />

Bei beiden Mystikern führt die Vereinigungserfahrung zu einem „Gott finden<br />

in allen Dingen“, ja, zum Bewusstsein, dass die Gotteinung in den Niederungen<br />

und Banalitäten des Alltags möglich und notwendig ist. Besonders<br />

eindrucksvoll wird dies von Teresa beschrieben:<br />

Wenn der Gehorsam euch zur Übernahme äußerer Beschäftigungen bestimmt, so bedenket,<br />

daß der Herr auch in der Küche inmitten der Töpfe euch nahe ist und euch sowohl innerlich als<br />

äußerlich beisteht [...] Ich sage also, daß der Mangel an Zurückgezogenheit euch keineswegs<br />

hindernd in den Weg tritt, um euch auf den Besitz dieser wahren Vereinigung vorzubereiten,<br />

ich meine jene Vereinigung, in der mein Wille eins wird mit dem Willen Gottes. Das ist die


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

Vereinigung, die ich verlange und in allen sehen möchte, und nicht jenes überaus wonnevolle<br />

Versunkensein, dem wohl auch der Name ‚Vereinigung‘ beigelegt wird (F 5,7.12.13).<br />

Zur Beschreibung der Art und Weise, wie sie die Vereinigung mit Gott erfahren<br />

haben, verwenden beide ähnliche Bilder. Johannes spricht von einer<br />

„Liebesflamme“, „die berührt und doch nicht peinigt“ (CB 39). 23 Teresa nennt<br />

Gott im Zustand der Vereinigung „Brennender Herd“, der mit seinem Liebesfeuer<br />

zwar das Gefühl der Seele „berührt, aber doch nicht hinreicht, sie zu<br />

verzehren“. Dies scheint ihr „noch der beste Vergleich zu sein, den ich hier<br />

gebrauchen kann“ (6 M 2,5).<br />

3. „Richte Deine Augen allein auf ihn“ –<br />

Zur Christozentrik spanischer Mystik<br />

Während Teresa zumeist von Jesus oder Seiner Majestät spricht, redet<br />

Johannes eher vom Christus. Gewiss, Teresas Jesus ist in seiner Menschheit<br />

greifbarer. Sie hat mit ihm einen vertraulichen Umgang, wie das in den<br />

Gebetstraditionen Israels der Fall ist: bei Abraham, Jakob, Mose, Hiob,<br />

David... und dem guten Milchmann Tevje aus „Anatevka“. Teresas Jesus ist<br />

ein Gott, der mit sich reden lässt. Ein bekanntes Beispiel möge hier genügen.<br />

Als die Schwestern von unklugen und unerfahrenen Beichtvätern verwirrt<br />

werden, betet sie:<br />

Ich vertraue, mein Herr, auf diese deine Dienerinnen, die [...] nichts anderes wollen und beabsichtigen,<br />

als dir Freude zu machen [...] Denn Du, mein Schöpfer, bist nicht undankbar [...]<br />

Du, Herr meiner Seele, dir hat vor den Frauen nicht gegraut, als du durch diese Welt zogst, im<br />

Gegenteil, du hast sie immer mit großem Mitgefühl bevorzugt und hast bei ihnen genauso viel<br />

Liebe und mehr Glauben gefunden als bei den Männern (CE 4,1).<br />

Es wäre dennoch ganz falsch einen christologischen Gegensatz zwischen Teresa<br />

und Johannes zu konstruieren. Für beide ist Jesus bzw. Christus der von<br />

der Kirche verkündigte, gekreuzigte und auferstandene Herr. Ihr Ordensname<br />

ist Programm: Teresa von Jesus und Johannes vom Kreuz. Ihre mystische Erfahrung<br />

befreit sie von allen Bildern außer dem einen: dem Bild der gekreuzigten<br />

Liebe, das sie für das einzig gültige Bild Gottes in der Welt halten.<br />

Dem Kreuzesgeschehen hat Johannes ein Bild in Handformat gewidmet, das<br />

auch den Umschlag dieses Bandes ziert. Dieses Bild, das die Bewunderung<br />

und Nachahmung Salvador Dalís auf sich zog, wird verständlich, „wenn man<br />

den Leib nicht (wie sonst bei jeder Kreuzesdarstellung) vertikal hängend sich<br />

vorstellt, sondern mit Kreuzesbalken horizontal liegen sieht und den Leib an<br />

Händen und Füßen davon weghängend, in die Finsternis der Gottesnacht, der<br />

23 Vgl. Mariano Delgado, Dasein für Gott. Johannes vom Kreuz’ „Vierzig Lieder zwischen<br />

der Braut und dem Bräutigam“ – neu übersetzt, in: Christ in der Gegenwart 49 (1997) 181–182.<br />

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194<br />

Mariano Delgado<br />

Welt und der Hölle hinein“. 24 Keine Frage: Die Mystik des Johannes vom<br />

Kreuz ist eine christozentrische Mystik. Es gilt die Dialektik der vielen verschiedenen<br />

Wege, auf denen Gott die Menschen guten Willens immer und<br />

überall zu sich führt, und des einen besonderen inkarnierten und endgültigen<br />

Weges, den Er uns mit seinem Sohn bietet, zu beachten. „Richte deine Augen<br />

allein auf ihn“, lässt Johannes Gott-Vater in einem eindrucksvollen Text sagen,<br />

„denn er ist meine ganze Rede und Antwort, er ist meine ganze Vision und<br />

Offenbarung“ (2 S 22,5).<br />

Christus, den wir nicht ohne das Kreuz suchen sollen, 25 wird als das letzte<br />

Wort des Vaters bezeichnet, in dem gemäß Kol 2,3 „alle Schätze von Gottes<br />

Weisheit und Wissen verborgen“ sind, weshalb es vermessen sei, von Gott<br />

noch ein weiteres Offenbarungswort zu erwarten (2 S 22,7.6); vielmehr sollte<br />

man sich darum bemühen, die in Christus tief verborgenen Schätze zu entdecken.<br />

Die ganze Kirche muss – dies ist ein zentraler kirchenkritischer Aspekt –<br />

insgesamt lernen, auf den Gekreuzigten zu schauen und auf Christus als letztes<br />

Wort des Vaters zu hören, denn es ist noch vieles in ihm zu entdecken:<br />

So gibt es viel, was in Christus zu vertiefen ist, denn er ist wie ein überreiches Bergwerk mit<br />

vielen Gängen voll von Schätzen; niemals findet man für sie einen Schluß- und Endpunkt, mag<br />

man sich noch so sehr in sie vertiefen, im Gegenteil, in jedem Gang findet man neue Adern mit<br />

neuen Reichtümern.<br />

So verborgen sind in Christus die Schätze von Gottes Weisheit und Wissen,<br />

„daß für die heiligen Gelehrten und heiligen Menschen das Allermeiste noch<br />

zu sagen und zu verstehen aussteht, wie viele Geheimnisse und Wunder sie<br />

auch aufgedeckt oder in diesem Leben verstanden haben“ (CA 36,3; vgl. CB<br />

37,4). Johannes hält schließlich fest, „daß Christus von denen, die sich für<br />

seine Freunde halten, sehr wenig gekannt wird“ (2 S 7,12). Er denkt dabei<br />

nicht zuletzt an die Theologen und Kirchenführer, die es besser wissen müssten,<br />

oft aber eher um ihre Eitelkeit als um die Freundschaft mit Gott besorgt<br />

sind.<br />

Ähnlich verhält es sich mit Teresa. Auch sie hat in ihren Gedichten das<br />

Kreuz gepriesen:<br />

Im Kreuz ist Leben,<br />

und auch Trost,<br />

es allein ist der Weg<br />

himmelwärts. 26<br />

Im Weg der Vollkommenheit spricht sie vom Kreuzesbanner, das die<br />

Schwestern – gleich dem Fahnenträger in den Schlachten – nicht aus den Händen<br />

lassen dürfen: „Sie mögen also acht geben, was sie tun! Wenn der Fah-<br />

24 Balthasar, Herrlichkeit (Anm. 8), 524.<br />

25 Vgl. u.a. D 101; Ep 24; 2 S 7,7.<br />

26 P 8 nach Santa Teresa de Jesús, Obras completas (Anm. 5).


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

nenträger das Banner aus den Händen lässt, dann muß die Schlacht verloren<br />

werden“ (CV 18,5). Einem Beichtvater adeliger Herkunft gibt sie den Rat:<br />

So mögen sich Euer Gnaden, gnädiger Herr, also keinen anderen Weg wünschen, selbst<br />

wenn Ihr auf dem Gipfel der Kontemplation wäret; auf diesem geht Ihr sicher. Dieser unser<br />

Herr ist es, durch den uns alle Wohltaten zukommen (vgl. Hebr 2,10; 2 Petr 1,4). Er wird Euch<br />

unterweisen. Wenn Ihr sein Leben anschaut, ist er das beste Beispiel (V 22,7).<br />

Und in der siebten Wohnung der Seelenburg, wo alles nur noch um Jesus<br />

kreist, heißt es: „Erhebet eure Augen zu dem Gekreuzigten, und alles wird<br />

euch leicht werden“ (7 M 4,8(9)).<br />

Eindrucksvoll belegen Teresa und Johannes, dass christliche Mystik im Kern<br />

„Passionsandacht, eucharistische Erfahrung, meditatio passionis et mortis<br />

Christi“ 27 ist. Gerade deshalb ist christliche Mystik von der asiatischen Mystik<br />

doch grundverschieden:<br />

Gegenüber den asiatischen Wegansagen trägt das christliche Wegziel einen Namen, der<br />

sich selbst in der Zerschlagenheit noch mit dem Bild eines Antlitzes verbindet: Jesus. Das<br />

Wegziel aber besteht in der weitmöglichsten Identifizierung mit seinem Weg: Nachfolge<br />

Jesu. 28<br />

4. Kirchenkritische Aspekte<br />

Es war schon davon die Rede, dass die spanischen Mystiker sich durch ein<br />

tiefes sentire ecclesiam oder eine Liebe zur realexistierenden Renaissance-<br />

Kirche auszeichnen. Ihre kirchenkritischen Impulse sind so als Teil ihres<br />

Reformanliegens zu verstehen, damit die Kirche im Allgemeinen und der<br />

reformierte Karmel im Besonderen christusförmiger werden.<br />

4.1 Maria und Martha –<br />

oder Kontemplation und Aktion, Gottes- und Nächstenliebe<br />

In der Art und Weise, wie Teresa und Johannes hier die Akzente setzen,<br />

reagieren sie auf bestimmte Gefahren, die sie in ihrer Umgebung beobachten.<br />

Teresa, an die Schwestern denkend, sieht eher die Gefahr der kontemplativen<br />

Abhebung von der realen Welt. Daher betont sie immer wieder, besonders<br />

im vierten Kapitel der siebten Wohnung der Seelenburg, deren Lesung sie als<br />

„sehr nützlich“ bezeichnet, dass Martha und Maria, Werke und Beschauung,<br />

27 Jürgen Moltmann, Die Wendung zur Christusmystik bei Teresa von Avila oder: Teresa von<br />

Avila und Martin Luther, in: Waltraud Herbstrith, Gott allein. Teresa von Avila heute, Freiburg<br />

1982, 184–208, 188.<br />

28 Hans Waldenfels, „Gott als Wohnung“. Überlegungen zur Lebensmitte der Teresa von Jesus<br />

und zum Wegangebot Asiens, in: Herbstrith, Gott allein (Anm. 27), 253–274, 272.<br />

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196<br />

Mariano Delgado<br />

als zwei untrennbare Aspekte im Leben einer guten Karmelitin immer „zusammen<br />

gehen“ sollen (V 17,4; V 22,9; CV 17,5 und 6; CV 31,5; CE 23,2; CE<br />

27,5; 7 M 1,10; 7 M 4,12 u.a.). 29 Teresa gibt sogar Martha den Vorzug – nicht<br />

zuletzt vermutlich auf Rat ihrer Beichtväter, die Ordensfrauen als ungebildetes<br />

„Kirchenvolk“ betrachteten, aber auch weil sie um die besondere Versuchung<br />

der kontemplativen Frauen wusste. Auf den Einwand, „daß der Herr gesagt hat,<br />

Maria habe den besten Teil erwählt“ (Lk 10,42), antwortet Teresa ohne Verlegenheit:<br />

„Maria hatte damals das Amt der Martha schon erfüllt und dem Herrn<br />

dadurch gedient, daß sie ihm die Füße wusch und diese mit ihren Haupthaaren<br />

abtrocknete“ (7 M 4,12).<br />

Dem entspricht die Penetranz, mit der Teresa die Einheit von Gottes- und<br />

Nächstenliebe betont und dabei den Akzent auf die Nächstenliebe „um Gottes<br />

willen“ setzt: „Dahin, meine Töchter, zielt das innerliche Gebet und dazu führt<br />

auch die mystische Vermählung, daß aus ihr unaufhörlich Werke, (vollkommene)<br />

Werke hervorgehen“ (7 M 4,6). Anderswo sieht sie – gut biblisch – in<br />

der Liebe zum Nächsten das sicherste Zeichen für „die Liebe zu Seiner Majestät<br />

und die Liebe zum Nächsten [...] Denn ob wir Gott lieben, können wir nicht<br />

wissen [...]; ob wir aber den Nächsten lieben, dies können wir wissen“ (5 M<br />

3,8.9). Teresa geht es letztlich darum, einen gewissen Spiritualismus im reformierten<br />

Karmel zu vermeiden. Daher betont sie, dass der Fortschritt der Seele<br />

allein „im vielen Lieben“ besteht (F 5,2):<br />

Sehe ich Seelen [...], die beim Gebet so in sich gekehrt sind, daß sie scheinbar weder sich<br />

rühren noch zu denken wagen, damit ihnen ja kein Brosamchen der Andacht und Wonne verlorengehe,<br />

so erkenne ich daraus, wie wenig sie den Weg verstehen, auf dem man zur Vereinigung<br />

gelangt; sie sind der Meinung, am Genuß wonnevoller Andacht sei alles gelegen. O nein,<br />

meine Schwestern, nein, Werke will der Herr haben! Wenn du darum siehst, daß du einer<br />

Kranken irgendeine Linderung verschaffen kannst, so laß ohne Bedenken ab von deiner Andacht,<br />

um ihr diese Linderung zu bringen. Zeige ihr dein Mitleid, nimmt teil an ihren Schmerzen!<br />

[...] Dies ist wahre Vereinigung mit [...] (Gottes) Willen (5 M 3,12; vgl. 5 M 3,9 und CV<br />

41,9).<br />

Kurz vor ihrem Tod erlaubt sie sich gar eine humorvolle Kritik an der allzu<br />

starken Betonung der Kontemplation durch Johannes. Sie hatte einige vertraute<br />

Männer gebeten, ihr ihre Gedanken über die Worte „Such dich in mir“ schriftlich<br />

mitzuteilen, woraufhin Johannes ihr offenbar einen (heute leider verschollenen)<br />

Exkurs über den hohen Wert der Kontemplation geschickt hat.<br />

Teresa kommentiert ihn so:<br />

Dieser Pater gibt in seiner Antwort einen vortrefflichen Unterricht für jene, die die in der<br />

Gesellschaft Jesu üblichen Exerzitien machen wollen, aber er sagt nichts, was zu unserem Gegenstande<br />

gehört.<br />

29 In seinem inquisitorischen Gutachten zum Katechismuskommentar Carranzas (1558) hatte<br />

Melchor Cano nicht nur betont, dass Maria und Martha zusammen gehen sollten, sondern auch das<br />

einfache Kirchenvolk vor der Kontemplation gewarnt. Vgl. Caballero, Conquenses (Anm. 12),<br />

575f.


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

Es wäre übel mit uns bestellt, wenn wir erst dann Gott suchen könnten, nachdem wir der<br />

Welt schon abgestorben sind. Magdalena, die Samariterin und das kananäische Weib waren es<br />

noch nicht, als sie ihn fanden. Er erklärt auch weitläufig, wie die Seele durch die Vereinigung<br />

eins mit Gott wird; allein wenn dies schon geschehen und diese Gnade schon verliehen ist, so<br />

wird ihr Gott wohl nicht mehr sagen, daß sie ihn suchen solle, da sie ihn ja schon gefunden hat.<br />

Gott bewahre uns vor Leuten, deren Geist so hoch schwebt, daß sie alles zur vollkommenen<br />

Beschauung machen wollen, sei es, was es wolle. Übrigens danken wir dem Pater Johannes dafür,<br />

daß er uns etwas so vortrefflich erklärt hat, worum wie ihn gar nicht gefragt haben. Denn<br />

es ist gut, immer von Gott zu reden; denn aus dem, woran wir am wenigsten denken, ziehen wir<br />

Gewinn (Ve 6.7).<br />

Der hier so humorvoll gescholtene Johannes spricht von Maria und Martha<br />

in seinem Werk ein einziges Mal und nimmt dabei mit Lk 10,42 Partei für<br />

Maria (vgl. CB 29,1). Denn ihm geht es eher um eine Betonung der Kontemplation<br />

als kritisches Korrektiv zum Aktivismus der Seelsorger seiner Zeit (auch<br />

der eigenen Mitbrüder):<br />

Diejenigen, die sehr aktiv sind und die Welt mit ihren Werken und Predigten durchmessen<br />

wollen, mögen hier bedenken, daß sie der Kirche von größerem Nutzen wären und Gott mehr<br />

gefallen würden – vom guten Beispiel zu schweigen, das sie damit geben würden –, wenn sie<br />

zumindest die Hälfte ihrer aktiven Zeit für das Verweilen bei Gott im Gebet benutzten [...] Gewiß,<br />

sie würden dann und mit weniger Mühe mit einem einzigen Werk mehr als mit tausend<br />

erreichen, da sie es mit ihrem Gebet verdienten und im Gebet geistliche Kräfte bekommen hätten.<br />

Andernfalls ist alles ein lautes Hammern das kaum etwas nützt, manchmal sogar gar nichts<br />

und oftmals Schaden anrichtet. Gott bewahre, daß das Salz schal wird (Mt 5,13); denn auch<br />

wenn es äußerlich noch wie Salz aussieht, wird es nichts nutzen. Man weiß ja, daß man gute<br />

Werke nur mit Gottes Hilfe bewirken kann (CB 29,3). 30<br />

Johannes wollte damit nichts anderes sagen, als etwa ein Hans Urs von Balthasar<br />

im Schatten des Aktivismus unserer Zeit:<br />

Wer nicht zuerst auf Gott hören will, hat der Welt nichts zu sagen. Er wird sich, wie so<br />

mancher Priester und Laie heute, bis zur Bewußtlosigkeit und Erschöpfung ,um vieles küm-<br />

30 Seine kontemplativen Empfehlungen hat er in einem kleinen Text mit dem Titel Die Eigenschaften<br />

des einsamen Vogels gebündelt, in dem es unter Bezug auf Ps 102,8 („Ich liege wach,<br />

und ich klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dach“) heißt: „Der einsame Vogel hat fünf Eigenschaften:<br />

Die erste, daß er zum höchsten Punkt fliegt; die zweite, daß er keine Gesellschaft erträgt,<br />

auch wenn sie von seiner Art ist; die dritte, daß er den Schnabel in den Wind hält; die vierte, daß<br />

er keine bestimmte Farbe hat; die fünfte, daß er lieblich singt. Diese Eigenschaften muß auch der<br />

kontemplative Mensch haben: Er muß über die vergänglichen Dinge hinausgehen, indem er ihnen<br />

nicht mehr Beachtung schenkt, als gäbe es sie nicht; er muß ein so großer Freund des Alleinseins<br />

und des Schweigens sein, daß er die Gesellschaft eines anderen Geschöpfes nicht erträgt; er muß<br />

den ,Schnabel‘ in das Wehen des Heiligen Geistes halten, indem er dessen Eingebungen entspricht,<br />

damit er sich durch solches Tun seiner Gesellschaft würdiger erweist; auch darf er keine<br />

bestimmte Farbe haben, indem er sich auf keine bestimmte Sache festlegt, außer auf das, was<br />

Gottes Wille ist; und er muß lieblich singen in der Kontemplation und Liebe seines Bräutigams“<br />

(D 120; vgl. auch CA 13,24; CB 15,24). Vgl. dazu Mariano Delgado, „... wie ein einsamer Vogel<br />

auf dem Dach“ (Ps 101/102,8). Zur Bildersprache des Johannes vom Kreuz, in: Andreas Hölscher<br />

/ Rainer Kampling (Hg.), Religiöse Sprache und ihre Bilder. Von der Bibel bis zur modernen<br />

Lyrik, Berlin 1998, 200–224.<br />

197


198<br />

Mariano Delgado<br />

mern‘ und dabei das Eine Notwendige versäumen; ja er wird sich manches vorlügen, um dieses<br />

Versäumnis zu vergessen oder zu rechtfertigen. 31<br />

Johannes ist manchmal vorgehalten worden, der Nächste spiele in seiner<br />

Mystik keine nennenswerte Rolle. Er spricht in der Tat wenig über das Doppelgebot<br />

der Liebe und wo er das tut, bleibt er in der johanneischen Diktion:<br />

„Wer seinen Nächsten nicht liebt, verabscheut Gott“ (D 178) oder „die Liebe<br />

zu Gott wächst dann um so mehr, je mehr diese Liebe (zum Nächsten) wächst,<br />

und je mehr die zu Gott wächst, desto mehr auch die zum Nächsten“ (3 S<br />

23,1). Er spricht wenig über die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, weil<br />

diese für ihn eine Selbstverständlichkeit war, wie sein Lebensbeispiel belegt.<br />

Gerade als Mystiker wusste er: „nur Lieben heißt von nun an die Aufgabe“<br />

(CB 28), denn am Abend werden wir „in der Liebe geprüft“ (D 59). Darin<br />

kommt ein Gerichtsbewusstsein zum Ausdruck, das auch Teresa mit Verweis<br />

auf Mt 25,40 teilt (vgl. F 5,2).<br />

4.2 Kritik der inkompetenten Beichtväter oder Seelenführer<br />

Gott ist für Teresa und Johannes der erste und wichtigste Seelenführer. Daher<br />

sollten wir lernen, Gottes Anruf zu unterscheiden, seine Gnade zu erkennen<br />

und uns von ihm selbst tragen zu lassen. Es geht darum, dass wir den einem<br />

jeden von uns angemessenen Weg zu Gott erkennen (S, Prolog 4 und 7) und<br />

Gottes Gnadenhandeln nicht im Wege stehen. Denn Gott selbst formt<br />

unaufhörlich das Innere des Menschen zu seinem Bild und Gleichnis um und<br />

teilt ihm so seine Mentalität und Weisheit mit: „Gott steht über den Menschenseelen<br />

wie die Sonne, um sich ihnen mitzuteilen“ (LB 3,47). Gott „führt jeden<br />

auf unterschiedlichen Wegen, so daß man kaum einen Geist findet, der in der<br />

Eigenart, die er hat, auch nur halbwegs mit der Eigenart eines anderen übereinstimmt“<br />

(LB 3,59). Die Seele solle lernen, sich von Gott führen zu lassen<br />

und nicht von sich selber oder den anderen zwei Blinden (dem Seelenführer<br />

und den Vermögen der Seele: vgl. LB 3,67). Teresa betont, dass es „viele<br />

Wege“ gibt, „so wie es im Himmel viele Wohnungen gibt (Joh 14,2)“ (V<br />

13,13).<br />

Das Betrachten Gottes als des ersten und wichtigsten Seelenführers ist bei<br />

Johannes verbunden mit einer äußerst scharfen Kritik der inkompetenten<br />

Beichtväter und Seelenführer seiner Zeit, die mit ihrem Dilettantismus bei den<br />

nach Gott dürstenden Menschen mehr Schaden als Nutzen anrichten. Die Seelenführer<br />

mögen beachten und bedenken,<br />

daß der Haupthandelnde und Führer und Beweger der Seelen bei diesem Unternehmen nicht<br />

sie sind, sondern der Heilige Geist, der die Sorge für sie nicht aufgibt, während sie nur Werk-<br />

31 Hans Urs von Balthasar, Wer ist ein Christ?, Einsiedeln 21965, 83.


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

zeuge sind, um sie durch den Glauben und das Gesetz Gottes an der Vollkommenheit auszurichten,<br />

entsprechend dem Geist, den Gott einem jeden immer mehr gibt. (LB 3,46).<br />

Johannes macht den Seelenführern den größten Vorwurf, den man gegen sie<br />

erheben kann: dass sie schlechte Mystagogen sind, kaum über Gotteserfahrung<br />

verfügen, nicht selten Verhinderer statt Förderer von geistlichen Berufungen<br />

sind und über die Menschen tyrannisch herrschen wollen, statt die Arbeit Gottes<br />

als des geheimen Mystagogen klug und diskret zu begleiten (vgl. LB 3,59).<br />

Schrecklich sind die Bibelzitate, die er gegen sie anführt:<br />

Ihr habt die Milch meiner Herde getrunken und euch mit seiner Wolle bedeckt, aber meine<br />

Herde habt ihr nicht geweidet. Ich werde … meine Herde aus eurer Hand zurückfordern (Ez<br />

34,3.10: LB 3,60). [...]<br />

Weh euch, die ihr den Schlüssel zur Weisheit weggenommen habt; ihr tretet weder selbst<br />

ein, noch laßt ihr die anderen eintreten! (Lk 11,52: LB 3,62).<br />

Aus ihrer jahrelangen Leidensgeschichte unter den Fehlurteilen und der<br />

Strenge mancher Beichtväter, von der sie ausführlich berichtet – „Ich fürchtete<br />

schon, daß es keinen mehr geben würde, bei dem ich noch beichten könnte,<br />

weil sich alle von mir abwendeten. Ich konnte nur noch weinen“ (V 28,14) –,<br />

entwickelt Teresa eine Schule des klugen Umgangs mit ihnen, in der sie ihre<br />

Schwestern unterrichtet. Diese werden zwar angemahnt, den Theologen der<br />

Kirche zu vertrauen, auch wenn ihnen die mystische Weisheit fehle; zugleich<br />

aber betont Teresa mit Nachdruck, man müsse bei der Beichte den Rat jener<br />

Theologen suchen, die „gebildet, erfahren und Gottesdiener sind“ (6 M 3,11);<br />

wenn der Beichtvater nicht „eine sehr geistliche Person“ ist, so soll er zumindest<br />

„sehr gebildet“ sein (6 M 8,8.9; CE 8,4); denn es gebe auch „halbgebildete<br />

Theologen“ (5 M 1,8.10), die der Seele mit schlechten Ratschlägen großen<br />

Schaden zufügen können, wie sie selbst bitter erfahren habe, als sie „keine mit<br />

so guten Studien“ zur Verfügung hatte, „wie ich mir gewünscht hätte“ (V 5,3;<br />

vgl. auch V 26,4). Ähnlich wie Johannes, aber mit der feinen Ironie, die ihr<br />

eigen ist, hält sie Bilanz über die schlechten Beichtväter als Hindernis auf dem<br />

Weg zu Gott:<br />

In dieser Beziehung habe ich eine sehr reiche Erfahrung. Ich habe sie auch bezüglich einiger<br />

furchtsamer Halbgelehrten, und diese Erfahrung ist mir sehr teuer zu stehen gekommen. Wenigstens<br />

halte ich dafür, daß einer die Türe zum Empfange dieser außerordentlichen Gnaden<br />

stets verschlossen hält, der nicht glaubt, daß Gott noch größere vollbringen kann, und nicht für<br />

wahr hält, daß er in seiner Güte seine Geschöpfe mit solchen Gunstbezeigungen begnadigt hat<br />

und jetzt noch begnadigt (5 M 1,7(8)).<br />

Trost erfuhr Teresa immer wieder vom Herrn selbst, dem wahren Seelenführer:<br />

„Als ich eines Tages so ganz am Boden zerstört war, da mir schien, daß<br />

mir der Beichtvater nicht glaubte, sagte der Herr, ich solle mich nicht abtun,<br />

denn bald würde dieser Schmerz ein Ende haben“ (V 33,8).<br />

Beichtvätern, die nicht so viel Klugheit besitzen, „daß sie schweigen können“<br />

(F 8,9), soll man über Visionen, Prophezeiungen und Gnadenerfahrungen<br />

199


200<br />

Mariano Delgado<br />

lieber nichts sagen, „denn wir leben in einer Welt, in der es nötig ist, sich vorzustellen,<br />

was man über uns denken kann, damit unsere Worte Wirkung erzielen“<br />

(F 8,7). Auch sollen die Schwestern mehrere Beichtväter haben, um nicht<br />

vom Rat eines einzelnen abhängig zu sein: „denn es gibt unterschiedliche<br />

Wege, auf denen Gott führt, und ein Beichtvater kennt sie nicht unbedingt alle“<br />

(CE 8,5; CV 5,5). Ganz besonders schätzte sie die Gabe der Jesuiten zur Unterscheidung<br />

der Geister (vgl. V 23,9; V 23,17 u.a.).<br />

4.3 Kritik der Suche nach außergewöhnlichen Phänomenen<br />

Es ist zu Recht angemerkt worden, dass Teresa den außergewöhnlichen<br />

Phänomenen nicht so völlig ablehnend gegenübersteht wie Johannes vom<br />

Kreuz. 32 Aber auch sie warnt schließlich davor. Spürbar ist bei beiden das Bemühen,<br />

die mystische Erfahrung nicht über den Glauben der Kirche zu stellen.<br />

Nicht zuletzt weil sie von ihren Beichtvätern dazu aufgefordert wurde, berichtet<br />

Teresa ausführlich von ihren Visionen, Ekstasen und Entrückungen. Zugleich<br />

betont sie, dass diese „nicht die Hauptsache sind, um Gott zu dienen“ (6<br />

M 3,2). Man solle sie nicht wünschen und erbitten (vgl. 6 M 9,14–15). Wo sie<br />

dennoch auftreten, rät sie zur großen Vorsicht bei deren Interpretation, besonders<br />

wenn es sich um „Melancholiker“ handelt.<br />

Johannes kritisiert das Zur-Schau-Stellen von außergewöhnlichen mystischen<br />

Phänomenen scharf als vom Teufel angeleitete Akte von „Einbildung<br />

und Hochmut“, von „Eitelkeit und Arroganz“ (2 N 2,3); er widmet ganze Kapitel<br />

der klugen theologischen Hermeneutik der Unterscheidung der Geister bei<br />

den übernatürlichen Wahrnehmungen (vgl. 2 S 10–32 und 3 S 1–14) 33 und<br />

folgert daraus:<br />

Deshalb muß der lautere, vorsichtige, einfache und demütige Mensch mit ebenso großer<br />

Kraft und Sorgfalt den Offenbarungen und anderen Visionen widerstehen und entsagen wie den<br />

ganz gefährlichen Versuchungen (2 S 27,6).<br />

Alle Visionen und Offenbarungen, die man haben mag, sind nicht so viel<br />

Wert „wie der geringste Akt der Demut“ (3 S 9,4). Mit Verwunderung registriert<br />

Johannes, was in seiner Zeit geschieht:<br />

daß jeder beliebige Mensch, der für vier Groschen Betrachtung besitzt, so manche inneren<br />

Ansprachen, die er verspürt, wenn er ein bißchen gesammelt ist, das alles gleich als von Gott<br />

32 Vgl. Burggraf, Teresa (Anm. 5), 353, Anm. 205, vgl. ebd., 338–366; vgl. auch Klaus Raschen,<br />

Krankheit und Ekstase – dargestellt am Leben der Teresa von Avila. Beitrag zu einer<br />

Zeiterscheinung. Eine pastoralmedizinische Studie, Stuttgart 1992; Doriano Fasoli / Rosa Rossi,<br />

Le estasi laiche di Teresa d’Avila. Psicoanalisi, misticismo e altre esperienze culturali a confronto,<br />

Roma 1998. Zu Johannes vom Kreuz vgl. u.a. Kart Deuringer, Die Beurteilung außergewöhnlicher<br />

mystischer Phänomene beim hl. Johannes vom Kreuz, in: Dobhan / Körner,<br />

Johannes vom Kreuz (Anm. 6), 147–158.<br />

33 Vgl. Körner, Mystik (Anm. 6), 125–135.


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

kommend tauft, und in der Annahme, daß das so ist, heißt es dann: ‚Gott sagte mir‘, ‚Gott antwortete<br />

mir‘; [...] sie denken, daß es etwas Großartiges sei und Gott gesprochen habe, wo es<br />

doch kaum mehr war als nichts, oder gar nichts, ja weniger als nichts. Denn das, was nicht<br />

Demut, Liebe, innerliches Absterben und heilige Einfachheit und Schweigen usw. hervorbringt,<br />

was kann denn das schon sein? (2 S 29,4.5).<br />

Diese und ähnliche Äußerungen über die spirituelle Landschaft ihrer Zeit<br />

stehen bei Teresa und Johannes im Dienste der Unterscheidung der Geister:<br />

Echte christliche Mystik führt immer zum Ernst der Nachfolge Jesu und muss<br />

daher vom „Schwelgen in religiösen Gefühlen“ 34 unterschieden werden, das<br />

bei den Alumbrados üblich war. Besonders Teresa ist sich dieser Gefahr immer<br />

wieder bewusst (vgl. u.a. V 23,2).<br />

4.4 Explizite Kritik der Auswüchse bei der Volksfrömmigkeit und<br />

implizite Kritik des Mystikverlustes bei der Auslegung der Hl. Schrift<br />

Teresa ist in ihrer Kritik mancher Auswüchse der Volksfrömmigkeit eher<br />

zurückhaltend. Gleichwohl hält sie in ihrem Lebensbericht fest, dass sie –<br />

außer der Messe und der von der Kirche gut approbierten Gebete – niemals<br />

eine Freundin von Frömmigkeitsübungen gewesen ist, „wie sie manche<br />

Menschen, besonders Frauen abhalten, mit Zeremonien, die ich nie leiden<br />

konnte, die bei ihnen aber andächtige Gefühle auslösten; später stellte sich<br />

dann heraus, daß sie nicht in Ordnung, sondern abergläubisch waren“ (V 6,6).<br />

Wiederum ist hier die Abgrenzung zu den Alumbrados zu spüren, die in jenen<br />

„schweren Zeiten“ von der Inquisition streng verfolgt wurden. Anderswo<br />

kritisiert Teresa diejenigen, die „Freundinnen von vielem Reden und dem<br />

schnellen Dahersagen vieler mündlicher Gebete“ sind (CE 53,8). Die<br />

Schwestern ermahnt sie dringend, es anders zu tun. Statt das Vaterunser oft<br />

und schnell herunterzuleiern, sollten sie lieber von Zeit zu Zeit eine einzelne<br />

Vaterunser-Bitte bewusst beten. Sie sollen sehr darauf achten, „weil es ganz,<br />

ganz wichtig ist“ (CE 53,9).<br />

Was die Kritik an den kirchlichen Missständen ihrer Zeit betrifft, ist Johannes<br />

naturgemäß viel schärfer als Teresa. Als gut ausgebildeter Theologe konnte<br />

er treffsicherer den Finger in die Wunde legen. Daher kritisiert er schonungslos<br />

die Auswüchse der Volksfrömmigkeit, etwa beim Bilderkult (3 S 35–37), bei<br />

den Wallfahrten, der Beicht- und Gebetspraxis (3 S 38–44). Er spricht von<br />

„unkluger Frömmigkeit“, die viele Personen praktizieren:<br />

So sollen bei der Messe so und so viele Kerzen da sein, nicht mehr und nicht weniger, oder<br />

es soll sie ein Priester in dieser oder jener Form lesen, und es soll zu dieser bestimmten Tagesstunde<br />

und nicht früher oder später sein; und es soll nach einem bestimmten Tag und nicht früher<br />

sein; und die Gebete und Stationen sollen so und so viele und von dieser Art und zu einem<br />

34 Rogelio García Mateo, Die Christuserfahrung Teresas von Avila und die Christologie, in:<br />

Herbstrith, Gott allein (Anm. 27), 158–183, 161.<br />

201


202<br />

Mariano Delgado<br />

bestimmten Zeitpunkt sein, mit diesen und jenen Zeremonien, und nicht früher oder später oder<br />

anders; und es soll die Person, die sie verrichtet, diese Anteile und jene Eigenschaften haben.<br />

Und sie meinen, daß sich nichts tut, sobald auch nur etwas von dem fehlt, was sie sich vorgestellt<br />

haben, und noch tausenderlei weitere Dinge, die angeboten und üblich sind (3 S 43,2).<br />

Besonders kühn ist seine Kritik des Bilderkultes, der gerade nach Trient einen<br />

großen Aufschwung erlebte. Er hält zunächst fest, das entsprechende Trienter<br />

Dekret im Blick, dass die Kirche den Bilderkult aus zweierlei Gründen<br />

gutgeheißen hat, „nämlich um in ihnen die Heiligen zu verehren und durch sie<br />

das Empfinden zu ihnen zu bewegen und die Andacht zu ihnen zu wecken“ (3<br />

S 35,3). Anschließend kritisiert Johannes den „verderblichen Gebrauch, den in<br />

diesen unseren Zeiten manche Leute davon machen“ (3 S 35,4). Seine Kritik<br />

des Bilderkultes gipfelt in diesem gesunden theologischen Urteil:<br />

Viel gäbe es über den Unverstand zu sagen, den viele Leute hinsichtlich der Bilder haben,<br />

denn ihre Torheit geht so weit, daß manche mehr Vertrauen zu den einen Bildern als zu den<br />

anderen haben, in der Meinung, Gott höre sie mehr durch das eine als durch das andere, obwohl<br />

beide das gleiche darstellen, wie zwei Bilder von Christus oder zwei von unserer Lieben Frau<br />

[...] Wenn Hingabe und Glaube da sind, genügt jedes Bild, doch wenn der nicht da ist, wird<br />

keines genügen (3 S 36,1.3).<br />

Schließlich wäre die mystisch-kontemplative Relecture der Bibel durch Teresa<br />

und vor allem durch den „Theologen“ Johannes, dessen Schriften mit<br />

Bibelzitaten durchsät sind, vielleicht auch als Kritik an einer akademischen<br />

Exegese zu verstehen, 35 die den leuchtenden Schatz (vgl. 2 Petr 1,19) der biblischen<br />

Gotteserfahrung nicht immer konsequent aushebt. Heute ist die Bibelwissenschaft<br />

oft voller nüchterner religionswissenschaftlicher, pragmatisierender<br />

„Neubegier“ für das in der Bibel Nebensächliche und läuft Gefahr – in Anlehnung<br />

an Nietzsches Kritik an der historizistischen Geschichtswissenschaft<br />

seiner Zeit gesagt –, aus dem Christentum ein Gestirn ohne Atmosphäre im<br />

Firmament der Religionen zu machen. 36<br />

4.5 Besondere Akzente bei Teresa –<br />

Kritischer Frauenblick auf die Männerkirche<br />

Längst bevor Teresa – als erste Frau in der Kirchengeschichte – 1970 zur<br />

Kirchenlehrerin erhoben wurde, haben ihr akademische Theologen Lehrautorität<br />

zuerkannt. Viele Theologen und Kirchenführer ihrer Zeit suchten bei<br />

ihr Rat und waren stolz, sich ihre „Söhne“ nennen zu dürfen. Der Dominikaner<br />

Domingo Báñez, einer ihrer Beichtväter und Theologieprofessor zu Salamanca,<br />

empfiehlt Teresas Lebensbericht mit diesen lobenden Worten:<br />

35 Vgl. Körner, Mystik (Anm. 6), 112.<br />

36 Vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und<br />

Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Sämtliche Werke (Kritische Studienausgabe 1), hg.<br />

v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari, München 1980, 298.


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

Denn ihre große Erfahrung, ihr Unterscheidungsvermögen und ihre Demut, insofern sie bei<br />

ihren theologischen Beichtvätern immer Licht und theologische Unterweisung gesucht hat, lassen<br />

es ihr gelingen, so über Gebetserfahrungen zu sprechen, wie es manchmal mangels Erfahrung<br />

nicht einmal den sehr Gebildeten gelingt. 37<br />

Der Augustiner Luis de León, ein weiterer Professor zu Salamanca, der<br />

selbst zu den Mystikern gezählt wird, wurde zum Herausgeber der Erstausgabe<br />

ihrer Werke (1588). Sein Widmungsschreiben ist ein rhetorisches Kunststück<br />

über die Lehrautorität einer Frau in der Männerkirche. 38 Er schickt zunächst<br />

den kirchlichen – und gesellschaftlichen – Konsens seiner Zeit voraus, es sei<br />

sonst nicht Sache einer Frau zu lehren, „sondern belehrt zu werden, wie der<br />

Apostel Paulus schreibt“. 39 Dann wird es als „etwas ganz Neues und Unerhörtes“<br />

hervorgehoben, dass gerade eine schwache Frau „so weise und geschickt“<br />

die Ordensreform vorangetrieben und dabei die Herzen aller gewonnen hat.<br />

Dass Gott in diesen schweren Zeiten keinen tapferen Mann von großer Gelehrsamkeit<br />

in den Kampf sandte, „sondern eine arme und vereinzelte Frau“, 40<br />

wird als List Gottes zur besonderen Demütigung und Beschämung des Teufels<br />

gedeutet. Anschließend bescheinigt Luis de León Teresas Werken höchste<br />

Lehrautorität: „Ich halte für sicher, daß an vielen Stellen der Heilige Geist aus<br />

ihr spricht, der ihr Hand und Feder führte“. 41 Ganz besonders schätzt der Exeget<br />

Luis de León – wohlwissend, dass dies bei den kirchlichen Lesern der<br />

Hauptpunkt sein dürfte – Teresas Skepsis gegenüber den inneren Offenbarungen<br />

sowie deren Lehre, dass wir uns nicht von ihnen leiten lassen sollen, „sondern<br />

unser Leben ausrichten nach der Lehre der Kirche und nach dem, was<br />

Gott in der Heiligen Schrift offenbart hat“. 42<br />

Luis de León hatte durchaus Recht, als er Teresa nicht nur Lehrautorität bescheinigt,<br />

sondern auch, „daß sie dabei so weise und geschickt verfuhr“. 43<br />

Teresas Bedauern, sie könne als einfache, schwache Frau nichts tun (vgl. F<br />

2,4), die Frauen seien im Allgemeinen ganz schwach (vgl. CV, Prolog 3; 4 M<br />

3,11 u.a.) und ungebildet (vgl. CV 28,10), sind kluge Schutzbehauptungen<br />

37 Gutachten von P. Domingo Báñez im Autograph der Vida, in: V, S. 624f.<br />

38 Eine deutsche Version des Widmungsschreibens findet sich in: Erika Lorenz, Teresa von<br />

Avila. Licht und Schatten, Schaffhausen 1982, 140–151.<br />

39 Ebd., 141. In seinem Werk „La perfecta casada“ (Lob der perfekten Ehefrau) hatte Luis de<br />

León den Frauen empfohlen, sie sollten nicht viel reden und einen friedlichen und sanften Charakter<br />

haben, und sie sollten sich auch nicht auf den Straßen herumtreiben oder viele Besuche<br />

unternehmen, sondern zu Hause bleiben. Luis de León, La perfecta casada, in: Escritores del siglo<br />

XVI, Tomo segundo: Obras del Maestro Fray Luis de León. Precédelas su vida, escrita por D.<br />

Gregorio Mayans y Siscar y un extracto del proceso instruído contra el autor desde el año 1571 al<br />

1576 (Biblioteca de Autores Españoles 37), Madrid 1925, 239–241 (§ XVI und XVII).<br />

40 Lorenz, Teresa von Avila (Anm. 38), 142.<br />

41 Ebd., 145.<br />

42 Ebd., 150.<br />

43 Ebd., 141.<br />

203


204<br />

Mariano Delgado<br />

hinter denen sich das Bewusstsein versteckt, dass sie und ihre Schwestern wie<br />

„starke Männer“ (CV 7,8) zu handeln haben.<br />

Gewiss, Teresa war keine protofeministische Theologin und kann daher von<br />

der heutigen feministischen Theologie nicht vereinnahmt werden. 44 Aber welche<br />

kluge, streitbare Theologin wäre aus ihr geworden, hätte sie damals studieren<br />

dürfen! Davon gibt dieser Vorwurf an die Theologen ihrer Zeit eine kleine<br />

Kostprobe:<br />

Was ist denn los, ihr Christen? Versteht ihr euch selbst noch? Ich würde am liebsten laut<br />

aufschreien und – obwohl ich nur die bin, die ich bin – mit denen disputieren, die behaupten,<br />

daß inneres Beten nicht erforderlich sei (CE 37,2).<br />

Erst ein Jahrhundert später wird sich eine Ordensfrau mit exegetischem<br />

Sachverstand trauen, mit den Männern über das Pauluswort zu streiten, dass<br />

die Frauen nicht lehren dürfen. Sor Juana Inés de la Cruz hebt dabei ausdrücklich<br />

das Lehrbeispiel Teresas hervor:<br />

[...] ich wünschte, diese Interpreten und Exegeten des heiligen Paulus würden mir erklären,<br />

wie sie dies verstehen: ‚Lasset die Frauen schweigen in der Gemeinde‘ [1 Kor 14,34]. Entweder<br />

verstehen sie darunter konkret Kanzel und Pult oder allgemein die Kirche als Gesamtheit<br />

der Gläubigen. Wenn sie das erstere meinen [...] – warum tadeln sie dann diejenigen, die privat<br />

Studien betreiben? Wenn sie das Verbot des Apostels im übertragenen Sinne verstehen, daß es<br />

den Frauen nämlich nicht einmal erlaubt ist, privat zu schreiben oder zu studieren – wieso hat<br />

dann die Kirche einer Gertrude, einer Theresa, einer Brigida, der Klosterfrau von Agreda und<br />

vielen anderen erlaubt zu schreiben? 45<br />

Aber Teresas Hauptanliegen ist nicht der Disput mit den akademischen<br />

Theologen, sondern die Rettung ihrer Ordensreform in „schweren Zeiten“.<br />

Daher bringt sie lieber ihren Schwestern bei, wie sie durch kluges Verhalten<br />

inneres Beten praktizieren oder dem negativen Einfluss inkompetenter oder<br />

halbgebildeter Beichtväter entkommen können. Dabei äußert sie auch – „weise<br />

und geschickt“ – Kritik an den Männern in der Kirche ihrer Zeit. So etwa wenn<br />

sie das positive – die Frauen bevorzugende – Verhalten des Herrn von dem der<br />

Richter dieser Welt abhebt, „für die, da sie Söhne Adams und schließlich lauter<br />

Männer sind, es keine Tugend einer Frau gibt, die sie nicht für verdächtig halten“<br />

(CE 4,1; vgl. auch CV 3,7).<br />

5. „Die Welt steht in Flammen!“<br />

Menschen ohne Gebetsleben nennt Teresa „lahme Seelen“ („almas tullidas“: 1<br />

M 1,6.8). Christliche Mystik nach Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz<br />

44 Vgl. Burggraf, Teresa (Anm. 5), 433–436.<br />

45 Sor Juana Inés de la Cruz, Die Antwort an Schwester Philothea, Frankfurt a.M. 1991, 10–<br />

11. Vgl. unten in diesem Band den Beitrag von Hildegard Wustmans, 307–324.


„Richte deine Augen allein auf ihn“<br />

heißt, den Zustand einer „lahmen Seele“ zu überwinden und sich auf den Weg<br />

zu Gott zu machen, der uns zuerst geliebt hat und stets um uns wirbt: „wenn<br />

die Menschenseele Gott sucht, so sucht sie ihr Geliebter viel dringlicher“ (LB<br />

3,28; vgl. auch 3 M 2,13). Beide ermahnen uns, unsere Augen auf den<br />

Mittelpunkt zu richten, „auf das Gemach oder den Palast, in dem der König<br />

wohnt“ (1 M 2,8), damit wir dort die Kraft für die Mystik des Alltags, für die<br />

Nächstenliebe als Gottesliebe, gewinnen können. Gewiss, heute würden wir im<br />

binnenkirchlichen Kontext wegen der konfessionellen Verschiedenheit kaum<br />

mit Teresa sagen:<br />

Die Welt steht in Flammen! Sie wollen über Christus von neuem das Urteil sprechen [...],<br />

denn sie erheben tausend Anklagen gegen ihn und wollen seine Kirche zu Boden stürzen [...]<br />

Nein, meine Schwestern, nein, es gibt keine Zeit, um mit Gott über Geschäfte von wenig Bedeutung<br />

zu verhandeln (CE 1,5; vgl. CV 1,5).<br />

Aber wir werden den spanischen Mystikern nicht gerecht, wenn wir sie als<br />

Hauptfiguren der „Gegenreformation“ bezeichnen; vielmehr waren sie hervorragende<br />

Kirchen- und Ordensreformer aus dem Geist der Mystik, die immer<br />

um das Wesen des Christentums bemüht ist. In ihrer Kirche klagten sie ein<br />

Christentum ein, das über die Konfessionsgrenzen hinweg alle Christen durchaus<br />

verbinden könnte – wie nicht zuletzt die rege Rezeption ihrer Werke durch<br />

die deutschen Pietisten um 1700 belegt. 46 „Die Bewegung, die Erfahrung und<br />

die Theologie der Mystik“ zeigen uns also, dass es durch alle Jahrhunderte der<br />

Kirchenspaltung eine gemeinsame Wurzel und eine Gemeinschaft des Geistes<br />

immer gegeben hat. 47 Und die Konsequenz, mit der Mystiker in der jeweiligen<br />

Zeit den Ernst der Nachfolge leben, zeigt uns letztlich, dass die Welt für<br />

Christen irgendwie immer „in Flammen“ steht.<br />

Zusammenfassung: Der Beitrag geht zunächst den schweren Zeiten nach, in denen die spanischen<br />

Mystiker und Kirchenlehrer Teresa de Ávila und Johannes vom Kreuz wirkten. Danach wird das<br />

Proprium ihrer Mystik als Vereinigung mit dem Willen Gottes, auch in den Niederungen des<br />

Alltags, und als Ausrichtung auf die Worte und Taten Jesu Christi vorgestellt. Schließlich werden<br />

einige kirchenkritische Aspekte gezeigt, die folgende Felder betreffen: die Einheit von Kontem-<br />

46 Vgl. Dietrich Meyer / Udo Sträter (Hg.), Zur Rezeption mystischer Traditionen im<br />

Protestantismus des 16. bis 19. Jahrhunderts (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte<br />

152), Köln 2002 (vgl. darin die Namen spanischer Mystiker wie Teresa von Ávila,<br />

Johannes vom Kreuz und Miguel de Molinos im Personenregister).<br />

47 Moltmann, Wendung (Anm. 27), 187. Die Mystik Teresas und Johannes’ weist auch – über<br />

ihre Konzentration auf das Wesen des Christentums hinaus – eine starke Verwandtschaft mit der<br />

jüdischen bzw. der islamischen Mystik auf, vor allem was die sprachliche Metaphorik betrifft.<br />

Direkte jüdische und/oder islamische Einflüsse, die manchmal postuliert werden (vgl. Luce López-<br />

Baralt, Huellas del Islam en la literatura española, Madrid 1985, 59–72; dies., San Juan de la Cruz<br />

y el Islam, Madrid 1990) dürfte es kaum gegeben haben. Die Gemeinsamkeiten mit der jüdischen<br />

Mystik scheinen eher in der Lektüre des Alten Testamentes begründet zu sein, während die<br />

Ähnlichkeiten mit der islamischen Mystik von der neuplatonisch geprägten mystischen Tradition<br />

und Literatur herrühren dürften.<br />

205


206<br />

Mariano Delgado<br />

plation und Aktion, Gottes- und Nächstenliebe, die inkompetenten Beichtväter oder Seelenführer,<br />

die Suche nach außergewöhnlichen Phänomenen, die Auswüchse bei der Volksfrömmigkeit und<br />

den Verlust des Mystischen bei der Auslegung der Hl. Schrift sowie Teresas Kritik an der<br />

Männerkirche.<br />

Summary: The contribution begins with a review of the difficult times during which the Spanish<br />

mystics and doctors of the church Teresa of Ávila and John of the Cross were active. Then the<br />

proprium of their mysticism as union with the will of God, also in the humdrum routine of daily<br />

life, and as orientation to the words and deeds of Jesus Christ is presented. Finally the article<br />

points out some of the aspects which are critical of the church and deal with the following areas:<br />

the unity of contemplation and action, love of God and love of neighbour, the incompetent father<br />

confessors or spiritual directors, the search for unusual phenomena, the excesses in popular piety,<br />

the loss of the mystical in the interpretation of the Scriptures, as well as, finally, Teresa’s criticism<br />

of the male church.<br />

Sumario: El artículo describe primero los tiempos recios en que vivieron los místicos españoles<br />

Teresa de Ávila y Juan de la Cruz. Después se presenta lo específico de su mística como unión<br />

con la voluntad de Dios, también en la banalidad de lo cotidiano, y como orientación radical a la<br />

palabra y la obra de Jesucristo. Finalmente se analizan algunos aspectos críticos de su mística referentes<br />

a los siguientes temas: la unión entre contemplación y acción, el amor a Dios y el amor al<br />

prójimo, la crítica de los confesores incompetentes, de los fenómenos místicos especiales, de los<br />

abusos en la piedad y religiosidad popular, de la pérdida del sentido místico en la interpretación de<br />

las Sagradas Escrituras. También se presenta la crítica de Teresa a algunos hombres de la Iglesia<br />

de su tiempo.


Anoche cuando dormía<br />

soñé, ¡bendita ilusión!,,<br />

que una fontana fluía<br />

dentro de mi corazón.<br />

Di, ¿por qué acequia escondida,<br />

agua, vienes hasta mí,<br />

manantial de nueva vida<br />

en donde nunca bebí?<br />

Anoche cuando dormía<br />

soñé, ¡bendita ilusión!,<br />

que una colmena tenía<br />

dentro de mi corazón;<br />

y las doradas abejas,<br />

iban frabicando en él,<br />

con las amarguras viejas,<br />

blanca cera y dulce miel.<br />

Anoche cuando dormía<br />

soñé, ¡bendita ilusión!,<br />

que un ardiente sol lucía<br />

dentro de mi corazón.<br />

Era ardiente porque daba<br />

calores de rojo hogar,<br />

y era sol porque alumbraba<br />

y porque hacía llorar.<br />

Anoche cuando dormía,<br />

soñé, ¡bendita ilusión!,<br />

que era Dios lo que tenía<br />

dentro de mi corazón.<br />

Antonio Machado<br />

(1875–1939)<br />

Als ich schlief die letzte Nacht,<br />

da träumte ich – Wunschbild wundervoll! –,<br />

daß in meines Herzens Schacht<br />

aufsprudelnd ein Brunnen quoll.<br />

Sag, durch welch geheime Rinnen<br />

drangst du bis zu mir empor,<br />

Quell neuen Lebens da drinnen,<br />

von dem ich nie trank zuvor?<br />

Als ich schlief die letzte Nacht,<br />

da träumte ich – Wunschbild wundervoll! –,<br />

in mein Herz sei eingebracht<br />

ein Bienenstock: summend schwoll<br />

der Bienen goldener Schwarm,<br />

und der verwandelte insgeheim<br />

all meinen bitteren Harm<br />

in weißes Wachs und in Honigseim.<br />

Als ich schlief die letzte Nacht,<br />

da träumte ich – Wunschbild wundervoll! –,<br />

brennend durchstrahle die Pracht<br />

einer Sonne meinen Herzensgroll.<br />

Sie brannte, denn wie vom Herde<br />

hochrot ihr Wärme entfloß,<br />

war Sonne, die alles klärte,<br />

so daß ich Tränen vergoß.<br />

Als ich schlief die letzte Nacht,<br />

da träumte ich – Wunschbild wundervoll! –,<br />

es sei Gott in mir erwacht,<br />

von ihm sei das Herz mir voll.


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“<br />

Mystik und Kirchenkritik beim spanischen Dichter Antonio Machado<br />

von Mariano Delgado<br />

Das jüngste Erscheinen der wichtigsten Werke des spanischen Dichters Antonio<br />

Machado (1875–1939) in deutscher Übersetzung 1 ist mir Anlass zu diesen<br />

Überlegungen über seine lebenslange „Suche nach Gott im Nebel“, die ihn zu<br />

einem „apokryphen“ Mystiker ohne Kirche und mit einem genuinen Christentumsverständnis<br />

macht. Andere haben sich zwar schon damit befasst und wertvolle<br />

Interpretationen geliefert, 2 aber die Literatur hat es bekanntlich an sich,<br />

1 Antonio Machado, Soledades / Einsamkeiten 1899–1907. Spanisch und Deutsch, hg. und<br />

übertragen von Fritz Vogelsang, Zürich 1996, abgekürzt als Soledades mit arabischer Seitenzählung<br />

und römischer Gedichtzählung; ders., Campos de Castilla / Kastilische Landschaften.<br />

Spanisch und Deutsch, hg. und übertragen von Fritz Vogelsang, Zürich 2001, abgekürzt als<br />

Campos mit arabischer Seitenzählung und römischer Gedichtzählung; ders., Juan de Mairena.<br />

Sprüche, Scherze, Randbemerkungen und Erinnerungen eines zweifelhaften Schulmeisters, hg.<br />

und aus dem Spanischen übertragen von Fritz Vogelsang, Zürich 2005, abgekürzt als Mairena mit<br />

Seitenzählung. Die deutsche Version der Werke Machados wird nach den genannten Übersetzungen<br />

zitiert, das spanische Original nach der kritischen Ausgabe: Antonio Machado, Vol. 1:<br />

Poesías completas; Vol. 2: Prosas Completas, edición crítica Oreste Macrì, Madrid 1989, abgekürzt<br />

als PoC und PrC mit arabischer Seitenzählung und römischer Gedichtzählung. Zu den genannten<br />

deutschen Übersetzungen vgl. Ute Stempel, Spuren sind der Weg. Antonio Machado und<br />

seine „Kastilische Landschaften“, in: NZZ vom 8./9. Juni 2002, Nr. 130, 82; Durs Grünbein, Eine<br />

Einsamkeit aus dem Volk. Antonio Machados „Soledades“, eines der großen Versbücher dieses<br />

Jahrhunderts, ist endlich übersetzt, in: Die Zeit vom 6. Dezember 1996, Literaturbeilage, 1f.<br />

2 Unter den theologischen Arbeiten ragen folgende hervor: Antonio Blanch, Dios en la<br />

generación del 98. Machado, J. R. Jiménez y Unamuno, in: Vida Nueva Nr. 2140 (6. Juni 1998)<br />

23–28; Juan Cózar Castañar, Modernismo teologico y Modernismo literario. Cinco ejemplos<br />

españoles, Madrid 2002; Olegario González de Cardedal, Memoria y misterio: notas sobre la<br />

actitud religiosa de Antonio Machado, in: Insula Nr. 506/507 (Febrero-Marzo 1989) 27–31; ders.,<br />

Cuatro poetas desde la otra ladera: Unamuno, Jean Paul, Machado, Oscar Wilde. Prolegómenos<br />

para una cristología, Madrid 1996; José María González Ruiz, La teología de Antonio Machado,<br />

Barcelona/Madrid 1975 (Santander 1989); ders., Antonio Machado, hombre de Dios, in: Homenaje<br />

a Antonio Machado, ed. Juan J. Coy, Salamanca 1977, 63–93. Unter den Philosophen und<br />

Romanisten sind u.a. folgende Studien hervorzuheben: José Luis Abellán, Antonio Machado<br />

„filósofo cristiano“, in: La Torre, Revista general de la Universidad de Puerto Rico 12, Nr. 45–46<br />

(Enero-Junio 1964) 221–239; ders., El filósofo “Antonio Machado”, Valencia 1995; Dámaso<br />

Alonso, Cuatro poetas españoles (Garcilaso, Góngora, Maragall, Antonio Machado), Madrid 1962;<br />

Agustín Andreu, El cristianismo metafísico de Antonio Machado, Valencia 2005; Anthropos. Revista<br />

de información y documentación, Nr. 50 (1985; das ganze Heft ist Antonio Machado gemidmet);<br />

José Luis L. Aranguren, Esperanza y desesperanza de Dios en la experiencia de la vida de<br />

Antonio Machado, in: Cuadernos hispanoaméricanos 11–12 (1949) 981–998; ders., Actualidad de<br />

Antonio Machado, filósofo, in: Insula Nr. 506/507 (Febrero-Marzo 1989) 9–10; Pablo Luis de


552<br />

Mariano Delgado<br />

dass sie uns, wie Immanuel Kant und Paul Ricœur vom Symbol sagen, immer<br />

wieder zu denken gibt. Jeder verständige Leser begibt sich so auf eine Interaktion<br />

zwischen ihm und dem Text im hermeneutischen Zirkel von Frage und<br />

Antwort und kann zu einer neuen Lektüre gelangen.<br />

1. Ein guter Jakobiner – aber auch ein „Modernist“?<br />

„Kein anderer Lyriker ist dem Bewußtsein und dem Herzen der Spanier heute<br />

so nah, so gegenwärtig“ 3 – ist über Antonio Machado geschrieben worden, in<br />

dem viele „den ersten spanischen Dichter“ 4 des 20. Jahrhunderts sehen. Für die<br />

letzten Generationen von Spaniern ist er zum Kultautor geworden: Seine<br />

Ávila (Ed.), Antonio Machado hacia Europa. Actas del Congreso internacional “Antonio Machado<br />

verso l’Europa”, Madrid 1993; Armand F. Baker, El pensamiento religioso y filosófico de Antonio<br />

Machado, Sevilla 1985; Carlos Barbachano / Agustín Sánchez Vidal, Tres pilares del diálogo en la<br />

prosa de Antonio Machado: Socrates, Cristo y Cervantes, in: Cuadernos hispanoamericanos 304–<br />

307 (Oktober-Dezember 1975 und Januar 1976), Bd. I, 614–624; Theodor Berchem / Hugo Laitenberger<br />

(Hg.), Estudios sobre Antonio Machado (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft,<br />

Zweite Reihe 29), Münster 1992; José Bergamín, Antonio Machado el bueno, in: La Torre, Revista<br />

general de la Universidad de Puerto Rico 12, Nr. 45–46 (Enero-Junio 1964) 257–264; Laureano<br />

Bonet, Antonio Machado y el Cristo ruso, in: Antonio Machado: El poeta y su doble. Intervenciones<br />

del Simposium celebrado en la Universidad de Barcelona los días 14, 15 y 16 de marzo de<br />

1989, Barcelona 1986, 101–129; Pedro Cerezo Galán, Palabras en el tiempo, Madrid 1975;<br />

Eduardo Gener Cuadrado, El mar en la poesía de Antonio Machado, Madrid 1966; José Emilo<br />

González, Imagen espiritual de Machado desde su poesía, in: La Torre, Revista general de la Universidad<br />

de Puerto Rico 12, Nr. 45–46 (Enero-Junio 1964) 349–367; R. Gullón / A. W. Philips<br />

(Eds.), Antonio Machado, Madrid 1979; Miriam Hoffmann de Gabor, El Dios de Antonio Machado,<br />

in: Revista de Filosofía 4, Nr. 15/16 (1964/1965 Costa Rica) 339–345; Antonio Jiménez-Landi,<br />

La Institución libre de enseñanza en la vida y la obra de Antonio Machado, in: Ávila (Ed.), Machado,<br />

263–271; Pedro Laín Entralgo, La memoria y la esperanza. San Agustín, San Juan de la<br />

Cruz, Antonio Machado, Miguel de Unamuno, Madrid 1954; Hugo Laitenberger, Antonio Machado.<br />

Sein Versuch einer Selbstinterpretation in seinen apokryphen Dichterphilosophen, Wiesbaden<br />

1972; Ángel Martínez Blasco, El problema religioso en la obra de Antonio Machado, in: Cuadernos<br />

hispanoamericanos 304–307 (Oktober-Dezember 1975 und Januar 1976), Bd. I, 595–613; R.<br />

A. Molina, Anoche cuando dormía... Itinerario místico de Antonio Machado, in: Insula Nr. 158<br />

(Enero 1960) 1–2; Alberto Roca, Cartas religiosas de Unamuno y Machado, in: Islas, vol. II, Nr.<br />

2–3 (Enero-Agosto 1960) 639–642; Antonio Sánchez-Barbudo, Los poemas de Antonio Machado.<br />

Los temas. El sentimiento y la expresión, Barcelona 1967; ders., El pensamiento de Antonio Machado,<br />

Madrid 1974; ders., Antonio Machado y su pensamiento filosófico: una síntesis, in: Ávila<br />

(Ed.), Machado, 159–17; Cintio Vitier, Antonio Machado „entre la niebla“, in: Ávila (Ed.), Machado,<br />

314–318; José María Valverde, Evolución del sentido espiritual de la obra de Antonio Machado,<br />

in: Cuadernos hispanoaméricanos 11–12 (1949) 399–417; ders., Antonio Machado, Madrid<br />

1975; Varios Autores, Antonio Machado – El poeta y su doble, Barcelona 1989; Varios Autores,<br />

Antonio Machado hoy. Actas del Congreso internacional conmemorativo del cincuentanario de la<br />

muerte de Antonio Machado, 4 Vol., Sevilla 1990; Gareth D. Walters, Estelas en la mar. Essays<br />

on the Poetry of Antonio Machado (1875–1939) (Glasgow Colloquium Papers 2), Glasgow 1992.<br />

3 Fritz Vogelsang, Nachwort, in: Machado, Soledades (Anm. 1), 251.<br />

4 So der von Vogelsang (ebd., 252) zitierte Claude Couffon.


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 553<br />

Gedichte werden in den Schulen auswendig gelernt, viele wurden in den<br />

letzten Jahren des Franquismus von katalanischem Liedermacher Joan Manoel<br />

Serrat vertont und gesungen und so auch in der breiten Öffentlichkeit populär<br />

gemacht; zu den verschiedensten Anlässen werden sie sogar von Politikern<br />

zitiert – und auch mancher Pfarrer greift in der Sonntagspredigt auf sie zurück.<br />

Er wurde 1875 in Sevilla geboren und starb 1939 als Flüchtling des Bürgerkriegs<br />

im französischen Collioure. Dazwischen liegt ein Leben, in dem er sein<br />

Brot als Gymnasiallehrer für Französisch in der spanischen Provinz (im altkastilischen<br />

Soria 1907–1912, im andalusischen Baeza 1912–1919, im altkastilischen<br />

Segovia 1919–1936) redlich verdiente („ich zahle mit Arbeit, die<br />

ich tue, / den Rock, der mich bedeckt, die Wohnstatt, die mir blieb, / das Brot,<br />

das mich ernährt, das Bett, auf dem ich ruhe.“ 5), mehrere Studienaufenthalte in<br />

Paris (1899, 1902, 1911) absolvierte, 6 und uns bis etwa 1917 mit unbezahlbaren<br />

Gedichten beschenkte, bevor er, wie er selbstkritisch feststellte, das Gold<br />

der Poesie für die Kupfergroschen der Philosophie tauschte:<br />

Poeta ayer, hoy triste y pobre Gestern Poet, heut erloschen,<br />

filósofo trasnochado, ein Grübler, verkatert, trist,<br />

tengo en monedas de cobre ich tauschte für Kupfergroschen<br />

El oro de ayer cambiado was mein Gold gewesen ist. 7<br />

Machado war katholisch getauft, 8 aber nicht katholisch erzogen. Denn er<br />

kommt aus der laizistischen, liberalen Tradition Spaniens. Er studierte in Madrid<br />

an der einzigen weder kirchlich noch staatlich reglementierten Lehranstalt<br />

des Landes: an der „Institución Libre de Enseñanza“, die Fernando Giner de<br />

los Ríos gegründet hatte, um die Gedanken der Aufklärung zu verbreiten, die<br />

in Spanien von der philosophischen Schule des „Krausismus“ vertreten wurden.<br />

9 Die meisten spanischen Künstler und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts<br />

5 Campos, 8f (XCVII): „con mi dinero pago / el traje que me cubre y la mansión que habito, /<br />

el pan que me alimenta y el lecho en donde yago.“<br />

6 Vgl. seine Darstellung des eigenen Lebenslaufs in PrC, 1521–1525.<br />

7 Soledades, 238f (XCV). Diese Selbsteinschätzung seiner kreativen Unfähigkeit – vor allem<br />

nach dem Tod seiner Frau 1912 und dem Umzug vom altkastilischen Hochduero ins andalusische<br />

Baeza – wird von der literarischen Kritik einhellig geteilt, so z.B. von Alonso, Cuatro poetas<br />

(Anm. 2), 150, 154.<br />

8 Vgl. seinen Lebenslauf in PrC, 1521, wo er selbst schreibt: „Ich wurde geboren 1875 in<br />

Sevilla, in der Pfarrei San Juan de la Palma, in der ich getauft wurde“.<br />

9 „Ich wurde an der Institución Libre de Enseñanza erzogen“: PrC, 1521. Vgl. auch das<br />

Gedicht Machados zum Gedenken an Francisco Giner de los Ríos, in dem dieser „der Lehrer“ und<br />

„der Bruder des Lichts der Frühe, / der Sonne in den Werkstätten, / der fröhliche Alte voll<br />

frommen Lebens“ (Campos 248f: CXXXIX) genannt wird, sowie seinen Prosanachruf dazu (PrC,<br />

1575–1577), wo es heißt: „Er war ein einfacher und asketischer Mensch, ein Freund des richtigen<br />

Masses und der vernünftigen Regeln. Er war ein Mystiker, aber kein kontemplativer und ekstatischer,<br />

sondern ein arbeitsamer und aktiver. Er hatte die Gründerseele einer Teresa de Ávila und<br />

eines Iñigo de Loyola; aber er ergriff Besitz über die Geister in Freiheit und Liebe.“ Vgl. dazu<br />

Jiménez-Landi, La Institución (Anm. 2); ders., Don Francisco Giner de los Ríos y la Institución<br />

Libre de Enseñanza. Estudio, bibliografía, antología, New York 1959; ders., La Institución Libre


554<br />

Mariano Delgado<br />

(Federico García Lorca, Salvador Dalí, Luis Buñuel u.a.) haben dort studiert<br />

und den Geist des spanischen Laizismus aufgesaugt. Für ihn ist der düstere<br />

tridentinische Katholizismus, der mit der ultramontanen Wende und dem Papalismus<br />

des 19. Jahrhunderts noch düsterer wurde, an der geistigen und moralischen<br />

Misere Spaniens um 1900 hauptverantwortlich. Der Antiklerikalismus<br />

der „Institución Libre de Enseñanza“ ist nur verständlich vor dem Hintergrund<br />

der extremen geistigen Polarisierung Spaniens nach der Revolution von 1868,<br />

die das Problem der „zwei Spanien“ verschärfte: 10 hier das traditionalistische<br />

und klerikale Lager, dort das liberal-radikale und antiklerikale. Beide Lager<br />

bedingten sich gegenseitig in einer unheilvollen Dynamik, die nicht zuletzt<br />

zum Bürgerkrieg von 1936–1939 führte: Der integralistische Charakter des<br />

spanischen Katholizismus hat zur Radikalisierung der Laizisten und Antiklerikalen<br />

geführt; und diese hat wiederum das katholische Lager in seiner Ablehnung<br />

von Liberalismus und Sozialismus bestärkt.<br />

Machado sah sich als „im Grunde Glaubender an eine spirituelle Wirklichkeit,<br />

die der sichtbaren Welt entgegen steht“ und als Verächter „des verweltlichten<br />

Klerus“. 11 Darüber hinaus bezeichnete er sich in einem Gedicht mit<br />

dem Titel „Porträt“ als „Jakobiner“, „guter Mensch“ und „Hoffender“ auf ein<br />

Gespräch mit Gott, der ihn „das Geheimnis der Menschenliebe lehrte“:<br />

Hay en mis venas gotas de sangre jacobina,<br />

pero mi verso brota de manantial sereno;<br />

y, más que un hombre al uso que sabe su doctrina,<br />

soy, en el buen sentido de la palabra, bueno.<br />

Es gibt in meinen Adern Tropfen von Jakobinerblut,<br />

doch meine Verse quellen aus ruhig-klarem Grund,<br />

und ich bin – in dem guten Sinne des Wortes – gut,<br />

mehr als ein Mensch der Norm mit fixer Doktrin im Mund. [...]<br />

Converso con el hombre que siempre va conmigo<br />

– quien habla solo espera hablar a Dios un día –:<br />

mi soliloquio es plática con este buen amigo<br />

que me enseñó el secreto de la filantropía.<br />

Ich rede mit dem Menschen, der mich immer begleitet<br />

– wer mit sich selbst spricht, hofft, einst sei’s Gott, der ihn hörte;<br />

mein Monolog gilt diesem guten Freund, der mich leitet<br />

und der mich das Geheimnis der Menschenliebe lehrte. 12<br />

de Enseñanza y su ambiente, 4 Vol., Madrid 1996. Zum Krausismus vgl. u.a. Rogelio García-<br />

Mateo, Das Deutsche Denken und das moderne Spanien. Panentheismus als Wissenschaftssystem<br />

bei Karl Chr. Fr. Krause. Seine Interpretation und Wirkungsgeschichte in Spanien: Der Spanische<br />

Krausismus, Frankfurt am M. 1982.<br />

10 Vgl. Mariano Delgado, Spanien, in: Erwin Gatz, Kirche und Katholizismus seit 1945, Bd.<br />

3: Italien und Spanien, Paderborn u.a. 2005, 107–175, dort (S. 107, Anm. 1) auch Literatur über<br />

das Problem der „zwei Spanien“.<br />

11 PrC, 1524f.<br />

12 Campos 6f (XCVII).


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 555<br />

Machado wünschte das ancien régime europaweit zum Teufel. In Baeza<br />

dichtete er 1919 nach dem Untergang der alten Ordnung in Deutschland und<br />

Russland:<br />

Cayeron las altas torres; Schon fielen die großen Türme,<br />

en un basurero están auf einer Müllhalde liegen<br />

la corona de Guillermo, Wilhelms Krone,<br />

la testa de Nicolás. und Nikolaus Kopf. 13<br />

Machado bedauerte, dass es in Spanien noch nicht so weit wäre. Später war<br />

er aktiv dabei, als nach der Abdankung Alfonsos XIII. eine kleine Schar Republikaner<br />

am 14. April 1931 die trikolore Fahne auf dem Balkon des Rathauses<br />

von Segovia hisste; und er hielt der Republik immer die Treue bis zum<br />

bitteren Gang ins Exil im Januar 1939. Als überzeugter Republikaner und „Laizist“<br />

war er aber nicht anarchistisch gesinnt, sondern träumte selbst inmitten<br />

der grausamsten Kriegswirren von einem philanthropisch-prometheuschen<br />

Christentum bzw. von einem christianisierten Marxismus. 14 Die neue Ordnung<br />

sollte gerechter werden und das „spanische Problem“ lösen, das für Machado<br />

ein geistig-geistliches oder religiöses war und im Mangel an „spiritueller Virilität“<br />

lag, d.h. im Mangel „an der Liebe zum Wahren“, am Wunsch, „bis zum<br />

Wesentlichen der Dinge vorzudringen“, sowie in der mangelnden Unfähigkeit<br />

zur „Verachtung des Protzigen, Hohlen und Zuckersüßen“. 15 Aber die neue<br />

Ordnung sollte keine tabula rasa bedeuten, keine „Kulturrevolution“, sondern<br />

eine sich in die Erziehung des Volkes niederschlagende Revolution des Geistes<br />

und des Gewissens, die an die besten spirituellen Traditionen Spaniens, an die<br />

Mystiker, anschließen sollte; denn im mystischen und sozialen Christentum sah<br />

er einen wesentlichen Bestandteil der spanischen Seele.<br />

Mit Miguel de Unamuno (und Bergson) betrachtet Machado die spanische<br />

Mystik als den Anfang einer genuin spanischen religiösen Reform und als eine<br />

fruchtbare und sehr vitale, dem Buchstabengeist der professionellen Verwalter<br />

der Religion und dem Pöbel entgegengesetzte geistliche Strömung, die den<br />

großen introspektiven Kairos Spaniens darstellt und zu einer eigenen philosophischen<br />

Tradition hätte führen können, die der der Enkel Luthers in Deutschland<br />

ebenbürtig gewesen wäre, wenn nur die Inquisition sie nicht im Keim<br />

erstickt hätte: „Aber wir haben die Glut in der Asche erstickt“ 16, d.h. im Dogmatismus<br />

und scholastischen Formalismus. Die Bewunderung für die spanischen<br />

Mystiker kommt in vielen Versen und Prosatexten zur Sprache, verbunden<br />

mit der Wehmut, dass sie im katholischen Spanien um 1900 vergessen<br />

zu sein scheinen:<br />

13 PoC, 643 (CLXI–LXXXIII). Ü. MD.<br />

14 Vgl. Blanch, Dios (Anm. 2), 26.<br />

15 PrC, 1523, auch 1525.<br />

16 PrC, 1544.


556<br />

Mariano Delgado<br />

¡Teresa, alma de fuego, Teresa, Feuerseele,<br />

Juan de la Cruz, espíritu de llama, Juan de la Cruz, du Flammengeist,<br />

por aquí hay mucho frío, padres, nuestros hierzuland herrscht viel Frost, ihr Gründer, unsre<br />

coranzoncitos de Jesús se apagan! Herzjesulichtlein, ach, sind am Verglimmen! 17<br />

…<br />

¡Noches de Santa Teresa! Nächte der heiligen Teresa!<br />

Ya no hay quien medita de noche Keiner mehr meditiert nächtens<br />

Con las ventanas abiertas bei offenen Fenstern. 18<br />

Durch die Studienaufenthalte in Paris, vor allem aber durch die Lektüre der<br />

Werke Unamunos, den er seinen „Lehrer“ und „den erhabensten Vertreter der<br />

spanischen Intellektuellen“ 19 nennt und der ihn „an unsere besten Mystiker“ 20<br />

erinnert, sowie durch die häufige Korrespondenz mit ihm entwickelte Machado<br />

ein „mystisches“ Christentumsverständnis, das hier und da auch „modernistisch“<br />

anmutet: Betonung der inneren Seite des Christentums wie des Gegensatzes<br />

zwischen dem Jesus der Evangelien und dem Christus der Dogmen und<br />

der Kirche.<br />

In Spanien, wo der römische Antimodernismus auf fruchtbaren Boden fiel,<br />

gab es keinen eigentlichen Modernismus unter den Fachtheologen und Kirchenvertretern.<br />

21 In den letzten Jahren wird aber auf modernistische Tendenzen<br />

bei einigen Hommes de lettres, die kirchenferne Christen oder Agnostiker waren,<br />

hingewiesen, besonders bei Miguel de Unamuno und Juan Ramón Jiménez,<br />

die Loisys Schriften gelesen haben, bei Rubén Darío, dem frühen Azorín<br />

und Antonio Machado. 22 So urteilt Juan Cózar Castañar am Ende seiner Studie:<br />

„Der Einfluss des von der katholischen Kirche verurteilten theologischen<br />

Modernismus ist klar bei Miguel de Unamuno und Juan Ramón Jiménez; er ist<br />

auch ziemlich klar bei Antonio Machado und schwerer zu finden bei Azorín<br />

und Rubén Darío.“ 23 War nun Machado wirklich ein „Modernist“?<br />

Gewiss, wir können mit Cózar Castañar sagen, dass Machado die Bibel nicht<br />

als Offenbarungsbuch, sondern als bloß menschliches Zeugnis sah, und einen<br />

Unterschied zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des kirchlichen<br />

Glaubens machte, ja dass er einen nicht evangeliumskonformen Begriff<br />

der Gottessohnschaft Jesu Christi hatte und das Wesen des Christentums „in<br />

17 Campos, 214f (CXXXVI–XX).<br />

18 PoC, 791 (XLVI–V).<br />

19 PrC, 1525, 1628.<br />

20 PrC, 1479. „Unamuno setzt die spanischen Mystiker, diese Feuerseelen, fort. Arme<br />

Herzjesulichtlein erschreckt nicht!“ PrC, 1480, oder: „Ein Gründer will er sein und sagt: Ich<br />

glaube; [...] Wie ein Loyola kennt er Jesus gut / und speit dem Pharisäer auf die Haube“ (Campos,<br />

285: CLI). Zu Unamuno als „Mystiker und Kirchenkritiker“ vgl. in diesem Band, S. 529–550, den<br />

Beitrag von Rogelio García Mateo.<br />

21 Vgl. dazu: Juan María Laboa, Iglesia y modernismo. Aproximación histórica al<br />

modernismo, Madrid 1978.<br />

22 Vgl. Blanch, Dios (Anm. 2); Cózar Castañar, Modernismo (Anm. 2).<br />

23 Vgl. Cózar Castañar, Modernismo (Anm. 2), 239, zu Machado: 177–200.


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 557<br />

der Volksseele“, d.h. „im Gewissen des Menschen, das vom Christentum<br />

durchtränkt ist“ 24 erforschen wollte. Dies sind aber eher diffuse „modernistische“<br />

Anklänge 25 bei einem theologisch nicht sehr belesenen Homme des<br />

lettres als wirkliche Zeichen von theologischem Modernismus. Wir dürfen<br />

nämlich nicht vergessen, dass Machado im Hinblick auf Bibel und Christentum<br />

nicht nur „die Interpretation dogmatischer Texte“ ablehnte, sondern auch –<br />

nicht gerade im Einklang mit dem theologischen Modernismus – „die historische<br />

Forschung“. 26<br />

Eher als Spuren des „Modernismus“ finden sich bei Machado Einflüsse des<br />

so genannten „Krausismus“, der ja den geistigen Hintergrund der „Institución<br />

Libre de Enseñanza“ bildete und in religiöser Hinsicht durch folgende Merkmale<br />

gekennzeichnet war: deutliche Distanz zur katholischen Institution bei<br />

gleichzeitiger Betonung der zentralen Bedeutung des religiösen Gefühls als<br />

eines explizit christlichen und evangelischen, denn im Christentum wurde der<br />

vollkommenste Ausdruck des religiösen Lebens gesehen – und in Jesus und<br />

seiner „Bergpredigt“ das praktische menschliche Vorbild einer den Egoismus<br />

überwindenden und die Philanthropie fördernden Moral. 27<br />

Sowohl dieses Vorverständnis als auch der klerikale, konservativ-politisierende<br />

Katholizismus im Spanien seiner Zeit, der keine Theologen hatte, die das<br />

Gespräch mit der zeitgenössischen „Kultur“ und „Intelligentsia“ offen suchten,<br />

werden den gottsuchenden Machado daran hindern, die Grunderfahrung der<br />

echten Mystiker zu machen: dass seine Sehnsucht nach Gott in der Begegnung<br />

mit dem geliebten göttlichen Du Ruhe findet, der uns „viel dringlicher“ sucht<br />

als wir ihn. 28<br />

24 PrC, 2325.<br />

25 Zum Modernismusverständnis in den kirchlichen Verurteilungen vgl. Heinrich Denzinger /<br />

Peter Hünermann (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen,<br />

lat.-dt., Freiburg 371991, Nr. 3401–3466 (Dekret Lamentabili vom 3. Juli 1907) und Nr.<br />

3475–3500 (Enzyklika Pascendi vom 8. September 1907).<br />

26 PrC, 2325.<br />

27 Vgl. Blanch, Dios (Anm. 2), 24f.<br />

28 So die grundlegende Erfahrung von Johannes vom Kreuz (Die lebendige Liebesflamme, hg.,<br />

übers. und eingel. v. Ulrich Dobhan / Elisabeth Hense / Elisabeth Peeters, Freiburg 2000, 133f:<br />

3,28; für den Originaltext vgl. San Juan de la Cruz, Obras completas, ed. José Vicente Rodríguez /<br />

Federico Ruiz Salvador, Madrid 51993) und Teresa von Ávila (Sämtliche Schriften der hl.<br />

Theresia von Jesu, Fünfter Band: Die Seelenburg …, übersetzt und bearbeitet von Aloysius<br />

Alkofer, München/Kempten 1937, 21952: 3 M 2,13; für den Originaltext vgl. Santa Teresa de<br />

Jesús, Obras completas, ed. Efraín de la Madre de Dios / Otger Steggink, Madrid 91997). Vgl.<br />

dazu Mariano Delgado, „Richte Deine Augen allein auf ihn“. Mystik und Kirchenkritik bei Teresa<br />

von Ávila und Johannes vom Kreuz, in: ders. / Gotthard Fuchs (Hg.), Die Kirchenkritik der Mystiker.<br />

Prophetie aus Gotteserfahrung, Bd. 2: Frühe Neuzeit (Studien zur christlichen Religionsund<br />

Kulturgeschichte 3), Freiburg Schweiz / Stuttgart 2004, 183–206.


558<br />

Mariano Delgado<br />

2. Ein philanthropisches und prometheusches Christentum<br />

ohne Altes Testament und Aristoteles, ohne Kreuz und Gottessohnschaft<br />

(1) Fraternität und Alterität. Das Alte Testament und Aristoteles sind für<br />

Machado die zwei großen Feinde des Christentums, 29 weil sie die Fraternität<br />

und die Alterität verkennen.<br />

Das Alte Testament ist für ihn „ein noch nicht ganz menschliches Buch,<br />

geschweige denn ein göttliches“, denn „die Liebe überschreitet darin kaum die<br />

Grenzen der Tierwelt […], sie reitet auf dem genesianischen Eros und hat noch<br />

nicht die transversale Linie entdeckt, sie verläuft nicht vom Bruder zum<br />

Bruder, sondern vom Vater zum Sohn“. 30 Weil das Alte Testament unter dem<br />

Paradigma des in der Geschichte von Kain und Abel vorkommenden Brudermordes<br />

gelesen wird, sieht Machado darin nur ein Sammelsurium „semitischer<br />

Weisheit“, 31 die dem patriarchalischen Zuchtbullen und dem Stammesethos<br />

huldigt, aber weder die Alterität noch die universale Liebe kennt. Dass Machado<br />

in der Prosaerzählung und den Romanzen über „Das Land des Alvargonzález“<br />

32 gerade das Blut und den Schatten Kains in der spanischen Zentral-<br />

Meseta beschreibt („Viel Blut Kains haben die Ackerbauern“ 33), kann in diesem<br />

Sinne als ein Zeichen dafür verstanden werden, dass die spanische Volkskultur<br />

für ihn dem Brudermord-Paradigma des Alten Testamentes und somit<br />

der „semitischen Weisheit“ verhaftet geblieben ist. Machados „Markionismus“<br />

geht so weit, dass er selbst die Evangelien für eine Quelle des Irrtums im Hinblick<br />

auf das Herausfinden des wesenhaft Christlichen in seiner ganzen Reinheit<br />

und Originalität hält, „wenn sie nicht vorher von allem mosaischen Kot<br />

gereinigt werden, den sie enthalten.“ 34<br />

Ähnlich radikal ist seine – von der Lektüre der Werke Unamunos – beeinflusste<br />

Ablehnung der aristotelischen Philosophie, in die die katholische Philosophie<br />

(gemeint ist die Schulphilosophie im Schatten der Neuscholastik)<br />

„Christus begraben“ 35 möchte. Machado will Aristoteles in Pension schicken,<br />

weil man von der profunden Heterogenität des hellenischen Denkens, das in<br />

ihm gipfelt, „mit den Intuitionen oder, wenn man so will, Offenbarungen<br />

Christi“ 36 auszugehen habe.<br />

29 Vgl. PrC, 2324f.<br />

30 PrC, 1234.<br />

31 PrC, 2324.<br />

32 Vgl. Campos, 78–129 (CXIV), PoC, 517–541 (CXIV), 760–772 (XXV), vgl. dazu Cózar<br />

Castañar, Modernismo (Anm. 2), 180–185.<br />

33 PoC, 763.<br />

34 PrC, 2325.<br />

35 PrC, 2324.<br />

36 PrC, 2324.


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 559<br />

Diese bestehen vor allem in der „menschlichen Fraternität und Alterität“, die<br />

als „die große“ oder „die erschreckende Offenbarung Christi“ 37 gepriesen wird.<br />

Christus offenbart uns „die absolute Alterität“ oder „die essentielle Heterogenität<br />

des Seins“. 38 So ist Christus, „der wahre Umwerter aller Werte“, der uns<br />

mit der brüderlichen Liebe „aus unserer Einsamkeit befreit und zu Gott führt“,<br />

für Machado vor allem der Anti-Kain: „Wenn ich erkenne, dass es ein anderes<br />

Ich gibt, das nicht ich selbst und nicht mein Werk ist, werde ich mir dessen<br />

bewusst, dass es Gott gibt und dass ich an ihn wie an einen Vater glauben<br />

soll“, daher gilt: „Krieg Kain, hoch lebe Christus!“ 39 – so schreibt er 1918 an<br />

Unamuno. Seinem „apokryphen Philosophen“ Juan de Mairena lässt er Jahre<br />

später hinzufügen: Gott, „die transzendente Andersheit [...], nach der wir alle<br />

schauen“, offenbart oder entschleiert sich im Herzen des Menschen als eine<br />

„immanente Andersheit, etwas Erschreckendes, wie der allzu nahe Anblick von<br />

Gottes Antlitz. Denn es ist dort, im Herzen des Menschen, wo man eine<br />

andere, göttliche Andersheit spürt und erleidet, wo Gott sich offenbart, indem<br />

er sich zu erkennen gibt, ganz einfach dadurch, daß er uns anblickt, wie ein Du<br />

von allen, Gegenstand liebevoller Gemeinschaft, der auf keinen Fall ein alter<br />

ego sein kann – die Überflüssigkeit ist undenkbar als göttliches Attribut –, sondern<br />

ein DU, das ER ist.“ 40 Weil das so ist, so liegt die Bestimmung des Menschen<br />

in einer eigentlich „mystischen“ Aufgabe: in der Überwindung des primären<br />

Narzismus des solus ipse, in der Entdeckung des transzendentenimmanenten<br />

Du in uns selber und in der brüderlichen Öffnung zum Du der<br />

anderen Menschen. 41<br />

Machados Gott offenbarte ihm nicht nur Fraternität und Alterität, sondern<br />

auch, wie er im oben zitierten „Porträt“ festhielt, „das Geheimnis der Menschenliebe“,<br />

das gerade im Praktizieren der „spezifisch christlichen“ 42 brüderlichen<br />

Liebe im Bewusstsein der Alterität besteht:<br />

Enseña el Cristo: a tu prójimo Christus lehrt: deinen Nächsten<br />

amarás como a ti mismo, sollst du lieben wie dich selbst,<br />

mas nunca olvides que es otro. vergiß aber nie, daß er ein anderer ist. 43<br />

Dabei ist sich Machado dessen bewusst, dass diese christliche Philanthropie<br />

unter den Bedingungen der jetzigen Welt klug und nicht naiv praktiziert wer-<br />

37 PrC, 1234, 2072, vgl. auch 1600, wo die Bibel als der große „Kampf des Menschen zur<br />

Schaffung des Gefühls der Brüderlichkeit, das in Jesus gipfelt“, gesehen wird.<br />

38 PrC, 2072.<br />

39 PrC, 1601f.<br />

40 Mairena, 164 (PrC, 2043f).<br />

41 Vgl. dazu Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie,<br />

München 22004.<br />

42 PrC, 1643.<br />

43 PoC, 634 (CLXI–XLII).


560<br />

Mariano Delgado<br />

den soll: „Mittlerweile freilich ist es gut, dass es einerseits die Philanthropie<br />

gibt, andererseits die Landespolizei.“ 44<br />

Sein Verständnis des Christentums als die Offenbarung der „Fraternität und<br />

Alterität“ führt Machado zu einer Kritik Marx’ und Nietzsches. Die Kritik des<br />

Marxismus wandelt sich allerdings im Schatten des spanischen Bürgerkriegs<br />

und der ideologischen Entwicklung Machados 45 zu einer begeisterten Apologie.<br />

Im Marxismus sieht er noch 1934 die Rückkehr des kaum christianisierten<br />

Europas zum Alten Testament und seiner mosaisch-patriarchalischen, von<br />

menschlichem Zuchtbullen geprägten Vision der Geschichte ohne „Fraternität<br />

und Alterität“:<br />

Ein atheistischer Kommunismus [...] wird immer ein gesellschaftliches Phänomen sehr oberflächlicher<br />

Art sein. Der Atheismus ist eine wesentlich individualistische Einstellung: die des<br />

Menschen, der als Urbild von Evidenz dasjenige seines eigenen Daseins nimmt, womit er das<br />

Reich des Nichts eröffnet, jenseits der Grenzen seines Ichs. Entweder glaubt dieser Mensch<br />

nicht an Gott, oder er hält sich selbst für Gott – was auf dasselbe hinausläuft. Dieser Mensch<br />

glaubt auch nicht an seinen Nächsten, an die absolute Realität seines Nachbarn. Für beides<br />

fehlt ihm die Wahrnehmung oder Evidenz des Anderen, eine starke Intuition von Andersheit,<br />

ohne die man nicht vom Ich zum Du kommt. Es hat seinen tiefen Sinn, wenn die höheren Religionen<br />

uns sagen, daß es das Übermaß an Selbstliebe ist, was den Menschen von Gott trennt.<br />

Daß es ihn von seinem Nächsten trennt, ist in derselben Aussage mit einbegriffen. 46<br />

Weil aber der Marxismus – wohl unerwartet – im „gesegneten“ und „heiligen“<br />

russischen Volk Fuß gefasst hat, „dessen geistige Wesensart im Evangelium<br />

wurzelt“, d.h. in der richtigen „Auslegung der Brüderlichkeit“, wie uns<br />

die russische Literatur zeige, und Russland auf seine historische Bestimmung,<br />

die wesentlich in der Christianisierung der Welt liege, nicht verzichten könne,<br />

hofft Machado schließlich auf eine Christianisierung des Marxismus durch das<br />

russische Volk. 47 Die „herzliche Neuprägung des Marxismus durch die russische<br />

Seele“, 48 die Machado sich 1934 erhoffte, scheint für ihn 1937 im Schatten<br />

des Bürgerkriegs bereits gegeben zu sein. Daher lobt er den Stalinismus,<br />

der dank der „christlichen“ russischen Seele über das sowjetische solus ipse<br />

gesiegt hätte und international solidarisch geworden sei (das republikanische<br />

44 Mairena, 198 (PrC, 2072).<br />

45 Man kann mit Aranguren, Actualidad (Anm. 2), 10, sagen: „Die Evolution des Antonio Machado<br />

verlief von der Poesie zur Philosophie, von dieser zur Ideologie und, vom Wirbelsturm des<br />

Krieges mitgezogen, zur Revolution.“<br />

46 Ebd., 162f (PrC, 2042f).<br />

47 Vgl. PrC, 1806f, vgl. auch 1236f. Von den Russen, die Machado wie Unamuno „unsere<br />

ganz ähnlichen Brüder“ nannte, erhoffte er eine spirituelle Erneuerung Europas durch Rückbesinnung<br />

auf die universale Brüderlichkeit des Christentums. Darin sah er ein Christentum, das<br />

das Gegenteil von klerikalem Vatikanismus und Jesuitismus war: „Moskau war eine Seele, Rom<br />

wie immer ein Machtzentrum, das vom Christus nur das Nötige übernommen hatte, um sich von<br />

ihm zu verteidigen.“ PrC, 1806, vgl. auch 2381.<br />

48 Ebd., 1807.


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 561<br />

Lager im Bürgerkrieg wurde von Stalin unterstützt), mit folgenden Versen an<br />

die Intellektuellen Russlands:<br />

¡Oh Rusia, noble Rusia, santa Rusia, O Russland, edles Russland, heiliges Russland,<br />

cien veces noble y santa hundertfach edel und heilig<br />

desde que roto el báculo y el cetro, seit Du – Bischofstab und Zepter gebrochen –<br />

empuñas el martillo y la guadaña! zu Sichel und Hammer greifst!<br />

[...]<br />

¿oyes la voz de España? Hörst Du die Stimme Spaniens?<br />

Mientras la guerra truena Während der Krieg donnert<br />

De mar a mar, ella te grita: ¡Hermana! Schreit es vom Meer zu Meer zu Dir: Schwester! 49<br />

Konsequenter ist seine Kritik an Nietzsche. Auch wenn die christlichen Tugenden<br />

nach diesem im Wesentlichen problematisch geworden sind, glaubt<br />

Machado, dass die Zukunft sie notwendigerweise rehabilitieren wird: „Christus<br />

ist ein wenig in Vergessenheit geraten, aber Christus vergeht nie. Außerdem ist<br />

er eine klare Quelle der Poesie“ 50 – schreibt er um 1930 an seine Geliebte<br />

Guiomar. Nicht Christus war derjenige, „der uns vergiftet hat“, wie Nietzsche<br />

meint, sondern wir sind diejenigen gewesen, „die Christus in unseren Seelen<br />

vergiftet haben“ 51.<br />

(2) Ein philanthropisches und prometheusches Christentum. Machado liebte<br />

Jesus und hatte dabei – wie Paul Celan – durchaus ein Gespür für das Wesentliche<br />

an seiner Botschaft vom Reiche Gottes: die apokalyptische Naherwartung.<br />

In einem kleinen Gedicht hat er dies so ausgedrückt:<br />

Yo amo a Jesús, que nos dijo: Ich mag Jesus, der uns sagte:<br />

cielo y tierra pasarán. Himmel und Erde vergehen.<br />

Cuando cielo y tierra pasen Und wenn auch Himmel und Erde<br />

mi palabra quedará. vergehn, mein Wort bleibt bestehen.<br />

¿Cuál fue, Jesús, tu palabra? Was war denn Jesus, dein Wort?<br />

¿Amor? ¿Perdón? ¿Caridad? Liebe, Vergebung, Barmherzigkeit?<br />

Todas tus palabras fueron Alle deine Worte waren<br />

una palabra: Velad. ein Wort: Wachet! Es ist Zeit. 52<br />

Mit dem spanischen Volkskatholizismus, der in den Prozessionen der Karwoche<br />

den leidenden Gekreuzigten ins Zentrum stellt, kann Machado allerdings<br />

nichts anfangen. Mit Unamuno rechnet er sich zu jenen „dem Kult an<br />

den gekreuzigten Christus widerstrebenden Ketzern“, die das Christentum aus<br />

den Klauen Aristoteles’ befreien und Christus vom Kreuz herunter holen<br />

möchten, „an das ihn Rom noch festgenagelt hält, und wo er uns sicherlich<br />

seine Agonie nicht zeigen wollte“. 53 Dem Jesus am Kreuz der Volksfrömmig-<br />

49 PoC, 834 (LXXI). Ü. MD.<br />

50 PrC, 1712, vgl. auch 2350.<br />

51 Mairena, 211 (PrC, 2083).<br />

52 Campos, 222f (CXXXVI–XXXIV).<br />

53 PrC, 2392.


562<br />

Mariano Delgado<br />

keit stellt Machado den Jesus, der hinging übers Meer, gegenüber, d.h. den<br />

moralischen Lehrer der Bergpredigt:<br />

¡Oh, la saeta, el cantar Oh, die Saeta, das Lied<br />

al Cristo de los gitanos, der Zigeuner für den Christus,<br />

siempre con sangre en las manos, immer mit Blut an den Händen,<br />

siempre por desenclavar! immer bedacht auf die Nägel!<br />

¡Cantar del pueblo andaluz Lied des Volks von Andalusien,<br />

que todas las primaveras das jeden Frühling aufs neue<br />

anda pidiendo escaleras alle Welt um Leitern bittet,<br />

para subir a la cruz! den Kreuzesstamm zu erklimmen!<br />

¡Cantar de la tierra mía, Lied meines Landes, das Blumen<br />

que echa flores streut dem Jesus,<br />

al Jesús de la agonía, der da stirbt in Marterqualen,<br />

y es la fe de mis mayores! Lied des Glaubens meiner Ahnen!<br />

¡Oh, no eres tú mi cantar! Oh, nein, du bist nicht mein Lied,<br />

¡No puedo cantar, ni quiero ich kann nicht, will nicht besingen<br />

a ese Jesús del madero diesen Jesus am Kreuz, sondern<br />

sino al que anduvo en el mar! den, der hinging übers Meer! 54<br />

Diesem philanthropischen Jesus sollen wir weder das Kreuz noch die Gottessohnschaft<br />

erinnern, 55 es sei denn, dass beides auf eine heterodoxe Art und<br />

Weise verstanden wird: Jesus ist dann „der Mensch, der sich selbst zu Gott<br />

machte, Gott wurde, um am Kreuz für die schwersten Sünden der Gottheit<br />

selbst zu sühnen.“ 56 In diesem „prometheuschen und blasphemischen“ Sinne<br />

kündet sich für Machado „das Christentum der Zukunft“ an. 57 Ein so verstandener<br />

Jesus ist dann ein „profunder Mann“ wie Buddha und Sokrates, 58 er<br />

ist lernfähig und zur Reue bereit, weil Weise wechselnden Rat geben: „Christus<br />

– sagte mein Meister – predigte die Demut den Mächtigen. Wenn er wiederkehrt,<br />

wird er den Demütigen den Stolz predigen.“ 59 So hat sich Machado<br />

einen Jesus nach Maß seines vom Zeitgeist geprägten Verstandes zurecht<br />

gedacht, der ein Lehrer des Wahren und ein Befreier der Gottheit selbst ist,<br />

aber kein Sohn Gottes, kein „Erlöser“ des Menschen im Sinne des christlichen<br />

Glaubens, der „für uns und unsere Sünden“ gelitten und gestorben ist.<br />

3. Ein „apokrypher“ Mystiker ohne den „dunklen Glauben“ als Führer<br />

Machado verfügte über einiges, was zu einem mystischen In-der-Welt-Sein<br />

gehört: Er war sich, wie wir sahen, der Grundaufgabe bewusst, dass wir den<br />

54 Campos, 176f (CXXX).<br />

55 Vgl. PrC, 2351.<br />

56 PrC, 2324.<br />

57 Ebd., 2388.<br />

58 Vgl. PrC, 2387.<br />

59 Mairena, 199 (PrC, 2073).


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 563<br />

primären Narzismus des solus ipse überwinden und Fraternität unter Anerkennung<br />

der Alterität praktizieren sollten; und er betete auf eigene Art immer<br />

wieder zu seinem Gott, den er als guten Freund bei sich selbst spürte. Vor<br />

allem seine Gedichte in den Büchern Soledades (1899–1907) und Campos de<br />

Castilla (1907–1917) lassen ahnen, dass er so etwas wie eine „mystische<br />

Erfahrung“ gehabt haben muss, worauf er sich zeitlebens – in einer Mischung<br />

aus Hoffnung/Vertrauen und Skepsis/Zweifel – erinnern wird. 60 Wenn er<br />

dennoch ein „apokrypher“, kein christlicher Mystiker war, so hängt dies vor<br />

allem damit zusammen, dass er sich weder zu dem von der Kirche verkündeten<br />

Christus bekennen noch dem dunklen Glauben als einzigem Führer auf dem<br />

Weg zu Gott anvertrauen konnte.<br />

(1) Der wahrhaftige Psalm. Machado liebte die Einsamkeit und führte, wie<br />

wir sahen, immer wieder „Soliloquien“, Gespräche oder auch Gebete mit seinem<br />

Gott, mit dem er von Angesicht zu Angesicht reden wollte:<br />

Y tú, Señor, por quien todos Und Du, Gott, durch den wir alle<br />

vemos y que ves las almas, sehen, und der Du die Seelen siehst,<br />

dinos si todos, un día sag uns, ob wir eines Tages<br />

hemos de verte la cara. dein Antlitz schauen werden. 61<br />

Auf dem Höhepunkt seines dichterischen Schaffens ist er davon überzeugt,<br />

dass der wahre Dichter seine Inspiration Gott verdankt. Sein „Allein Gott<br />

spricht“ ist sicherlich in bewusster Anlehnung an das „Allein Gott genügt“ der<br />

spanischen Mystik zu verstehen:<br />

No desdeñéis la palabra; Verachtet das Wort nicht;<br />

el mundo es ruidoso y mudo, die Welt ist lärmig und taub,<br />

poetas, sólo Dios habla. Dichter, allein Gott spricht. 62<br />

In dieser Zeit schreibt er Gedichte, die er „wahrhaftige Psalme“ nennt und<br />

wie spontane Gebete an Gott, seinen guten Freund, aus ihm sprudeln – so wie<br />

wenn er jenen Zustand der Gotteinung erreicht hätte, von dem Teresa sagt, 63<br />

dass wir dann mühelos beten, weil Gott den Garten unserer Seele ohne jede<br />

Anstrengung unsererseits mit Regenwasser bewässert:<br />

En la desnuda tierra del camino Aus dem entblößten Erdboden des Weges<br />

la hora florida brota, sprießt die blühende Stunde,<br />

espino solitario, weißer Schledornstrauch, einsam<br />

del valle humilde en la revuelta umbrosa. in der Schattenwindung des schlichten Tales.<br />

El salmo verdadero Der wahrhaftige Psalm,<br />

de tenue voz hoy torna mit leiser Stimme kehrt er<br />

al corazón, y al labio, heute zurück zum Herzen, und zur Lippe<br />

60 Vgl. dazu González de Cardedal, Memoria (Anm. 2); ders., Cuatro poetas (Anm. 2).<br />

61 PoC, 619 (CLVIII–X).<br />

62 PoC, 635 (CLXI–XLIV). Ü. MD.<br />

63 Vgl. Teresa von Ávila, Das Buch meines Lebens, hg., übersetzt und eingeleitet von Ulrich<br />

Dobhan / Elisabeth Peeters, Freiburg 32004, 186, 262–318 (V,11, V, 18–21).


564<br />

Mariano Delgado<br />

la palabra quebrada y temblorosa. das gebrochene, scheu zitternde Wort. 64<br />

[…]<br />

Dije a la noche: Amada mentirosa, Ich sprach zur Nacht: Lügnerische Geliebte,<br />

tú sabes mi secreto; du kennst wohl mein Geheimnis;<br />

tú has visto la honda gruta du hast sie gesehen, die tiefe Höhle,<br />

donde fabrica su cristal mi sueño, in der mein Traum seinen Kristall erschafft,<br />

y sabes que mis lágrimas son mías, und weißt, daß meine Tränen meine sind,<br />

y sabes mi dolor, mi dolor viejo. und kennst meinen Schmerz, meinen alten<br />

Schmerz.<br />

¡Oh! Yo no sé, dijo la noche, amado, Oh, ich kenn ihn nicht – sprach die Nacht –,<br />

Geliebter,<br />

yo no sé tu secreto, ich weiß nicht dein Geheimnis,<br />

aunque he visto vagar ese, que dices obwohl ich das Gespenst, von dem du sprichst,<br />

desolado fantasma, por tu sueño. Trostlos durch deine Träume geistern sah.<br />

Yo me asomo a las almas cuando lloran Ich zeige mich den Seelen, wenn sie weinen,<br />

y escucho su hondo rezo, und lausche ihrem tiefen,<br />

humilde y solitario, schlichten, einsamen Gebet, diesem wahren<br />

ese que llamas salmo verdadero; Psalm – wie du es nennst –: aber in den tiefen<br />

pero en la hondas bóvedas del alma Seelengewölben weiß ich nicht, ob dieses<br />

no sé si el llanto es una voz o un eco. Schluchzen nun Stimme oder Echo ist. 65<br />

Diese Soliloquien mit Gott bringen manchmal Paradoxes zur Sprache:<br />

Anoche soñé que oía Letzte Nacht im Traum, da rief<br />

A Dios, gritándome: ¡Alerta! mich Gott; ich hörte: Paß auf!<br />

Luego era Dios quien dormía, Danach war es Gott, der schlief,<br />

y yo gritaba: ¡despierta! und ich war’s, der schrie: Wach auf! 66<br />

Einige dieser „wahrhaftigen Psalmen“, wie etwa das Gebet nach dem Tod<br />

seiner Frau am 1. August 1912, können zweifelsohne zu den schönsten Gebeten<br />

eines leidenden, im Nebel nach Gott suchenden Menschen gezählt werden:<br />

Señor, ya me arrancaste lo que yo más quería.<br />

Oye otra vez, Dios mío, mi corazón clamar.<br />

Tu voluntad se hizo, Señor, contra la mía.<br />

Señor, ya estamos solos mi corazón y el mar.<br />

Herr, du hast mir entrissen, was mir das Liebste war.<br />

Hör noch einmal, mein Gott du, schreien mein Herz vor Weh.<br />

Dein Wille ist geschehen, gegen meinen, fürwahr.<br />

Herr, nun sind wir alleine, mein Herz da und das Meer. 67<br />

Ähnliches gilt für die Lieder, die er 1913 an Unamuno schickte und die an<br />

die Klagepsalmen erinnern:<br />

Señor, me cansa la vida, Das Leben, Herr, macht mich müde,<br />

tengo la garganta ronca, meine Kehle ist vertrocknet<br />

de gritar sobre los mares, vom Schreien übers Meer,<br />

la voz de la mar me asorda. des Meeres Stimme macht mich taub.<br />

64 Soledades, 66 (XXIII).<br />

65 Ebd., 94f (XXXVII).<br />

66 Campos, 228f (CXXXVI: XLVI).<br />

67 Ebd., 140 (CXIX).


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 565<br />

Señor, me cansa la vida Das Leben, Herr, macht mich müde,<br />

y el universo me ahoga. und das Universum erstickt mich.<br />

Señor, me dejaste solo, Du hast mich, Herr, allein gelassen,<br />

solo, con el mar a solas. allein, mit dem Meer allein.<br />

O tú y yo jugando estamos Ob du und ich, Herr, dabei sind,<br />

al escondite, Señor, miteinander Verstecken zu spielen,<br />

o la voz con que te llamo oder die Stimme, mit der ich nach dir rufe,<br />

es tu voz. ist deine Stimme.<br />

Por todas partes te busco Überall suche ich nach dir,<br />

sin encontrate jamás ohne dich jemals zu finden,<br />

y en todas partes te encuentro und überall finde ich dich,<br />

sólo por irte a buscar. nur weil ich nach dir suchte. 68<br />

(2) Immer auf der Suche nach Gott im Nebel. Aber trotz dieser guten mystischen<br />

Voraussetzungen konnte sich Machado der Führung durch den dunklen<br />

Glauben nicht anvertrauen, von dem der ihm wohl bekannte Johannes vom<br />

Kreuz sagt, dass er für die Vereinigung mit Gott sicherer ist „als das Licht des<br />

Mittags“. 69 Sicher ist er, weil er aufgrund der Ähnlichkeit weiß, wie Gott ist<br />

und uns so am besten zu ihm führen kann:<br />

Denn die Ähnlichkeit, die es zwischen ihm und Gott gibt, ist so groß, daß es da keinen anderen<br />

Unterschied gibt als den zwischen dem Schauen Gottes oder dem Glauben an Gott. Denn so<br />

wie Gott unendlich ist, so stellt er ihn uns vor; und so wie er dreifaltig und einzig ist, stellt er<br />

ihn uns dreifaltig und einzig vor; und so wie Gott für unser Erkenntnisvermögen Finsternis ist,<br />

so macht er unser Erkenntnisvermögen auch blind und lichtlos. Und so offenbart sich Gott dem<br />

Menschen nur durch dieses Mittel in göttlichem Licht, das alle Erkenntnis übersteigt. Und deshalb<br />

ist der Mensch um so mehr eins mit Gott, je mehr Glauben er hat. 70<br />

So ist der Glaube für Johannes vom Kreuz eine „kristallklare Quelle“ 71 für<br />

die Gotteserkenntnis und die übernatürliche Gotteinung. Der Glaube ist aber<br />

auch „dunkel“, nicht nur weil es „in der streitenden Kirche“ – also unter den<br />

Bedingungen der Endlichkeit – „noch Nacht ist“, sondern weil er von Dingen<br />

berichtet, „die wir weder in sich noch in ihnen ähnlichen Formen gesehen oder<br />

vernommen haben“, 72 die also weder durch die äußeren noch durch die inneren<br />

Sinne vorher erfahren werden konnten.<br />

Der Glaube ist für Johannes vom Kreuz schließlich „wunderbar“, 73 weil er –<br />

wie die dunkle und düstere Wolke bei der Wüstenwanderung der Kinder<br />

Israels – „dem Menschen, der im Dunkeln weilt, Licht gibt“. 74<br />

68 PoC, 759f (S. XXIV).<br />

69 So in der vierten Strophe des Gedichtes „Die Dunkle Nacht“: Johannes vom Kreuz, Die<br />

Dunkle Nacht, hg. u. übers. v. Ulrich Dobhan / Elisabeth Hense / Elisabeth Peeters, Freiburg<br />

1995, 27.<br />

70 Johannes vom Kreuz, Aufstieg auf den Berg Karmel, hg. u. übers. v. Ulrich Dobhan /<br />

Elisabeth Hense / Elisabeth Peeters, Freiburg 1999, 165f (2 S 9,1).<br />

71 Vgl. Johannes vom Kreuz, Der Geistliche Gesang, hg. u. übers. v. Ulrich Dobhan /<br />

Elisabeth Hense / Elisabeth Peeters, Freiburg 1997, 82f: CA 11, vgl. auch CB 12.<br />

72 Johannes vom Kreuz, Aufstieg (Anm. 70), 129: 2 S 3,3.<br />

73 Ebd., 130f: 2 S 3,5; 135ff: 2 S 4,6.


566<br />

Mariano Delgado<br />

Seine Unfähigkeit zu glauben empfand Machado durchaus als etwas Bitteres:<br />

… y amargura … zur Bitterkeit tauber Trauben:<br />

de querer y no poder glauben zu wollen, doch außerstand,<br />

crer, creer y creer wirklich zu glauben, zu glauben! 75<br />

In einem anderen Gedicht machte er sich lustig über die „Wiederkehr der<br />

Religion“ unter den Gebildeten seiner Zeit:<br />

Algunos desesperados Manche desperados<br />

sólo se curan con soga; heilen nur mit dem Strick;<br />

otros con siete palabras: andere mit nur sieben Worten:<br />

la fe se ha puesto de moda. der Glaube ist nun wieder in Mode. 76<br />

Ohne das Licht des dunklen Glaubens gleicht seine Gottessehnsucht der<br />

orientierungslosen, verzweifelten Suche nach Gott im dichten Nebel. Manches<br />

Gedicht lässt erkennen, dass er sich dessen sehr bewusst war:<br />

Como perro olvidado que no tiene Wie ein vergessener Hund, welcher weder<br />

huella ni olfato y yerra eine Spur noch Geruchssinn hat und hilflos<br />

por los caminos, sin camino, como alle Wege entlangläuft, ohne Weg,<br />

el niño que en la noche de una fiesta wie das Kind, das sich in der Volksfestnacht<br />

se pierde entre el gentío verirrt hat in der Menge,<br />

y el aire polvoriento y las candelas zwischen Staubwirbeln und dem<br />

funkensprühenden<br />

chispeantes, atónito, y asombra Lichtergefunkel, fassungslos, das staunende<br />

su corazón de música y de pena, Herz bestürzt, verwirrt von Musik und Kummer,<br />

así voy yo, borracho melancólico, so irre ich, melancholischer Trunkenbold,<br />

guitarrista lunático, poeta, mondsüchtiger Gitarrenschläger, Dichter<br />

y pobre hombre en sueños, und armer Mensch, in Träumen treibend, fort,<br />

siempre buscando a Dios entre la niebla. immer auf der Suche nach Gott im Nebel. 77<br />

Das weite Meer, bei Augustinus ein Symbol für die unermessliche Größe<br />

und Tiefe Gottes, und in der Mystik des Johannes vom Kreuz ein Zeichen für<br />

die vielen verschiedenen, persönlichen Wege zu Gott sowie für die geheime<br />

Arbeit Gottes am Menschen im Seelengrund, die mit unerkennbaren Schritten<br />

im Meer verglichen wird, 78 ist auch eines der zentralen und „ambivalenten“<br />

74 Ebd., 131: 2 S 3,6. Vgl. dazu Mariano Delgado, Wie Leuchter und Leuchte –<br />

Verstand/Vernunft und Glaube nach Johannes vom Kreuz, in: ders./ Guido Vergauwen (Hg.),<br />

Glaube und Vernunft – Theologie und Philosophie. Aspekte ihrer Wechselwirkung in Geschichte<br />

und Gegenwart (Ökumenische Beihefte 44), Freiburg Schweiz 2003, 85–103.<br />

75 Campos, 166f (CXXVIII).<br />

76 PoC, 637 (CLXI: LVII).<br />

77 Soledades, 200f (LXXVII–II).<br />

78 „Gott führt eine jede Seele auf verschiedene Wege; und man wird kaum eine Seele finden,<br />

die halbwegs auf den selben Weg wie eine andere von Gott geführt wird.“ Johannes vom Kreuz,<br />

Liebesflamme (Anm. 28), 158f: 3,59. „[…] daß der Weg und Pfad Gottes, auf denen der Mensch<br />

zu ihm gelangt, durchs Meer führen und die Spur seiner Füße durch gewaltige Wasser und darum<br />

nicht erkannt werden (Ps 77,19f.), dann bedeutet das, daß dieser Weg, zu Gott zu gehen, so<br />

geheim und verdeckt ist für den Sinn der menschlichen Seele, wie es eine Straße durchs Meer für


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 567<br />

Symbole in der apokryphen Mystik Machados: Es birgt „den letzten metaphysischen<br />

Kern seines Denkens“, 79 es steht für die Suche nach Gott wie für die<br />

Plagen der menschlichen Existenz, die Skepsis und den Tod. Es ist der Ort, der<br />

ihn am ehesten auf Gott verweist sowie auf die Hauptaufgabe, die er im Verhältnis<br />

zu Gott spürte und die er in impliziter Anlehnung an den mystischen<br />

Gedanken der Gottesgeburt in der Seele „die Erschaffung Gottes in uns“ nennt.<br />

Folgendes Gedicht kann so verstanden werden, dass jeder einen persönlichen,<br />

unverwechselbaren Weg zu Gott hat. Die Überleitung zu der sanjuanistischen<br />

Mystik wäre hier nicht schwer, wenn diese Verschiedenheit der vielen persönlichen<br />

Wege zu Gott mit dem einen endgültigen Weg in Einklang gebracht<br />

worden wäre, den der Vater uns im fleischgewordenen Sohn offenbarte, von<br />

seiner Kirche gelehrt wird und dem sich die vielen Heiligen, die Jesus nachgefolgt<br />

sind, anvertrauten. Doch diese Überleitung findet in der apokryphen<br />

Mystik Machados nicht statt, so dass dieses Gedicht auch im „asiatischen“<br />

Sinne verstanden werden könnte: Der Weg ist das Ziel.<br />

Caminante, son tus huellas Wanderer, deine Fußstapfen<br />

el camino, y nada más; sind der Weg, nichts sonst ist er;<br />

caminante, no hay camino, Wanderer, da ist kein Weg,<br />

se hace camino al andar. ein Weg entsteht, wenn man geht.<br />

Al andar se hace camino, Wenn man geht, entsteht ein Weg,<br />

y al volver la vista atrás und wer sich umdreht und späht,<br />

se ve la senda que nunca sieht hinter sich einen Pfad,<br />

se ha de volver a pisar. den wandelt er niemals mehr.<br />

Caminante, no hay camino, Wanderer, kein Weg, nur Spur,<br />

sino estelas en el mar. nur Kielwasser auf dem Meer. 80<br />

Ähnlich ließe sich das schöne Gedicht-Gebet mit dem bezeichnenden Titel<br />

„Glaubensbekenntnis“ als eine Einladung zur Entdeckung des mystischen<br />

„Gott finden in allen Dingen“ sowie zur Mitarbeit an der Gottesgeburt in der<br />

Seele und zum Vollzug der barmherzigen Liebe verstehen, wenn die Überleitung<br />

zu der christlichen Mystik deutlicher wäre. So aber kann es interpretiert<br />

werden, als genügte die contemplatio naturae für den Aufstieg zu Gott – was<br />

gerade Johannes vom Kreuz mit seinem Geistlichen Gesang bestreitet, weil der<br />

Gott der Natur nicht der in der kristallklaren Quelle des Glaubens erkannte ist:<br />

Dios no es el mar, está en el mar; riela<br />

como la luna en el agua, o aparece<br />

como una blanca vela;<br />

en el mar se despierta o se adormece.<br />

Creó la mar, y nace<br />

die Sinne des Leibes ist, deren Pfade und Spuren man nicht verfolgen kann. Diese Eigenschaften,<br />

daß man sie nicht kennen kann, haben die Schritte und Spuren an sich, die Gott nach und nach in<br />

den Menschen zieht, die er zu sich gelangen lassen will, indem er sie groß macht in der Einung<br />

mit seiner Weisheit.“ Johannes vom Kreuz, Nacht (Anm. 69), 170: 2 N 17,8.<br />

79 Cerezo Galán, Palabras (Anm. 2), 99.<br />

80 Campos, 218f (CXXXVI–XXIX).


568<br />

Mariano Delgado<br />

de la mar cual la nube y la tormenta;<br />

es el Criador y la criatura lo hace;<br />

su aliento es alma, y por el alma alienta.<br />

Yo he de de hacerte, mit Dios, cual tú me hiciste,<br />

y para darte el alma que me diste<br />

en mí te he de crear. Que el puro río<br />

de caridad que fluye eternamente,<br />

fluya en mi corazón. ¡Seca, Dios mío,<br />

de una fe sin amor la turbia fuente!<br />

Gott ist nicht das Meer, doch er ist im Meer,<br />

glitzert als Mond im Wasser auf oder weht allein<br />

als weißes Segel her;<br />

im Meer erwacht er, im Meer schläft er ein.<br />

Er schuf es und entsteigt<br />

aus ihm, so wie die Wolke und der Sturmwind gewitterschwer;<br />

Er ist der Schöpfer und wird von der Schöpfung gezeugt;<br />

sein Hauch ist Seele, und mit der Seele atmet er.<br />

Ich muß dich machen, mein Gott, so wie du mich gemacht;<br />

Dir die Seele zu geben, mit der du mich bedacht,<br />

muß ich in mir dich schaffen. Damit der reine Fluß<br />

der Barmherzigkeit, welcher ewig fließt,<br />

mein Herz durchströmt. Und mit dem trüben Brunnen mach Schluß,<br />

mein Gott, aus dem ein liebloser Glaube zäh sich ergießt. 81<br />

(3) Spiel mit den Bildern der Mystik? Weil Machado der „dunkle Glaube“<br />

fehlt, bleibt seine Mystik letztlich ein traumtänzerisches Spiel mit den Bildern<br />

der spanischen Mystik, ein Ringen mit Gott ohne Jakobsleiter. Deutlich kommt<br />

dies in seinem vielleicht mystischsten Gedicht zum Vorschein:<br />

Anoche cuando dormía Als ich schlief die letzte Nacht,<br />

soñé, ¡bendita ilusión!, da träumte ich – Wunschbild wundervoll! –,<br />

que una fontana fluía daß in meines Herzens Schacht<br />

dentro de mi corazón. aufsprudelnd ein Brunnen quoll.<br />

Di, ¿por qué acequia escondida, Sag, durch welch geheime Rinnen<br />

agua, vienes hasta mí, drangst du bis zu mir empor,<br />

manantial de nueva vida Quell neuen Lebens da drinnen,<br />

en donde nunca bebí? von dem ich nie trank zuvor?<br />

Anoche cuando dormía Als ich schlief die letzte Nacht,<br />

soñé, ¡bendita ilusión!, da träumte ich – Wunschbild wundervoll! –,<br />

que una colmena tenía in mein Herz sei eingebracht<br />

dentro de mi corazón; ein Bienenstock: summend schwoll<br />

y las doradas abejas der Bienen goldener Schwarm,<br />

iban frabicando en él, und der verwandelte insgeheim<br />

con las amarguras viejas, all meinen bitteren Harm<br />

blanca cera y dulce miel. in weißes Wachs und in Honigseim.<br />

Anoche cuando dormía Als ich schlief die letzte Nacht,<br />

soñé, ¡bendita ilusión!, da träumte ich – Wunschbild wundervoll! –,<br />

que un ardiente sol lucía brennend durchstrahle die Pracht<br />

dentro de mi corazón. einer Sonne meinen Herzensgroll.<br />

Era ardiente porque daba Sie brannte, denn wie vom Herde<br />

81 Campos, 238f (CXXXVII–V).


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 569<br />

calores de rojo hogar, hochrot ihr Wärme entfloß,<br />

y era sol porque alumbraba war Sonne, die alles klärte,<br />

y porque hacía llorar. so daß ich Tränen vergoß.<br />

Anoche cuando dormía Als ich schlief die letzte Nacht,<br />

soñé, ¡bendita ilusión!, da träumte ich – Wunschbild wundervoll! –,<br />

que era Dios lo que tenía es sei Gott in mir erwacht,<br />

dentro de mi corazón. von ihm sei das Herz mir voll. 82<br />

Hier kommen zentrale Bilder der teresianischen und sanjuanistischen Mystik,<br />

die Machado mehr als vertraut war, für das Wirken Gottes im Seelengrund<br />

vor: Quelle, Bienenstock und strahlende Sonne. Johannes vom Kreuz weiß um<br />

„die Quelle, die springt und fortfließt, auch wenn es Nacht ist“. 83 Teresa sagt<br />

in ihrem Hauptwerk Die Seelenburg, dass Gott selbst als sprudelnde kristallklare<br />

Lebensquelle und leuchtende Sonne im Seelengrund wohnt und wirkt, 84<br />

und dass die Seele, die sich demütig auf den darin wirkenden Gott einlässt,<br />

durch die vielen Wohnungen der von Gott bewässerten und erleuchteten Seelenburg<br />

demütig wandelt und dabei „von der Betrachtung ihrer Selbst zur<br />

Betrachtung der Größe und Majestät Gottes“ sich erhebt, um so Selbsterkenntnis<br />

in Gotteserkenntnis zu verwandeln, der Biene gleicht, „die beständig<br />

im Bienenstock den Honig bereitet“. 85<br />

Bei Machado aber bleiben diese mystischen Ansätze, wie der Glaube selbst,<br />

ein süßer Nachttraum, der an der harten Wirklichkeit des Tages – und nicht<br />

zuletzt auch an der Konfrontation mit der Kirche seiner Zeit – zerplatzt:<br />

Ayer soñé que veía Gestern träumte mir, ich sähe<br />

a Dios y que Dios me hablaba; Gott und ich spräche ihn an;<br />

y soñé que Dios me oía... träumte, Gott höre mein Wehe...<br />

Depués soñé que soñaba. Ein Traum im Traum schien mir’s dann. 86<br />

[...]<br />

Todo hombre tiene dos Jeder muß zweierlei Schlacht<br />

batallas que pelear: wieder und wieder schlagen:<br />

En sueños lucha con Dios; Im Traumkampf mit Gott bei Nacht;<br />

y despierto, con el mar. und wach mit den Meeresplagen. 87<br />

(4) Zwischen Hoffnung und Skepsis. „Etwas Unsterbliches ist in uns, das die<br />

Toten in den Tod begleiten möchte. Vielleicht deswegen kam Gott in die Welt.<br />

Wenn ich daran denke, finde ich ein wenig Trost. Ich habe manchmal Hoffnung.<br />

Ein negativer Glaube ist auch etwas Absurdes. Aber der Schlag war<br />

82 Soledades, 158f (LIX). Zu diesem bisher wenig beachteten „mystischen“ Gedicht vgl.<br />

Molina, Anoche (Anm. 2).<br />

83 Vgl. Mariano Delgado, „Auch wenn es Nacht ist…“, in: <strong>Schweizerische</strong> Kirchenzeitung<br />

173 (21/2005) 413–414.<br />

84 Theresia von Jesu, Seelenburg (Anm. 28), 24–26: 1 M 2,1–4.<br />

85 Ebd., 29: 1 M 2,9.<br />

86 Campos, 214f (CXXXVI: XXI).<br />

87 Ebd., 218f (CXXXVI: XXVIII).


570<br />

Mariano Delgado<br />

fürchterlich, und ich denke, mich noch nicht davon erholt zu haben.“ 88 So<br />

schreibt Machado im Mai 1913 von Baeza an Unamuno. Wenige Wochen nach<br />

dem Tod seiner Frau Leonor am 1. August 1912 hatte er noch an Juan Ramón<br />

Jiménez geschrieben: „Als ich meine Frau verlor, wollte ich mich zunächst<br />

erschiessen.“ 89 Der Tod seiner Frau rief in ihm, wie wir sahen, tiefergreifende,<br />

persönliche Gebete nach Art eines „wahrhaftigen Psalmes“ hervor. Es sind<br />

Gebete aus der Zeit, in der bei ihm die Hoffnung über die Hoffnungslosigkeit<br />

siegen wollte:<br />

Dice la esperanza: un día Die Hoffnung sagt: Eines Tages<br />

la verás, si bien esperas. siehst du sie, wenn du recht ausharrst.<br />

Dice la desesperanza: Die Verzweiflung sagt: Sie ist nun<br />

sólo tu amargura es ella. nichts mehr, nichts mehr als deine Bitternis.<br />

Late, corazón... No todo Poche, Herz, poche... Nicht alles<br />

se lo ha tragado la tierra. hat der Erdboden verschlungen. 90<br />

Die Hoffnung, dass mit dem Tod nicht alles vorbei sein mag, weicht mehr<br />

und mehr einem skeptischen Agnostizismus und der Hoffnungslosigkeit, dass<br />

die Wege übers Meer eigentlich nirgendwo hin führen:<br />

Fe empirista. Ni somos ni seremos.<br />

Todo nuestro vivir es emprestado.<br />

Nada trajimos; nada llevaremos.<br />

Empiristischer Glaube. Wir sind nicht, werden nicht sein.<br />

Alles, was wir so leben, es ist nur ausgeliehen.<br />

Nichts brachten wir hierher; nichts nehmen wir mit hinterdrein. 91<br />

[...]<br />

Todo pasa y todo queda, Alles geht und alles bleibt,<br />

pero lo nuestro es pasar, doch unser Teil ist vielmehr,<br />

pasar haciendo caminos, zu gehen, im Gehen Wege<br />

caminos sobre la mar. machend, Wege übers Meer. 92<br />

[...]<br />

Morir... Caer como una gota Sterben... Als Meertropfen fallen<br />

del mar en el mar inmenso? in das unendliche Meer? 93<br />

[...]<br />

Cantad conmigo en coro: Saber, nada sabemos,<br />

de arcano mar vinimos, a ignota mar iremos...<br />

Singt es mit mir im Chore: Ach, Wissen! Nichts wissen wir!<br />

Kamen aus dunklem Zaubermeer, segeln in fremdes Seerevier... 94<br />

Anders als die von Kierkegaard und Ricœur postulierte „zweite Naivität“ als<br />

Form eines im Feuer der Kritik geläuterten Glaubens, der aber die Frische der<br />

88 PrC, 1537.<br />

89 PrC, 1519.<br />

90 Campos, 142 (CXX), geschrieben nach dem Tod seiner Frau Leonor.<br />

91 Campos, 222 (CXXXVI–XXXVI).<br />

92 Ebd., 228 (CXXXVI–XLIV).<br />

93 Ebd., 228 (CXXXVI–XLV).<br />

94 Ebd., 210 (CXXXVI–XV).


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 571<br />

Kinder Gottes nicht verloren hat, ist die Gottessehnsucht Machados in eine<br />

„zweite Unschuld“ eingerahmt, die zwar hin und wieder hofft und sehr schöne,<br />

bewegende Gedichte als „wahrhaftige Psalme“ geschrieben hat, aber eigentlich<br />

„an nichts mehr glaubt“, 95 außer an die Freiheit, an die Hoffnung und an einen<br />

Gott nach Maß des modernen Verstandes. So heißt es in einem Gedicht mit<br />

dem Titel „Aus meiner Ecke“:<br />

… creo en la libertad y en la esperanza,<br />

y en una fe que nace<br />

cuando se busca a Dios y no se alcanza,<br />

y en el Dios que se lleva y que se hace.<br />

… glaube ich an die Freiheit, an einen Hoffnungsgrund<br />

und an den Glauben, der erst dann erwacht,<br />

wenn man Gott sucht, doch ihn nicht erlangt, und<br />

an den Gott, den man in sich trägt und den man sich macht. 96<br />

Machado trug seine Skepsis mit Stolz, ja er sah darin die einzige Vorbereitung<br />

auf eine Renaissance des echten Christentums, d.h. des philanthropischen<br />

und prometheuschen: „Christus wird wieder unter uns, den Skeptikern geboren<br />

werden, die wir noch über einen Funken guten Glaubens verfügen. Der Rest ist<br />

nur Asche: Es taugt nicht für das neue Feuer.“ 97<br />

4. Kirchenkritische Aspekte<br />

Wir sahen oben, wie Machado Schwierigkeiten mit der Volksreligiosität des<br />

andalusischen Volks hatte, „das jeden Frühling aufs neue / alle Welt um<br />

Leitern bittet, / den Kreuzesstamm zu erklimmen!“. In seinen Liedern wegen<br />

des Todes des andalusischen Hidalgo „Don Guido“ kritisiert er nochmals die<br />

Volksreligiosität der Bruderschaften und Prozessionen mit beißender Ironie:<br />

Gran pagano Großer Heide, Freund der Luder,<br />

se hizo hermano ward er Bruder<br />

de una santa cofradía; einer frommen Büßerschar.<br />

el Jueves Santo salía, Am Gründonnerstag, ganz klar,<br />

llevando un cirio en la mano trat er auf als wohlgemuter<br />

–¡aquel trueno!–, Kerzenträger – er, der Bummelant! –<br />

vestido de nazareno. Im Nazarenergewand. 98<br />

Manchmal, vor allem wenn er sich von der einfachen Frömmigkeit seiner<br />

Geliebten anziehen lässt, wird Machado, der die spanische Mentalität, auch die<br />

95 Soledades, 130 (XLVIII).<br />

96 Campos, 262f (CXLIII).<br />

97 PrC, 2351.<br />

98 Campos, 192f (CXXXIII).


572<br />

Mariano Delgado<br />

religiöse, für „weiblich“ hielt, 99 sogar zu einem sentimentalen Kirchgänger. So<br />

dichtete er 1912 nach einem Kirchgang mit seiner Frau Leonor:<br />

En Santo Domingo, In Santo Domingo<br />

la misa mayor. das Hochamt.<br />

Aunque me decían Auch wenn sie mich<br />

hereje y masón, Ketzer und Freimaurer nannten<br />

rezando contigo betend neben Dir<br />

cuánta devoción! welche Andacht! 100<br />

Und nach 1928 schreibt er in einem Brief an Guiomar, seine eher platonische<br />

Geliebte des letzten Lebensabschnitts: „Auf Wiedersehen, meine Königin.<br />

Am Freitag werde ich zur vereinbarten Stunde in unserer Ecke sein. Mögen<br />

Gott und der hl. Antonius als Heiliger des Tages geben, dass ich meine Göttin<br />

zu sehen bekomme.“ 101<br />

Aber alles in allem könnten die Worte, die ein anderer spanischer Dichter<br />

des 20. Jahrhunderts, der Nobelpreisträger Juan Ramón Jiménez, in seinem<br />

Testament festhielt („Ich liebe Christus, will aber mit der Kirche nichts zu tun<br />

haben“), auch von Machado stammen. Während es über Christus heißt, dass er<br />

„nie vergeht“ und zudem „eine klare Quelle der Poesie“ ist, 102 oder das Christentum<br />

als „eine der großen menschlichen Erfahrungen“ bezeichnet wird, „so<br />

vollkommen und tiefgehend, dass dank ihm der zoon politikon des Aristoteles<br />

ein christliches Wesen geworden ist, das, was ungefähr der westliche Mensch<br />

ist“ 103 – erscheint die Kirche immer wieder als eine „alte“, „düstere“, „baufällige“<br />

und „negative“ Institution:<br />

Crece en la plaza en sombra Auf dem schattigen Platz<br />

el musgo, y en la piedra vieja y santa wuchert das Moos, auch auf dem alten, heiligen<br />

de la iglesia. En el atrio hay un mendigo... Kirchengestein. Im Vorhof ist ein Bettler...<br />

Más vieja que la iglesia tiene el alma älter als der Kirchbau ist seine Seele. 104<br />

[...]<br />

A la desierta plaza Zum verlassenen Platz<br />

conduce un laberinto de callejas. führt ein Labyrinth kleiner, enger Gassen.<br />

A un lado, el viejo paredón sombrío Auf der einen Seite das alte, düstere<br />

de una ruinosa iglesia; Gemäuer einer baufälligen Kirche; 105<br />

[...]<br />

En las sombrías torres Auf den düsteren Türmen<br />

repican las campanas... läuten dröhnend die Glocken... 106<br />

99 Vgl. PrC, 1523, 1535.<br />

100 PoC, 622 (CLIX). Ü. Michael Lauble.<br />

101 PrC, 1712.<br />

102 PrC, 1712.<br />

103 PrC, 2325.<br />

104 Soledades, 82 (XXXI).<br />

105 Ebd., 34 (X).<br />

106 Ebd., 38 (XII).


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 573<br />

Seine Beschreibung des Olivenlandes um Baeza und Úbeda, wo er nur „spirituelle<br />

Steppen“ ohne auch nur ein „Kernchen Religiosität“ sieht, „eine von<br />

der Kirche verdorbene und geistig-geistlich völlig hohle Landbevölkerung“, 107<br />

bzw. „viel Heuchelei und den absoluten Mangel an spiritueller Virilität“ 108<br />

entdeckt, gerät zu einer schonungslosen Kritik der durch mächtige Gebäude<br />

ohne „Herz“ sichtbaren kirchlichen Institution:<br />

Pasamos frente al atrio del convento Wir fahren am Vorbau des Klosters der<br />

de la Misericordia. Barmherzigkeit vorbei.<br />

¡Los blancos muros, los cipreses negros! Die weißen Mauern, die schwarzen Zypressen!<br />

¡Agria melancolía Schroffe Melancholie,<br />

como asperón de hierro wie eine Eisenraspel,<br />

que raspa el corazón! ¡Amurallada die das Herz aufschürft. Eingemauerte<br />

piedad, erguida en este basurero!... Frömmigkeit, stolz ragend auf diesem Müllplatz!...<br />

Esta casa de Dios, decid, hermanos, Dieses Gotteshaus, Brüder,<br />

esta casa de Dios, ¿qué guarda dentro? dieses Haus Gottes, sagt, was birgt es denn?<br />

[...]<br />

Nosotros enturbiamos Wir, unsereins, wir trüben<br />

la fuente de la vida, el sol primero, den Lebensquell, die ursprüngliche Sonne,<br />

con nuestros ojos tristes, mit unsren Traueraugen,<br />

con nuestro amargo rezo, unsrem bitteren Beten,<br />

con nuestra mano ociosa, unser müßigen Hand,<br />

con nuestro pensamiento, mit diesem unsrem Denken:<br />

– se engendra en el pecado, – Man zeugt in Sünde, lebt<br />

se vive en el dolor. ¡Dios está lejos! –. im Leide. Gott ist ferne!<br />

Esta piedad erguida Diese Frömmigkeit, stolz<br />

sobre este burgo sórdido, sobre este über dem Schmutznest aufragend,<br />

basurero, dem Müllplatz,<br />

esta casa de Dios, decid, ¡oh santos dieses Gotteshaus, sagt – o heilige<br />

cañones de Von Kluck! Kanonen des Herrn Kluck! –,<br />

¿qué guarda dentro? was birgt es denn? 109<br />

Die Religion des Volkes, die man „Katholizismus“ nenne, befände sich für<br />

Machado im Zustand eines „wundersüchtigen Aberglaubens“, und es sei offenkundig,<br />

dass das Evangelium nicht in der spanischen Seele wohne, „zum<br />

mindestens sieht man es nirgendwo“. 110 In seinen Prosatexten, besonders in<br />

seinen Briefen an Unamuno, betreibt Machado eine schonungslose Kirchenkritik.<br />

Wir sahen oben, wie er mit Unamuno zu den wenigen Intellektuellen aus<br />

dem liberal-laizistischen Lager gehörte, die im Spanien ihrer Zeit „die religiöse<br />

Frage“ für die zentrale hielten: „Der Rest ist Politik und Sektierertum, das<br />

Spiel der Rechten und der Linken.“ 111 Vordergründig hielt er der Kirche einen<br />

klerikalischen Vatikanismus, der spanische Vitalität der römischen Mumie geopfert<br />

habe, und eine militante konservative Politik nach Art der französischen<br />

107 PrC, 1534.<br />

108 Ebd., 1535.<br />

109 Campos, 186–189 (CXXXII–II).<br />

110 PrC, 1536, auch 1542 und 1544f.<br />

111 PrC, 1536.


574<br />

Mariano Delgado<br />

Action vor. 112 Aber unter religiöser Frage verstand er vor allem – ganz im<br />

Sinne der „Institución Libre de Enseñanza“ – eine kulturkämpferische Aufgabe:<br />

„den negativen Einfluss der katholischen Kirche zu bekämpfen und das<br />

Recht des Volkes auf die Gewissensfreiheit zu proklamieren; und ich bin davon<br />

überzeugt, dass Spanien den Erstickungstod erleiden wird, wenn diese<br />

eiserne Schlinge nicht zerschlagen wird“ 113. Denn in der katholischen Kirche<br />

sah er eine „geistig-geistlich leere“, aber ekklesiastisch und polizeilich außerordentlich<br />

gut organisierte Institution, 114 die dafür verantwortlich sei, dass die<br />

spanische Seele „wie eine hohle Konstruktion aus Pappmaché“ klinge. 115 Machados<br />

berühmter Reim:<br />

– Nuestro español bosteza. – Der Spanier gähnt. Armer Tropf!<br />

¿Es hambe? ¿Sueño? ¿Hastío? Aus Sattheit? Vor Hunger? Schlafbegehrt?<br />

Doctor, ¿tendrá el estómago vacío? Doktor, ist sein Magen leer?<br />

– El vacío es más bien en la cabeza. – Die Leere ist wohl im Kopf. 116<br />

ist also vorrangig an die Kirche als die Haupturheberin der geistig-geistlichen<br />

Leere Spaniens gerichtet.<br />

Ausblick<br />

Über die Frage, ob Machado, der zwar „getauft“, aber nicht katholisch sozialisiert<br />

war, als Christ zu betrachten sei oder nicht, scheiden sich die Geister.<br />

Während die einen ihm das Christsein absprechen, halten ihn andere im Sinne<br />

der „suchenden Christologie“ 117 für einen echten Christen, der mit der sichtbaren<br />

Kirche nichts anfangen konnte. Sein Christentum ist ein heterodoxes, ein<br />

„ästhetisches und poetisches“, ein „philanthropisches und prometheusches“, ja<br />

ein „skeptisches und Renansches“ Christentum ohne Kirche, wie es seit dem<br />

19. Jahrhundert unter den Gebildeten verbreitet ist: Jesus ja, Kirche nein – und<br />

es handelt sich um einen besonderen Jesus, der weder der Christus des Glaubens<br />

ist noch in Kontinuität mit dem „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“<br />

steht. In diesem Sinne kommt Machados Christentumsverständnis der heutigen<br />

diagnostizerten „Gotteskrise“ und „Kirchenkrise“ sehr nahe. 118<br />

112 Vgl. PrC, 1542.<br />

113 Ebd., 1525.<br />

114 Vgl. PrC, 1536, 1544.<br />

115 PrC, 1519.<br />

116 Campos, 230f (CXXXVI–L).<br />

117 Zum Begriff „suchende Christologie“, natürlich ohne direkten Bezug auf Antonio Machado,<br />

vgl. Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen. Zur Mystik und Transzendenzerfahrung, hg. v.<br />

Josef Sudbrack, Freiburg 1989, 127.<br />

118 Vgl. Johann B. Metz, Gotteskrise. Versuch zur „geistigen Situation der Zeit“, in: Diagnosen<br />

zur Zeit. Mit Beiträgen von dems. u.a., Düsseldorf 1994, 76–92. Vgl. dazu Mariano Delgado,


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 575<br />

Seine mystische Erfahrung ist aus christlicher Sicht eine „apokryphe“, die<br />

sich für die Gottessuche der Führung durch den dunklen Glauben nicht anvertrauen<br />

kann – und dennoch zeugen viele seiner Gedichte von einem Ringen mit<br />

Gott, ja von einer „Gotteserfahrung“ und von einem mystischen In-der-Welt-<br />

Sein, das vielen Zeitgenossen aus der Seele spricht, denn darin kommt auch<br />

etwas von diesem „Allein Gott spricht“ zur Sprache, das der echten Dichtung<br />

eigen ist. Aus diesem Grund kommt Machados Werk theologische und katechetische<br />

Bedeutung zu. Manche Gedichte würden sich sehr gut eignen, um die<br />

Gottesfrage heute „mystagogisch“ zu erörtern – vor allem wenn sie mit den<br />

mystischen Gedichten des Johannes vom Kreuz und dem Werk Teresas verglichen<br />

werden.<br />

Darüber hinaus macht die apokryphe mystische Erfahrung Machados auf die<br />

mystagogische Grundaufgabe der Kirche in der modernen Gesellschaft indirekt<br />

aufmerksam: Mit Karl Rahner könnten wir von einer universalen „Mystik des<br />

Alltags“ sprechen, die als „anonym christliche Mystik“ 119 außerhalb des verbalisierten<br />

und institutionalisierten Christentums immer und überall – besonders<br />

in dem radikalen Akt der echten Nächstenliebe (Mt 25,40.45) – gegeben ist.<br />

Von selbst wird sie allerdings nicht ausdrücklich christlich, sondern nur durch<br />

jene reflexe Erfahrung, die nach der Begegnung mit der christlichen Glaubenspredigt<br />

– in ihrer doppelten Dimension als fides quae oder Glaubensinhalt und<br />

fides qua oder Glaubensvollzug – als dem christlichen Erfahrungshorizont gemacht<br />

wird.<br />

Dieser Zusammenhang zwischen Erfahrung und Erfahrungshorizont, weil<br />

Erfahrungen immer auch vor dem Hintergrund bestimmter Denk- und Handlungsmodelle<br />

„interpretierte“ Erfahrungen sind, ist in der modernen Theologie<br />

von Edward Schillebeeckx am konsequentesten ausgearbeitet worden. Auch<br />

für ihn führt der Weg der modernen Menschen zum Christentum in und durch<br />

eine persönliche „Erfahrung-mit-Erfahrungen“, aber „interpretiert im Licht<br />

dessen, was die Kirche ihnen aus einer langen christlichen Erfahrungsgeschichte<br />

vermittelt“, weil der Glaube aus dem Hören kommt. Daher kommt es<br />

darauf an, diese Erfahrungsgeschichte so klar wie möglich zu erzählen und<br />

lebendig in Praxis umzusetzen (als fides quae und fides qua), damit Menschen<br />

in diesem Scheinwerferlicht „,mit ihren menschlichen Erfahrungen’ eine<br />

christliche Erfahrung machen können wollen“. 120<br />

„Jüdisches Korrektiv“ – Das Christentum von Johann Baptist Metz, in: ders. (Hg.), Das Christentum<br />

der Theologen im 20. Jahrhundert. Vom „Wesen des Christentums“ zu den „Kurzformeln des<br />

Glaubens“, Stuttgart 2000, 246–258.<br />

119 Zum Begriff „Mystik des Alltags“ vgl. besonders Karl Rahner, Erfahrung des Heiligen<br />

Geistes, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 13, Zürich 1965, 226–251.<br />

120 Edward Schillebeeckx, Die Auferstehung Jesu als Grund der Erlösung. Zwischenbericht<br />

über die Prolegomena zu einer Christologie (QD 78), Freiburg 1979, 13–18, 17; ders., Christus<br />

und die Christen. Die Geschichte einer neuen Lebenspraxis, Freiburg 1977, 24–71; ders., Erfahrung<br />

und Glaube, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 25, Freiburg 1980, 73–


576<br />

Mariano Delgado<br />

Machados Kirchenkritik entspricht der kulturkämpferischen Sicht des laizistischen<br />

Lagers und der „Institución Libre de Enseñanza“: Sie ist eine Kritik<br />

von außen, die in der Kirche zunächst und vor allem eine zu bekämpfende<br />

mächtige und negative Institution der spanischen Geschichte und Gesellschaft<br />

sieht, „die“ Konkurrenz um die Kulturhoheit im modernen Spanien. Aber sie<br />

ist zugleich die Kritik eines Menschen, die an Christentum und Kirche interessiert<br />

war, dem also die „spirituelle Erneuerung“ Spaniens am Herzen lag:<br />

„Der spanische Klerikalismus kann nur jemanden ernsthaft ärgern, der einen<br />

christlichen Hintergrund hat.“ 121 Diesen christlichen Hintergrund und eine tiefe<br />

Gottessehnsucht hatte Machado allemal.<br />

Aber Machados Kirchenkritik ist wie jeder ideologisch gefärbte Rundumschlag<br />

einseitig und verzerrt. Sie lässt gerade jenes sentire ecclesiam vermissen,<br />

das die von ihm so bewunderten spanischen Mystiker auszeichnete. Die<br />

spanische Kirche seiner Zeit war zwar eine klerikale und politisierende Kirche,<br />

die geistig-geistlich nicht immer auf der Höhe der Zeit stand: Machado, Unamuno<br />

und die anderen liberalen Intellektuellen mit Interesse an der „religiösen<br />

Frage“ fanden in Kirche und Theologie keine ebenbürtigen, für die „suchende<br />

Christologie“ (Karl Rahner) von Philosophie und Literatur offenen Gesprächspartner.<br />

Aber es hätte genügt, genauer hinzusehen, um dieses Paradox festzustellen:<br />

dass so gut wie alle Innovationen in der Erziehung der Jugend – auch<br />

und gerade der Landbevölkerung –, der Krankenpflege oder der sozialen Fürsorge<br />

im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts aus dem Schoße eben dieser<br />

geistig-geistlich leeren, ultramontanen Kirche kamen; dass also auch im Schatten<br />

der von Machado angeprangerten dekadenten, mächtigen kirchlichen Institution<br />

jener Heroismus der Nächstenliebe und der allgemeinen Brüderlichkeit<br />

praktiziert wurde, den er am Christentum so sehr schätzte und den viele Christen<br />

in den ersten Monaten des Bürgerkriegs mit dem Märtyrertod bezahlten. 122<br />

116; ders., Menschen. Die Geschichte von Gott, Freiburg 1990, 38–71. In einer anderen Diktion<br />

wird dieser Zusammenhang von Erfahrung und Erfahrungshorizont auch von Joseph Ratzinger<br />

(Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 1982, 368) betont.<br />

Dies gilt auch für die „große Mystik“. Die Mystik eines Johannes vom Kreuz hat zweifelsohne in<br />

Form und Inhalt viele Berührungspunkte mit der allgemeinen mystischen Erfahrung, von der die<br />

Gedichte Machados Zeugnis geben, aber auch mit der außerchristlichen Mystik – etwa des Judentums,<br />

des Islam oder des Zen-Buddhismus; dass Johannes aber Gott als den dreieinigen oder als<br />

den um des Menschen willen fleischgewordenen Gott erfährt, und seine Mystik eine „Kreuzeswissenschaft“<br />

(Edith Stein) ist, hängt wohl damit zusammen, dass er den Raum mystischer Erfahrung<br />

nicht voraussetzungslos, sondern als ein christlicher „Hörer des Wortes“ betreten hat.<br />

121 PrC, 1536.<br />

122 Vgl. u.a. Quintín Aldea Vaquero / Joaquín García Granda / Jesús Martín Tejedor, Iglesia y<br />

sociedad en la España del siglo XX. Catolicismo social (1909–1940), Madrid 1987; Bernabé<br />

Bartolomé Medina (Ed.), Historia de la acción educadora de la Iglesia en España (Biblioteca de<br />

autores cristianos. Maior 49, 54), 2 Vol., Madrid 1996–1997; Juan M. Laboa, Iglesia e intolerancia.<br />

La guerra civil. Una historia que habla de dos Españas, Madrid 1987; Antonio Montero,<br />

Historia de la persecución religiosa en España, 1936–1939, Madrid 1998.


„Immer auf der Suche nach Gott im Nebel“ 577<br />

Für die Kirche bleibt dieser rastlose, gott- und wahrheitssuchende Wanderer<br />

(Caminante) ein Ärgernis, ein Stachel und ein Spiegel, der uns zur Frage<br />

zwingt: Was ist das für eine Kirche, die solche Menschen nicht anzusprechen<br />

vermag?<br />

Zusammenfassung: Der spanische Dichter Antonio Machado (1875–1939) kann als apokrypher<br />

Mystiker bezeichnet werden, weil er auf einem vom Christentum geprägten „kulturell-spirituellen“<br />

Hintergrund nach Gott suchte und sein Ringen mit Gott beschrieb, aber in kritischer Distanz<br />

zum dogmatischen Christentum und zur kirchlichen Institution. Weil er sich dem dunklen Glauben,<br />

von dem Johannes vom Kreuz sprach, nicht anvertrauen konnte, kann seine Mystik als ein<br />

„Suchen nach Gott im Nebel“ bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund seines philanthropischprometheuschen<br />

Christentumsverständnisses wie seiner liberal-laizistischen Erziehung gelangt er<br />

zu einer schonungslosen Kirchenkritik, die in manchen Punkten zutrifft und in anderen verfehlt<br />

und überzeichnet ist, weil ihm jenes sentire ecclesiam fehlte, das die von ihm so bewunderten<br />

spanischen Mystiker auszeichnete.<br />

Summary: The Spanish poet Antonio Machado (1875–1939) can be described as an apocryphal<br />

mystic since, although he searched for God before a „cultural-spiritual“ backdrop marked by<br />

Christianity and described his struggle with God, he did so at a critical distance from dogmatic<br />

Christianity and the ecclesiastical institution. Because he could not entrust himself to the dark<br />

faith which St. John of the Cross spoke about, his mysticism can be described as a „searching for<br />

God in the fog“. Before the backdrop of his philanthropical-Promethean understanding of<br />

Christianity as well as his liberal-laical upbringing he arrived at an unsparing criticism of the<br />

church which was correct in some points, but wrong or exaggerated in others because he lacked<br />

that sentire ecclesiam which distinguishes the Spanish mystics he so admired.<br />

Sumario: El poeta español Antonio Machado (1875–1939) puede ser denominado un místico<br />

apócrifo, puesto que buscó a Dios y describió su lucha con él en un „contexto espiritual“ marcado<br />

por el cristianismo, pero con una distancia crítica frente al cristianismo dogmático y a la institución<br />

ecclesial. Como no pudo confiar en la fe oscura, de la que habla Juan de la Cruz, su mística<br />

puede ser descrita como un „Buscar a Dios en la niebla“. Partiendo de una comprensión filantrópica<br />

y prometeica del cristianismo así como de una educación laicista y liberal, Machado formula<br />

una crítica radical a la Iglesia, que en algunos puntos es certera, pero en otros es demasiado<br />

exagerada e ideológica, porque le faltaba aquel sentire ecclesiam que caracterizaba, precisamente,<br />

a los místicos españoles tan admirados por él.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

Zur Danielrezeption in den iberischen Kulturen nach 1492<br />

von Mariano Delgado<br />

Man hat bekanntlich die Italiener, die Franzosen und die Deutschen die drei<br />

„Hauptvölker“ des mittelalterlichen Abendlands genannt, welche die drei<br />

wichtigsten Aufgaben – das Papsttum, das Studium oder die Wissenschaft und<br />

das Kaisertum – unter sich teilten. 1 Im Sinne der Ost-West-Wanderungstheorie<br />

des Otto von Freising, 2 wonach die Religion, die Wissenschaft und die<br />

politische Führung von Osten nach Westen gewandert seien, bis sie zum<br />

Stillstand kamen und das Ende der Geschichte damit eingeleitet war, 3 lag es<br />

nahe, dass gerade in diesen Kulturen die Danielrezeption besonders zum<br />

Tragen kam. Dieser Beitrag will dennoch zeigen, dass auch die iberischen<br />

Kulturen, die sich ja am Rande des Abendlandes befinden, eine intensive<br />

Danielrezeption kennen. Diese Rezeption und das damit zusammenhängende<br />

iberische Sendungsbewusstsein entsprechen der Logik abendländischer<br />

Geschichte, wenn man folgende Faktoren bedenkt: Zum einen sind die<br />

iberischen Kulturen im Hoch- und Spätmittelalter das Zentrum des<br />

Diasporajudentums; als in Folge von Zwangsmaßnahmen Ende des 14. und<br />

während des 15. Jahrhunderts ca. ein Drittel der spanischen und portugiesischen<br />

Juden zum Katholizismus konvertierte, projizierten viele ihr messia-<br />

1 Vgl. Werner Goez, Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Gechichtsdenkens<br />

und der politischen Theorie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958, 219f; vgl.<br />

auch Herbert Grundmann, Sacerdotium – Regnum – Studium. Zur Wertung der Wissenschaft im<br />

13. Jahrhundert, in: Archiv für Kulturgeschichte 34 (1952) 5–21.<br />

2 „Est notandum, quod omnis humana potentia seu scientia ab oriente cepit et in occidente<br />

terminatur, ut per hoc rerum volubilitas ac deffectus ostendatur.“ Otto Bischof von Freising,<br />

Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten, übersetzt von Adolf Schmidt, hg. von W. Lammers,<br />

Darmstadt 1961, 15. Vgl. dazu Hans-Werner Goetz, Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein<br />

Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts (Beihefte zum<br />

Archiv für Kulturgeschichte 19), Köln/Wien 1984, 139–161.<br />

3 Aus der Chronik des Babenbergers geht diese Sicht der Geschichte hervor: „Die Welt steht<br />

im Greisenalter, das Imperium Romanum ist schwach und hinfällig geworden. Der Stein der<br />

Vision Daniels, der die Bildsäule zermalmt, hat im Investiturstreit sein Zerstörungswerk begonnen.<br />

Er bedeutet die Kirche. Der äußere Prozess der Weltgeschichte, der Gang der menschlichen<br />

Vormacht vom Osten zum Westen, ist beendet. Die Zeichen der Zeit künden also, dass der Jüngste<br />

Tag naht.“ Goez, Translatio imperii (wie Anm. 1), 117.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

nisches Bewusstsein auf die Könige von Spanien und Portugal. 4 Zum anderen<br />

hatten die iberischen Länder im Entdeckungszeitalter eine beispiellose imperiale<br />

Expansion globaler Dimensionen zustande gebracht. Da sie die<br />

„westlichsten“ Völker Kontinentaleuropas sind, das „finis terrae“ der Römer,<br />

lag es also nahe, dass die iberischen Länder das Zeitalter ihrer Expansion und<br />

Hegemonie mit danielischen Kategorien deuteten und darin das Ende der<br />

eingangs erwähnten Ost-West-Wanderung sahen. Um 1500 war also in beiden<br />

iberischen Monarchien die Zeit reif, für die Substitution des jüdischen<br />

Messianismus durch den iberischen und für den Führungsanspruch in der<br />

damaligen Christenheit. Mit der faktischen Auserwählung zur Führung der<br />

Christenheit schien Gott in der „elften Stunde der Welt“ (Mt 20,6) 5 den iberischen<br />

Monarchien eine doppelte Aufgabe übertragen zu haben: die Verkündung<br />

des Evangeliums vom Reich in der ganzen Welt (Mt 24,14) und die<br />

Sammlung der Christenheit unter einem Hirten (Joh 10,16).<br />

Ich werde mich zunächst Spanien und Portugal, dann der sephardischen Diaspora<br />

und Lateinamerika zuwenden. Im 16. und 17. Jahrhundert waren die<br />

besten katholischen Exegeten zumeist Spanier und Jesuiten. Für die Beschäftigung<br />

mit unserem Thema gilt dennoch folgendes Prinzip: Die interessantesten<br />

Autoren sind nicht die Fachexegeten, die zumeist sehr orthodox sind und in der<br />

Tradition des Danielkommentars des Hieronymus verbleiben, sondern die<br />

Verfasser politisch-theologischer Traktate und Schriften. Im Schatten der<br />

Kontroverse des 16. und 17. Jahrhunderts über die Universalmonarchie ist die<br />

politisch-theologische Literatur „die“ Wissenschaft schlechthin, wie die Stu-<br />

4 Zu Spanien und Portugal vgl.: Mariano Delgado, Die Metamorphosen des Messianismus in<br />

den iberischen Kulturen. Eine religionsgeschichtliche Studie (Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft,<br />

Schriftenreihe 34), Immensee 1994; zu Spanien vgl. hierzu Américo Castro, Mesianismo,<br />

espiritualismo y actitud personal, in: Ders., Aspectos del vivir hispánico, Madrid 1970, 13–<br />

45, 21ff; Ders., Spanien, Vision und Wirklichkeit, Köln/Berlin 1957; José Antonio Maravall, El<br />

concepto de monarquía en la edad media española, in: Ders., Historia del pensamiento español.<br />

(Edad media, Serie I), Madrid 1967, 51ff; Ders. El concepto de España en la edad media, Madrid<br />

2 5<br />

1964; Ramón Menéndez Pidal, La idea imperial de Carlos V, Madrid 1963; Ricardo de Arco y<br />

Garay, La idea del imperio en la política y la literatura española, Madrid 1944; Eberhard Straub,<br />

Das Bellum iustum des Hernán Cortés in México, Köln/Wien 1976, 1–29. Für Portugal vgl.<br />

Raymond Cantel, Le messianisme dans la pensée portugaise du XVI e siècle à nos jours, in:<br />

Arquivos do Centro Cultural Portuguès 2 (1970) 433–444, 434f; Ders., De l’histoire à la chimère,<br />

le Sébastianisme portugais, in: Annales du Centre Universitaire Méditerranéen 15 (1962–63) 65–<br />

76, 74f.<br />

5 Zur eschatologischen Bedeutung der Entdeckung der Neuen Welt vgl.: Marcel Bataillon,<br />

Evangélisme et millénarisme au Nouveau Monde, in: Courants Religieux et Humanisme à la fin<br />

du XVe et début du XVIe siècle (Colloque de Strassbourg 1957), Paris 1959, 25–36; Pedro<br />

Borges, El sentido transcendente del descubrimiento y conversión de Indias, in: Missionalia<br />

Hispanica 13 (1956) 141–176; Mariano Delgado, Die chiliastische Versuchung bei den franziskanischen<br />

Glaubensaposteln des 16. Jahrhunderts, in: Bruno Schlegelberger / Ders. (Hgg.), Ihre<br />

Armut macht uns reich. Zur Geschichte und Gegenwart des Christentums in Lateinamerika, Berlin<br />

1992, 47–73.<br />

253


254<br />

Mariano Delgado<br />

dien von Werner Goez 6 und Franz Bosbach 7 gezeigt haben. Das gilt auch und<br />

vor allem für die iberischen Kulturen.<br />

1. Der Traum von der Universalmonarchie in Spanien<br />

Im spanischen Sendungsbewusstsein sind zwei Einflusslinien zu unterscheiden:<br />

einerseits die spanische Tradition, anderseits die Reichstradition, die<br />

mit Karl V. Spanien erreicht. In der spanischen Tradition war seit der<br />

Bekehrung des Westgotenkönigs Rekared zum Katholizismus 589 das<br />

Bewusstsein einer besonderen göttlichen Auserwählung Spaniens und seiner<br />

Könige vorhanden. Davon zeugen etwa die Geschichtschroniken, die unter<br />

Alfons X. im 13. Jahrhundert verfasst wurden. 8 Darin wurde Spanien als Neues<br />

Israel verstanden. Der Untergang des Westgotenreiches nach der arabischen<br />

Invasion wurde als göttliches Gericht ob der Untreue der letzten<br />

Westgotenkönige gedeutet und beklagt, seine Wiederherstellung im Zuge der<br />

Reconquista als Zeichen der bleibenden spanischen Auserwählung gesehen.<br />

Mit der Entdeckung der Neuen Welt wurde dieses Sendungsbewusstsein nun<br />

auch mit danielischen Kategorien untermauert. Zwei Zeugnisse mögen hier<br />

genügen.<br />

Im Jahre 1499 schrieb z.B. Antonio de Lebrija (1442–1522), auch Nebrija<br />

genannt, Autor der ersten Grammatik einer modernen Sprache (1492), Humanist<br />

und Reichschronist Ferdinands:<br />

Gemäß der Himmelsbewegung begannen alle Reiche und Monarchien im Osten und<br />

wanderten über Indien und die Assyrer, Griechenland und Italien nach Westen, wo sie zum<br />

Stillstand kamen. 9<br />

Nebrija zitierte das nicht von ungefähr, sondern um die Führungsrolle in der<br />

Christenheit für die katholischen Könige Spaniens zu reklamieren, dessen<br />

wunderbares Reich etwas Neues, noch nie Dagewesenes sei. 1509 betonte er<br />

ausdrücklich: Obwohl der Kaisertitel in deutschen Händen liege, sei die imperiale<br />

Macht de facto in den Händen der spanischen Könige, die nun, nachdem<br />

6 Vgl. Goez, Translatio Imperii (wie Anm. 1).<br />

7 Franz Bosbach, Monarchia universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit<br />

(Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften<br />

32), Göttingen 1988.<br />

8 Vgl. Primera Crónica general de España que mandó componer Alfonso el Sabio y se continuaba<br />

bajo Sancho IV en 1289, ed. Ramón Menéndez Pidal, 2 Bde., Madrid 1955; Alfonso el<br />

Sabio, General Storia, ed. Antonio García Solalinde, 3 Bde., Madrid 1950–1961.<br />

9 Antonio de Nebrija, Muestra de la historia de las antigüedades de España, Burgos 1499, Prolog.<br />

Alle Kursivhervorhebungen und Übersetzungen fremdsprachiger Texte sind vom Verfasser,<br />

sofern nicht ausdrücklich eine andere Autorenschaft vermerkt wird.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

sie bereits Herren weiter Teile Italiens und der Mittelmeerinseln geworden<br />

seien, sich anschickten, den Krieg nach Afrika zu tragen und, indem sie ihre<br />

Flotten gegen Westen gemäß der Himmelsbewegung segeln ließen, bereits die<br />

an Indien angrenzenden Inseln, also die sogenannte „Neue Welt“ erreicht hätten.<br />

10 Die Wanderungsbewegung von Osten nach Westen erreichte also in Spanien<br />

ihr Ende.<br />

Ein weiterer Humanist, Fernán Pérez de Oliva (ca. 1294–1531), versuchte<br />

1524 den Gemeinderäten von Córdoba das Investieren in den Überseehandel<br />

mit folgenden Worten schmackhaft zu machen:<br />

[...] früher lagen wir am Ende der Welt, nun aber sind wir in deren Mitte. Niemals vorher in<br />

der Geschichte gab es eine so glückliche Umkehrung des Schicksals. Als Herakles die Welt<br />

ermessen wollte, bezeichnete er die Straße von Gibraltar als deren Ende [non plus ultra]; [...]<br />

heute aber zieren seine Säulen das Wappen unserer Fürsten [mit der Inschrift: plus ultra]. [Wir<br />

haben] Zahllose Völker und Länder [entdeckt], die von uns die Religion, die Sprache und die<br />

Gesetze übernehmen werden [...] So liegen also das Gewicht der Welt und die Verantwortung<br />

für die Bekehrung dieser Völker in den Händen Spaniens [...] So war es auch in den alten<br />

Zeiten: am Anfang der Welt lag die Herrschaft im Osten, später weiter unten in Asien. Danach<br />

lag sie in den Händen der Perser und Chaldäer; von dort kam sie nach Ägypten, nach<br />

Griechenland und nach Italien, zuletzt auch nach Frankreich. Nun aber, den geographischen<br />

Graden westwärts folgend, ist die Herrschaft nach Spanien gekommen; [...] und hier wird sie<br />

auch für immer bleiben, beschützt durch das Meer und von uns auch so gut verteidigt, dass sie<br />

nicht mehr wird fliehen können. 11<br />

Diese Zeugnisse mögen hier genügen, um zu zeigen, dass spätestens mit der<br />

Entdeckung der Neuen Welt für die Spanier eine faktische translatio imperii<br />

stattgefunden hatte.<br />

Mit Karl V. kamen nun andere Traditionen ins Spiel, so z.B. die Tradition<br />

des Carolus redivivus. Diese ursprünglich französische Tradition, die 1494<br />

durch die Italienexpedition des französischen Königs Karl VIII. neu belebt<br />

wurde, wurde nach dem Sieg Ferdinands des Katholischen über die Franzosen<br />

in Norditalien auf Ferdinands Enkel, Karl, umgedeutet. Die Umdeutung war<br />

nicht schwer, da der Name gleich blieb. Eine besondere Rolle spielte dabei<br />

Karls späterer Großkanzler Mercurino Gattinara (1465–1530), der in der Person<br />

Karls V. die Einheit der Universalmonarchie und des Kaisertums verwirklicht<br />

sah. 12 Nach Gattinara hatte Karl V. nicht nur das Reich Karls des Großen<br />

zu restaurieren, das ja lediglich die weströmische Reichshälfte betraf, sondern<br />

auch die Türken aus der oströmischen Reichshälfte zu vertreiben und so die<br />

10 Vgl. Antonio de Lebrija, Exhortatio ad lectorem, in: Ders., Rerum a Fernando et Elisabe Hispaniarum<br />

felicissimis regibus gestarum decades duae, Granada 1545 (Druckjahr, 1509 war das<br />

Entstehungsjahr). Vgl. dazu Juan Gil, Mitos y utopías del descubrimiento, Bd. 1: Colón y su<br />

tiempo, Madrid 1989, 238.<br />

11 Fernán Pérez de Oliva, Razonamiento sobre la navegación del Guadalquivir, ed. C. George<br />

Peale (Colección Universidad 19), Córdoba 1987, 36f.<br />

12 Vgl. dazu Bosbach, Monarchia universalis (wie Anm. 7), 54f.<br />

255


256<br />

Mariano Delgado<br />

ganze Christenheit unter der Führung eines Hirten, eines messianischen Kaisers<br />

zu vereinen. Gleich nach der Wahl zum Kaiser 1519 sagte Gattinara Karl<br />

folgerichtig:<br />

Sire, da Euch Gott diese ungeheure Gnade verliehen hat, Euch über alle Könige und Fürsten<br />

der Christenheit zu erhöhen zu einer Macht, die bisher nur Euer Vorgänger Karl der Große<br />

besessen hat, so seid Ihr auf dem Wege zur Weltmonarchie, zur Sammlung der Christenheit<br />

unter einem Hirten. 13<br />

In dieser Zeit wurden die Begriffe „Monarcha“ und „Monarchia“ eingesetzt,<br />

„um die Herrschaftsstellung Karls V. zu bezeichnen“. 14 Wenige Jahre später,<br />

nämlich nach dem Sieg bei Pavia 1525 über den Erzrivalen Franz I. von Frankreich,<br />

schrieb Alfonso de Valdés, ein Freund des Erasmus, in prophetischen<br />

Tönen:<br />

Es scheint, dass Gott dem Kaiser diesen Sieg auf wunderbare Weise ermöglicht hat, nicht<br />

nur damit er die Christenheit verteidigen und der Macht des Türken widerstehen könne, wenn<br />

dieser sie anzugreifen wagte, sondern vielmehr damit er, nachdem diese Bürgerkriege (denn so<br />

müssten wir sie nennen, da sie unter Christen geschehen) beruhigt worden sind, selbst zum<br />

Angriff gegen Türken und Mauren übergeht; weiter damit er – indem er unseren heiligen<br />

katholischen Glauben verherrlicht, wie es seine Vorfahren auch taten – das Reich von<br />

Konstantinopel sowie die heilige Stätte von Jerusalem zurückerobert, welche jene aufgrund<br />

unserer Sünden in Besitz halten. Dies möge geschehen, damit, wie von vielen bereits prophezeit<br />

wurde, die ganze Welt unseren heiligen katholischen Glauben annehme und die Worte unseres<br />

Erlösers in Erfüllung gehen: ‚Es soll nur eine Herde geben und einen Hirten' (Fiat unum ovile<br />

et unus pastor). 15<br />

1535, nach dem Sieg von Goleta und Tunis, Schlachten also, die Karl V. gegen<br />

die Türken bzw. ihre Vasallen geführt hatte, war in Spanien und Italien ein<br />

Sonett von Hernando de Acuña in aller Munde, das im Sieg Karls V. den Auftakt<br />

zu der von der ersehnten eschatologischen monarchia universalis oder<br />

fünften danielischen Weltmonarchie sieht (dritte Strophe), in der es nur eine<br />

Herde und einen Hirten (erste Strophe), einen Monarchen, ein Weltreich und<br />

ein Schwert (zweite Strophe) unter spanischer Führung geben werde; denn<br />

nach dem Seesieg fehlte nur noch der vernichtende Landsieg (vierte Strophe):<br />

Ya se acerca, señor, o ya es llegada<br />

la edad gloriosa en que promete el cielo<br />

una grey y un pastor solo en el suelo,<br />

por<br />

suerte a vuestros tiempos reservada;<br />

ya tan alto principio, en tal jornada,<br />

13 Textbeleg in: Karl Brandi, Kaiser Karl V. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und<br />

eines Weltreiches, München 1937, 37.<br />

14 Bosbach, Monarchia universalis (wie Anm. 7), 47.<br />

15 Textbeleg in: Marcel Bataillon, Erasmo y España. Estudio sobre la historia espiritual del<br />

siglo XVI, México 1986, 227. Zu den Erasmisten vgl. ebd., 226ff; auch José Antonio Maravall, La<br />

visión utópica del imperio de Carlos V en la España de su época, in: Carlos V (1500–1558).<br />

Homenaje de la Universidad de Granada, Granada 1958, 41–77; Arco y Garay, Idea (wie Anm. 4).


os muestra el fin de vuestro santo celo<br />

y anuncia al mundo, para más consuelo,<br />

un<br />

Monarca, un Imperio y una Espada;<br />

ya el orbe de la tierra siente en parte<br />

y espera en todo vuestra monarquía,<br />

conquistada<br />

por vos en justa guerra,<br />

que, a quien ha dado Cristo su estandarte,<br />

dará el segundo más dichoso día<br />

en que, vencido el mar, venza la tierra. 16<br />

Der Traum von der Universalmonarchie<br />

Ein ähnliches, literarisch aber nicht so gelungenes Gedicht, schrieb Fernando<br />

de Herrera nach dem Sieg von Lepanto (7.10.1571). Spanien mutiert<br />

hier zum auserwählten Volk, die Türken zum Pharao. Der Sieg wurde vom<br />

Gott der Heerscharen selbst für die Spanier errungen. 17<br />

Wir könnten noch unzählige Zeugnisse heranziehen, die das potenzierte spanische<br />

Sendungsbewusstsein unter Karl V. dokumentieren. Aber für die meisten<br />

spanischen Autoren entsprang es mehr dem „wunderbaren“ Charakter der<br />

spanischen Expansion nach Übersee als dem nach Spanien konjunkturell gekommenen<br />

Kaisertum. Nach der Entdeckung und Eroberung einer „Neuen<br />

Welt“ hielten die spanischen Hoftheologen die Heldentaten ihrer Nation nämlich<br />

für größer als die der Römer, ja für einzigartig in der Weltgeschichte,<br />

womit der eschatologische Führungsanspruch deutlich dokumentiert wurde.<br />

Um die Mitte des 16. Jahrhunderts drückte Francisco López de Gómara, Kaplan<br />

im Hause des Hernán Cortés, dieses Sendungsbewusstsein in einem an Karl<br />

V. adressierten Vorwort zu seinem Geschichtswerk folgendermaßen aus:<br />

Sire, die größte Tat seit der Erschaffung der Welt, wenn man die Inkarnation und den Tod<br />

ihres Schöpfers [sic!] ausnimmt, ist die Entdeckung der westindischen Länder; und so werden<br />

sie Neue Welt genannt. 18<br />

Das spanische Sendungsbewusstsein blieb unter Philipp II., der ja nicht Kaiser<br />

war, ungebrochen. Nach der Personalunion der Kronen von Portugal und<br />

Spanien im Jahre 1580 wurde es üblich, das spanische Weltreich als das Reich<br />

zu bezeichnen, in dem die Sonne nicht unterging, auch wenn der Kaisertitel<br />

16 Hernando de Acuña, Varias poesías, ed. Luis F. Díaz Larios, Madrid 1982, 328f. Im Sonett<br />

„A su majestad“ nennt er Karl V. „Carolus redivivus“ (ebd., 90), im Epigramm zum Tod Karls V.<br />

nennt er ihn „den berühmtesten und größten / den Monarchen und Kaiser / der Könige und Kaiser“<br />

(ebd., 352).<br />

17 Vgl. Fernando de Herrera, Poesías, ed. Vicente García de Diego, Madrid 1970, 1–16.<br />

18 Francisco López de Gómara, Hispania victrix, ed. Enrique de Vedia. (Biblioteca de autores<br />

españoles 22), Madrid 1946, 156. In ähnlich epischen Tönen und mit einem direkten Bezug auf<br />

die Römer äußert sich zur selben Zeit der belesene Conquistador Kolumbiens, Gonzalo Jiménez<br />

de Quesada, in einer Streitschrift gegen das antispanische Werk des italienischen Historikers<br />

Paolo Giovio (1483–1552), vgl. Gonzalo Jiménez de Quesada, El Antijovio, ed. Guillermo Hernández<br />

Peñalosa / Jorge Eliécer Ruiz / Manuel Ballesteros Gaibrois, 2 Bde., Bogotá 1991, hier<br />

Bd. 1, 23–28.<br />

257


258<br />

Mariano Delgado<br />

nicht mehr in spanischen Händen lag. Das bedeutete einerseits, dass es sich um<br />

ein Reich handelte, in dem ständig bei Tageslicht der wahre Gott angebetet und<br />

für den katholischen König gebetet wurde. Damit konnte das spanische Weltreich<br />

nach Dan 12,11 (iuge sacrificium) das katastrophale Ende der Welt aufhalten,<br />

eine Aufgabe, die nach 2 Thess 2,6 üblicherweise dem Römischen<br />

Reich in den verschiedenen translationes zugesprochen wurde. 19 Aber es<br />

bedeutete andererseits auch, dass es sich um ein unvergleichlich größeres<br />

Reich als das alte Römische Imperium handelte, in dem bei all seiner Größe<br />

doch die Sonne unterging. 20 Das spanische Weltreich erschien somit als das<br />

letzte Reich auf Erden (manche bezeichneten es nicht mehr als das vierte, sondern<br />

gar als das fünfte Reich, das Reich des Messias), welches das Evangelium<br />

vom Reich in der ganzen Welt verkünde und beschütze (Mt 24,14) und so die<br />

eschatologische Sammlung der Christenheit unter einem Hirten vorbereite (Joh<br />

10,16).<br />

Eiferer ermahnten die spanischen Könige dazu, die Bekehrung der Welt mit<br />

allen Mitteln voranzutreiben. So etwa Toribio de Benavente, auch Motolinía<br />

genannt, und einer der ersten zwölf Franziskaner der Mexiko-Mission, in einem<br />

Brief an Karl V. vom 1. Januar 1555. In seiner eschatologischen Ungeduld<br />

zögerte Motolinía nicht, die Zwangsmissionierung zu befürworten:<br />

Aufgrund Eures Amtes gehört es sich daher, daß sich Eure Majestät beeilt, das heilige<br />

Evangelium in allen Ländern predigen zu lassen. Diejenigen, die das heilige Evangelium Jesu<br />

Christi nicht freiwillig hören wollen, soll man dazu zwingen. 21<br />

Der Brief ist durchzogen von der Angst, der „Unruhestifter“ Las Casas<br />

könnte sich mit seinem völlig gewaltlosen Missionskonzept und seiner These,<br />

dass alle bisherigen Landaneignungen in der Neuen Welt illegitim gewesen<br />

seien, da sie stets gegen den Willen der Indios, der legitimen Besitzer, stattge-<br />

19 Aus diesem Grund machten etwa deutsche Reformatoren – von Luther über Melanchthon bis<br />

Flacius Illyricus – den Fortbestand des Reichs zu ihrem Anliegen. Goez, Translatio imperii (wie<br />

Anm. 1), 261 – vermerkt, wie Luther etwa die Fürsten aufrief, das Kaisertum zu stärken, „denn die<br />

bibel lehret uns klärlich, dass der jüngste tag bald kommen soll nach zerstörung dieses teutschen<br />

reichs“.<br />

20 Der Jurist Juan de Solórzano y Pereyra wird 1648 die große Macht und die Monarchie loben,<br />

welche die spanischen Könige mit der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt erlangt<br />

haben, und hinzufügen, dass selbst Autoren fremder Länder zugeben müssten, es habe, was seine<br />

Ausdehnung, seinen Reichtum und seine Macht betreffen, seit der Erschaffung der Welt kein<br />

vergleichbares Weltreich gegeben. Juan de Solórzano y Pereyra, Política indiana, 5 Bde. (Biblioteca<br />

de Autores Españoles, 252–256), Madrid 1972, hier Bd. 1, 82 (Buch 1, Kap. 8, Nr. 9 und 10).<br />

Zum Vergleich mit Rom unter den spanischen Autoren des frühen Entdeckungszeitalters vgl.<br />

Jaime González, La idea de Roma en la historiografía indiana (1492–1550) (Consejo Superior de<br />

Investigaciones Cientificas), Madrid 1981.<br />

21 Toribio de Benavente (Motolinía), Brief an Kaiser Karl V., in: Horst von der Bey (Hg.),<br />

„Auch wir sind Menschen so wie ihr“. Franziskanische Dokumente des 16. Jahrhunderts zur<br />

Eroberung Mexikos, Paderborn 1995, 329–350, hier 337.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

funden hätten, durchsetzen, womit das Bekehrungswerk ins Stocken geraten<br />

könnte. Der „danielische“ Bezug ist vielsagend genug:<br />

Wie kommt Las Casas dazu zu behaupten, daß alle Tribute ungerecht erhoben wurden und<br />

noch immer erhoben werden, wo wir doch sehen, daß der Herr auf die Frage, ob man Cäsar<br />

Abgaben leisten solle oder nicht, mit ja antwortete. Und dieser behauptet, daß sie ungerecht<br />

erhoben seien! Wenn wir betrachten, wie die Herrschaft und das Reich der Römer entstanden,<br />

so finden wir, dass als erste die Babylonier zur Zeit Nebukadnezars des Großen durch Krieg die<br />

Herrschaft der Assyrer übernahmen, deren Königreich, wie der heilige Hieronymus berichtet,<br />

mehr als 1300 Jahre bestand. Und dieses Reich Nebukadnezars war der goldene Kopf der<br />

Statue, die er selbst sah, gemäß der Interpretation Daniels, im zweiten Kapitel. Und<br />

Nebukadnezar war der erste Monarch und der Kopf des Reiches. Danach vernichteten die<br />

Perser und Meder die Babylonier zur Zeit von Kyros und Dareius, und diese Herrschaft war die<br />

Brust und die Arme der gleichen Statue. Es waren zwei Arme, wie man wissen muß, Kyros und<br />

Dareius, Perser und Meder. Daraufhin vernichteten die Griechen die Perser zur Zeit Alexanders<br />

des Großen. Diese Herrschaft war der Bauch und die Schenkel aus Erz. Dieses Erz war so<br />

klangvoll, dass man es in der ganzen Welt, außer in diesem Land [d.h. in Mexiko bzw. in der<br />

Neuen Welt] hören konnte. [...] Anschließend unterwarfen die Römer die Griechen und dies<br />

waren die Beine und Füße aus Eisen, welches alles Erz verzehrt und vernichtet. Daraufhin<br />

zerbrach und zermalmte der Stein, der ohne Hände aus dem Berg herabgerissen wurde, die<br />

Statue und den Götzendienst, und dies war die Herrschaft Christi. [...] Und ich wage nicht zu<br />

beurteilen, ob diese Kriege mehr oder weniger rechtmäßig waren als jene, oder welches<br />

rechtmäßiger Tribut ist, dieser oder jener. Dies mögen die Räte Eurer Majestät entscheiden.<br />

Bemerkenswert ist darüber hinaus, daß der Prophet Daniel im gleichen Kapitel sagt, daß Gott<br />

die Zeiten und Zeitalter verändert, und daß er die Reiche von einer Herrschaft zur nächsten<br />

übergibt [Dan 2,21]. Und dies tat er wegen der Sünden, wie man es am Königreich der<br />

Kanaanäer sieht, das Gott unter großen Bestrafungen an die Söhne Israels übergab. Und das<br />

Reich Judäa übergab er, wegen der Sünde der Tötung Jesu Christi, an die Römer, genauso wie<br />

die hier genannten Reiche [an die Spanier]. Was ich nun von Eurer Majestät erbitte, ist das<br />

fünfte Reich Jesu Christi zu vollenden, welches der Stein, der ohne Hände aus dem Berg<br />

herabgerissen wurde, symbolisiert. Dieses muß sich ausdehnen, um die ganze Erde zu<br />

umspannen. Und von diesem Reich ist Eure Majestät der Anführer und der Hauptmann. Möge<br />

Eure Majestät befehlen, daß alle mögliche Sorgfalt darauf verwandt werde, damit dieses Reich<br />

Wirklichkeit werde und sich ausbreite, und daß den Ungläubigen gepredigt werde. 22<br />

Hier haben wir in konzentrierter Form das spanische Sendungsbewusstsein<br />

ausgedrückt: Das spanische Weltreich hat die eschatologische Aufgabe zu<br />

erfüllen, durch die Bekehrung der neuentdeckten Völker das fünfte Reich, das<br />

Reich Christi, zu vollenden, dessen zeitliches Haupt der spanische Monarch ist.<br />

Und zur Erfüllung dieser Aufgabe bzw. zur Zermalmung aller anderen Reiche<br />

darf das zeitliche Werkzeug Gottes eben auch die Urgewalt des Steins in Nebukadnezars<br />

Traum (Dan 2,45) einsetzen, weil der fromme Zweck die Mittel<br />

heiligt. 23<br />

22 Ebd., 337f.<br />

23 Dies ist übrigens der entscheidende Punkt, an dem sich die Konzepte von Las Casas und den<br />

anderen Befürwortern der katholischen Universalmonarchie unter spanischer Führung voneinander<br />

unterscheiden. Las Casas lehnte nämlich stets die „chiliastische Versuchung“ ab, dass der<br />

fromme Zweck die Mittel heilige. Vehement wandte er sich z.B. im Streit mit Juan Ginés de<br />

Sepúlveda (1550/1551) gegen die von diesem vorgenommene chiliastische Interpretation des<br />

259


260<br />

Mariano Delgado<br />

In diesem Klima entstand nun die europaweite politisch-theologische Kontroverse<br />

um den universalen Hegemonialanspruch der spanischen Monarchie.<br />

Die interessantesten Werke für unser Thema wurden zwischen 1580 und 1648<br />

geschrieben, d.h. in der Zeit der Personalunion der Kronen von Spanien und<br />

Portugal, die von Freund und Feind als eine noch nie da gewesene Machtballung<br />

empfunden wurde, sowie im Schatten der Kontroverstheologie und des<br />

Dreißigjährigen Krieges. Im Folgenden werde ich mich darauf beschränken,<br />

typologisch auf die Danielrezeption einiger interessanter Autoren aufmerksam<br />

zu machen; es handelt sich einerseits um Exegeten wie Juan de Maldonado und<br />

anderseits um politisch-theologische Autoren wie Tommaso Campanella, Juan<br />

de Salazar und Diego Saavedra Fajardo.<br />

1.1. Juan de Maldonado (1533/36–1583)<br />

Der Jesuit Juan de Maldonado war einer der führenden und meistzitierten<br />

katholischen Exegeten seiner Zeit. In seinem aufschlussreichen Danielkommentar<br />

24 setzt er sich immer wieder mit den klassischen Kommentaren<br />

christlicher Autoren wie Hieronymus (um 347–419/20) und Theodoretos (um<br />

393–460) auseinander, 25 aber auch mit den Kommentaren hebräischer Autoren<br />

wie Isaak Abravanel (1437–1508), von Maldonado „Barbinel“ genannt, und<br />

(Aben) Ibn Esra (1092–1167) sowie nicht zuletzt mit den Kommentaren „der<br />

neuen Ketzer“, ganz besonders Calvins. Von Hieronymus und Theodoretos<br />

nimmt er selten Abstand, von den hebräischen Autoren distanziert er sich<br />

Autoritätsbeweises aus der Summa theologica des Thomas von Aquin (II–II, q. 40, a.2, ad 3 um ),<br />

dass etwa „jede Macht [...], die es mit dem Zweck zu tun hat, [...] auch über die Mittel zum Zweck<br />

zu bestimmen [hat]“, wobei alles erlaubt sei, was dem Zweck diene. Vgl. Bartolomé de Las Casas,<br />

Die Disputation von Valladolid, in: Ders., Werkauswahl, Bd. 1: Missionstheologische Schriften,<br />

hg. v. Mariano Delgado, Paderborn u.a. 1994, 376, 379, 383, 399f, 402; vgl. auch Mariano Delgado,<br />

Abschied vom erobernden Gott. Studien zur Geschichte und Gegenwart des Christentums in<br />

Lateinamerika (Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft, Supplementa 43), Immensee 1996.<br />

24 Maldonados Kommentar zu den vier großen Propheten erschien an verschiedenen europäischen<br />

Druckorten in vielen Auflagen. Wir zitieren hier nach der Pariser Ausgabe von 1610, die<br />

uns freundlicherweise von der Universitätsbibliothek Tübingen (Signatur Ge 214.4) als Mikrofilm<br />

und Papierkopien zur Verfügung gestellt wurde: Joannis Maldonati [...] Commentarij in prophetas<br />

IIII. Ieremiam, Barvch, Ezechielem & Danielm. Accessit Expositio Psalmi CIX & Epistola de<br />

collatione Sedanensi cum Caluinianis eodem auctore. Parisiis: sumptibus Claudij Morelli, 1610.<br />

Zu Maldonado vgl. Eugenio Asensio, „Paraenesis ad litteras“. Juan Maldonado y el humanismo<br />

español en tiempos de Carlos V., Madrid 1980; P. Schmitt, La Réforme catholique. Le combat de<br />

Maldonado, Paris 1985.<br />

25 Die exegetische Relevanz des Kirchenvaters Hieronymus dürfte hinreichend bekannt sein.<br />

Über Theodoretos ist geschrieben worden, dass er sowohl nach Umfang als auch Originalität und<br />

Qualität seiner exegetischen Werke noch vor Theodoros von Mopsuestia als der größte Bibelgelehrte<br />

der antiochenischen Schule gelten darf. Albert Viciano, Art. Theodoretos, in: LThK, 3.<br />

Aufl., Bd. 9, 1401–1404, hier 1402.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

generell mit wenigen Ausnahmen, die Thesen Calvins und anderer<br />

protestantischer Autoren werden aber immer wieder abgelehnt. Nicht ohne<br />

kontroverstheologische Polemik nennt er Calvins Thesen abstruse, kindliche<br />

und gar lächerliche „Irrtümer“. Das Danielbuch besteht für Maldonado aus drei<br />

Teilen: Kap. 1–6 berichten über die Taten Daniels und der drei Freunde; Kap.<br />

7–12 handeln – nach dem exegetischen Prinzip der praefiguratio – vom Reich<br />

Christi und vom Antichristen; Kap. 13–14 erzählen schließlich die Geschichten<br />

Susannas und des Drachens. Uns interessiert hier vor allem Maldonados<br />

Interpretation von Dan 2, 7, 8, 11 und 12, die immer wieder auf eine<br />

„christologische und ekklesiologische“ Deutung der Visionen aus dem<br />

Danielbuch hinausläuft.<br />

(1) Zu Dan 2,31–45. Bemerkenswert ist zunächst der Kommentar zu Dan<br />

2,38: „Tu es ergo caput aureum“ (Du bist das goldene Haupt). Drei Fragen<br />

stellen sich Maldonado: Zum einen weshalb in Nebukadnezars Traum nur von<br />

vier Reichen die Rede ist und nicht etwa von allen Monarchien, die nach den<br />

Babyloniern kommen sollten. Maldonado sieht darin eine pädagogische<br />

Absicht Gottes: Anhand des Schicksals von vier großen Reichen vor der<br />

Ankunft des Reiches Christi, soll uns die Vergänglichkeit und die Herrschsucht<br />

aller irdischen Reiche vor Augen geführt werden. Zweitens warum Nebukadnezars<br />

Reich mit dem Haupt verglichen wird, und drittens sogar mit einem<br />

goldenen Haupt, zumal die babylonische Monarchie bekanntlich nicht die<br />

größte, mächtigste und beste war. Maldonado bezieht Dan 2,38 nur darauf,<br />

dass das Babylonische Reich das erste war, während die späteren dem Ende<br />

der Reiche dieser Welt und dem Beginn des ewigen Reiches Christi näher<br />

waren, daher also dem Alterungsprozess der Welt entsprechend als schwächer<br />

dargestellt werden. 26<br />

Die vier Reiche sind für Maldonado mit den meisten Autoren die der Babylonier/Assyrer,<br />

Perser/Meder, Makedonier/Griechen und Römer. Eingehend<br />

legt Maldonado dar, warum das vierte Reich nur das Römische sein kann,<br />

nämlich weil das in Dan 2,42 Gesagte nur die gemischte Regierungsverfassung<br />

des römischen Reiches meinen könne: einerseits die republikanische Aristokratie,<br />

andererseits die durch Julius Caesar verkörperte Tyrannei. 27 Die<br />

26 Vgl. Madolnado, Commentarij in prophetas IIII (wie Anm. 23), 613–616 (Kommentar zu<br />

Dan 2,38–39).<br />

27 Vgl. ebd., 616–618 (Kommentar zu Dan 2,41). Zur Zeit Maldonados nannte ein anderer Jesuit,<br />

nämlich der in der Amerika-Mission tätige José de Acosta, den spanischen König „das Haupt<br />

und den zeitlichen Herrn des Erdkreises“, womit er das spanische Weltreich – und nicht das<br />

Kaiserreich – als Erbe des Römischen Reichs im Zeitlichen sah. Die Indios und die Spanier werden<br />

mit dem Ton und dem Eisen identifiziert, aus denen die Füße der danielischen Statue bestehen.<br />

Freilich tut dies Acosta auch, um den kolonialen Status zu rechtfertigen. Indios und Spanier<br />

sind zwar im Prinzip gleichberechtigte Reichsvölker; da aber Eisen und Ton bekanntlich so<br />

schlecht zueinander passen, sollten die Spanier mit ihrer Kraft die Indios zusammenhalten, d.h.<br />

261


262<br />

Mariano Delgado<br />

Identifizierung des vierten Reiches mit dem Römischen war in der Tradition<br />

der Danielkommentare umstritten. Die jüdische Exegese, so Maldonado,<br />

stimme mit der christlichen darin überein, dass mit dem Stein, der ohne Zutun<br />

von Menschenhand vom Berg losbrach und Eisen, Bronze und Ton, Silber und<br />

Gold zermalmte (Dan 2,45), nur Christus, d.h. der Messias und sein Reich<br />

gemeint sein können. Während für die Christen aber der Messias mit Jesus von<br />

Nazareth bereits gekommen sei und das vierte Reich depotenziert habe, warten<br />

die Juden immer noch auf ihn, wozu das Fortbestehen des vierten Reiches<br />

nötig sei. Daher identifizieren es jüdische Autoren wie Ibn Esra und Isaak<br />

Abravanel mit dem Reich der Türken – was die messianische Hoffnung der<br />

Juden unter türkischer Herrschaft besonders genährt habe. Besondere Schwierigkeit<br />

bereitet Maldonado die Meinung christlicher Autoren, das Römische<br />

Reich sei an die Germanen übertragen worden, was den Schluss nahe lege,<br />

dieses sei doch nicht depotenziert und bestehe weiter. Die Prophezeiung, so<br />

Maldonado, beziehe sich nicht auf das zeitliche Römische Reich, sondern auf<br />

das geistliche. Indem das Römische Reich durch Blutzeugnis, Geduld und<br />

Verkündung des Evangeliums für die christliche Religion gewonnen wurde, sei<br />

die geistliche Macht in die Hände des christlichen Römischen Pontifex als des<br />

Stellvertreters Christi übertragen worden. 28 Das fünfte Reich, das aus dem<br />

Stein-Christus wachse und nicht von dieser Welt, sondern ein geistliches und<br />

himmlisches sei, in dem die Religion und die Kenntnis Gottes herrschen würden,<br />

sei so in der Kirche versinnbildlicht. 29 Im Zeitlichen aber bestehe das<br />

vierte (Römische) Reich durch die translatio imperii weiter, bis mit der<br />

Wiederkunft Christi alle Herrschaft dieser Welt aufgehoben und das geistliche<br />

Reich des Messias vollendet werde.<br />

(2) Zu Dan 7. Dieses Kapitel handelt für Maldonado von vier Tieren, die<br />

vier künftige Reiche bedeuten, sowie vom Gegensatz zwischen dem Reich<br />

Christi und dem des Antichristen. Was die Tiere betrifft, so bereitet nur die<br />

Identifizierung des vierten Schwierigkeiten, während die ersten drei wiederum<br />

mit Babyloniern, Persern/Medern und Makedoniern identifiziert werden. Bei<br />

der Auslegung von Dan 7,6–7 widerlegt Maldonado 30 erneut – u.a. mit den<br />

oben vorgestellten Argumenten – die Behauptung jüdischer Autoren, das dritte<br />

Tier stünde für das Reich von Makedoniern und Römern, während mit dem<br />

vierten das Türkische Reich gemeint sei, da der Messias noch nicht gekommen<br />

diese dort, wo zu ihrem Wohl nötig, gemäß der aristotelischen Lehre der natürlichen Herrschaft<br />

der Vornehmeren und Stärkeren streng, aber nicht unmenschlich, behandeln. Vgl. José de Acosta,<br />

De procuranda indorum salute, 2 Bde. (Corpus hispanorum de pace 23/24), Madrid 1984–1987,<br />

hier Buch III, Kap. 17,7 (Bd. 1, 516).<br />

28 Vgl. Maldonado, Commentarij in prophetas IIII (wie Anm. 24), 618–620 (Kommentar zu<br />

Dan 2,44).<br />

29 Vgl. ebd., 619–621 (Kommentar zu Dan 2,44–45).<br />

30 Vgl. ebd., 668–673.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

und das vierte Reich noch nicht depotenziert sei; mit allen kirchlichen Autoren<br />

(„quod omnes Ecclesiastici auctores tradiderunt) sieht Maldonado im vierten<br />

Tier das Römische Reich versinnbildlicht. Das Römische Reich aber ist ein<br />

komplexes Gebilde, das die Zeit vor und die Zeit nach Christi Geburt umfasst,<br />

denn Christi Reich betraf zunächst nur den geistlichen Bereich. Bis zu acht<br />

Gründen führt Maldonado an, um Aussehen und Charakter des vierten Tieres<br />

nach Dan 7,7 – etwa dass es furchtbar, schrecklich und äußerst stark gewesen<br />

sei, eiserne Zähne gehabt und nachdem es alles fraß und zermalmte, das Übrigbleibende<br />

noch mit den Füßen zertrat – mit dem Römischen Reich zu identifizieren.<br />

Lediglich bei den zehn Reichen, die nach Dan 7,24 die zehn Hörner<br />

von Dan 7,7 bedeuten sollen, ist Madonado unschlüssig. Sie sollen zwar in der<br />

Zeit des Römischen Reiches nach Christi Geburt gesucht werden, und nicht im<br />

Römischen Reich vor Christi Geburt, wie einige Autoren meinen. Aber Maldonado<br />

gibt zu, sie nicht finden zu können: „Wenn wir nach ihnen suchen,<br />

finden wir sie nicht“. 31 Sie sind also ein noch künftiges Ereignis. Für wahrscheinlich<br />

hält Maldonado die Meinung jener kirchlichen Autoren, die mit<br />

Offb 17,12 darin zehn Reiche sehen, die unmittelbar vor der Ankunft des Antichristen<br />

bestehen werden. Gerade im Schatten der eschatologischen Spannung<br />

um 1600 werden viele Autoren – so u.a die im Folgenden behandelten Autoren<br />

Campanella, Salazar, Saavedra Fajardo, António Vieira und Menasseh Ben<br />

Israel – die zehn Reiche zu finden meinen, wenn auch immer in verschiedenen<br />

Varianten.<br />

Der nüchterne Maldonado teilt jedoch nicht das eschatologische Fieber der<br />

frühen Neuzeit. Er sieht zwar im kleineren Horn, „das anmaßend redete“ (Dan<br />

7,8), ein Symbol für den Antichristen, der sich am Ende der Zeit erheben soll;<br />

zugleich lehnt er alle Versuche zeitgenössischer Autoren ab, das kleinere Horn<br />

konkret namhaft zu machen: es ist nicht der Türke, wie einige Autoren meinen,<br />

und schon gar nicht der Römische Pontifex, wie lutheranische und calvinistische<br />

Ketzer meinen, sondern eine künftige Gestalt am Ende der Zeit nach der<br />

endgültigen Vernichtung des vierten Tieres bzw. Zerstörung des vierten Reiches.<br />

32<br />

Bei der Auslegung von Dan 7,18 lehnt Maldonado die chiliastische Deutung<br />

ab, wonach mit den Heiligen des Höchsten die Kinder Gottes gemeint seien,<br />

die nach der Vernichtung des vierten Tieres die Erde für sich allein erben sollen;<br />

ebenso verwirft er die Meinung, es handle sich dabei um die Menschen,<br />

die dem Herzen nach bereits im Himmel seien. Solche Interpretationen missfallen<br />

ihm im selben Masse, „wie sie ihrem Autor Calvin gefallen“. 33 Vielmehr<br />

seien damit die seligen Menschen gemeint, die bereits jetzt mit dem Höchsten<br />

31 „Sed cum eos quaerimus, non inuenimus“, ebd., 672.<br />

32 Vgl. ebd., 673f und 676f.<br />

33 Ebd., 680 (Kommentar zu Dan 7,18).<br />

263


264<br />

Mariano Delgado<br />

im Himmel säßen bzw. im vollen Besitz seines Reiches seien und beim<br />

Jüngsten Gericht mit Christus wiederkommen würden, um mit ihm zu richten.<br />

34<br />

Auch bei der Auslegung von Dan 7,25 lehnt Maldonado die Meinung des<br />

„Patriarchen der Ketzer“ (Calvin) gänzlich ab, der Ausdruck „für eine Zeit und<br />

zwei Zeiten und eine halbe Zeit“, sei eine metaphorische Rede und meine eine<br />

nicht näher zu bestimmende Zeit, in der nach der Vernichtung des vierten Tieres<br />

der Antichrist herrschen soll. Maldonado bekräftigt die „bei allen alten<br />

Autoren“ überlieferte Interpretation, wonach unter „Zeit“ hier „Jahr“ zu verstehen<br />

sei und die Herrschaft des Antichristen folglich nur dreieinhalb Jahre<br />

dauern werde. 35<br />

Bei der Auslegung von Dan 7,27 geht es schließlich um die Frage, ob mit<br />

„unter dem ganzen Himmel“ nur eine geistliche oder auch eine zeitliche Herrschaft<br />

gemeint sei. Maldonado lehnt erneut die jüdische Auslegung ab, wonach<br />

das Reich des Messias kein geistliches, sondern nur ein zeitliches sein werde<br />

und dieses noch nicht gekommen sei. Maldonado präzisiert hier, dass das mit<br />

Christus bereits gekommene Reich, das Reich der Kirche, ein geistliches und<br />

ein zeitliches zugleich sei, im Zustand der pilgernden Kirche aber nur ein<br />

geistliches Reich sei. Vorsichtig öffnet er dem gemäßigten Chiliasmus eine<br />

Tür, indem er andeutet, mit der zeitlichen Herrschaft der Heiligen des Höchsten<br />

„unter dem ganzen Himmel“ sei vielleicht die Zeit nach der endgültigen<br />

Zerstörung des vierten Reiches und nach dem Sieg über den Antichristen gemeint,<br />

weil dann die Kirche auf der ganzen Welt herrschen und es nur eine<br />

Herde und einen Hirten geben werde (vgl. Joh 10,16). Noch aber sehen wir<br />

nicht, dass das Evangelium auf der ganzen Welt gepredigt werde (vgl. Mt<br />

24,14). 36<br />

(3) Zu Dan 8. Dieses Kapitel wird von Maldonado gänzlich auf die Zeit vor<br />

Christi Geburt bezogen. Der aus dem Osten kommende Widder mit zwei Hörnern<br />

sei das Reich der Perser und Meder mit Kyrus und Dareius; der aus dem<br />

Westen kommende siegreiche Ziegenbock mit einem großen Horn stehe für<br />

Alexander den Großen; die vier Hörner, die ihm nach dem Sieg über den Widder,<br />

an Stelle des einen Horns in alle vier Himmelsrichtungen wachsen, seien<br />

nun die Diadochenreiche. Dan 8,12 beziehe sich auf die Entweihung des Jerusalemer<br />

Tempels durch Antiochus usw.<br />

(4) Zu Dan 11. In diesem Kapitel sind für Maldonado die Kämpfe zwischen<br />

Ptolemäus und Antiochus versinnbildlicht. Dan 11,21.31f und 34 beziehe sich<br />

auf Antiochus und seine Judenverfolgung. Da er vor der ersten Ankunft Christi<br />

herrschte, während der Antichrist vor der zweiten herrschen werde, könne er<br />

34 Vgl. ebd.; vgl. auch ebd., 682 (Kommentar zu Dan 7,27).<br />

35 Vgl. ebd., 681f (Kommentar zu Dan 7,25) und 744 (Kommentar zu Dan 12,11).<br />

36 Vgl. ebd., 682.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

nicht der Antichrist sein; wohl aber könne in Antiochus eine Präfiguration des<br />

Antichristen gesehen werden, genauso wie in der Befreiung aus der babylonischen<br />

Gefangenschaft eine Präfiguration der Befreiung aus der Tyrannei des<br />

Teufels in der Kirche des Evangeliums gesehen werden könne. 37 Desgleichen<br />

gilt für Dan 11,36f: Während einige alte hebräische Autoren den Antichristen<br />

mit einer in der Zeit nach Kaiser Julian kommenden Gestalt identifizieren, Ibn<br />

Esra mit Konstantin dem Großen, und die neuen Ketzer – „nicht viel besser<br />

beraten“ – einerseits mit dem Reich der Mohamedaner bzw. der Türken, andererseits<br />

mit dem Römischen Pontifex, hegt Maldonado keinen Zweifel daran,<br />

dass diese Stelle in erster Linie auf Antiochus zu beziehen ist und nur im übertragenen<br />

Sinne auf den Antichristen, der am Ende der Zeit erscheinen soll und<br />

den wir aber noch nicht kennen. 38<br />

(5) Zu Dan 12. Hier beschreibt Michael, „der Engel der Kirche“, 39 die zu erwartende<br />

Verfolgung der Christen unter dem Antichristen, die in der Verfolgung<br />

der Juden unter Antiochus wiederum präfiguriert ist. Immer wieder werden<br />

hier die Irrtümer des Ketzermeisters (Calvin) bezüglich der Prädestination<br />

und der Auferstehung zurückgewiesen. 40 Besonders ausführlich begründet<br />

Maldonado bei der Auslegung von Dan 12,11, unter den „zwölfhundertneunzig<br />

Tagen“ seien die dreieinhalb Jahre zu verstehen, die der Antichrist noch herrschen<br />

soll, und nicht all die anderen Interpretationen, die von den Juden und<br />

den neuen Ketzern gemacht würden. 41<br />

Wie man sieht, hat Maldonado das Danielbuch vor allem als christologische<br />

und ekklesiologische Präfiguration interpretiert und sich dabei vom eschatologischen<br />

Fieber seiner Zeit distanziert. Der Antichrist und die zehn letzten Reiche,<br />

die unmittelbar vor seiner Ankunft bestehen und aus dem vierten Reich<br />

hervorgehen sollen, sind für ihn noch nicht in Sicht. Von einem langen zeitlichen<br />

Reich auf Erden unter der Führung der Heiligen des Höchsten, kann nach<br />

seiner Meinung nicht die Rede sein, da das fünfte Reich vor allem ein geistliches<br />

sei, mit der ersten Ankunft Christi angefangen habe und in der römischen<br />

Kirche hier auf Erden versinnbildlicht sei. 42 „Cesset ergo mille annorum<br />

37 Vgl. ebd., 723.<br />

38 Vgl. ebd., 730–732.<br />

39 „Recte ex hoc loco veteres auctores collegerunt Michaelem etiam nunc Eclesiae nostrae<br />

praesse, nec enim angelus hic de veteris synagoga, sed de populo Christiano loquitur, cum haec<br />

ad Antichristi tempora referentur. Vocatur autem populus Christianus, populus Danielis“. Ebd.,<br />

737f.<br />

40 Vgl. ebd., 738, 741f.<br />

41 Vgl. ebd., 743–745.<br />

42 Der Kontroverstheologe Bellarmin wird das römische Prinzip deutlicher einklagen: „Und<br />

wir dürfen auch nicht zweifeln, liebste Zuhörer, daß die Kirche, welche schon mehr, denn hundert<br />

Ketzereyen überwunden hat, die Sekten Luthers und Kalvins nicht minder besiegen werde; denn<br />

wider die römische Kirche wird die ganze Macht der Hölle nichts vermögen [Mt 16,18]; a) sie ist<br />

265


266<br />

Mariano Delgado<br />

fabula“, hatte einst Hieronymus im Kommentar zu Dan 7,17 geschrieben. 43<br />

Eine ähnliche Stoßrichtung weist der Danielkommentar Maldonados auf: Man<br />

möge sich auf die Predigt des Evangeliums vom Reich auf der ganzen Welt<br />

konzentrieren, wo noch viele Menschen (Indien, Japan, China!) darauf<br />

warteten, und man möge endlich aufhören, das Danielbuch in der Gegenwart<br />

politisch-theologisch zu applizieren und die zehn Reiche und den Antichristen<br />

in den Ereignissen um 1600 zu suchen. Doch gerade dies werden die nun<br />

folgenden Autoren tun.<br />

1.2. Tommaso Campanella (1568–1639)<br />

Der Dominikaner Tommaso Campanella, 44 der sich für den besten<br />

Staatstheoretiker seiner Zeit hielt, befasste sich mit dem Thema in<br />

verschiedenen Werken, vor allem aber in zwei verschiedenen Phasen seines<br />

Lebens: als er in Neapel dem spanischen König unterstand, zuerst in Freiheit<br />

und dann im Gefängnis, und als er ab 1634 in Paris den Schutz des<br />

französischen Königs genoss.<br />

Sein Werk Monarchia di Spagna, „der vielleicht rätselhafteste Text Campanellas“,<br />

45 enthält spanienfeindliche Stellen, die 1598 vor seiner Verhaftung<br />

wegen Anstiftung zur Rebellion geschrieben wurden, und spanienfreundliche<br />

Passagen, die vermutlich nach 1599 im Gefängnis – nicht zuletzt als Teil seiner<br />

Verteidigungsstrategie – entstanden. Was genau vor oder nach der Verhaftung<br />

geschrieben wurde, lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit eruieren. Aber<br />

auch so ist das Werk für unser Thema von großer Bedeutung. Campanella<br />

das Königreich, welches ewig unzerstöhrlich seyn soll: das keinem andern Volke gleich den<br />

vorigen wird überlassen werden, sondern die vorhergehenden aufhebend und verzehrend, ewig<br />

bestehen wird [Dan 2,44], b) wovon der Engel zu Maria gesprochen hat: ‚Sein Reich wird kein<br />

Ende haben’ [Lk 1,33].“ Robert Bellarmin, Gründliche Beweise für die Wahrheit der katholischen,<br />

und allein seligmachenden Religion, Augsburg 1796, 48.<br />

43 PL 25, 534.<br />

44 Vgl. Tommaso Campanella, Monarchie d’Espagne – Monarchie de France, ed. Germana<br />

Ernst (zweisprachige Ausgabe mit italienischem Originaltext und französischer Übersetzung),<br />

Paris 1997. Zu Campanella vgl. Germana Ernst, Introduction, in: ebd., VII–XLVIII; Ders., Religione,<br />

ragione e natura. Ricerche su Tommaso Campanella e il tardo Rinascimento, Milano 1991;<br />

Antonio Truyol y Serra, Hierokratie und Staatenwelt bei Tommaso Campanella, in: Archiv des<br />

Vökerrechts 1955, 1–20; Ders., La Monarquía Hispánica de los Austrias y el Reino de Francia en<br />

Campanella y Juan de Salazar, in: Homenaje an Profesor Mariano Hurtado Bautista, Murcia 1992,<br />

573–584; Ders., Spanien in Europa. Historischer Hintergrund, gegenwärtige Probleme, Saarbrücken<br />

1994; Ders., La Monarquía Hispánica de la Casa de Austria como forma de Estado, in:<br />

Völkerrecht als Rechtsordnung. Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte. Festschrift für<br />

Hermann Mosler, Berlin/Heidelberg u.a. 1983, 981–996; Rosario Villari, La rivolta antispagnola a<br />

Napoli. Le origini (1585–1647), Roma u.a. 1976; L. Diez del Corral, La monarquía hispánica en<br />

el pensamiento político europeo, Madrid 1975.<br />

45 Ernst, Sulla „Monarchia di Spagna“, in: Ders., Religione (wie 44), 35–61, hier 35.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

widmete dem Standbild aus Dan 2 ein Sonett 46 und beschäftigte sich mit dem<br />

Danielbuch immer wieder, so dass es nicht verwunderlich ist, wenn das Proömium<br />

des genannten Werkes ganz danielisch ist:<br />

Bei der Ost-West-Wanderung kommt die Universalmonarchie von den Assyrern, Medern,<br />

Persern, Griechen und Römern – letztere wurden in die drei Köpfe des Reichsadlers geteilt –<br />

schließlich zu den Spaniern. Diesen hat der göttliche Ratschluss – nach einer langen Zeit der<br />

Knechtschaft und der Teilung [gemeint ist die arabische Zeit in Spanien] – die Monarchie auf<br />

eine wunderbarere Art und Weise als all ihren Vorgängern übertragen, wie es den<br />

Kreisbewegungen aller menschlichen Dinge entspricht. 47<br />

Anschließend benennt Campanella drei Ursachen für die Entstehung von<br />

Reichen: Gott, die Klugheit und die Gunst der historischen Stunde, Ursachen,<br />

die ganz besonders bei der Entstehung des spanischen Weltreichs wirksam<br />

waren. Gott, weil die spanischen Könige nach einem achthundertjährigen<br />

Kampf gegen die Mauren den Titel „katholische Könige“, d.h. „universale<br />

46 Das Sonnet mit dem Titel „Sopra la statua di Daniele (Dan 2,31–45)“ (Tommaso Campanella,<br />

Le poesie, ed. Fancesco Giancotti, Torino 1998, 250), lautet:<br />

Babel disfatta, che fu l’aurea testa,<br />

venne l’argento petto, Persia; a cui<br />

ventre e cosce die rame siete vui,<br />

Macedoni; a cui Roma ultima resta.<br />

Fûr due gambe di ferro note in questa;<br />

Ma le dita han di terra i piedi sui,<br />

significando i regni or sparti e bui,<br />

di chi fu schiava, ed or donna funesta.<br />

Ahi, terra arsiccia, donde sempre fuma<br />

Vanagloria, superbia e crudeltate,<br />

che infetta, acceca, annegrica e consuma!<br />

Ma voi la Bibbia e Daniel negate<br />

Per schifar questo: ch’è vostra costuma<br />

Coprirvi di menzogna e falsitate.<br />

Qui legit, intelligat.<br />

47 Tommaso Campanella, Monarchie d’Espagne – Monarchie de France (wie Anm. 44), 1.<br />

Ähnliches hat Campanella (Le poesie, wie Anm. 46, 599f) in einem Sonett der philospanischen<br />

Phase festgehalten:<br />

Da levante a ponente caminando<br />

la Monarchia del mondo a te fin venne<br />

e per oltre passar pose le penne<br />

onde vai tutta la sfera girando.<br />

Con quattro scalzi donar morte e bando<br />

a popoli infiniti ti convenne.<br />

meraviglia di Dio, che ti sostenne<br />

che vai ad un gregge tutti congregando.<br />

Dio trova i mezzi a chi promette il fine,<br />

onde ne’ gran principii d’ogni Impero<br />

diede armi nove e arti pellegrine.<br />

Tu de la calamita hai l’uso altiero,<br />

le stampe e l’archibuggi, opre divine,<br />

onde hai per tutto il corso sí leggiero.<br />

267


268<br />

Mariano Delgado<br />

Könige“ vom Papst erhalten hätten. Die Verleihung des Titels „universaler<br />

König“ zeige, so Campanella, dass der Heilige Geist am ehesten aus dem<br />

Munde der Geistlichen spreche. 48 Klugheit, weil die Spanier ihr Weltreich mit<br />

Hilfe der Arkebuse und der Buchdruckpresse zusammenhielten, also der Waffen<br />

und der politischen Literatur, wozu viel Klugheit nötig sei. Die Gunst der<br />

historischen Stunde schließlich, weil man eine Neue Welt entdeckt, sich mit<br />

dem Haus Österreich verbündet und seit 1580 auch noch die Krone Portugals<br />

übernommen habe. Wenn die Spanier nun die Türken besiegten, die einzigen,<br />

die genauso wie sie eine Universalmonarchie errichten wollten und könnten,<br />

könnten sie über die ganze Welt herrschen. 49<br />

An anderen Stellen betont Campanella allerdings, dass die Zeit der vier Monarchien<br />

nun ganz zu Ende sei und die Zeit der fünften eschatologischen Monarchie,<br />

der Monarchie der Heiligen und der Kirche gekommen sei, die dreieinhalb<br />

Jahre bestehen werde, also dass wir uns im letzten Zeitalter der Welt<br />

befänden:<br />

Das Standbild hat sein Ende gefunden, die vier Tiere, die drei Wochen und die zwölf Federn<br />

des Adlers aus dem Buche Esra IV sind mit dem Römischen Reich zu Ende gegangen. 50<br />

In diesem fünften Reich komme die Führung letztlich dem Papste als dem<br />

Stellvertreter Christi zu. Die Bestimmung des spanischen Königs bestehe<br />

darin, unter Führung des Papstes als eine Art mystischer Kyrus, als erster Arm<br />

des Messias, die Kirche zu beschützen und in der ganzen Welt zu verbreiten. 51<br />

Wenn er das tue, werde ihm bei Konflikten mit anderen katholischen Königen<br />

der Papst zur Seite stehen, wie damals schon 1493, als der Papst die neuentdeckte<br />

und neu zu entdeckende Welt zwischen Spanien und Portugal unter<br />

Ausschluss der anderen katholischen Könige teilte. 52 Zur Erfüllung seiner Bestimmung<br />

sei es wichtig, dass der spanische König den Kaisertitel um jeden<br />

Preis an sich ziehe und die Bekehrung der Welt mit allen Mitteln vorantreibe.<br />

Die Opposition des Papstes gegen den König von Spanien, ein Dauerthema<br />

im 16. und 17. Jahrhundert, rühre daher, dass der Papst fürchte, zum Hofkaplan<br />

des spanischen Königs degradiert zu werden. Nach Erfüllung seiner Bestimmung<br />

werde der spanische König das Reich den Heiligen und der Kirche übergeben.<br />

Dann werde es nur eine Herde und einen Hirten geben (Joh 10,16).<br />

Dass wir uns unmittelbar davor befänden, zeige sich darin, dass im spanischen<br />

Reich die Sonne nicht untergehe und ständig bei Tageslicht Gott angebetet und<br />

48 Vgl. Campanella, Monarchie d’Espagne – Monarchie de France (wie Anm. 44), 55.<br />

49 Vgl. ebd., 10–13, 321–337.<br />

50 Ebd., 27.<br />

51 Vgl. ebd., 31–35, 51, 53.<br />

52 Vgl. Konzessionsbulle „Inter caetera“ (4. Mai 1493) von Papst Alexander VI., in: Mariano<br />

Delgado, Gott in Lateinamerika. Texte aus fünf Jahrhunderten, Düsseldorf 1991, 68–72.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

für den katholischen König gebetet werde, was in den Herzen der Untertanen<br />

nicht ohne Folgen bleiben könne. 53 Der Erzengel Michael, nach Dan 10,21 und<br />

12,1 der Beschützer der Guten bzw. des Volkes Gottes, sei der Beschützer der<br />

Kirche Christi und werde den spanischen König bei seiner Aufgabe unterstützen.<br />

54 Die Zeichen dazu stünden zudem günstig, denn die Spanier seien<br />

Nachfahren Japhets und alle Weltreiche müssten aus diesem Geschlecht kommen.<br />

Für Spanien spreche schließlich auch die große Sternenkonstellation des<br />

Schützen, die letztmals vor 800, also zur Zeit Karls des Großen, bzw. vor 1600<br />

Jahren, zur Zeit des Augustus, vorgekommen sei. Frankreich könne nicht diese<br />

Führungsrolle beanspruchen, denn seine Stunde sei schon vor 800 Jahren gekommen<br />

und es habe nach Ps 66,7 seine Früchte bereits getragen. 55 Kurzum:<br />

Alles spreche für Spanien, sogar die Gunst der Sterne.<br />

Hier und da lässt Campanella durchblicken, dass es dem spanischen König<br />

bisher an Klugheit gemangelt habe und er die Gunst der historischen Stunde<br />

nicht immer konsequent auszunutzen verstand. Als Beispiel für Mangel an<br />

Klugheit nennt Campanella die Tatsache, dass der spanische König nicht im<br />

Kreis kämpfe, wie dies etwa alle früheren Weltreiche getan hätten und heute<br />

die Türken täten, um sich ein benachbartes Territorium nach dem anderen<br />

einzuverleiben und so immer eine gesicherte Grenze zu haben; vielmehr verausgabe<br />

er seine Kräfte in verschiedenen und voneinander räumlich sehr entfernten<br />

Schlachten; 56 auch habe der spanische König bisher keine kluge Rechtsprechung<br />

gehabt.<br />

Im Hinblick auf die ungenutzten Chancen sagt Campanella, der spanische<br />

König habe zwar glanzvolle Teilsiege über Frankreich, die Protestanten und<br />

die Türken errungen, danach aber habe er nicht zum restlosen Endsieg konsequent<br />

ausgeholt. Obwohl seine Einnahmen über 20 Millionen Golddukaten<br />

jährlich ausmachten und somit die finanziellen Mittel dazu vorhanden gewesen<br />

wären, habe er bisher seine Feinde nicht zu vernichten verstanden. 57 Kurzum:<br />

Die Spanier hätten in Sachen Klugheit und Ausnutzung der Gunst der historischen<br />

Stunde manche Fehler begangen, aber Gott stehe ihnen nach wie vor bei,<br />

so dass es noch nicht zu spät für eine kluge Kurskorrektur sei.<br />

Das Werk endet u.a. mit guten Ratschlägen für die Regierung der Neuen<br />

Welt und mit einer Ermahnung an die christlichen Königreiche, sich unter<br />

Führung des spanischen Königs gegen die Türken zu vereinen, der ebenfalls<br />

aus dem Geschlecht Japhets stamme 58 und der typische König der Assyrer sei:<br />

53 Vgl. Campanella, Monarchie d’Espagne – Monarchie de France (wie Anm. 44), 33f.<br />

54 Vgl. ebd., 17, 35.<br />

55 Vgl. ebd., 249.<br />

56 Vgl. ebd., 207ff.<br />

57 Vgl. 153ff.<br />

58 Vgl. ebd., 321.<br />

269


270<br />

Mariano Delgado<br />

Nachdem er bereits das Reich Israel, d.h. das oströmische Reich, erobert habe,<br />

werde er auch das Reich Juda, d.h. das weströmische Reich, erobern; es sei<br />

denn, dass die europäischen Christen Buße täten und sich unter die Führung<br />

Roms, unseres Jerusalems, stellten, wie Campanella im Werk Monarchia Messiae<br />

klarmacht. 59 Täten sie dies nicht, dann verlören sie das Reich und das<br />

Priestertum, die dann in die Neue Welt auswanderten; 60 besiegten sie indes die<br />

Türken mit der Kraft des spanischen Königs als mystischem Kyrus, dann<br />

würde die Kirche erneuert werden. 61<br />

Der Grundgedanke der ab 1634 entstandenen, unvollständig gebliebenen<br />

Schrift, die man in einer modernen Ausgabe nicht ohne Grund Monarchia di<br />

Francia genannt hat, ist ein wenig anders. Die Ouvertüre ist auch hier danielisch:<br />

Campanella nimmt Bezug auf Dan 2 und 7 und entwirft eine Interpretation<br />

der Beine und Zehen des Standbildes: Die zwei Beine symbolisieren das<br />

Ost- und das Weströmische Reich, und die zehn Zehen die zehn Nachfolgereiche<br />

des Römischen Reichs im letzten Zeitalter der Welt. Mit der neunten Zehe<br />

gehe das heidnische Zeitalter zu Ende und beginne das christliche, denn<br />

Christus, der Eckstein, sei vom ewigen Berg ohne menschliches Zutun gefallen,<br />

er habe das Standbild zerstört und seitdem verbreite sich das Reich der<br />

Heiligen auf der ganzen Welt, bis es ein wirklich universales Reich geworden<br />

sei. 62<br />

Campanella betont auch hier das hierokratische Prinzip, wonach der Papst<br />

das geistliche Haupt dieser Monarchie sei und die Könige der zeitliche Arm.<br />

Die Frage ist nun, welcher christliche König die ganze Welt zu einer Herde<br />

unter Führung eines Hirten vereinen soll. 63 Campanella schickt nun die These<br />

59 Vgl. Tommaso Campanella, Monarchia Messiae. Con due „Discorsi della libertà e della felice<br />

suggezione allo Stato ecclesiastico“. Facsimile dell’edizione originale del 1633 con il testo<br />

critico dei „Discorsi“, ed. Luigi Pirpo, Turin 1973.<br />

60 Vgl. dazu Mario Góngora, El Nuevo Mundo en el pensamiento escatológico de Tomás<br />

Campanella, in: Anuario de Estudios Americanos 31 (1974) 385–408. Die Verbindung von<br />

translatio imperii und translatio ecclesiae in die Neue Welt, die hier von Campanella angesprochen<br />

wird und uns unten bei Gonzalo Tenorio wieder begegnen wird, ist eine Konstante in der<br />

einschlägigen Literatur seit etwa 1570, als der unglückliche Francisco de la Cruz – er starb 1578<br />

in Lima den Ketzertod auf dem Scheiterhaufen – mit solchen Theorien Aufsehen erregte. Vgl.<br />

dazu Delgado, Die Metamorphosen (wie Anm. 4), 65–73. Vereinzelt wurde aber bereits nach den<br />

ersten Berichten über die Mexiko-Mission der Franziskaner eine translatio imperii und ecclesiae<br />

in die Neue Welt angedeutet, da die katholische Kirche dort ein neues Pfingsten zu erleben schien,<br />

während sie in der Alten Welt weite Gebiete an den Protestantismus verlor. Der Franziskanergeneral<br />

Nikolaus Herborn wird z.B. 1532 schreiben: „Videat iam Germania ne illa natio [Indica] et<br />

regnum et sceptrum recipiat; neve ipsa [Germania] percutiatur sententia qua iudaeorum caeca<br />

obstinatio percussa est: ‚auferetur a vobis regnum et dabitur genti facienti iustitiam eius‘ [Mt<br />

21,43].“ Textbeleg in: Borges, El sentido transcendente (wie Anm. 5), 170.<br />

61 Vgl. Campanella, Monarchie d’Espagne – Monarchie de France (wie Anm. 44), 333.<br />

62 Ebd., 376.<br />

63 Vgl. ebd., 381.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

seines früheren Werkes voraus: Allem Anschein nach sei dies die Aufgabe des<br />

spanischen Königs: 64 Die Universalmonarchie sei bereits von den Babyloniern<br />

auf die Meder/Perser, die Griechen und die Römer gekommen, später auf die<br />

Franzosen unter Karl dem Großen und nun an die Spanier unter Karl V. Es sei<br />

also nicht nötig, diese Universalmonarchie unter den Franzosen oder unter<br />

anderen Nationen zu suchen: Die translatio imperii sei bereits vollzogen und<br />

habe das letzte Reich der Erde und des hiesigen Zeitalters erreicht. Und nach<br />

dem spanischen Reich „erwartet man das Reich der Kirche“, 65 also weltweit<br />

die eine Herde unter einem Hirten.<br />

Dann aber distanziert sich Campanella von seiner früheren These und behauptet<br />

kühn: „Das Wesen einer solchen Monarchie gehört eher zu Frankreich<br />

als zu Spanien“. 66 Die Spanier riskierten nämlich, ihre Monarchie zu verlieren,<br />

so dass nicht sie, sondern andere die Monarchie Christi errichten würden. Die<br />

Spanier seien dazu nur die Wegbereiter.<br />

Nun folgt eine Apologie Frankreichs, dessen Könige auch aus dem Geschlecht<br />

Japhets und Pipins seien; und der Titel „katholischer König“, den der<br />

König von Spanien führe, sei nicht hochrangiger als der Titel „allerchristlichster<br />

König“, der dem König Frankreichs zustehe. 67 Spanien (in der Zeit der<br />

Personalunion war damit auch Portugal gemeint) sei zwar das westlichste Land<br />

der Christenheit, aber wenn die Spanier ihrer Bestimmung nicht gerecht würden,<br />

so werde Gott Menschen anderer Länder, etwa aus Frankreich, auswählen<br />

und in Spanien ansiedeln 68 usw.<br />

Es folgen zwölf z.T. sehr kuriose Argumente, die den nahenden Untergang<br />

der spanischen Monarchie erwarten lassen. Dieser Untergang könne im Prinzip<br />

nur vom Papst und vom französischen König herbeigeführt werden, de facto<br />

aber nur von Letzterem, wofür Campanella weitere acht Argumente anführt.<br />

Das Werk endet mit Ratschlägen zur renovatio imperii durch die Franzosen,<br />

obwohl im früheren Werk behauptet wurde, ihre Stunde sei schon mit Karl<br />

dem Großen gekommen und sie hätten ihre Früchte bereits getragen. Dazu sei<br />

es zuallererst nötig, den Hispanismus zu bekämpfen und die Propagandaschlacht<br />

gegen die Spanier mittels der Feder und der Gelehrtenargumente zu<br />

gewinnen. Dabei müsse man predigen, Gott wolle nicht, dass die Spanier in der<br />

Alten Welt blieben, wo sie nur Böses tun könnten; vielmehr wolle er, dass sie<br />

in die Neue Welt auswanderten, 69 wo er für sie nur Gutes vorgesehen habe.<br />

64 Vgl. ebd., 383ff.<br />

65 Ebd., 385.<br />

66 Ebd., 389.<br />

67 Vgl. ebd., 391.<br />

68 Vgl. ebd., 396.<br />

69 Vgl. dazu Ernst, Monarchia di Cristo e nuovo mondo, in: Ders., Religione (wie Anm. 44),<br />

62–72.<br />

271


272<br />

Mariano Delgado<br />

Campanella träumte in der französischen Phase also von einer doppelten Universalmonarchie,<br />

d.h. von einer „bipolaren Weltordnung“: den Franzosen die<br />

Alte Welt, den Spaniern die Neue. Campanella entwarf als Hoftheologe des<br />

französischen Königs eine Theorie vom „Ende der Geschichte“ ganz nach dem<br />

Geschmack des im Schatten des Dreißigjährigen Krieges aufstrebenden Frankreich!<br />

Die Angst, dass die Türken ganz Europa erobern könnten und die gesamte<br />

Christenheit in die Neue Welt auswandern müsste, machte einem französisch<br />

dominierten Europa ganz ohne Spanier Platz. So skurril das klingt, der<br />

Ausgang des westfälischen Friedens 1648, vor allem aber der Pyrenäen-Friede<br />

1659 gab Campanella Recht: die Spanier mussten zwar nicht physisch in die<br />

Neue Welt auswandern und ihr Land den Franzosen überlassen, aber auf der<br />

politischen Ebene wurde die spanische Hegemonie in Europa durch die französische<br />

abgelöst. Spanien gewann seine Größe nur noch aus Übersee.<br />

1.3. Juan de Salazar (ca. 1575– nach 1622)<br />

Campanella blieb natürlich nicht unbeantwortet. Eine Flut von politischtheologischer<br />

Literatur begründete die Notwendigkeit der zwei Universalmonarchien,<br />

der päpstlichen und der spanischen sowie den Vorrang der<br />

katholischen Könige Spaniens vor allen anderen Königen der Welt. Die aus<br />

danielischer Sicht interessanteste Antwort kam aus der Feder des<br />

Benediktinerabtes Juan de Salazar mit seinem Werk Política española<br />

(1619). 70 Auch hier ist die Ouvertüre ganz danielisch:<br />

Da die Welt rund ist und die Sonne (Regel und Maßstab aller irdischen und menschlichen<br />

Handlungen) sie umkreist, so müssen dies auch alle anderen Dinge der Welt tun. Dies zeigt<br />

sich daran, dass die Universalmonarchie im Osten begann; aus der Hand der Assyrer,<br />

Meder/Perser, Griechen und Römer kam sie nun in die Hände der Spanier, denen sie der<br />

göttliche Ratschluss mit mehr Recht als allen anderen übertragen hat. Den Spaniern gehört sie<br />

nämlich aufgrund der genannten Kreisbewegung und weil sie das finis terrae bewohnen und<br />

das westliche Ende der Welt [die sogenannte Neue Welt] besitzen. 71<br />

70 Juan de Salazar, Política española, ed. Miguel Herrero García, Madrid 1945. In seiner<br />

einführenden Studie (ebd., VII–LVIII) informiert Herrero García souverän über den Hintergrund<br />

von Salazars Werk. In der Kontroverse um den Vorrang der Universalmonarchien vertraten einige<br />

spanische Autoren wie Juan de la Puente (Conveniencia de las dos Monarquías Catolicas, la de la<br />

Iglesia Romana y la del Imperio Español, y Defensa de la precedencia de los Reyes Católicos de<br />

España a todos los Reyes del mundo, Madrid 1612) und López de Madera (Excelencias de la<br />

Monarquía y Reino de España, Valladolid 1617) die Gleichrangigkeit zwischen der spanischen<br />

und der päpstlichen Monarchie, da auch die spanische Monarchie „eine, heilige, katholische und<br />

apostolische“ sei. Zu Campanella und Salazar vgl. Truyol y Serra, La Monarquía Hispánica de los<br />

Austrias (s. Anm. 44); Bosbach, Monarchia universalis (wie Anm. 7), 88, 92; Eberhard Straub,<br />

Pax et Imperium. Spaniens Kampf um seine Friedensordnung in Europa zwischen 1617 und 1635,<br />

Paderborn u.a. 1980.<br />

71 Salazar, Política española (wie Anm. 70), 19.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

Salazar entwirft dann in zwölf Grundsätzen, die er in ebenso vielen Kapiteln<br />

eingehend erläutert, 72 eine Apologie der spanischen Universalmonarchie:<br />

Erster Grundsatz. Die spanische Monarchie wird zu Recht Universalmonarchie<br />

genannt, denn keine andere Monarchie erstreckt sich über vier Kontinente<br />

und besitzt so viele Titel.<br />

Zweiter Grundsatz. Die drei Ursachen, die gewöhnlich bei der Entstehung<br />

der menschlichen Reiche eine zentrale Rolle spielen, nämlich Gott, die Klugheit<br />

und die Gunst der Stunde, sind besonders in der spanischen Monarchie am<br />

Werk.<br />

Dritter Grundsatz. Der erste Grund Spaniens für den Erwerb und die Erhaltung<br />

seiner Reiche ist die Verbreitung und der Schutz der katholischen Religion.<br />

Vierter Grundsatz. Aus der vergleichenden Betrachtung der Geschichte geht<br />

hervor, dass das spanische Volk Gottes auserwähltes Volk in der Zeit der<br />

Gnade (d.h. in der Zeit des Neuen Testaments) ist, wie das hebräische Volk es<br />

in der Zeit des Gesetzes (d.h. in der Zeit des Alten Testaments) war.<br />

Fünfter Grundsatz. Der zweite Grund für die Erhaltung der spanischen Reiche<br />

ist die gute Rechtspflege, denn das Recht wird ohne Ansehen der Person<br />

gesprochen.<br />

Sechster Grundsatz. Bei der Ernennung der Richter für ihre Reiche gehen<br />

die Katholischen Könige sehr sorgfältig vor; mit noch größerer Sorgfalt wachen<br />

sie aber darüber, dass die ernannten Richter Recht sprechen und ihre<br />

Pflichten erfüllen.<br />

Siebter Grundsatz. Die gewöhnliche Art und Weise, wie die Katholischen<br />

Könige ihre Reiche regieren, ist eine sehr kluge und bemerkenswerte.<br />

Achter Grundsatz. Die Tugenden des Königsamtes glänzen jeden Tag in den<br />

spanischen Königen, den Lenkern der Universalmonarchie.<br />

Neunter Grundsatz. Das erste Mittel, dessen sich Spanien für die Ausdehnung<br />

und Bewahrung seiner Reiche bedient, ist die Gelehrsamkeit, mit Wertschätzung<br />

der Geistlichkeit, bei der sie besonders glänzt.<br />

Zehnter Grundsatz. Das zweite Mittel, dessen sich Spanien für die Ausdehnung<br />

und Bewahrung seiner Reiche bedient, und der Nerv derselben ist die<br />

besondere Qualität und Disziplin seiner Miliz.<br />

Elfter Grundsatz. Die Sorge und Absicht Spaniens besteht nicht darin, Geld<br />

anzuhäufen, sind doch seine regelmäßigen Einkünfte schon groß genug, sondern<br />

vielmehr darin, mit diesem Geld den Willen freundlich zu stimmen und<br />

die Gemüter zu gewinnen; darin nämlich besteht der wichtigste Schatz des<br />

Fürsten. Gegenüber Campanellas Vorwurf, man habe es nach glanzlosen Siegen<br />

nicht verstanden, die Feinde restlos zu vernichten, obwohl man finanziell<br />

und militärisch dazu imstande gewesen wäre, betont Salazar, es läge nicht<br />

72 Vgl. ebd., 23–197.<br />

273


274<br />

Mariano Delgado<br />

daran, dass man es nicht verstanden habe, sondern dass man es nicht tun<br />

wollte, weil man sich im Sieg großmütig erweisen wollte. Auf diese Art<br />

gewinnen die Katholischen Könige den Willen und die Gemüter aller Völker<br />

und haben unter ihnen nicht den Ruf eines Tyrannen, sondern den frommer,<br />

barmherziger und großmütiger Väter und Fürsten. Das sei der Weg, auf dem<br />

die spanische Monarchie bald wirklich universal sein werde. 73<br />

Zwölfter Grundsatz. Der jetzige Zustand der Geschäfte der Welt, nämlich<br />

die Eintracht der spanischen Reiche und die Zwietracht der benachbarten und<br />

fremden Reiche, ist eine günstige Gelegenheit für die Bewahrung und Ausdehnung<br />

der spanischen Monarchie. Eine potentielle Gefahr sieht Salazar höchstens<br />

in der Einheit der Protestanten und in den Türken, die aber in der jetzigen<br />

Stunde die spanische Monarchie nicht ernsthaft gefährden können.<br />

Während diese zwölf Grundsätze als eine Widerlegung Campanellas zu verstehen<br />

sind, stellt der darauffolgende Schlussteil 74 den Versuch dar, anhand des<br />

Danielbuches zu zeigen, dass die spanische Universalmonarchie viele Jahrhunderte<br />

dauern und die letzte auf Erden sein wird.<br />

Eingangs stellt Salazar fest, dass nach der opinio communis nur der Katholische<br />

König und die Türken um die Führung der Universalmonarchie wetteiferten.<br />

Es folgt dann eine Auflistung der vermeintlichen Vorteile der Türken:<br />

Sie hätten die absolute Herrschaft über Land und Leute, Hab und Gut ihrer<br />

Untertanen; sie hätten keinen Papst über sich; sie hätten keine Granden, die<br />

sich gegen sie erheben könnten; sie hätten genug Leute, da die Untertanen<br />

mehrmals heiraten könnten; sie führten die Kriege persönlich und dauernd; sie<br />

seien auch Nachfahren Japhets; sie hätten sich auf den Thron Konstantinopels<br />

gesetzt; sie hätten ihre Reiche in der Nähe usw. Diese vermeintlichen Vorteile<br />

der Türken werden von Salazar Punkt für Punkt widerlegt. Anschließend zieht<br />

er das Danielbuch heran, um die Vorrangstellung der spanischen Monarchie zu<br />

begründen.<br />

Seine Aufmerksamkeit gilt zunächst Dan 7, denn in der damaligen Zeit war<br />

die Zuordnung des vierten Tieres mit seinen zehn Hörnern und dem kleinen<br />

Horn umstritten. Das erste Tier symbolisiert die Monarchie der Assyrer, das<br />

zweite die der Perser und Meder, das dritte die der Griechen einschließlich der<br />

vier Diadochenreiche. Wie steht es aber mit dem vierten Tier? Manche Exegeten<br />

wollen darunter das türkische Reich verstehen, da wie Porphyrius sagte,<br />

das römische Reich Teil des griechischen gewesen sei. Andere meinen, das<br />

vierte Reich sei das römische und das türkische, das ja die Nachfolge des oströmischen<br />

Reiches angetreten habe. Aber die meisten Autoren, so Salazar,<br />

identifizierten das vierte Reich mit dem römischen, da die Eigenschaften des<br />

vierten Tieres sehr gut dazu passten. Die größte Schwierigkeit bestehe darin,<br />

73 Vgl. ebd., 185–188.<br />

74 Vgl. ebd., 199–231.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

die zehn Hörner zuzuordnen. Man sei sich zwar darin einig, dass diese Hörner<br />

zehn Reiche symbolisierten, aber man gehe auseinander in der Meinung, welche<br />

Reiche das sein möchten und zu welcher Zeit die Trennung stattgefunden<br />

habe. Juan Maldonado, den Salazar „einen sehr fleißigen Autor und einen bewundernswerten<br />

Kommentator Daniels und anderer Bücher“ nennt, 75 behaupte,<br />

man wisse nicht, welche Reiche gemeint seien, und man müsse wohl noch<br />

warten, denn diesbezüglich sei die Prophetie noch nicht in Erfüllung gegangen.<br />

Vor diesem Hintergrund verwirft Maldonado, wie wir oben sahen, die Identifikation<br />

des kleinen Hornes mit den Türken. Da Salazar gerade diese Identifikation<br />

befürwortet, muss er sie plausibel zu machen versuchen.<br />

Zunächst beschreibt er die Ausdehnung des Römischen Reiches in der Zeit<br />

seiner größten Expansion. Danach benennt er zehn christliche Reiche, die territorial<br />

gesehen die Nachfolge des alten Römischen Reiches darstellen. Dies<br />

sind die Reiche der Franken (Frankreich), Westgoten (Spanien), Angelsachsen<br />

(England), Vandalen (Afrika), Burgunder (Burgund), Ostgoten, Langobarden,<br />

Erulen (Italien), Hunnen (Ungarn), Bulgaren (Bulgarien), Sarazenen (Syrien,<br />

Ägypten, Mesopotamien und Arabien) und der oströmischen Kaiser (Griechenland,<br />

Kleinasien, Trakien, Thesalien). So habe er, Salazar, die zehn Reiche<br />

schließlich gefunden, die der große Exeget Maldonado nicht zu finden vermochte.<br />

76<br />

Es folgt nun der Beweis, dass das kleine Horn nur die Türken und das Haus<br />

der Osmanen bedeuten kann. Dies treffe zu, weil dieses Haus, wie Daniel geweissagt<br />

habe, unter den anderen zehn Hörnern entstanden sei, nämlich zu<br />

Füßen des oströmischen Reiches und des Reiches der Sarazenen, welche die<br />

zwei größten Hörner des vierten Tieres und die zwei größten Nachfolgereiche<br />

des römischen Reiches waren. Trotz seiner niedrigen Herkunft habe das osmanische<br />

Haus bereits die drei größten der zehn Nachfolgereiche erobert, wenn<br />

man Nordafrika, also das Reich der Vandalen dazu rechnet. Darin erfülle sich<br />

die Prophetie Daniels, wonach das kleine Horn die drei größten Hörner herausreißen<br />

und ihnen ihre Kraft und Stärke nehmen würde. Es erfülle sich auch<br />

Daniels Weissagung, dass dieses kleine Horn gegen den Höchsten lästern und<br />

die Heiligen des Höchsten vierteilen würde, denn die Türken bekämpften das<br />

Christentum, machten sich über den „schwächeren“ Gott der Christen lustig,<br />

der den Christen offenbar nicht beistehen könne, verfolgten die Christen und<br />

hätten sich zum Ziel gesetzt, das Christentum auszurotten und ihre verruchte<br />

mohamedanische Sekte weltweit zu verbreiten.<br />

Daniel 7,25 sagt, die Heiligen des Höchstes werden dem vierten Tier „für<br />

eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit ausgeliefert“ („Et tradentur in<br />

manu eius usque ad tempus, et tempora et dimidium temporis“). Maldonado,<br />

75 Ebd., 206.<br />

76 Vgl. ebd., 209f.<br />

275


276<br />

Mariano Delgado<br />

Tomás de Maluenda 77 und die meisten katholischen Fachexegeten verstehen<br />

darunter die Zeit des Antichristen, die noch nicht gekommen sei, und die dreieinhalb<br />

Jahre dauern soll. Das war um 1600 die opinio communis der Bibelwissenschaft.<br />

Der theologische Laie Salazar aber nimmt sich die Freiheit zum<br />

Widerspruch. Unter Berufung auf Autoren wie Génébrard 78 und Hector Pinto 79<br />

vertritt Salazar nun eine andere Meinung, die er zwar nicht als unfehlbar, aber<br />

als zumindest interessante und wahrscheinliche hinstellt. 80 Da aetas, tempus<br />

und saeculum dasselbe bedeuteten, nämlich 100 Jahre, gehe für ihn aus dem<br />

Danielwort hervor, dass die Herrschaft des osmanischen Hauses 350 Jahre<br />

dauern werde, bevor sie von den Christen vernichtet werde, und die Universalmonarchie<br />

für immer dem Volk des Höchsten, d.h. der katholischen Kirche<br />

unter der geistlichen Führung des Papstes und der zeitlichen des katholischen<br />

Königs von Spanien übertragen werde. Da die Expansion des osmanischen<br />

Hauses um das Jahr 1300 begonnen habe, werde sein Untergang um die Mitte<br />

des 17. Jahrhunderts stattfinden. Spanische Astrologen hatten ihn 1603 für das<br />

Jahr 1661 prophezeit.<br />

Abschließend 81 benennt Salazar zwölf Gründe, warum der Sitz der<br />

Universalmonarchie der Heiligen des Höchsten in Spanien sein soll. Dabei<br />

werden u.a. die in den oberen zwölf Grundsätzen genannten Argumente wiederholt,<br />

dazu noch die Astrologie und die sibyllinischen Weissagungen bemüht.<br />

Am Ende wird zusammenfassend festgehalten: Da Spanien immer von<br />

anderen Völkern beherrscht worden sei, nämlich von den Phöniziern, den<br />

Karthagern, den Römern, Vandalen, Sueven und Goten (von den Arabern ist<br />

nicht die Rede), also „biblisch“ gesprochen, das „kleinste“ unter den Völkern<br />

sei, entspreche es der Logik der Heilsgeschichte, dass es nun anders werde und<br />

Spanien zum Sitz der Universalmonarchie erhoben werde, dem alle anderen<br />

Nationen der Welt zu gehorchen hätten. Die Bedingung dafür sei, dass Spanien<br />

rein von Häresie dem wahren Glauben treu bleibe, den katholischen Glauben in<br />

allen vier Teilen der Welt verkünde und dafür sorge, dass man Gott rund um<br />

die Uhr bei Tageslicht das iuge sacrificium darbiete, von dem Daniel (12,11)<br />

spreche und das das heilige Messopfer bedeute. 82<br />

77 Zu Maldonado vgl. oben (wie Anm. 24), zu Maluenda vgl. Thomas Maluenda, De<br />

Antichristo libri undecim, Romae 1604.<br />

78 Es handelt sich um den Danielkommentar von Gilbert Génébrard (1537–1597), einem der<br />

besten christlichen Hebräisten seiner Zeit.<br />

79 Gemeint ist folgendes Werk: F. Hectoris Pinti, Lvsitani, Hieronymiani [...] In Danielem,<br />

Lamentationes Hieremiae, et Nahvm divinos vates, commentarii, Coloniae: in officina<br />

Birckmannica 1582, 736 S.<br />

80 Vgl. Salazar, Política española (wie Anm. 70), 222.<br />

81 Vgl. ebd., 222–231.<br />

82 Vgl. ebd., 230f.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

1.4. Diego Saavedra Fajardo (1584–1648)<br />

Salazars Werk stellte den Höhepunkt der Legitimierung des spanischen<br />

Hegemonialanspruchs auf dem Boden des Danielbuches dar. Aber auch nach<br />

ihm wandten sich spanische Autoren dem Thema zu, denn während des<br />

Dreißigjährigen Krieges wurde – vor allem zwischen Franzosen und Spaniern<br />

– eine Propagandaschlacht um die Universalmonarchie geführt. In diesem<br />

Kontext entwarf Diego Saavedra Fajardo, der Chef der spanischen Delegation<br />

bei den Verhandlungen, die 1648 zum „Westfälischen Frieden“ führten, eine<br />

Begründung des spanischen Sendungsbewusstseins, die das danielische<br />

Weltmonarchien-Schema vollständig hispanisierte. 83<br />

Spanien, so Saavedra Fajardo, 84 sei eine so große Monarchie, dass die Sonne<br />

darin nicht untergehe; von dieser Monarchie habe der Prophet Daniel gesprochen,<br />

als er (vgl. Dan 7) vier Tiere aus dem Meer hervorgehen sah. Auch wenn<br />

die meisten, wozu auch die seriösen und heiligen Autoren gehörten, darunter<br />

die vier Monarchien der Assyrer, Perser, Griechen und Römer verstünden,<br />

habe Daniel damit vielmehr die vier Reiche gemeint, welche die Alanen, Vandalen,<br />

Sueven und Westgoten auf spanischem Boden errichteten. Die Züge der<br />

vier Tiere würden nämlich ganz gut zu diesen Reichen passen. Dabei werden<br />

die zehn Hörner des vierten Tieres mit den zehn ersten arianischen Westgotenkönigen<br />

Spaniens identifiziert; das kleine Horn ist dann Leovigild, der arianische<br />

Westgotenkönig, der nach der Bekehrung Rekareds zum katholischen<br />

Glauben das Reich für kurze Zeit wieder an sich riss; die Augen wie Menschenaugen<br />

und das Maul, das anmaßend redete, sind nun die arianischen Bischöfe,<br />

die Leovigild zu einem Konzil nach Toledo zusammenrief, um die<br />

Übereinstimmung der arianischen Sekte mit der katholischen Wahrheit zu<br />

beweisen. Das Volk der Heiligen des Höchsten, dem nach der Zermalmung des<br />

kleinen Hornes die Herrschaft für ewig übergeben wird, ist das katholische<br />

Spanien nach der Bekehrung Rekareds. Seitdem ist die spanische Monarchie<br />

dem katholischen Glauben nämlich treu geblieben, und das spanische Reich ist<br />

immer größer und mächtiger geworden, bis es alle vier Erdteile erfasst hat. Das<br />

spanische Reich ist also – zusammen mit der Katholischen Kirche – das fünfte<br />

eschatologische Reich, von dem gesagt wurde, dass es in Ewigkeit nicht untergehen<br />

und keinem anderen Volk überlassen werden soll. Letzteres sei aber eher<br />

ungewiss und könne aus Daniels Prophetie nicht mit Sicherheit entnommen<br />

83 Zu Saavedra Fajardo vgl. Eberhard Straub, Don Diego Saavedra y Fajardo und die<br />

Rechtfertigung des spanischen Reiches, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 34 (1971)<br />

512–546.<br />

84 Für den Vergleich wurde folgendes Werk ausgesucht: Diego Saavedra Fajardo, Corona gótica,<br />

castellana y austríaca, in: Ders., Obras completas, ed. Angel González Palencia, Madrid<br />

1946, 695–1068, hier vor allem 1063–1068.<br />

277


278<br />

Mariano Delgado<br />

werden. Die Erfahrung und das Naturgesetz zeigten uns nämlich, „dass Reiche<br />

entstehen, leben und sterben“. Unfehlbar sei einzig die Wahrheit, dass die<br />

Dauer der Reiche als Lohn der Tugend zu verstehen seien und dass Gott wegen<br />

Gewalttat und Übermut, die Herrschaft von einem Volk auf das andere übertrage<br />

– wie Saavedra unter Anspielung auf Sir 10,8 abschließend festhält. 85<br />

Mitten in der theologisch-politischen Propagandaschlacht 86 suchte Saavedra<br />

also – dem spanischen Machtverlust im Schatten des Dreißigjährigen Krieges<br />

zum Trotz – Zuflucht in eine totale Hispanisierung der Visionen Daniels, die in<br />

Einklang mit den mittelalterlichen Geschichtschroniken aus der Zeit Alfons’<br />

X. aus Spanien nach Rekareds Bekehrung 589 das Israel des Neuen Testaments<br />

macht.<br />

2. Der Traum von der Universalmonarchie in Portugal<br />

Die Lusitanisierung der Visionen Daniels geschah weitgehend zeitgleich und<br />

parallel zur Hispanisierung und entsprang denselben Wurzeln (Portugal als<br />

bedeutender Sitz des Diasporajudentums, Beeinflussung des portugiesischen<br />

Messianismus durch Massenbekehrungen aus dem Judentum sowie durch die<br />

wunderbare trikontinentale Expansion des kleinen Landes am Rande<br />

Westeuropas im Entdeckungszeitalter). Einen ersten literarischen Ausdruck<br />

fand das messianische Nationalgefühl Portugals in den zwischen 1530 und<br />

1546 erschienenen Trovas des Schusters Gonçalvo Anes, besser bekannt unter<br />

dem Namen „Bandarra“. In einfachen Versen und kryptischer Sprache bester<br />

sibyllinischer Tradition deutete er die messianischen Prophezeiungen der Bibel<br />

auf Portugal und dessen Monarchie hin um.<br />

Luís de Camões, Portugals Nationaldichter par excellence, lieferte 1572, auf<br />

dem Höhepunkt der portugiesischen Expansion, in seinem Epos Os Lusíadas<br />

ein weiteres literarisches Zeugnis des vorherrschenden messianischen Gefühls,<br />

diesmal sogar mit einem direkten quintomonarchistischen Bezug, denn er ließ<br />

die Taten der danielischen Monarchien angesichts der beispiellosen Heldentaten<br />

Lusus’ verblassen, womit eine Deutung der portugiesischen als der fünften<br />

Weltmonarchie nahegelegt wurde.<br />

Ihr ewigen Bewohner dieser Zinne<br />

Des Pols, umglänzt von lichter Sterne Chor<br />

Wenn nicht der hohe Mut aus eurem Sinne<br />

Von<br />

Lusus’ tapfrem Stamme sich verlor:<br />

So wurdet ihr wohl auch mit Klarheit inne,<br />

Wie ihn des Schicksals. ernster Schluss erkor,<br />

85 Vgl. ebd., 1068.<br />

86 Vgl. dazu Straub, Pax et Imperium (wie Anm. 70).


Dass einst Assyrer, Perser, Römer, Griechen<br />

Vor ihm in tiefes Dunkel sich verkriechen. 87<br />

Der Traum von der Universalmonarchie<br />

2.1. Der Sebastianismus 88<br />

Aber seine entscheidende Prägung erhielt der portugiesische Messianismus<br />

durch zwei schmerzliche Ereignisse, die kurz darauf eintrafen. 1578 zog der<br />

junge König Dom Sébastião (1554, König von 1568–1578) – er war<br />

vierundzwanzig Jahre alt, lebte keusch und fromm wie ein mittelalterlicher<br />

Miles Christi – mit ca. 18 000 Rittern bester portugiesischer Herkunft,<br />

worunter sich 4000 deutsche Söldner befanden, aus, um Marokko zu erobern:<br />

Angespornt durch den spanischen Sieg über die türkische Flotte bei Lepanto<br />

(1571) und nicht unbeeinflusst von Camões’ Epos, träumte dieser letzte<br />

anachronistische Kreuzfahrer des Abendlands, ein portugiesischer Barbarossa,<br />

davon, die Muslime von Westen nach Osten Stück für Stück aus den<br />

„Ursprungsgebieten“ des Christentums zu verdrängen, um dann in Nordafrika<br />

ein christliches Königreich zu errichten, das sich mit dem sagenhaften Reich<br />

des Priesters Johannes verbinden könnte. Am Abend des 3. August desselben<br />

Jahres war der Traum in der Schlacht von Kasr-el-Kebir im Norden Marokkos<br />

allerdings ausgeträumt: Die Hälfte der Kreuzfahrer fiel, die übrigen wurden<br />

fast vollzählig gefangengenommen. Nur ein paar Dutzend konnten sich nach<br />

Tanger retten, und das, was sie zu berichten hatten, war für die Portugiesen<br />

noch schlimmer als die Niederlage selbst: Dom Sébastião sei mitten im<br />

Schlachtgetümmel spurlos verschwunden.<br />

Da er ohne Nachkommen war, musste man das Ende der messianisch gedeuteten<br />

portugiesischen Monarchie schon befürchten, als diese sich eben<br />

anschickte, die fünfte eschatologische Weltmonarchie zu werden. Nach einer<br />

zweijährigen Regentschaft des betagten Kardinals Dom Henrique, eines Onkels<br />

und einzigen Verwandten des glücklosen Königs, bestätigten sich zunächst<br />

die schlimmsten Befürchtungen: Portugal fiel 1580 an den spanischen<br />

König Philipp II., der nun in der sogenannten „Personalunion“ die zwei<br />

87 Luís de Camões, Die Lusiade. Übersetzt von J. J. C. Donner. Mit einer Einleitung von O. v.<br />

Leixner Stuttgart 1883, S. 14 (I,24). Portugiesischer Text der letzten vier Verse: “Deveis de ter<br />

sabido claramente / Como é dos Fados grandes certo intento / Que por elas se esqueçam os humanos<br />

/ De Assirios, Persas, Gregos e Romanos”. Wie man sieht, hat der portugiesische Text die<br />

richtige Reihenfolge der Weltreiche genannt, während der deutsche Übersetzer – Traduttore,<br />

traditore! – wohl aus Gründen des Reims die Römer vor den Griechen nennt.<br />

88 Zum Sebastianismus vgl. Cantel, Le messianisme (wie Anm. 4); Ders., De l’histoire à la<br />

chimère, le Sébastianisme portugais (wie Anm. 4); J. Lúcio de Azevedo, A evolução do sebastianismo,<br />

Lissabon 1984; A. M. Bettencourt Machado Pires, D. Sebastião e o Encoberto. Estudo e<br />

antologia, Lissabon 1987; J. van den Besselaar, O sebastianismo. História sumaria, Lissabon<br />

1987.<br />

279


280<br />

Mariano Delgado<br />

mächtigsten Weltreiche seiner Zeit vereinte. Dieses Ereignis, von den Spaniern<br />

als abermalige Bestätigung ihres maßlosen Sendungsbewusstseins gedeutet,<br />

wurde von den portugiesischen Nationalisten hingegen nach einem kurzen<br />

Schock nicht als das Ende ihrer eschatologischen Monarchie, sondern als der<br />

Beginn der „babylonischen Gefangenschaft“ ihres messianischen Volkes<br />

empfunden. Dass der portugiesische Messianismus bei der Restauration der<br />

Monarchie 1640 in der Person von João IV., Herzog von Bragança, aus dieser<br />

Gefangenschaft schließlich nicht geschwächt, sondern mit neuem Impetus<br />

hervorging, hing wohl mit folgenden Faktoren zusammen:<br />

(1) Das Verschwinden Dom Sébastiãos war aus dem Stoff gemacht, aus dem<br />

Legenden entstehen. Bald nach dem Anschluss Portugals tauchten folglich –<br />

1584, 1585, 1594, 1598 – Betrüger auf, die sich mit wechselhaftem Erfolg für<br />

den verschwundenen König ausgaben. Ihre sukzessive Entlarvung nährte nur<br />

des Volkes Hoffnung auf die Rückkehr des „echten“ Dom Sébastião.<br />

(2) 1602–1603 veröffentlichte Dom João de Castro, Sohn des Vizekönigs<br />

der portugiesischen Überseeprovinzen, eine kommentierte Ausgabe der Trovas<br />

von Bandarra. Er deutete das Werk auf den „Sebastianismus“ hin und kündigte<br />

die Rückkehr des ersehnten Königs für das Jahr 1640 an. (Neuausgaben der<br />

Trovas erschienen in den Krisenzeiten Portugals immer wieder, so 1809–1810,<br />

1816 und 1911).<br />

(3) Der national gesinnte Klerus wurde zudem in Hofpredigten und Beichten<br />

zum Sprachrohr des Sebastianismus unter den Gebildeten und Adeligen. Die<br />

Spanier, verblendet von der eigenen Größe, konnten wohl nicht fassen, dass in<br />

ihrem Schatten ein Messianismus weiter gedeihen konnte, der sich schließlich<br />

als resistent gegen den Assimilierungssog des spanischen erweisen sollte.<br />

Durch Geringschätzung versäumten sie nämlich, den portugiesischen Klerus<br />

für das Projekt einer Universalmonarchie unter spanischer Führung zu gewinnen,<br />

ein Irrtum, den sie bitter bezahlen sollten; denn im Klerus, allen voran in<br />

den Reihen der Jesuiten, waren die Hüter und Erwecker portugiesischen Nationalbewusstseins.<br />

Der prominenteste Vertreter dieser Bewegung war der Jesuit<br />

António Vieira (1608–1697), eine überaus schillernde Persönlichkeit: indiofreundlicher<br />

Brasilienmissionar, nationalgesinnter Hofprediger, Theologe und<br />

Sprachkünstler, der die portugiesische Sprache nicht minder beeinflusste als<br />

Luther die deutsche. Diesem Vieira wollen wir uns nun näher zuwenden, da<br />

uns in ihm der Quintomonarchismus mit einer Wucht begegnet wie sonst kaum<br />

in der gesamten abendländischen Geschichte.<br />

2.2. António Vieira<br />

Vieira war ursprünglich, so etwa 1634 in seinem Sermão de São Sébastião<br />

(Predigt zum Fest des Hl. Sebastian) in Bahia (Brasilien), ein notorischer


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

Sebastianist, der mit dem baldigen Auftauchen des verschwundenen Königs<br />

wirklich zu rechnen schien. Nach der Restauration der Monarchie 1640 – erst<br />

im Dezember des von Bandarra vorausgesagten Jahres, das in Portugal mit<br />

einer ungeheuerlichen eschatologischen Spannung gelebt wurde!– in João IV.<br />

hielt er aber nunmehr den Sebastianismus für eine providentielle List des<br />

Himmels, deren eigentlicher Zweck nicht die Rückkehr des legendären Königs<br />

gewesen sei, sondern das Wachhalten des national-messianischen Feuers<br />

Portugals mit der Hoffnung auf eine Restauration der Monarchie. Die<br />

Restauration wurde allerdings weder vom Papst noch vom spanischen König,<br />

den tragenden Säulen der katholischen Universalmonarchie, anerkannt, eine<br />

Situation, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts anlässlich der kreolischen<br />

Unabhängigkeitserklärungen in Spanisch-Amerika wiederholen sollte. Es<br />

folgte nun ein achtundzwanzigjähriger Restaurationskrieg (!), nach dessen<br />

Ausgang 1668 die wiedereingeführte portugiesische Monarchie anerkannt<br />

werden musste und Spanien seinen europäischen Hegemoniestatus verlor.<br />

Mitten in diesem Restaurationskrieg entfachte nun Vieira eine schier übermenschliche<br />

politisch-theologische Aktivität, um die Restauration als Ausdruck<br />

göttlichen Willens zu rechtfertigen, ja um nachzuweisen, dass in Wirklichkeit<br />

Portugal und nicht etwa Spanien dazu ausersehen sei, das fünfte Reich<br />

zu leiten, von dem Daniel spricht. Neben vielen Predigten widmete er diesem<br />

Ziel eine eingehende Studie mit dem Titel História do Futuro – Esperança de<br />

Portugal – Quinto Império do mundo (Künftige Geschichte – Hoffnung Portugals<br />

– Fünftes Weltreich). Er wird diese Studie nicht vollenden, aber aus den<br />

gefundenen Teilen sowie dem überlieferten Gesamtplan 89 des Werkes können<br />

wir einen ziemlich vollständigen Einblick in den messianischen „Quintomonarchismus“<br />

Vieiras gewinnen.<br />

Mit Berufung auf das Danielbuch wollte Vieira ohne jeden Zweifel beweisen,<br />

dass ein neues, fünftes Reich Christi hier auf Erden verheißen und Portugal<br />

dabei die Führungsrolle vorbehalten sei. Man erinnere sich, dass die vorherrschenden<br />

Linien in der Exegese das vierte Reich mit dem Römischen und<br />

89 Der Gesamtplan des Werkes findet sich auf portugiesisch in: António Vieira, Obras escolhidas,<br />

hg. v. António Sérgio / Hernâni Cidade, Bd. 9: História do Futuro (II), Lissabon 1953, Bd. 9,<br />

161–170; auch in: António Vieira, História do Futuro. (Livro Anteprimeiro), hg. v. J. van den<br />

Besselaar, Bd. 1: Bibliografia, introdução e texto (Portugiesische Forschungen der Görresgesellschaft,<br />

Dritte Reihe: Vieira-Texte und Vieira-Studien, 3,1 Band), Münster 1976, 26–29; eine<br />

deutsche Übersetzung ist erschienen in: Delgado, Die Metamorphosen (wie Anm. 4), 59–63. Das<br />

unvollständige Werk ist zwischen 1649 und 1664 entstanden, manche Teile könnten jedoch bereits<br />

1647 konzipiert worden sein. Vgl. Cantel, L'História do futuro du Père António Vieira. Réflexions<br />

sur la genèse de l'oeuvre et les différents moments de sa composition, in: Bulletin des Études<br />

Portugaises (Nouvelle Série) 24 (1963) 23–49. Das erste Buch von Vieras „História do futuro“ ist<br />

neuerdings in einer italienischen Übersetzung erschienen, die auf die jüngste Literatur hinweist,<br />

vgl. António Vieira, Per la Storia del futuro, ed. Davide Bigalli. Postfazione di Paolo Rossi, Aosta<br />

2002.<br />

281


282<br />

Mariano Delgado<br />

seinen Rechtsnachfolgern identifizierten und das fünfte Reich für ein eschatologisches,<br />

überirdisches hielten, während die spanischen Hoftheologen zu<br />

Vieiras Zeit von der eschatologischen Bedeutung ihres eigenen Weltreichs<br />

überzeugt waren. So barg die These Vieiras von Anfang an politisch-theologischen<br />

Sprengstoff. 90 Vieira hielt nun die zehn Monarchien seiner Zeit – Portugal,<br />

Spanien, Frankreich, England, Schweden, Dänemark, Russland, Polen, das<br />

Heilige Römisch-germanische Reich mit Deutschland und Italien, und selbst<br />

die Türken wurden dazu gezählt, weil sie ja Ursprungsgebiete des alten Römischen<br />

Reiches besetzt hielten – für die zehn Königreiche, in denen das alte<br />

Römische Reich entsprechend den zehn Zehen der danielischen Statue zersplittert<br />

wurde: Sie alle sind aus Ton. 91<br />

Anschließend versucht er mit einem Echo aristotelischer Theorien zu beweisen,<br />

dass die „Hispanier“ – also Spanier und Portugiesen zusammen – die<br />

mächtigsten Nachfolger der Römer seien, die Portugiesen aber in Tapferkeit,<br />

Willenskraft und Anstrengungsvermögen die Spanier überragen würden. 92<br />

Folglich sei es logisch, wenn das fünfte Reich, das Reich Christi und der<br />

Christen, in seiner irdischen Gestaltung durch die Portugiesen als dem mächtigsten<br />

Volk der Christenheit angeführt werde. Dieses Reich Christi werde von<br />

dieser Welt sein, in der es Tausend Jahre bestehen, bevor es in die himmlische<br />

Vollendung übergehen werde. Dieses Reich, auf das die ganze Schöpfung<br />

hindeute und dessen Stunde mit der Restauration der portugiesischen Monarchie<br />

– wenn nicht João IV. selbst, so werde gewiss einer seiner Nachfolger<br />

dieses fünfte Reich verwirklichen können – nahegekommen sei, werde ein<br />

geistliches und ein zeitliches zugleich sein, mit dem Papst als geistlichem sowie<br />

dem portugiesischen Monarchen als zeitlichem Haupt, den beiden Stellvertretern<br />

Christi, wobei dem geistlichen der Vorrang zugestanden wird, weil<br />

die religiöse Erneuerung der Christenheit und die Evangelisierung der ganzen<br />

Welt das Hauptziel dieses Reiches seien. 93<br />

Das fünfte Reich Vieiras ist auch Ausdruck der im spanischen Quintomonarchismus<br />

vorkommenden Utopie des Unum ovile et unus pastor. In Einklang<br />

90 Wenn ein Jesuit des 20. Jahrhunderts – vgl. D. Maurício, Rezension von „História do Futuro“,<br />

in: Brotéria 58 (1954) 507f – seinen Mitbruder Vieira eher einen „klinischen“ denn einen<br />

„theologischen“ Fall nennt, so übersieht er, dass im 17. Jahrhundert und nicht nur in der iberischen<br />

Welt Geschichtsphilosophie noch weitgehend „Geschichtstheologie“ auf dem Boden biblischer<br />

Überlieferung war.<br />

91 Vgl. Vieira, Obras (wie Anm. 89), 14.<br />

92 Vgl. ebd., 35–38, 38. Diese aristotelische Begründung nationalen Sendungsbewusstseins<br />

spielte auch in der Hispanisierung eine zentrale Rolle. Besonders der Hofchronist Juan Ginés de<br />

Sepúlveda, der die „Politik“ des Aristoteles ins Lateinische neu übersetzt hatte, wird sich auf die<br />

aristotelische Theorie des natürlichen Führungs- und Herrschaftsanspruchs des stärkeren und<br />

vornehmeren Volkes berufen. Vgl. Juan Ginés de Sepúlveda, Demócrates segundo. O de las justas<br />

causas de la guerra contra los indios, ed. Angel Losada, Madrid 1984, 19ff, 33–37.<br />

93 Vgl. Vieira, Historia (wie Anm. 89) 39–159.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

mit der millenaristischen christlichen Tradition postuliert Vieira, dass zu dieser<br />

Einheit auch und vor allem die Bekehrung der Juden – einschließlich der zehn<br />

zerstreuten Stämme Israels – gehöre, ein Gedanke, der auch von den zur selben<br />

Zeit auftauchenden englischen Quintomonarchisten 94 vertreten wurde und Ausdruck<br />

des „Philosemitismus im Barock“ ist. Völker, die sich während des 17.<br />

Jahrhunderts berufen fühlten, die fünfte Monarchie zu führen, wie die Portugiesen,<br />

die Spanier, die Engländer, die Franzosen, die Schweden und die Niederländer<br />

entwarfen Pläne zur (Wieder-)Ansiedlung der Juden und hielten nach<br />

den zehn zerstreuten Stämmen Ausschau. 95<br />

Vieiras fünftes Reich hob die Jurisdiktion der anderen christlichen Königreiche<br />

nicht auf, sondern überlagerte sie als eine portugiesisch-päpstliche Oberinstanz<br />

zur friedlichen konsensualen Lösung der in der Christenheit entstehenden<br />

Konflikte. Diese an Las Casas erinnernde Sicht einer „subsidiären Universalmonarchie“<br />

hat manchen Forscher wie Cantel dazu verleitet, in Vieira einen<br />

modernen Visionär zu sehen, der in den religiösen Denkkategorien seiner Zeit<br />

im Grunde das Zeitalter der heutigen übernationalen Institutionen, an die jeder<br />

Staat zum Allgemeinwohl der gesamten Menschheit ein Stück seiner Souveränität<br />

abtritt, vorweggenommen habe. 96 Vieiras Quintomonarchismus sei zudem<br />

bloß ein „gemäßigter Chiliasmus“, der noch im Rahmen der Orthodoxie Platz<br />

habe. 97<br />

Bei diesen Urteilen kommt es freilich darauf an, welchen Vieira wir meinen:<br />

den ganzen, oder nur den der letzten spiritualistischen Phase am päpstlichen<br />

94 Zur Bewegung der fünften Monarchie („Fifth-Monarchy-Men“), die während der Englischen<br />

Revolution unter Radikalbaptisten ihre Anhänger fand, vgl. die Beiträge von Klaus Koch und<br />

Henning Graf Reventlow unten in diesem Band (dort auch Lit.). Abgesehen vom Philojudaismus<br />

gibt es zwischen den englischen Quintomonarchisten und Vieira kaum Koinzidenzen. Dieser war<br />

vor allem unter Berufung auf Dan 2 ein Verfechter der katholischen Universalmonarchie; jene<br />

knüpften eher an radikale Wiedertäufer des 16. Jahrhunderts wie Melchior Hoffman an. Zu Hoffman<br />

vgl. K. Deppermann, Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im<br />

Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979. Ihre Vertreter lehnten die legitime monarchische<br />

Obrigkeit ab und meinten, sie seien „die Heiligen des Höchsten“ (Dan 7,18), von Gott unmittelbar<br />

ausersehen, die Herrschaft anzutreten. Es gab unter ihnen realpolitisch, spiritualistisch und<br />

schließlich auch fanatisch Eingestellte. Die Wirkungsgeschichte des Danielbuchs in den USA ist<br />

nicht zuletzt von Dan 7 und den protestantischen Erweckungsbewegungen geprägt; vgl. dazu den<br />

Beitrag von John und Adela Collins unten in diesem Band.<br />

95 Vgl. Hans Joachim Schoeps, Philosemitismus im Barock, Tübingen 1952. Auch der Graf<br />

von Olivares, der mächtige Minister Philipps IV. (1621–1665), will Juden aus Nordafrika und der<br />

Levante in der Nähe von Madrid wieder ansiedeln. Der Plan scheitert aber an dem Widerstand der<br />

Inquisition.<br />

96 Vgl. Cantel, Vieira e a filosofia política do Quinto Imperio, in: Tempo Presente 2, Nr. 17–<br />

18 (1960) 22–27, 27; Ders., Prophétisme et messianisme dans l’oeuvre d’António Vieira, Paris<br />

1960.<br />

97 Cantel, Prophétisme (wie Anm. 96), 242ff.<br />

283


284<br />

Mariano Delgado<br />

Hof nach dem Inquisitionsprozess? 98 Betrachtet man nämlich den ganzen Vieira<br />

unter Einschluss der ersten Hofpredigten während des Restaurationskriegs,<br />

so springt eher die Nähe zu den spanischen Hoftheologen als zu Las Casas in<br />

die Augen, da das fünfte Reich zwar ein „Friedensreich“ sein soll, aber der<br />

Weg dazu alles andere als friedlich ist, sondern eher an die Urgewalt des Steins<br />

in Nebukadnezars Traum (Dan 2,45) erinnert, der sich bekanntlich ohne Zutun<br />

von Menschenhand vom Berg löste, um alle anderen Reiche zu zermalmen.<br />

Deutlich wird dies in dem Sermão dos Bons Anos (Neujahrspredigt) aus dem<br />

Jahre 1642 ausgedrückt, als Vieira im zweiten Restaurationskriegsjahr João IV.<br />

und seinen Anhängern nach einem Teilsieg über Spanien mit folgenden Worten<br />

Mut machen wollte:<br />

Habt großen Mut, ihr tapfren Soldaten, großes Vertrauen, ihr tapfren Portugiesen, denn so<br />

wie ihr glücklicherweise diese Feinde [die Spanier] besiegt habt, so werdet ihr alle anderen<br />

auch besiegen; denn da es sich um von Gott geschenkte Siege handelt, so ist dieses wenige Blut,<br />

das ihr im Glauben an seinen mächtigen Arm vergossen habt, ein sicheres Vorzeichen für das<br />

viele Blut, das ihr als Sieger vergießen werdet: ich meine nicht das Blut von Katholiken, denn<br />

ich hoffe bei Gott, dass der Eifer unserer Wettstreiter [der Spanier] stark nachlassen wird und<br />

dass eure Tapferkeit und ihre Enttäuschung sie dazu bringen werden, die Wahrheit unserer<br />

gerechten Sache einzusehen; aber ich meine doch das Blut von Ketzern in Europa, von Mauren<br />

in Afrika, das Blut der Heiden in Asien und Amerika, indem ihr sie alle besiegt und alle Teile<br />

der Welt in einem einzigen Reich vereinen werdet, damit alle in einer einzigen Krone zu<br />

Füssen des Nachfolgers des hl. Petrus gelegt werden. 99<br />

Nur in einem Punkt ist Vieira wie jeder messianische Herold wirklich<br />

„modern“, nämlich im hartnäckigen Wachhalten der uralten Sehnsucht, dass<br />

98 Ob seines Versuchs, eine portugiesische Auserwählung zur Weltherrschaft aus der Bibel<br />

herauszulesen, seines allzu irdischen Quintomonarchismus und seiner philojüdischen Haltung<br />

wurde Vieira vom Heiligen Offizium zwischen 1663 und 1667 der Prozess gemacht. Nach der<br />

Verurteilung seiner Ansichten als zumindest „heterodox“ wandelte sich Vieira – er hatte inzwischen<br />

kaum mehr Einfluss am portugiesischen Hof – zu einem Vertreter der spirituellen Vorherrschaft<br />

des Papstes und des ausschließlich geistlichen Charakters des erwarteten Reichs, Themen,<br />

denen er sein Spätwerk „Clavis prophetarum“ – vgl. Vieira, Obras (wie Anm. 89) Bd. 9, 173–227<br />

– widmete. Neuerdings ist ein Teil dieses monumentalen Werkes kritisch ediert worden, vgl.<br />

Vieira, Clavis prophetarum. Chave dos Profetas, Livro III, ed. Arnaldo Espirito Santo, Lissabon<br />

2000. Zum Inquisitionsprozess vgl. Vieira, Defesa perante o Tribunal do Santo Oficio, ed. Hernâni<br />

Cidade, 2 Bde., Bahia (Brasilien) 1957; A. Baião, Episodios dramáticos da Inquisição portuguesa,<br />

3 Bde., Lissabon 1973, hier Bd. 1, 205–279. Zum Quintomonarchismus Vieiras beim<br />

Inquisitionsprozess vgl. Paulo Alexandre Esteves Borges, A plenificação da historia em padre<br />

António Vieira. Estudo sobre a ideia de Quinto Imperio na defesa perante o Tribunal do Santo<br />

Oficio, Lissabon 1995.<br />

99 Der portugiesische Originaltext findet sich in: António Vieiras Rochuspredigt aus dem<br />

Restaurationskriegsjahr 1642. Einführung, kritischer Text und Kommentar von R. Hoffmann.<br />

(Portugiesische Forschungen der Görresgesellschaft, dritte Reihe: Vieira-Texte und Vieira-Studien,<br />

Bd. 6), Münster 1981, 128.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

diese Welt letztlich nicht nur ein Tal der Tränen bleiben und das Gelobte Land<br />

– wenn auch national gefärbt – schon hier erreicht werden möge. 100<br />

3. Der Traum von der Universalmonarchie im sephardischen Judentum<br />

des 17. Jahrhunderts<br />

Das besonders mit der Auslegung der danielischen Weltmonarchie-Visionen<br />

genährte messianisch-eschatologische Fieber des 17. Jahrhunderts 101 konnte<br />

nicht an den Juden vorbei gehen. Auch sie wenden sich dem Danielbuch zu<br />

und erwarten die baldige Ankunft des Messias mit der fünften und letzten<br />

Universalmonarchie. 102 Dies gilt vor allem für die sephardische Kommunität<br />

100 Zur weiteren Wirkungsgeschichte des Sebastianismus und des Quintomonarchismus in<br />

der portugiesischen Geistesgeschichte vgl. das diesen Themen gewidmete Heft der Zeitschrift<br />

Tempo Presente, 2. Jg., Nr. 17–18, 1960. Außer Bandarra, João de Castro und António Vieira<br />

werden dort folgende portugiesische Geistesgrößen untersucht: Francisco Manuel de Melo,<br />

António Pereira de Figueiredo, Oliveira Martins, Sampaio Bruno, Guilherme de Faria, Duarte de<br />

Viveiros, Augusto Ferreira Gomes und Fernando Pessoa.<br />

101 Der philosemitische Quintomonarchismus ist die Form des Messianischen im 17.<br />

Jahrhundert. Oben wurde bereits auf Spanien und Portugal sowie auf die englischen Quintomonarchisten<br />

hingewiesen. Auch im deutschen Sprachraum wird die quintomonarchistische Hoffnung<br />

genährt, so etwa durch Jakob Böhme und seine Erben. Vgl. Henri Méchoulan / Gérard Nahon,<br />

Menasseh Ben Israël. Un regard nouveau sur sa vie et son œuvre, in: Menasseh Ben Israël, Espérance<br />

d’Israël, ed. Henri Méchoulan / Gérard Nahon, Paris 1979, 35–69, 57f. Besonders interessant<br />

(ich danke Michael Sievernich / Frankfurt a.M. für den Hinweis) ist der Quintomonarchismus<br />

des hermetischen Quiliasten und Barockdichters Quirinus Kuhlmann, der Böhme und Johan<br />

Rothen „zugleich“ bewunderte. In seinem Werk „Neubegeisterter Böhme begreiffend Hundert<br />

fünfzig Weissagungen mit der Fünften Monarchi oder dem JESU REJCHE des Holländischen<br />

Propheten JOHAN ROTHENS übereinstimmend [...]“, Leiden 1674, schreibt er: „Höhret an den<br />

Propheten Daniel / wi er selber den Stein ausleget 2. Cap. 44 §. Zur Zeit solcher Königreich /<br />

spricht er / wird Gott vom Himmel ein Königreich aufrichten / das nimmermehr zerstöhret wird /<br />

und sein Königreich wird auf kein ander Volk kommen. Es wird alle diese Königreiche zumalmen<br />

und verstöhren / aber es wird ewiglich bleiben. Wi du denn gesehen hast einen Stein ohne Hände<br />

vom Berge herabgerissen / der das Eisen / Ertz / Thon / Silber und Gold zumalmet. Himit weiset<br />

ja Daniel Sonnenklar / daß am Ende der vierden Monarchi / welche ist recht der Schenkel der<br />

Monarchien / di Fünfte Monarchi oder das Christusreich aufgerichtet wird / das / wiwol es tausend<br />

Jahr auf Erden währet / nimmermehr zerstöhret wird / weil dessen Einwohner aus den<br />

Erdparadisleben sonder einiges sterben zum Himmelsparadisleben wandern [...].“ Hier zitiert nach<br />

Walter Dietze, Quirinus Kuhlmann. Ketzer und Poet. Versuch einer monographischen Darstellung<br />

von Leben und Werk (Neue Beiträge zur Literaturgeschichte 17), Berlin 1963, 136. Sein<br />

utopisches quintomonarchistisches Programm, das einer republikanisch-esoterischen, elitären<br />

Republik gleicht, entfaltet er in der kleinen Schrift „De Monarchia Jesuelitica“ (1682). Vgl.<br />

Dietze, ebd., 209–216. Dietze (ebd., 213) vermutet nicht ohne Grund, dass der Titel im<br />

esoterischen Sinne als „Jesu Elitica“ zu begreifen ist, „als eine Art Gegengründung zum<br />

Jesuitenorden, der, weil er katholisch war, selbstredend als Werkzeug des Antichrists galt“.<br />

102 Zum jüdischen Messianismus in der frühen Neuzeit vgl. Schoeps, Philosemitismus im<br />

Barock (wie Anm. 95); Richard Popkin, Jewish-Christian Relations in the Sixtheenth an<br />

285


286<br />

Mariano Delgado<br />

von Amsterdam, wo viele Juden aus Spanien und Portugal, darunter nicht<br />

wenige „Marranen“ oder Scheinchristen, Zuflucht gefunden hatten. Amsterdam<br />

wird für sie zum „Jerusalem des Nordens“.<br />

1650 malte Rembrandt Die Vision Daniels, ein Bild, das als Symbol dieses<br />

für Christen und Juden im Zeichen des „Quintomonarchismus“ messianisch<br />

schwangeren Jahrhunderts gelten könnte. Zur selben Zeit wird sich in Amsterdam<br />

ein mit Rembrandt befreundeter und von ihm auch porträtierter Rabbiner<br />

portugiesischer Herkunft, Menasseh Ben Israel (1604–1657), mit dem Danielbuch<br />

intensiv beschäftigen. Zusammen mit seinem Schüler Baruch Spinoza,<br />

dem er im 17. Jahrhundert an Ruhm nicht nachstand, ist Menasseh Ben Israel<br />

die wichtigste Persönlichkeit der Amsterdamer Kommunität. Der österreichische<br />

Schriftsteller Robert Menasse, einer seiner Nachfahren, hat ihm neuerdings<br />

im historischen Roman Die Vertreibung aus der Hölle 103 ein literarisches<br />

Denkmal gesetzt. Menasseh Ben Israel verfasste – zumeist in apologetischer<br />

Absicht – viele Werke, um „die“ jüdische Sicht klarzustellen, so u.a. über die<br />

vermeintlichen Widersprüche der Schrift, 104 über die Schöpfung 105 und über<br />

die Auferstehung. 106 Gedruckt wurden sie in der von ihm selbst gegründeten<br />

und von seinem Sohn Samuel betriebenen Druckerei in Amsterdam. Er schrieb<br />

zumeist in hebräischer und spanischer Sprache, wohl um die Primäradressaten,<br />

die sephardischen Juden zu erreichen. Werke, die weitere Kreise erreichen<br />

sollten, erschienen zudem – oft zeitgleich zur Erstausgabe und in der eigenen<br />

Druckerei – in lateinischer, englischer oder niederländischer Übersetzung. Aus<br />

danielischer Sicht verdienen zwei seiner Werke, in denen er die messianische<br />

Hoffnung Israels klarstellt, besondere Aufmerksamkeit: Miqweh Israel, esto es<br />

Esperança de Israel (Amsterdam 5410 = 1650) und Äbän jeqãrã – Piedra<br />

gloriosa o de la Estatua de Nebuchadnesar (Amsterdam 5415 = 1655).<br />

Seventeenth Centuries. The Conception of the Messiah, in: Jewish History 6 (1–2/1992) 163–177;<br />

Daniel Hoffmann, Schöpfung, Prophetie und Messianismus. Philosophische und mystische Reflexionen<br />

nach der Vertreibung der spanischen Juden, in: Hans Hermann Henrix (Hg.), 1492–1992.<br />

500 Jahre Vertreibung der Juden Spaniens (Aachener Beiträge zu Pastoral- und Bildungsfragen<br />

16), Aachen 1992, 87–106; J.-H. Greenstone, The Messiah idea in jewish History, Philadelphia<br />

1948; Gershom Scholem, Sabbatai Zwi. Der mystische Messias. Ins Deutsche übertragen von<br />

Angelika Schweikhart, Frankfurt/M. 1992; Ders., Le messianisme juif. Essais sur la spiritualité du<br />

judaïsme, ed. Bernard Dupuy, Paris 1974.<br />

103 Frankfurt/M. 2001. Über Menasseh Ben Israel vgl. außerdem: Méchoulan / Nahon,<br />

Menasseh Ben Israël (wie Anm. 101), dort auch ausführliche Sekundärliteratur: 185–198.<br />

104 Vgl. Menasseh Ben Israel, Conciliador o de la conveniencia de los Lugares de la S.<br />

Escriptura que repugnantes entre si parecen, Erster Teil: Frankfurt/M. 1632, Zweiter-Vierter Teil:<br />

Amsterdam 1641, 1650, 1651.<br />

105 Menasseh Ben Israel, De Creatione Problemata XXX, Amsterdam 1635.<br />

106 Vgl. Ders., De Resurrectione Mortuorum Libri III, Amsterdam 1636.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

Das erste Werk, das bald in mehreren Auflagen und zahlreichen Übersetzungen<br />

erschien, 107 ist eine Auseinandersetzung mit der im 17. Jahrhundert<br />

lebhaft diskutierten Frage, ob die Indianer Nachfahren der zehn zerstreuten<br />

Stämme Israels seien, bzw. ob die zehn zerstreuten Stämme sich irgendwo in<br />

Amerika versteckt hielten. Das Thema war wichtig, denn die Wiederherstellung<br />

der zwölf Stämme Israels ist – für Christen und Juden – eines der Zeichen<br />

für die Ankunft (bzw. Wiederkunft) des Messias. Eröffnet wird das Werk<br />

durch den Bericht des portugiesischen Marranen Antonio de Montezinos, er<br />

habe im Urwald des östlichen Abhangs der Anden – im Gebiet des heutigen<br />

Kolumbiens – Indianer getroffen, die das „Shema [...] Israel!“ kennen würden<br />

und sich versteckt hielten, um eines Tages die Spanier zu schlagen und sich<br />

mit den anderen Israeliten zu verbünden. Menasseh Ben Israel setzte sich mit<br />

diesem Bericht sowie mit den verschiedenen Meinungen, die im 16. und 17.<br />

Jahrhundert über die Herkunft der Indianer und die zehn zerstreuten Stämme<br />

verbreitet wurden, auseinander und kam zum folgenden Ergebnis:<br />

Weder stammen die Indianer Mexikos und Perus von den zerstreuten Stämmen<br />

Israels ab noch halten sich alle zehn Stämme in der Neuen Welt versteckt.<br />

Einige dieser Stämme sind aber, aus dem Tatarenreich kommend, über die<br />

Beringstraße nach Amerika gelangt. Von den Tataren verfolgt, von denen<br />

wahrscheinlich die meisten Indianer abstammen, haben sie sich im Urwald<br />

versteckt und leben noch dort in unbekannten Gebieten. Die zehn Stämme<br />

können nicht in einem einzigen Erdteil sein, denn die Prophetie sagt, dass bei<br />

der Ankunft des Messias die Juden aus allen Teilen der Welt nach Jerusalem<br />

strömen werden. Diese Prophetie wird sich erfüllen und niemals mehr werden<br />

die Juden aus ihrem Land vertrieben werden. Montezinos Bericht „enthält also<br />

nichts, was der Vernunft widerspricht“. 108<br />

Menasseh Ben Israel weigert sich, einen genauen Termin für die Ankunft<br />

des Messias zu nennen, denn alle, die es getan haben – es werden deren viele<br />

zwischen Rabbi Saadyah Gaon (+ 942) und Isaak Abravanel (+ 1509), der die<br />

Ankunft des Messias für das Jahr 1503 angekündigt hatte, genannt 109 – hätten<br />

sich getäuscht. Dennoch nennt er mit Bezug auf Daniel einige Zeichen, welche<br />

die Ankunft des Messias als unmittelbar bevorstehend erscheinen lassen: zum<br />

einen haben die Juden dem Terror der spanischen Inquisition, die mit dem<br />

vierten „schrecklichen“ Tier von Dan 7,7.19 identifiziert wird, 110 standgehalten,<br />

ohne ihren Glauben zu verraten; zum anderen verstünde man nach der Errichtung<br />

des osmanischen Reiches besser, was die zwei Beine der Statue Nebukadnezars<br />

bedeuten, die durch die Ankunft der fünften Monarchie zerstört<br />

107 Vgl. dazu Menasseh Ben Israël, Espérance d’Israël (wie Anm. 101).<br />

108 Vgl. ebd., 173–181, 180.<br />

109 Vgl. ebd., 158f (auch dort Anm. 168).<br />

110 Vgl. ebd., 161.<br />

287


288<br />

Mariano Delgado<br />

werden soll; und schließlich scheine sich zu erfüllen, was Dan 12,7b ankündigt,<br />

denn man hätte bereits in Amerika (im niederländischen Teil Brasiliens<br />

seit 1630) Synagogen gegründet. 111<br />

Menasseh Ben Israel wurde gerade wegen dieses Werks besonders bekannt,<br />

da es zur Grundlage seiner Mission in England wurde, um von Lord Cromwell<br />

die Erlaubnis zur Wiederansiedlung der Juden – England hatte sie als erste<br />

europäische Monarchie 1290 vertrieben – zu erbitten (u.a. erbat Menasseh Ben<br />

Israel die Beschützung der Juden, die Erlaubnis zum Bau von Synagogen und<br />

Friedhöfen sowie zum Handel und Wandel). 112<br />

Im Zusammenhang mit dem Danielbuch ist aber das zweite, bisher kaum<br />

übersetzte und außerhalb des Judentums wenig bekannte Werk viel interessanter.<br />

Denn es handelt sich darin um eine Auslegung von Dan 2 und 7 aus<br />

jüdischer Sicht angesichts des christlich gefärbten Quintomonarchismus des<br />

17. Jahrhunderts. Die Aktualität des christlichen Quintomonarchismus war ihm<br />

– abgesehen von den Ereignissen um die Englische Revolution – nicht zuletzt<br />

aus den Gesprächen mit António Vieira während dessen Aufenthalt in den<br />

Niederlanden als Gesandter des portugiesischen Königs besonders bekannt. 113<br />

(1) Zu Dan 2. Die vier Monarchien werden mit den Babyloniern, Persern-<br />

Medern, Griechen und Römern identifiziert, die allesamt die Juden unterdrückt<br />

haben. Die Beine bedeuten, dass die vierte Monarchie mit der Zeit – Menasseh<br />

Ben Israel datiert es 114 mit der türkischen Eroberung Konstantinopels 1453 – in<br />

zwei Reiche auseinandergehen wird, die Zehen bedeuten eine weitere Teilung<br />

in zehn Reiche. Die fünfte, durch den Stein symbolisierte Monarchie, ist die<br />

des Messias, also des Volkes Israel. In der fünften Monarchie werden die<br />

Juden „gemäß dieser unfehlbaren Interpretation Daniels, Herrscher der Welt<br />

mit zeitlicher, irdischer und ewiger Herrschaft sein.“ 115 Anschließend folgt<br />

seitenlang eine allegorische Interpretation der Patriarchen- und<br />

Prophetengeschichten (Abraham, Jakob, Joseph, Moses, David und Goliat,<br />

Salomon, Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Amos, Sacharja, Hiob), um zu zeigen, dass<br />

sie alle von Gott als Urheber aller Herrschaft und von der Monarchienabfolge<br />

111 Vgl. ebd., 172.<br />

112 Vgl. dazu und zum Ausgang der Mission Méchoulan / Nahon, Menasseh Ben Israël (wie<br />

Anm. 101), 64–69; vgl. auch Dies., Esperança de Israel, in: ebd., 71–99. Die Neuansiedlung der<br />

Juden versuchte Menasseh Ben Israel nicht zuletzt mit dem Hinweis schmackhaft zu machen, dass<br />

Spanien wegen der Judenvertreibung aus seinem Weltreich keinen finanziellen Vorteil gewinnen<br />

konnte, während die Niederlande und Hamburg dank der Juden prosperierten.<br />

113 1647/48 lebte Vieira neun Monate in den Niederlanden. Vgl. dazu Antonio José Saraiva,<br />

António Vieira, Menasseh Ben Israël et le Cinquième Empire, in: Studia Rosenthaliana VI<br />

(1/1972) 25–57.<br />

114 Vgl. Menasseh Ben Ysrael, Äbän jeqãrã – Piedra gloriosa o de la Estatua de<br />

Nebuchadnesar, Amsterdam 5415 (= 1655), 23.<br />

115 Ebd., 27.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

handeln, wenn auch Daniel derjenige war, der dies am deutlichsten beschrieb.<br />

116<br />

(2) Zu Dan 7. Aus dem Meer, „das die Welt ist“, 117 stiegen vier große Tiere<br />

herauf, die wiederum mit den oben genannten vier Monarchien identifiziert<br />

werden. Das vierte Tier wird für ein Wildschwein gehalten. Die vier Buchstaben<br />

des heiligen Namens „Adonay“ stehen auch für die vier Tiere: Löwe, Bär,<br />

Tiger und Wildschein. 118 Besonders ausführlich beschäftigt sich Menasseh Ben<br />

Israel mit dem vierten Tier bzw. der vierten Monarchie. Dieses wird „furchtbar<br />

und schrecklich“ genannt, nicht zuletzt weil während dieser Monarchie die<br />

Juden aus England, Frankreich, Spanien und Portugal vertrieben werden sollten.<br />

119 Die zehn Hörner stellen die größte Schwierigkeit in dieser Vision dar.<br />

Es handelt sich zwar um zehn Reiche, die aus dem Römischen Reich hervorgehen<br />

sollen, aber viele hätten sich bei der Aufzählung getäuscht. Mit erstaunlichem<br />

Selbstbewusstsein widerspricht Menasseh Ben Israel dem großen Isaak<br />

Abravanel, 120 obwohl er andererseits sehr stolz darauf war, dass seine Frau<br />

Rachel eine geborene Abravanel war. Abravanel nämlich identifizierte die<br />

zehn Hörner mit den zehn römischen Kaisern, die es zwischen Julius Caesar<br />

und dem Tempelzerstörer Vespasian gab, während Menasseh Ben Israel darunter<br />

zehn Reiche versteht, die aus dem Römischen Reich hervorgegangen<br />

sind: fünf davon im germanischen (d.i. westlichen) Reich: Spanien, England,<br />

Frankreich, Deutschland und Italien; weitere fünf im östlichen Reich: Mauretanien,<br />

Ägypten, Griechenland, Judäa und Babylonien. Außerdem identifiziert<br />

Abravanel das kleine Horn mit dem Papsttum, während dies für Menasseh Ben<br />

Israel nicht stimmen kann. Denn die Päpste hätten nicht drei frühere Reiche<br />

oder Hörner unterjocht noch Krieg gegen die Juden geführt, noch lebten viele<br />

davon unter ihrer Herrschaft. Das kleine Horn kann für Menasseh Ben Israel<br />

nur Mohamed sein, da er und seine Nachfahren in wenigen Jahren die Reiche<br />

der ersten drei Hörner an sich rissen, nämlich Asien, Ägypten und Afrika. Auf<br />

Mohamed und nicht auf die Päpste passten die Eigenschaften des kleinen Hornes<br />

(Dan 7,8). Mohamed – und nicht das Papsttum – bekämpfe und unterdrücke<br />

wirklich die Heiligen des Höchsten und habe die Mehrheit von ihnen unter<br />

seiner Herrschaft.<br />

Bei der Auslegung von Dan 7,11–12 vertritt Menasseh Ben Israel einen<br />

Heilsuniversalismus, der wahrscheinlich nicht unbeeinflusst ist von ähnlichen<br />

Thesen Arminius’ und der Remonstranten. 121 Moses und all die anderen<br />

116 Vgl. ebd., 32–185.<br />

117 Ebd., 190.<br />

118 Vgl. ebd., 212.<br />

119 Vgl. 215.<br />

120 Vgl. ebd., 220–226.<br />

121 Vgl. Méchoulan / Nahon, Menasseh Ben Israël (wie Anm. 101), 46f.<br />

289


290<br />

Mariano Delgado<br />

Propheten sprechen zwar vom Zorn Gottes, und dieser wird sich vor allem<br />

gegen Rom entladen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Gott mit allen<br />

Kreaturen sehr barmherzig ist:<br />

Gerecht und rechtschaffen sein, niemanden beleidigen, sich kein fremdes Gut aneignen,<br />

anderen nicht die Ehre nehmen, die Nächstenliebe praktizieren, mit Nüchternheit und<br />

Mäßigung leben – kann, wer so lebt, wirklich ohne Lohn bleiben? [...] wer gemäß dem<br />

Naturgesetz lebt, ist fromm und wird seinen Lohn erhalten [...] Die Frommen aus allen Völkern<br />

der Welt werden am künftigen Zeitalter teilhaben. All diejenigen, die in ihren Ländern Juden<br />

hatten, werden an ihrem Wohl teilhaben [...]. Der Messias wird alle empfangen, die Israel nicht<br />

tyrannisierten oder unterdrückten. 122<br />

Menasseh Ben Israel will zwar nicht behaupten, dass im messianischen Zeitalter<br />

die Gerechten aus den Völkern dieselben Privilegien wie die Juden haben<br />

werden, sondern nur dass sie nicht ohne Lohn bleiben und am Wohl der Juden<br />

teilhaben werden. 123 Unter die Herrscher, die wohlwollend zu den Juden<br />

waren, hebt Menasseh Ben Israel die Kaiser des Hauses Österreich hervor, den<br />

König Polens, den „sehr weisen venezianischen Senat“, den Großherzog der<br />

Toskana, die „sehr hohen und mächtigen Generalstände“ und der „sehr gütige<br />

Magistrat“ Amsterdams, aber auch „die Päpste selbst“. 124<br />

Bei der Auslegung von Dan 7,13–14 vermerkt Menasseh Ben Israel schließlich,<br />

die jüdische Überlieferung, dass der Messias vor den Toren Roms warte,<br />

bedeute, dass er auf den Untergang der vierten Monarchie wartet, um bereit zu<br />

sein, wenn die Stunde komme. Die fünfte Monarchie wird ein so festes, beständiges<br />

und dauerhaftes Reich sein, „dass es zu keinem anderen Volk wandern<br />

wird und nicht vergänglich sein wird wie die Vorhergehenden.“ 125 Es wird<br />

zudem ein irdisches und zeitliches Reich sein „unter dem Himmel“ 126 – freilich<br />

voll von der echten Beschauung, vom Glück der Seelen und von der Kenntnis<br />

Gottes. In diesem Sinne – und nur in diesem Sinne – wird es auch ein geistliches<br />

Reich sein, „denn wir sind nicht so fleischlich, wie einige denken“. 127<br />

Das Buch endet mit der Bemerkung, Gott habe Daniel die Dauer der vierten<br />

Monarchie offenbart, aber in einer so rätselhaften Sprache, dass nur er sie verstanden<br />

und in seinem Herzen aufbewahrt habe. Und dennoch: Auch wenn<br />

Menasseh Ben Israel, anders etwa als Isaak Abravanel und viele andere vor<br />

ihm, sich weigerte, die Ankunft des Messias genau zu berechnen, trugen seine<br />

122 Ebd., 242f, 245.<br />

123 Vgl. 246.<br />

124 Vgl. ebd., 247f.<br />

125 Ebd., 254.<br />

126 Vgl. ebd., 255.257.<br />

127 Ebd., 58.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

messianischen Werke dazu bei, dass die Amsterdamer Juden 1666 sehr leichtfertig<br />

den in Izmir lebenden Sabbatai Zwi für den Messias hielten. 128<br />

4. Lateinamerikanischer Ausblick<br />

4.1. Gonzalo Tenorio (1602–1680?)<br />

Zur selben Zeit, als Vieira die Wanderung der Führung der Universalmonarchie<br />

von Spanien nach Portugal prophezeite, sah der peruanische<br />

Franziskaner Gonzalo Tenorio in Lateinamerika das letzte Refugium der<br />

Universalmonarchie. Tenorio ist zunächst von der Auserwählung Spaniens<br />

zum Israel des Neuen Testamentes und vom diesseitigen Charakter des<br />

messianischen Reichs Christi, das dem Ende der Welt vorangehen soll,<br />

überzeugt, gehört aber zu denen, die meinen, dieses Reich werde sich zwar aus<br />

der spanischen Universalmonarchie herausentwickeln, aber noch nicht in ihrem<br />

Jetzt-Zustand, da die Evangelisierung der ganzen Welt (Mt 24,14) eine<br />

Bedingung für den Anbruch dieses Endreichs sei und viele Völker auf diese<br />

Evangelisierung noch warteten. Ihrer Bestimmung gemäß habe die spanische<br />

Monarchie also jedwede Sorge für das Evangelisierungswerk zu tragen, damit<br />

das eschatologische Einheitsideal des Unum Christi ovile (Joh 10,16) so bald<br />

wie möglich Wirklichkeit werde.<br />

Nach dem Dreißigjährigen Krieg und dem Machtverlust Spaniens beklagte<br />

sich Tenorio bitter darüber, dass die ständigen Kriege unter Christen dieses<br />

Einheitsideal vereitelt hätten. Die Schwäche Spaniens führte er allerdings nicht<br />

vorwiegend auf die Stärke seiner Gegner zurück, sondern vielmehr auf seine<br />

eigenen Sünden sowie den nachlassenden Eifer – die Nötigung der Indios zum<br />

Wohle ihrer Evangelisierung nimmt er in Kauf – im Bekehrungswerk. Damit<br />

riskierten die Spanier den Verlust der göttlichen Auserwählung. Wolle Spanien<br />

weiterhin das Israel des Neuen Testamentes bleiben, so müsse es sozusagen<br />

eine Flucht nach vorne antreten und vom Papst die feierliche Verkündigung<br />

des Immaculata-Dogmas erwirken: Dies werde dann den Tod des Antichristen<br />

sowie die Eröffnung des letzten eschatologischen Reiches zur Folge haben. 129<br />

Eine besondere Rolle innerhalb der spanischen Auserwählung kommt dann<br />

der aus Indios und Kreolen bestehenden Christenheit der Neuen Welt zu, der<br />

Perle des spanischen Reiches: Diese Christenheit gehe auf die Apostelzeit<br />

128 Vgl. Méchoulan / Nahon, Esperança de Israel (wie Anm. 112), 82; vgl. dazu auch<br />

Scholem, Sabbatai Zwi (s. Anm. 102).<br />

129 Vgl. Antonio Eguiluz, Fr. Gonzalo Tenorio, O.F.M. y sus teorías escatológicoprovidencialistas<br />

sobre las Indias, in: Missionalia Hispanica 16 (1959) 257–322, hier 265–289.<br />

291


292<br />

Mariano Delgado<br />

zurück, 130 die Indios seien sogar jüdischer Herkunft und würden mit dem zu<br />

erwartenden Abschluss ihrer Bekehrung die übrige Kirche in den Schoß der<br />

wahren jüdischen Theokratie zurückführen, das sei dann der Auftakt des messianischen<br />

Reiches Christi. Auch wenn Tenorio ein Wiedererstehen spanischer<br />

Größe in Europa zu erhoffen scheint, liegt seine wahre Hoffnung jedoch nach<br />

Offb 12,6 in der Migration oder translatio des Papstes und der spanischen<br />

Monarchie nach Westindien, besonders nach Peru, von wo aus sie dann die<br />

letzte eschatologische Bekehrung einleiten werden. 131 Er träumt also zugleich<br />

von einer translatio imperii und einer translatio ecclesiae. 132 In diesem<br />

Zusammenhang spricht Tenorio sogar von der verdeckten Existenz eines<br />

Prinzen des Hauses Habsburg in der Neuen Welt, der eines Tages nach dem<br />

eventuellen Untergang Spaniens seine wahre Identität offenbaren und die<br />

legitime Nachfolge des Universalmonarchen antreten werde. So abstrus uns<br />

dies erscheinen mag, eine solche Sehnsucht beschäftigte wirklich die<br />

kreolische Phantasie. Um 1600 wurde der in Mexiko lebende und im Ruf der<br />

Heiligkeit stehende Einsiedler Gregorio López – er schrieb auch einen<br />

interessanten Kommentar zur Offenbarung des Johannes – mehrmals für Don<br />

Carlos gehalten, den unglücklichen Sohn von Philipp II., mit dem er große<br />

Ähnlichkeit gehabt haben soll. 133<br />

Die besondere Rolle Westindiens innerhalb der spanischen Auserwählung<br />

begründete Tenorio nicht zuletzt auch mit einem Hinweis auf den Stein in Dan<br />

2,45: Die Füße der Statue seien eben die indianischen Reiche der Neuen Welt,<br />

und gerade dort sei der Stein – die Expansion des Reichs Christi – zum Stillstand<br />

gekommen, so dass eines Tages aus dem dort liegenden Stein ein kolossaler<br />

Berg – das eschatologische Reich Christi – hervorgehen und die ganze<br />

Erde erfüllen werde. 134<br />

Ähnliche Migrationstheorien wurden im 18. Jahrhundert in Mexiko aufgestellt,<br />

da die Verehrung Unserer Lieben Frau von Guadalupe zu einem<br />

mexikanischen Messianismus führen werde, wonach Mexiko das Israel des<br />

Neuen Testaments sei; das Ereignis von Guadalupe zeige nämlich, dass Gott<br />

„an keinem andern Volk“ so gehandelt habe (Ps 147,20: „Non fecit taliter omni<br />

nationi“), wie der Jesuit Francisco de Florencia (+ 1695) – und nicht Benedikt<br />

XIV., wie vielfach behauptet wird – als erster festhielt. Der Hügel von Tepeyac<br />

130 Ebd., 290ff. Wie viele Kreolen seiner Zeit postuliert Tenorio eine Urevangelisierung der<br />

Indios durch den Apostel Thomas. Vgl. dazu Delgado, Gott (wie Anm. 52), 278–291.<br />

131 Vgl. Eguiluz, Gonzalo Tenorio (wie Anm. 129), 312ff.<br />

132 Zur Verbindung der translatio imperii mit der translatio ecclesiae im Zusammenhang<br />

mit der Neuen Welt vgl. oben Anm. 60.<br />

133 Vgl. Alvaro Huerga, Historia de los alumbrados (1570–1630), Bd. 3: Los alumbrados de<br />

Hispanoamérica (1570–1605), Madrid 1986, 512ff.<br />

134 Vgl. Eguiluz, Gonzalo Tenorio (wie Anm. 129), 303, 311.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

in Mexiko-Stadt, auf dem 1531 die Erscheinungen Unserer Lieben Frau von<br />

Guadalupe stattfanden, ist nun der neue Berg Zion, zu dem die Völker pilgern<br />

werden. Aber das marianisch geprägte mexikanische Sendungsbewusstsein<br />

berief sich eher auf Offb 12 als auf das Danielbuch. 135<br />

4.2. Manuel Lacunza y Diaz (1731–1801)<br />

Als Beispiel für die Danielrezeption in der Zeit zwischen der Französischen<br />

Revolution und den lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfen, die auch<br />

eine messianisch schwangere Zeit war, wollen wir nun einen Blick auf das<br />

Werk des chilenischen Kreolen und Jesuiten Manuel Lacunza y Diaz La venida<br />

del Mesías en gloria y majestad (Das Kommen des Messias in Herrlichkeit und<br />

Majestät) werfen. 136 Nach etwa zwei Jahrzehnten asketischer Einsamkeit und<br />

frommer Lebensführung, die er der Schriftinterpretation widmete, vollendete<br />

er dieses Werk in drei Bänden 1790 in Imola, einem Städtchen des<br />

Kirchenstaats, wo er, wie die meisten Jesuiten, nach der auf Druck der<br />

aufgeklärten Kreise an den iberischen Höfen erfolgten Aufhebung des Ordens<br />

Zuflucht gefunden hatte. Das umfangreiche Werk konnte aber von Lacunza<br />

selbst mangels kirchlicher Druckgenehmigung nicht publiziert werden. Nach<br />

seinem Tode bemächtigten sich vorwiegend antikatholische, kreolische und<br />

liberale Kreise des Werkes und sorgten für dessen Verbreitung. Die ersten<br />

Ausgaben in spanischer Sprache erschienen in Spanien um 1812 zur Zeit der<br />

Cortes (Generalstände) von Cádiz, der ersten kreolischen Unabhängigkeitskämpfe<br />

und der napoleonischen Gefangenschaft des Papstes, die eine<br />

Lockerung der kirchlichen Zensur zur Folge hatte. Weitere Ausgaben folgten<br />

1816 und 1826 (London, vom kreolischen General Manuel Belgrano<br />

finanziert!), 1821–1822 und 1825 (Mexiko, auch von Kreolen finanziert), 1825<br />

(Paris). Englische und französische Übersetzungen erschienen 1827 und 1833<br />

(London) bzw. 1827 (Paris). 137<br />

135 Vgl. dazu Francisco Javier Carranza, La transmigración de la Iglesia a Guadalupe. Sermón<br />

que el 12 de Diciembre de 1748 años [...] México 1749; Jacques Lafaye, Quetzalcóatl y<br />

Guadalupe. La formación de la conciencia nacional en México, México 1977; Richard Nebel,<br />

Santa Maria Tonantzin Virgen de Guadalupe. Religiöse Kontinuität und Transformation in Mexiko<br />

(Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft, Supplementa 40), Immensee 1992; David Brading,<br />

Mexican Phoenix. Our Lady of Guadalupe. Image and tradition across five centuries,<br />

Cambridge 2001.<br />

136 Hier zitiert nach: Manuel Lacunza, La venida del Mesías en gloria y majestad, ed. Mario<br />

Góngora, Santiago (Chile) 1969; Ders., Tercera Parte de la venida del Mesías en gloria y<br />

majestad, ed. Adolfo Nordenflicht, Madrid 1978.<br />

137 Zu Lacunza vgl.: Alfred-Félix Vaucher, Une célébrité oubliée. Le P. Manuel de Lacunza<br />

y Díaz (1731–1801), Collonges-sous-Salève 2 1968; Mario Góngora, La obra de Lacunza en la<br />

lucha contra el „espíritu del siglo“ en Europa 1770–1830, in: Historia (Santiago de Chile) 15<br />

293


294<br />

Mariano Delgado<br />

Lacunza machte die Theologen seiner Zeit darauf aufmerksam, dass viele<br />

Verheißungen der Bibel bisher nicht erfüllt worden seien, also stehe diese<br />

Erfüllung, die mit Sicherheit kommen werde, noch aus. Lacunza entwarf konkret<br />

eine umfassende Interpretation des wörtlichen Sinns 138 biblischer<br />

Verheißungen, um seine zentrale These zu untermauern, „dass das Tausendjährige<br />

Reich eine zukünftige, zwischen der Wiederkunft Christi und der allgemeinen<br />

Auferstehung liegende Größe von langer, vielleicht hunderttausendjähriger<br />

Dauer sei, dass alle Weissagungen der Propheten sich auf dieses Tausendjährige<br />

Reich beziehen, dass vor allem auch die Juden an diesem Tausendjährigen<br />

Reich teilnehmen werden und dass schließlich auch das endgültige,<br />

nach dem Tausendjährigen Reich kommende ewige Reich Gottes nicht in<br />

einem fernen Himmel, sondern innerhalb des Weltalls seine Stätte haben<br />

werde“. 139<br />

(1980) 7–65; Ders., Prefacio, in: Lacunza, La venida (wie Anm. 136), 11–18; Adolfo Nordenflicht,<br />

Introducción, in: Lacunza, Tercera Parte (wie Anm. 136), 49–65; F. O. Parra Carrasco, El reino<br />

que ha de venir. Historia y esperanza en la obra de Manuel Lacunza, Santiago de Chile 1993. Gian<br />

Maria Mastai, der spätere Papst Pius IX., schrieb am 1. Mai 1824 von Santiago de Chile, wo er<br />

sich als Sekretär des ersten päpstlichen Gesandten für Lateinamerika, Giovanni Muzi, aufhielt, an<br />

Giuseppe M. Graziosi in Rom: „soweit ich gesehen habe, gibt es hier eine starke Anhängerschaft<br />

von P. Lacunza, dem Millenaristen. In London sind verschiedene Auflagen erschienen, und hier<br />

hat man sie für 18 escudos pro Exemplar verkauft; ich habe niemanden gesehen, der unter seinen<br />

Büchern kein Exemplar davon hätte. Bei Ihrer Antwort, teilen Sie mir bitte mit, ob man sich in<br />

Rom ein Urteil darüber gebildet hat; ich glaube, dass man bei meiner Ausreise dabei war, dieses<br />

Werk zu untersuchen.“ Pedro de Leturia, Relaciones de la Santa Sede e Hispanoamérica 1493–<br />

1835, Bd. 3: Apéndices, documentos, índices, ed. Miguel Batllori, (Analecta Gregoriana 103),<br />

Rom/Caracas 1960, 360. Auch die Befreiungstheologen haben inzwischen Lacunza als eine erstrangige<br />

Quelle lateinamerikanischer Theologie entdeckt, vgl. dazu besonders Maximiliano Salinas,<br />

Die theologischen Erfahrungen in der Geschichte des lateinamerikanischen Christentums, in:<br />

Theologiegeschichte der Dritten Welt: Lateinamerika, hg. v. Theo Sundermeier / Norbert Klaes,<br />

mit einer Einführung v. Johannes Meier, München/Gütersloh 1993, 21–199, 136–143; vgl. auch<br />

Ders., Dos modelos de lectura teológica de la historia latinoamericana, in: Pablo Richard (Hg.),<br />

Raíces de la teología latinoamericana. Nuevos materiales para la historia de la teología, San José<br />

(Costa Rica) 1987, 379–387.<br />

138 Die theologische Interpretationsmethode von Lacunza wird von drei Regeln geleitet, die<br />

er als die „einzigen und unfehlbaren unseres Glaubens“ bezeichnet: „erstens die göttliche Schrift,<br />

verstanden in ihrem eigenen und wörtlichen Sinne; zweitens die Überlieferung, nicht die<br />

menschliche, sondern die göttliche, also ich meine jene Überlieferung, die nicht aus<br />

[menschlichen] Ansichten, sondern aus göttlichem Glauben besteht, eine wahre, uralte, universale<br />

und uniforme (das sind nämlich die wesentlichen Merkmale der göttlichen Überlieferung); drittens<br />

die deutliche und ausdrückliche Definition der Kirche, versammelt im Heiligen Geist.“ Lacunza,<br />

La venida del Mesías (wie Anm. 136), 22. Nach diesen Regeln möchte er auch seine Thesen vom<br />

Lehramt überprüfen lassen.<br />

139 E. Staehelin, Die Verkündigung des Reiches Gottes in der Kirche Jesu Christi. Zeugnisse<br />

aus allen Jahrhunderten und allen Konfessionen, 7 Bde., Basel 1952–1965, hier Bd. 6, 213f. Es ist<br />

übrigens schade, dass außer Lacunza praktisch kein weiterer Vertreter des iberisch-katholischen<br />

Kulturkreises – nicht einmal António Vieira! – Eingang in dieses ansonsten gut dokumentierte<br />

Werk gefunden hat. Das obige Zitat kann als eine äußerst summarische Zusammenfassung des<br />

Anliegens von Lacunza betrachtet werden.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

Aus Dan 7,27 („unter dem ganzen Himmel“) entnimmt Lacunza, dass nach<br />

der Wiederkunft Christi, die Sanften ein messianisches Reich von unbestimmter<br />

Dauer auf Erden erben werden. Das war seit Irenäus 140 der Kern des sogenannten<br />

„gemäßigten Chiliasmus“.<br />

In diesem Zusammenhang entwirft er eine Exegese der danielischen Vier-<br />

Monarchien-Lehre, die, wenn auch von ihm nicht direkt intendiert, der kreolischen<br />

Beerbung der spanischen Universalmonarchie am Vorabend der Unabhängigkeitskriege<br />

entgegenkommt. Nicht unbeinflusst von Vieira, dessen Lusitanisierung<br />

er jedoch nicht teilen wird, identifiziert Lacunza das erste Reich<br />

oder Haupt der danielischen Statue mit Babyloniern und Persern zugleich, das<br />

zweite Reich oder die Brust mit den Griechen, das dritte Reich oder Bauch und<br />

Schenkel mit den Römern und schließlich das vierte Reich oder Beine und<br />

Füße mit allen Nachfolgestaaten des Römischen Reiches: Portugal, Spanien,<br />

Frankreich, Deutschland, Polen, Ungarn, Italien, Griechenland, Kleinasien,<br />

Syrien, Mesopotamien, Palästina, die drei Arabien, Persien, Ägypten und ganz<br />

Nordafrika. Diese Staaten seien untereinander zerstritten, wie es bei Daniel<br />

heißt und wie Vieira betont hat. Nun, wenn Spanien und die anderen Staaten<br />

der damaligen Welt bloß für dieses vierte Reich gehalten wurden: war nicht<br />

damit auch schon der spanische Anspruch demontiert, ein Weltreich eschatologischer<br />

Bedeutung errichtet zu haben?<br />

Der Stein, der die Statue zermalmen und das ewige Reich Christi eröffnen<br />

wird, ist zudem für Lacunza zwar die Kirche Christi, aber nicht die bestehende,<br />

nach dem ersten Kommen Christi entstandene, sondern eine künftige, deren<br />

Kommen um 1800 unmittelbar bevorzustehen scheint: „Es fehlt nunmehr allein<br />

die allerletzte Epoche oder die allergrößte Revolution“. 141<br />

Lacunza schien – was in der Forschung gerne übersehen wird – auch davon<br />

auszugehen, dass diese „allergrößte Revolution“ nach dem Gesetz des Steins in<br />

Nebukadnezars Traum gewalttätig vor sich gehen wird, wenn er etwa anschließend<br />

die traditionelle Deutung von Dan 2 nach der kirchlichen Domestizierung<br />

des Chiliasmus durch Augustinus und Hieronymus kritisch befragte:<br />

Warum versucht man, [das Volk] zu täuschen, indem man den Aufprall des Steins auf die<br />

Füße der Statue sowie das [darauf folgende] Ende und Erlöschen aller Reiche und Herrschaft<br />

mit dem verwechselt, was anlässlich des ersten ruhigen und friedlichen Kommens des<br />

Gottessohns geschah? 142<br />

140 Vgl. Mariano Delgado, Vom Nutzen und Nachteil der Apokalyptik. Typologien des Fin<br />

de siècle in der Christentumsgeschichte, in: Dimiter Daphinoff / Edgar Marsch (Hgg.), Fin de<br />

siècle – Zeitenwende. Beiträge zu einem interdisziplinären Gespräch (SEGES, Neue Folge 19),<br />

Freiburg Schweiz 1998, 37–60.<br />

141 Lacunza, La venida del Mesías (wie Anm. 136), 36–62, 60.<br />

142 Ebd., 60.<br />

295


296<br />

Mariano Delgado<br />

Im Klartext soll es also heißen: Der Aufprall des Steins, das katastrophale<br />

Ende aller menschlichen Reiche und Herrschaft, steht noch aus!<br />

Das katholische Lehramt setzte das Werk Lacunzas am 6. September 1824<br />

auf den Index, kam aber erst 1941–1944 zu einer vorsichtigen Verurteilung des<br />

darin enthaltenen „gemäßigten Chiliasmus“ mit den Worten: „Systema Millenarismi<br />

mitigati tuto doceri non posse“ („Das System des gemäßigten Chiliasmus<br />

kann nicht sicher gelehrt werden“) 143 – was wohl auch bedeutet, dass es<br />

ebenso wenig mit Sicherheit geleugnet werden kann.<br />

4.3. José Vasconcelos (1881–1959)<br />

Ich möchte abschließend eine indirekte, säkulare Danielrezeption aus dem 20.<br />

Jahrhundert kurz vorstellen, nämlich die des vielseitigen Mexikaners José<br />

Vasconcelos, der Philosoph, Essayist und Staatsmann war.<br />

In seinem Credo La raza cósmica. Misión de la raza iberoamericana 144<br />

(1925, „Die kosmische Rasse. Sendung der iberoamerikanischen Rasse“) wirft<br />

Vasconcelos der politischen Klasse (d.h. den Kreolen) der verschiedenen Nationen<br />

Lateinamerikas vor, bisher nur darauf bedacht gewesen zu sein, sich<br />

durch spezielle Abkommen mit den USA besondere Vorteile zu verschaffen,<br />

„ohne die gemeinsamen Interessen der Rasse zu berücksichtigen“. Die Begründer<br />

des kreolischen Nationalismus nach der Unabhängigkeit nennt er samt<br />

und sonders „nützliche Verbündete der Angelsachsen, unserer Gegner im<br />

Kampf um die Vorherrschaft auf dem amerikanischen Kontinent“. 145 Die<br />

Rasse, deren Vertreter einst von einer Universalmonarchie geträumt hatten und<br />

sich für die Erben der ruhmreichen Römer hielten, ist für Vasconcelos der<br />

Versuchung erlegen, Kleinstaaten und Fürstentümer zu gründen, die noch dazu<br />

von Seelen regiert wurden, „die in jedem Gebirgszug eine [unüberwindbare]<br />

Mauer und nicht einen [zu erobernden] Gipfel sahen“. 146 Die antispanische<br />

Unabhängigkeitspolemik und die gleichzeitige Anpassung an die angloamerikanische<br />

Denk- und Lebensweise, die von den Angelsachsen geschickt voran-<br />

143 Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen,<br />

hg. v. Peter Hünermann. Freiburg 37 1991, Nr. 3839.<br />

144 Vgl. José Vasconcelos, La raza cósmica. Misión de la raza iberoamericana, in: Ders.,<br />

Obras completas, 4 Bde., México 1958, hier Bd. 2, 903–942. Auszüge aus diesem Werk sind in<br />

einer leider nicht sehr guten deutschen Übersetzung erschienen in: Angel Rama (Hg.), Der lange<br />

Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von José Martí bis Salvador Allende, Frankfurt/M.<br />

1982, 140–157. Die deutsche Übersetzung wird, soweit vorhanden, übernommen und stillschweigend<br />

geändert.<br />

145 Vasconcelos, Obras completas (wie Anm. 144), Bd. 2, 911.<br />

146 Ebd., 915f.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

getrieben worden sei, habe von Anfang an das Urteilsvermögen der Lateinamerikaner<br />

beeinträchtigt:<br />

So sind wir selbst dazu gekommen, an die Minderwertigkeit des Mestizen zu glauben, an die<br />

Assimilationsunfähigkeit des Indio, an die Verdammung des Schwarzen und an die irreversible<br />

Dekadenz des Asiaten. Dem Aufstand der Waffen folgte nicht der Aufstand des Gewissens.<br />

Wir rebellierten gegen die politische Macht Spaniens und merkten nicht, dass wir zusammen<br />

mit Spanien selbst der ökonomischen und moralischen Herrschaft jener Rasse verfallen sind,<br />

die seit dem Untergang spanischer Größe die Herrin der Welt gewesen ist. Wir entledigten uns<br />

eines Jochs, um unter einem anderen zu gehen. 147<br />

An die Adresse der Kreolen wie der Indigenisten schreibt er, dass man sich<br />

nun endlich und selbstbewusst auf die indianischen und iberischen Wurzeln<br />

besinnen solle, wenn man verhindern wolle, „dass sich ganz Amerika<br />

widerstandslos der angelsächsischen Kultur unterwirft“. Und er fährt fort:<br />

Deshalb ist es unsinnig, unser patriotisches Selbstverständnis aus dem Unabhängigkeitsruf<br />

des Padre Hidalgo, der Konspiration von Quito oder den Heldentaten von Simón Bolívar zu<br />

beziehen, denn ohne Bezug zu Cuauhtemoc und Atahualpa fehlt einem solchen Patriotismus<br />

die historische Dimension, die Verankerung in der Geschichte. Gleichzeitig gilt es, sich den<br />

hispanischen Einfluss auf unser Nationalgefühl bewusst zu machen und Lehren aus den<br />

Niederlagen der unbesiegbaren Armada und von Trafalgar, die auch die unseren sind, zu<br />

ziehen. Wenn unser Patriotismus nicht vom Wissen um den alten Konflikt zwischen Romanen<br />

und Angelsachsen getragen wird, kann er nicht über das Stadium eines – global gesehen –<br />

unbedeutenden Regionalismus hinauswachsen, ja, er wird schließlich zu einem engstirnigen<br />

Lokalpatriotismus verkommen, vergleichbar der hilflosen Unbeweglichkeit einer Muschel, die<br />

sich an ihrem Fels festsaugt. 148<br />

Der Verlust seiner historischen Sendung (Mission) ist für Vasconcelos seit<br />

der Unabhängigkeit die strukturelle Sünde Lateinamerikas in geschichtsphilosophischer<br />

Hinsicht. Die Angloamerikaner hätten nämlich ein klares Bewusstsein<br />

von ihrer historischen Sendung behalten, „während wir uns im<br />

Labyrinth unserer rhetorischen Chimären verlieren“. Ja, es scheine, dass Gott<br />

selbst die Schritte der Angloamerikaner lenke, „während wir uns entweder im<br />

Streit um den wahren Glauben umbringen oder aber den Atheismus zur Schau<br />

stellen“. 149 Aber die Angloamerikaner hätten einen verhängnisvollen Fehler<br />

147 Ebd., 935f.<br />

148 Ebd., 911f. Mehrmals gibt Vasconcelos zu verstehen, dass er die moderne und künftige<br />

Geschichte quasi als einen „apokalyptischen Kampf“ zwischen „Latinidad“ (Romanentum) und<br />

„Sajonismo“ (Angelsachsentum) versteht. Vgl. besonders ebd., Bd. 4, 1510ff; auch Bd. 3, 669–<br />

681. Der Peruaner Victor Andrés Belaúnde, ein Zeitgenosse Vasconcelos’, wird schreiben, der<br />

Gegensatz in der Tendenz dieser beiden Rassen sei „nur zutiefst spirituell“ zu erklären, der angelsächsische<br />

Protestantismus verkörpere den egozentrischen nationalistischen Willen zur Macht,<br />

während der iberische Katholizismus universale Nächstenliebe ausstrahle. Vgl. Victor Andrés<br />

Belaúnde, Obras completas, 5 Bde., Lima 1987, hier Bd. 3, 78; eine ausführliche deutsche<br />

Übersetzung dieses Textes – es handelt sich um eine Antwort auf die Thesen José Carlos<br />

Mariáteguis – findet sich in: Delgado, Gott (wie Anm. 52), 334–338.<br />

149 Vasconcelos, Obras completas (wie Anm. 144), Bd. 2, 918.<br />

297


298<br />

Mariano Delgado<br />

begangen, was wiederum Vasconcelos’ Hoffnung begründet, dass die Gegenwart<br />

zwar ihnen gehören möge, aber die Zukunft unweigerlich von Lateinamerika<br />

bestimmt sein werde: sie hätten nämlich die Sünde begangen, die Urrassen<br />

Amerikas auszurotten, während die Iberer sie durch Mestizisierung assimiliert<br />

hätten. Daraus entnimmt Vasconcelos die historische Prognose, nur in Lateinamerika<br />

werde im Verlauf eines Verschmelzungs- und Wiederverschmelzungsprozesses<br />

aller bisherigen vier Rassen eines Tages die neue, eben „fünfte,<br />

kosmische Rasse“ entstehen, eine universale Synthese der Menschheit, die<br />

dann durch Aufhebung der Gegensätze dieser Rassen ein auf Liebe basierendes<br />

Friedenszeitalter, etwa eine Art „Zivilisation der Liebe“ planetarischer Dimensionen,<br />

begründen werde:<br />

Seine [Lateinamerikas] Prädestination gehorcht der Sendung, die Wiege einer fünften Rasse<br />

zu sein, zu der alle Völker verschmelzen werden, um jene vier zu beerben, die bisher isoliert<br />

den Lauf der Geschichte bestimmt haben. Auf amerikanischem Boden wird die Zerstreuung<br />

[der Rassen] zu Ende gehen, dort wird die Einheit vollendet werden durch den Triumph der<br />

fruchtbaren Liebe und die Überwindung aller Geschlechter. [...] Die romanischen Völker, weil<br />

sie der göttlichen Sendung Amerikas treuer waren, sind dazu ausersehen, diese Einheit zu<br />

vollenden. Die Treue zu dieser geheimen Sendung ist die Garantie unseres Triumphes. 150<br />

Mutet diese fünfte, kosmische Rasse nicht wie eine säkulare Beerbung der<br />

fünften, messianischen Universalmonarchie an? Der Tag dieses Triumphs ist<br />

für Vasconcelos greifbar nahe, denn er ist, wie die franziskanischen Glaubensapostel<br />

Mexikos im 16. Jahrhundert, von der eschatologischen Naherwartung<br />

stark geprägt. Glaubten jene in der „elften Stunde der Welt“ (Mt 20,6) zu leben,<br />

der nur das baldige Ende der Welt folgen könne, so schreibt Vasconcelos<br />

in joachimitischem Sinn:<br />

Die Menschheit befindet sich in ihrem Herbst; Geburt und Jugend wurden geprägt durch den<br />

jungen Gott, Jesus Christus. Nach ihm wird der Kontakt mit dem Heiligen Geist hergestellt, der<br />

das Problem der Metamorphosen [Vasconcelos denkt an einen joachimitischen historischen<br />

Prozess, in dessen Verlauf die Menschheit im Zuge sukzessiver Metamorphosen immer<br />

‚geistiger’ wird] löst. Diese Stunde ist nicht mehr die der Lokalmeister, der Erleuchteten, die<br />

für eine [partikulare] Ethnie, für ein Volk predigen. Die Endoffenbarung ist allen gegeben<br />

worden, und das universale Pfingsten, das unaufhörlich die Lehre bestätigt und erneuert, ist ihr<br />

Organ. [...] Die durch die technische Zivilisation vereinte Welt der Zukunft bietet die<br />

materielle Bedingung der Möglichkeit zur Erfüllung der apokalyptischen Prophezeiung: der<br />

Sammlung aller zerstreuten Zweige des genealogischen Throns, der Bekehrung aller Völker am<br />

Ende der Zeiten! 151<br />

Die Aufhebung der bisherigen Rassen in einer fünften, kosmischen wäre<br />

dann zugleich ein Zeichen des nahen Endes der Welt. Das Entstehen dieser<br />

messianischen fünften Rasse in Lateinamerika macht Vasconcelos zudem vom<br />

Besitz Amazoniens abhängig, denn in dieser Gegend immenser Ressourcen<br />

150 Ebd., 919.<br />

151 Ebd., Bd. 3, 1085.


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

werde sich das Schicksal der künftigen Welt entscheiden. Daher sollten die<br />

Lateinamerikaner alles daran setzen, dass Amazonien nicht in die Hände der<br />

Angelsachsen falle, die es nur zur Förderung der partikularen Herrschaftsinteressen<br />

der vierten, weißen Rasse nutzen würden. Dort soll die fünfte Rasse<br />

eines Tages Universopolis, die Welthauptstadt, errichten, um von dort aus ein<br />

neues Pfingsten zu entfachen und die ganze Welt im Geiste der christlichen<br />

Nächstenliebe zu befruchten. 152 Mit unverkennbar messianischen, der<br />

Tradition des Quintomonarchismus entlehnten Motiven 153 wird die Aufgabe<br />

dieser künftigen fünften Rasse abschließend gemalt:<br />

Unsere Werte sind erst eine Möglichkeit, so dass wir noch nichts sind. Aber auch die<br />

hebräische Rasse war für die arroganten Ägypter nichts als eine niederträchtige Sklavenkaste,<br />

und dennoch kam aus ihr Jesus Christus, der Autor der größten Bewegung der Geschichte;<br />

derjenige, der die Liebe aller Menschen ankündigte. Diese Liebe wird eines der fundamentalen<br />

Dogmen der fünften Rasse, die in Amerika entstehen soll. Das Christentum befreit und zeugt<br />

Leben, weil es eine universale, nicht nationale Offenbarung enthält; daher mussten es die Juden<br />

selbst ablehnen, die sich nicht dazu entschließen konnten, mit den Heiden zu kommunizieren.<br />

Aber Amerika ist die Heimat des Heidentums, also das wahre christliche Gelobte Land. Wenn<br />

unsere Rasse sich jedoch dieses geheiligten Bodens unwürdig erweisen, wenn ihr gar die Liebe<br />

fehlen sollte, so wird sie sich durch Völker ersetzt sehen, die fähiger sind, die schicksalhafte<br />

Sendung dieses Landes zu verwirklichen: die Sendung, der Heimatboden einer aus allen<br />

Geschlechtern und Nationen bestehenden Menschheit zu sein. 154<br />

Ansonsten klingt Vasconcelos‘ Vision nicht zuletzt wie eine auf den Kopf<br />

gestellte hegelsche Teleologie, die er als Philosoph bestens kannte. Hegel hatte<br />

nämlich von Amerika als dem „Land der Zukunft“ gesprochen, „in welchem<br />

sich in vor uns liegenden Zeiten, etwa im Streite von Nord- und Südamerika,<br />

die weltgeschichtliche Wichtigkeit offenbaren soll“. 155 Nur ging Hegel teleolo-<br />

152 Vgl. ebd., Bd. 2, 925f.<br />

153 So wie die Quintomonarchisten die klassischen vier Monarchien durch eine eschatologische<br />

fünfte Universalmonarchie zu beerben hoffen, postuliert Vasconcelos nicht nur eine letzte<br />

fünfte Rasse als Ergebnis der Vermischung der vier Rassen (der weißen, der roten, der schwarzen<br />

und der gelben), sondern spricht sogar von vier Zivilisationen – der spanischen, der altmexikanischen,<br />

der griechischen und der hindustanischen –, die zur Entstehung des erhofften fünften<br />

Zeitalters in Lateinamerika am meisten beigetragen hätten. Vgl. ebd., 941f.<br />

154 Ebd., 936. Die Hoffnung auf eine christliche „Zivilisation der Liebe“ als Sendung dieser<br />

fünften Rasse wird von Vasconcelos mehrmals bekräftigt: „Das Christentum verkündigte die<br />

Liebe als Basis der menschlichen Beziehungen; und jetzt fängt man an zu merken, dass allein die<br />

Liebe imstande ist, eine erhabene Menschheit herbeizuführen.“ Ebd., 937. Das Christentum mit<br />

seinem „Liebesprinzip“ hat im Werk Vasconcelos’ einen kardinalen Stellenwert. Vgl. dazu ebd.,<br />

Bd. 1, 1734ff, besonders aber Bd. 4, 65–92. Der Mestizisierungsprozess ist bei Vasconcelos nicht<br />

mit der naturgegebenen Vorherrschaft der weißen Rasse verbunden. Er meint zwar, dass unter den<br />

Charakteren der fünften Rasse vielleicht die kulturellen Merkmale des Weißen vorherrschen<br />

werden, „aber nur wenn dies die Frucht einer freien Geschmackswahl und nicht das Ergebnis von<br />

Gewalt oder wirtschaftlicher Unterdrückung ist“. Ebd., Bd. 2, 926f.<br />

155 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte<br />

(Theorie Werkausgabe Bd. 12), Frankfurt/M. 1970, 114.<br />

299


300<br />

Mariano Delgado<br />

gisch davon aus, dass dieser Kampf selbstverständlich zu Gunsten Nordamerikas<br />

und seiner weißen Rasse ausgehen würde, die zu seiner Zeit nach menschlichem<br />

Ermessen bereits anfingen, den politisch-ökonomischen Sieg davonzutragen.<br />

Trotz der kirchlichen Domestizierung des Chiliasmus durch Hieronymus und<br />

Augustinus um 400, die bei Juan de Maldonado um 1600 spürbar ist, zeugt die<br />

vielfältige Danielrezeption in den iberischen Kulturen alles in allem nicht nur<br />

von Hegemonialansprüchen, sondern auch von der Sehnsucht nach einem<br />

messianischen Reich „unter dem Himmel“. Vielleicht liegt darin der wahre<br />

Sinn der Visionen aus dem Buch Daniels: Die Flamme der Sehnsucht nach<br />

einem Reich Gottes auf Erden wach zu halten, nach einem universalen Reich<br />

der Wahrheit und der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens. Wir<br />

übertreiben wohl nicht, wenn wir in dieser Sehnsucht den (danielischen) Motor<br />

der Universalgeschichte erblicken.<br />

Zusammenfassung: „Der Traum von der Universalmonarchie“ ist die Form des Messianischen in<br />

den iberischen Kulturen, besonders im Entdeckungszeitalter, als Spanien und Portugal die ersten<br />

globalen Weltreiche der Weltgeschichte schufen. Die Befürworter der Universalmonarchie<br />

beriefen sich immer wieder auf das Buch Daniel. Der Beitrag setzt sich mit den wichtigsten<br />

Entwürfen einer Universalmonarchie und einer Rezeption des Danielbuches in den iberischen<br />

Kulturen auseinander: mit Juan de Maldonado, Tommaso Campanella, Juan de Salazar, Diego<br />

Saavedra Fajardo, mit dem Sebastianismus, António Vieira, Gonzalo Tenorio und Manuel<br />

Lacunza. Untersucht wird auch schließlich die Danielrezeption im sephardischen Judentum des<br />

17. Jahrhunderts (Menasseh Ben Israel) sowie die säkulare Beerbung danielischer Motive in der<br />

lateinamerikanischen Utopie José Vasconcelos’ im 20. Jahrhundert.<br />

Abstract: „The dream of a universal monarchy“ is the form in which the messianic message<br />

expressed itself in the Iberian cultures, especially as Spain and Portugal during the Age of<br />

Discovery set up the first global empires in world history. The apologists of universal monarchy<br />

cite time and again the Book of Daniel in their support. This article analyzes the most important<br />

designs of a universal monarchy and of an interpretation of the Book of Daniel in the Iberian<br />

cultures: by Juan de Maldonado, Tommaso Campanella, Juan de Salazar, Diego Saavedra Fajardo,<br />

by various advocates of Sebastianism, António Vieira, Gonzalo Tenorio and Manuel Lacunza. It<br />

also reviews the Daniel-reception among the Sephardic Jews in the 17 th century (Menasseh Ben<br />

Israel) and the carry-over of Danielic themes into the secular Latin American utopia of José<br />

Vasconcelos in the 20 th century.<br />

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Antonio Truyol y Serra, Hierokratie und Staatenwelt bei Tommaso Campanella, in: Archiv des<br />

Vökerrechts 1955, 1–20.<br />

Ders., La Monarquía Hispánica de los Austrias y el Reino de Francia en Campanella y Juan de<br />

Salazar, in: Homenaje an Profesor Mariano Hurtado Bautista, Murcia 1992, 573–584.<br />

Ders., Spanien in Europa. Historischer Hintergrund, gegenwärtige Probleme, Saarbrücken 1994.<br />

Ders., La Monarquía Hispánica de la Casa de Austria como forma de Estado, in: Völkerrecht als<br />

Rechtsordnung. Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte. Festschrift für Hermann Mosler,<br />

Berlin/Heidelberg u.a. 1983, 981–996.<br />

J. van den Besselaar, O sebastianismo. História sumaria, Lissabon 1987.<br />

José Vasconcelos, La raza cósmica. Misión de la raza iberoamericana, in: Ders., Obras completas,<br />

4 Bde., México 1958, Bd. 2, 903–942.<br />

Alfred-Félix Vaucher, Une célébrité oubliée. Le P. Manuel de Lacunza y Díaz (1731–1801),<br />

Collonges-sous-Salève 2 1968.<br />

Albert Viciano, Art. Theodoretos, in: LThK, 3. Aufl., Bd. 9, 1401–1404.<br />

António Vieira, Obras escolhidas, hg. v. António Sérgio / Hernâni Cidade, Bd. 9: História do<br />

Futuro (II), Lissabon 1953, Bd. 9, 161–170.<br />

Ders., Defesa perante o Tribunal do Santo Oficio, ed. Hernâni Cidade, 2 Bde., Bahia (Brasilien)<br />

1957.<br />

Ders., História do Futuro. (Livro Anteprimeiro), hg. v. J. van den Besselaar, Bd. 1: Bibliografia,<br />

introdução e texto (Portugiesische Forschungen der Görresgesellschaft, Dritte Reihe: Vieira-Texte<br />

und Vieira-Studien, 3,1 Band), Münster 1976, 26–29.<br />

Ders., Clavis prophetarum. Chave dos Profetas, Livro III, ed. Arnaldo Espirito Santo, Lissabon


Der Traum von der Universalmonarchie<br />

2000.<br />

Ders., Per la Storia del futuro, ed. Davide Bigalli. Postfazione di Paolo Rossi, Aosta 2002.<br />

Ders., António Vieiras Rochuspredigt aus dem Restaurationskriegsjahr 1642. Einführung,<br />

kritischer Text und Kommentar von R. Hoffmann. (Portugiesische Forschungen der<br />

Görresgesellschaft, Dritte Reihe: Vieira-Texte und Vieira-Studien, Bd. 6), Münster 1981.<br />

Rosario Villari, La rivolta antispagnola a Napoli. Le origini (1585–1647), Roma u.a. 1976.<br />

305


Erschienen in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 111 (2000) 56-69.<br />

Mystik in harten Zeiten<br />

Zum historischen Kontext der Mystik von Teresa de Avila und Juan de la Cruz<br />

Von Mariano Delgado<br />

Das 16. Jh. ist in Europa eine Epoche profunder religiöser Sehnsucht, und dies auch in der<br />

breiten Masse der Bevölkerung unter den sog. Laien oder idiotas; diese religiöse Sehnsucht<br />

führt hie und da zur Kirchenkrise, aber nicht zur Gotteskrise, denn das Solus Deus ist das<br />

gemeinsame – im Eifer des Gefechtes aber nicht immer wahrgenommene – Anliegen der<br />

protestantischen und katholischen Reformer. Es ist auch die Zeit, in der die<br />

Massenerzeugnisse der Buchdruckpresse in den Volkssprachen die Bildungs- und<br />

Lesegewohnheiten breiter Bevölkerungsschichten revolutionieren und so etwas wie eine<br />

geistliche Belletristik im Taschenbuchformat entsteht. Und es ist schließlich die Zeit, in der<br />

sich jene konfessionellen Identitäten herausbilden, die die religiös-kulturelle Tiefengeschichte<br />

Europas bis in die Gegenwart hinein prägen werden, die Zeit, in der man zwischen dem<br />

protestantischen und dem katholischen Christsein wählen muß, keine Zeit für Kompromisse<br />

und Mittelwege also - jedenfalls nicht nach der geistigen Wende der fünfziger Jahre.<br />

Was Spanien betrifft, so lassen sich im 16. Jh. in religiös-kultureller Hinsicht zwei Phasen<br />

deutlich unterscheiden, die mit den Ereignissen auf der europäischen Makroebene eng<br />

zusammenhängen und zugleich durch den besonderen spanischen Kontext geprägt sind: eine<br />

erste, eher irenische Phase, die bis zum Augsburger Religionsfrieden (1555) oder, wenn man<br />

so will, bis zur Abdankung Karls V. 1556 dauert, und eine zweite, die sich zu Beginn der<br />

fünfziger Jahre anbahnt, in den Krisenjahren 1558/1559 das Land in Atem hält und bis zum<br />

Tode Philipps II., ja eigentlich bis zu den bourbonischen Reformen des 18. Jh. unter Karl III.<br />

anhält. Zwischen 1555 und 1563 ändert sich das geistige Klima in Spanien radikal. Man hat<br />

gar von einer Erschütterung gesprochen, die in der Geschichte des Katholizismus<br />

ihresgleichen sucht 1 . Sie ist, wie mir scheint, nur vergleichbar mit der Modernismus-Krise um<br />

1900.<br />

1. Harte Zeiten<br />

Teresa selbst nennt ihre Epoche ”tiempos recios” oder überaus harte Zeiten 2 . Mit ihrem<br />

Urteil steht sie nicht alleine da. Zu den Merkwürdigkeiten dieser Epoche gehört, daß sie von<br />

Scholastikern und Mystikern, Hütern der Orthodoxie und Reformern als überaus hart und<br />

gefährlich empfunden wird. Der Dominikaner Melchior Cano etwa, der führende Kopf hinter<br />

der geistigen Wende, zitiert Virgil: ”Tempora adeo sunt periculosa ut etiam tuta timeamus”<br />

(Diese Zeiten sind derart gefährlich, daß wir alles Mögliche fürchten müssen”) 3 . Und selbst<br />

der gemäßigte Domingo de Soto, auch Dominikaner, spricht von ”diesen so undurchsichtigen<br />

und bewölkten Zeiten, in denen die dicken Wolken die Sonnenstrahlen kaum durchlassen, die<br />

1<br />

Vgl. Marcel Bataillon, Erasmo y España. Etudios sobre la historia espiritual del siglo XVI, México 1986, 712<br />

(französische Erstausgabe: 1937).<br />

2 9<br />

Teresa de Avila, Obras completas. Ed. Efraín de la Madre de Dios, Otger Steggink, Madrid 1997, 179 (Vida:<br />

33,5).<br />

3<br />

Melquíades Andrés, Historia de la mística de la edad de oro en España y América, Madrid 1994, 271.


Unser Herr uns zu senden scheint” 4 . ”Glaube in winterlicher Zeit” (Karl Rahner) war auch im<br />

fernen 16. Jh. gefragt.<br />

Auslöser der geistigen Wende auf der europäischen Makroebene war das Scheitern der<br />

irenisch-erasmianischen Glaubensgespräche zwischen Katholiken und Protestanten. Karls<br />

Lebenswerk – nämlich die Rettung der kirchlichen Einheit und die Vereinigung der<br />

abendländischen Christenheit in einer spanisch-habsburgischen Universalmonarchie –<br />

scheiterte an der Intransigenz von Reformatoren und Päpsten, den ostelbischen und<br />

oberitalienischen Frühnationalismen, an Frankreichs Machtstreben, an der türkischen<br />

Expansion und nicht zuletzt auch an dem eigenen universalen Machtanspruch, der eher dem<br />

13. als dem 16. Jh. entsprach. Karl V. war irgendwie ein anachronistischer Imperator mundi<br />

und ein Ritter vergangener Zeiten (er forderte bekanntlich Franz I. von Frankreich immer<br />

wieder zum Duell auf, um ihre Differenzen in einem ritterlichen Kampf auszutragen, wo und<br />

wann der Franzose immer möchte!). Tief enttäuscht, aber die Schuld immer bei den Gegnern<br />

suchend, dankt er 1556 in Brüssel ab und zieht sich ins Hieronymiterkloster von Yuste in der<br />

spanischen Extremadura zurück, um mit dem Rücken zu Europa seinen Lebensabend zu<br />

verbringen. Aber die ersehnte Ruhe wird ihm auch dort nicht gegönnt, denn er wird alsbald<br />

mit der spanischen Mikroebene konfrontiert, die er zugunsten Habsburgs imperialer<br />

Machtgelüste so vernachlässigt hat.<br />

In Yuste erreicht ihn 1557/1558 die Nachricht über die Aufdeckung eines protestantischen<br />

Koventikels in Sevilla, damals die größte spanische Stadt, und Valladolid, damals die<br />

Hauptresidenz des Hofes. Über den Kryptoprotestantismus von Valladolid und Sevilla ist<br />

geschrieben worden, daß er reiner und entschlossener Protestantismus ist, der die Werke, die<br />

kirchliche Vermittlung, die katholische Kultpraxis und das laute Gebet ablehnt. Er wird eher<br />

zufällig aufgedeckt. Zur Gruppe von Valladolid gehören zahlreiche Adelige, dazu noch<br />

Agustín de Cazalla, Hofkaplan und Beichtvater Karls und als solcher ein unverdächtiger<br />

häufiger Gast in Yuste. Um so größer ist dann die allgemeine Bestürzung, die von Karl bis<br />

zur vox populi die ganze spanische Gesellschaft erfaßt. Von Yuste aus schreibt Karl an seine<br />

Tochter Johanna nach Valladolid, die in Abwesenheit Philipps II. Regentin war, und an<br />

seinen Sohn, der in Brüssel weilte, man müsse gegen die Dreistigkeit dieser “Lumpenkerle”<br />

(piojosos) mit aller Strenge (mucho rigor y recio castigo) vorgehen, einen kurzen Prozeß<br />

machen (breve remedio) und ein Exempel statuieren (ejemplar castigo) 5 . Der Großinquisitor<br />

Fernando Valdés, von sich aus sowieso dazu geneigt, mit seinem Terror Spanien in Angst und<br />

Schrecken zu versetzen, begrüßt diese harte Linie und geht ans Werk. Die Chronik weiß zu<br />

berichten:<br />

“Am 21. Mai 1559 wurden in Valladolid in einer großangelegten Zeremonie, nach einer<br />

Predigt des Dominikaners Melchior Cano und in Anwesenheit des Infanten Don Carlos,<br />

vierzehn Personen zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und sechzehn<br />

‘wiederversöhnt’; am 24. September 1559 verbrannte man in Sevilla neunzehn ‘Ketzer’<br />

(einen von ihnen ‚in effigie‘), sieben kamen als ‘Wiederversöhnte’ glimpflich davon; im Juli<br />

1559 verließ Philipp Brüssel Richtung Spanien; am 8. Oktober 1559 fand in Valladolid in<br />

Gegenwart des inzwischen aus Flandern zurückgekehrten Philipp II. ein feierliches Autodafé<br />

mit der Hinrichtung von zwölf Menschen durch das Feuer statt, achtzehn andere wurden<br />

öffentlich ‘wiederversöhnt’ Schließlich ist da noch das Autodafé vom 22. Dezember 1560 in<br />

Sevilla zu nennen, wo siebzehn verbrannt (davon drei ‘in effigie’) und 37 ‘wiederversöhnt’<br />

wurden“ 6 .<br />

4<br />

José Ignacio Tellechea, El arzobispo Carranza y su tiempo. 2 vols., Madrid 1968, hier vol. II, 256f.<br />

5<br />

Ebd. 233, 232ff.<br />

6<br />

Alain Milhou, Die iberische Halbinsel: I. Spanien, in: Die Zeit der Konfessionen (1530-1620/30). Hg. Marc<br />

Venard, (Geschichte des Christentums Bd. 8), Freiburg 1992, 662-726, hier 685f.<br />

2


Marcel Bataillon hat treffend bemerkt, in diesen harten Zeiten werden Menschen<br />

verbrannt, die einige Jahre vorher mit einer kleinen Bußstrafe davon gekommen wären 7 .<br />

Flankiert werden diese Maßnahmen von einem königlichen Verbot aus dem Jahre 1558,<br />

ausländische Bücher einzuführen und überhaupt Bücher ohne ausdrückliche Druckerlaubnis<br />

von Krone und Kirche in Spanien zu publizieren; von einer königlichen Verordnung vom 22.<br />

November 1559, wonach alle im Ausland studierenden oder lehrenden Spanier innerhalb von<br />

vier Monaten zurückkehren sollten; ausgenommen waren nur jene, die sich in Bologna,<br />

Neapel oder Coimbra eingeschrieben hatten. Diese letzte Maßnahme wird man später<br />

teilweise aufheben, sie ist jedoch sehr bezeichnend für das geistige Klima dieser überaus<br />

harten Zeiten. Viel gravierender sind jedoch zwei weitere Maßnahmen, die im August 1559<br />

Schlag auf Schlag folgen: am 17. August veröffentlicht der Großinquisitor Valdés – wohl auf<br />

Anraten Canos – einen vielsagenden Index, der zur Konfiskation und Verbrennung vieler<br />

Bücher führt; dazu zählen alle Übersetzungen der Bibel oder deren einzelne Bücher in die<br />

Volkssprache; ferner zahlreiche Werke des Erasmus, die Werke seiner Schüler Alfonso und<br />

Juan de Valdés; die damals dem rheinischen Mystiker Johannes Tauler zugeschriebenen<br />

Institutiones und gar die geistlichen Hauptwerke in der Volkssprache von spanischen<br />

Mystikern wie Francisco de Osuna (OFM), Juan de Avila, Francisco de Borja (SJ) und Luis<br />

de Granada (OP). Als gleich darauf am 21. August die Inquisition den Dominikaner<br />

Bartolomé Carranza (de Miranda), den ehemaligen Beichtvater Karls V. und Philipps II., den<br />

hochangesehenen Professor der Theologie (in Valladolid) und Trienter Theologen, den<br />

amtierenden Erzbischof von Toledo und Primas von Spanien nicht zuletzt aufgrund eines<br />

Gutachtens von Melchior Cano zu seinem Werk Comentarios al Catechismo christiano<br />

(1558) in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhaften läßt, weiß man, daß die Ereignisse der<br />

Jahre 1558-1559 nicht nur mit den Ereignissen auf der europäischen Makroebene (zur selben<br />

Zeit geht Papst Paul IV., ehemals römischer Großinquisitor, gegen die italienischen Spirituali<br />

unerbittlich vor; 1559 veröffentlichte er den ersten römischen Index verbotener Bücher) zu<br />

tun haben, sondern vor allem mit einer tiefen geistigen Wende in Spanien selbst.<br />

2. Geistige Haupttendenzen in Spanien vor 1559<br />

Um diese Wende besser verstehen zu können, müssen wir einen Blick auf die geistigen<br />

Haupttendenzen im Spanien des 16. Jh. vor Carranzas Verhaftung werfen. Fünf solcher<br />

Tendenzen lassen sich unschwer erkennen:<br />

1. Die alumbrados, auch iluminados genannt, sind Laien (vielfach auch Priester), die von<br />

der Berufung aller zur geistlichen Vollkommenheit ausgehen, das Erlangen derselben aber<br />

mittels inneren Gebets und privater Erleuchtung abseits der kirchlichen Vermittlung<br />

befürworten. Sie gruppieren sich zumeist um beatas oder Frauen, die eine besondere<br />

geistliche Ausstrahlung haben. Sie sind eher conversos oder Neuchristen, die sich der<br />

Volkssprache in geistlichen Dingen bedienen und sich für vollkommener als die Altchristen<br />

halten; diese verbinden ja die geistliche Vollkommenheit mit den Gelübden und dem<br />

klösterlichen Leben. Die „reine“ Liebe zu Gott, die weder der Hoffnung auf den Himmel noch<br />

der Angst vor der Hölle entspringt, ist für die alumbrados das Ziel, und dies könne durch<br />

Gottes Fügung in jedem Stand erreicht werden. Nach dem Prozeß und dem Edikt von Toledo<br />

1525 (das Edikt systematisierte die Lehre der sogenannten alumbrados und schuf aus einer<br />

sehr heterogenen Bewegung den „Illuminismus“) gelten sie als besiegt, jedenfalls als eine<br />

„kontrollierte“ Gefahr; gleichwohl neigt die Inquisition im Spanien des 16. und 17. Jh. dazu,<br />

jede spirituelle Erneuerung dem Illuminismus gleichzusetzen. Aus diesem Grund muß<br />

bekanntlich Ignatius von Loyola zuerst Alcalá und dann Salamanca Hals über Kopf verlassen.<br />

7 Bataillon, Erasmo (wie Anm. 1), 709.<br />

3


2. Die Humanisten sind zumeist gebildete Laien oder Kleriker mit niederen Weihen. Sie<br />

teilen mit alumbrados und Protestanten die Berufung aller zur Vollkommenheit und die Kritik<br />

am Mönchtum, die Erasmus mit dem Satz “monachatus non est pietas” plakativ formuliert.<br />

Zugleich sind die Humanisten eine ernsthafte Konkurrenz für die scholastischen Theologen,<br />

sie sind sozusagen Vertreter einer „liberalen Theologie“ avant la lettre, die zu den Quellen<br />

gehen möchte: zu der hebräischen und griechischen Bibel, zu den Kirchenvätern und den<br />

antiken Philosophen (die Humanisten geben viele dieser Werke neu heraus). Sie pflegen die<br />

Rhetorik und schreiben ein elegantes geschliffenes Latein. Sie greifen die scholastischen<br />

Theologen als verstaubte Fachleute an, dazu noch das Ordensleben, die Hierarchie, das<br />

Zölibat, den sakramentalen Charakter der Ehe und die katholische Kultpraxis; letztere wird<br />

für heidnisch und rabbinisch gehalten. Die Humanisten gefallen zeitweise vielen, lösen aber<br />

kaum Begeisterung aus; denn sie sind kühle, elitäre Ireniker und Moralisten der<br />

internationalen Gelehrtenrepublik, keine Heiligen und Mystiker. Ihre Lektüre läßt vielfach die<br />

Seele austrocknen. Der kluge Ignatius berichtet, daß der Eifer in ihm lau wurde, sobald er<br />

anfing, die Schrift De Milite christiano des Erasmus, die zwischen 1525 und 1530 in Spanien<br />

sieben Auflagen erreichte, zu lesen; und daß die Lauheit größer wurde, je mehr er davon las.<br />

So beschloß er, die Schriften des Erasmus nicht mehr zu lesen. Den Mitgliedern der<br />

Gesellschaft Jesu erlaubte er später deren Lektüre nur mit großer Vorsicht und allerlei<br />

Kautelen 8 . Bei Erasmus und den Humanisten vermißt Ignatius wohl jene Liebe zur<br />

realexistierenden Renaissance-Kirche malgré tout, jenes sentire ecclesiam, das die spanischen<br />

Reformer und Mystiker auszeichnet.<br />

3. Die scholastischen Theologen vertreten einen theologischen Aristokratismus, wonach<br />

die Theologie als sacra doctrina etwas für die akademisch Eingeweihten, nicht für das<br />

gemeine Volk, und schon gar nicht für die Frauen sei; sie lehnen daher die theologischgeistliche<br />

Literatur in den Volkssprachen meistens ab oder stehen ihr mißtrauisch gegenüber,<br />

da sie nur Verwirrung im Volk und Unruhe in Kirche und Gesellschaft hervorrufen wird; sie<br />

verachten zudem die Humanisten als Männer, die eher von Philosophie und Philologie als von<br />

Theologie etwas verstehen. Das will aber nicht heißen, daß die Scholastiker des 16. Jh. mit<br />

dieser Haltung Gefahr liefen, in der Bedeutungslosigkeit des akademischen Elfenbeinturmes<br />

zu verharren, wie das heute bei den Fachtheologen vielfach der Fall ist. Francisco de Vitoria,<br />

der Hauptvertreter des theologischen Aristokratismus, hat in seinen öffentlichen Vorlesungen<br />

zu den Fragen der Zeit über tausend Hörer, darunter la crême de la crême der spanischen<br />

Gesellschaft; und er begründet eine Schule, die sich zur Aufgabe macht, alle Fragen der Zeit<br />

zu behandeln; denn Aufgabe und Amt des Theologen reichen für ihn so weit, “daß offenbar<br />

kein Gegenstand, keine Untersuchung, kein Gebiet dem Fach und Vorhaben der Theologie<br />

fremd ist” 9 . Nun die Fragen der Zeit in Kirche und Gesellschaft sind für Vitoria eben so<br />

kompliziert, daß sie dem Urteil der Fachleute überlassen werden sollten, nicht dem Gemüt des<br />

Volkes oder der Rhetorik der Humanisten.<br />

4. Die geistlichen Schriftsteller und Mystiker, vor allem Franziskaner und Jesuiten,<br />

vereinzelt aber auch Weltpriester wie Juan de Avila und Dominikaner wie Luis de Granada,<br />

schreiben in der Volkssprache, um der religiösen Bildungssehnsucht der Laien – besonders<br />

der Frauen – geistliche Nahrung zu geben; sie erreichen hohe Auflagen, da sie im Trend der<br />

Zeit liegen; hie und da vulgarisieren sie in geistlichen Führern, aber auch in Einleitungen in<br />

die Hauptstücke christlicher Katechese (Glaubensbekenntnis, Dekalog, Vater Unser,<br />

Sakramente) mehr oder weniger geschickt theologisches Fachwissen; anders als<br />

(Protestanten,) alumbrados und Humanisten kritisieren sie nicht das Klosterleben oder die<br />

8 Vgl. Vita Ignatii Loiolae... a Petro Ribadeneira... Rom 1589, lib. I, cap. XIII, S. 48f. (moderne Ausgabe in:<br />

ders., Historias de la contrareforma, Madrid 1945, 83).<br />

9 Francisco de Vitoria, Vorlesungen I: Völkerrecht, Politik, Kirche. Hg. Ulrich Horst, u.a., (= Theologie und<br />

Frieden Bd. 7), Stuttgart 1995, 116f (De potestate civili 1).<br />

4


katholische Kultpraxis als solche, sondern nur die Mißstände; aber auch sie befürworten die<br />

Lektüre der Bibel in der Volkssprache und halten das innere Gebet für die vollkommenere<br />

Form.<br />

5. Die fünfte Gruppe wird schließlich von Bartolomé Carranza angeführt und ist für die<br />

Hüter der scholastischen Orthodoxie die gefährlichste. Denn bei Carranza handelt es sich, wie<br />

gesagt, um einen hochrangigen akademischen Theologen und Kirchenführer, der in vielen<br />

Punkten aber der Meinung der geistlichen Schriftsteller und Mystiker ist. Er hat scharfsinnig<br />

die Zeichen der Zeit erkannt und möchte zwischen der scholastischen Theologie und der<br />

religiösen Sehnsucht des Volkes vermitteln. Daher befürwortet er die Lektüre der Bibel in der<br />

Volkssprache, die allgemeine Berufung zur Vollkommenheit und das innere Gebet. Mit<br />

seinem Katechismuskommentar verfaßt er in spanischer Sprache eine leicht zugängliche<br />

Einführung in das Christentum, die von Laien mit viel Gewinn gelesen werden kann; aus<br />

streng scholastischer Sicht gelesen, verletzt sie jedoch das Prinzip des theologischen<br />

Aristokratismus, drückt vieles mißverständlich bzw. sprachlich unscharf aus, weil sie vielfach<br />

auf die Sprache der Reformatoren eingeht (das Buch wurde verfaßt während der katholischen<br />

Restauration in England, als Carranza mit den Protestanten intensiv disputierte), und kann<br />

daher Unruhe in Kirche und Gesellschaft stiften.<br />

So also ist die geistige Lage in Spanien um die Mitte des 16. Jh. Die scholastischen<br />

Theologen, allen voran die Dominikaner, die das innere Gebet, die allgemeine Berufung zur<br />

Vollkommenheit, vor allem aber die Lektüre der Bibel in den Volkssprachen aus<br />

Überzeugung ablehnen, weil sie darin die Gefahr sehen, daß man den Säuen Perlen zum Fraße<br />

vorwirft und das kirchliche Leben irreparable Schaden nimmt, werden dagegen steuern.<br />

3. Die geistige Wende<br />

Der erste große Glockenschlag für die geistige Wende war das 1555 in Salamanca<br />

erschienene Werk des Dominikaners Juan de la Cruz Diálogo sobre la necesidad y provecho<br />

de la oración vocal 10 . Der Autor ist mit Recht nicht so berühmt geworden wie sein mystischer<br />

Namensvetter aus den unbeschuhten Karmelitern, verdient aber als Zeitdiagnostiker allemal<br />

unsere Aufmerksamkeit. Wie schon der Titel sagt, handelt es sich bei diesem Werk um eine<br />

Apologie des lauten Gebets, vor allem des klösterlichen Chorgebets, verfaßt in der<br />

renaissance-üblichen Dialogform: monachatus est pietas par excellence lautet die<br />

metaphysisch, anthropologisch und theologisch begründete Botschaft des Buches, das vor<br />

allem als antierasmianisches Manifest (Bataillon) geschrieben ist, aber auch gegen manche<br />

geistliche Schriftsteller und Mystiker (s.o.), die dem inneren Gebet den Vorzug geben.<br />

Der zweite Glockenschlag ist ein Gutachten von Domingo de Soto gegen die<br />

antimonastische Tendenz in den Statuten der Gesellschaft Jesu, die ja auf das Chorgebet<br />

zugunsten der apostolischen Bewegungsfreiheit verzichten. Eine geistliche Genossenschaft<br />

ohne Chorgebet verdient für Soto nicht den Namen eines Ordens. Daraufhin wirft Papst Paul<br />

IV. (1555-59) der Gesellschaft Jesu vor, in dieser Frage mit den Ketzern gemeinsame Sache<br />

zu machen 11 . Der Gesellschaft Jesu bleibt nichts anders übrig, als dem Willen des Papstes zu<br />

folgen, der ihr das laute Chorgebet auferlegt, und auf bessere Zeiten zu hoffen – die Statuten<br />

wurden von Pius IV. (1560-65) in ihrem ursprünglichen Sinne angenommen, Pius V. (1566-<br />

72) machte das Chorgebet wieder verbindlich, und Gregor XIII. (1572-85) entschied<br />

schließlich im Sinne der Gesellschaft Jesu.<br />

Der dritte (und entscheidende) Glockenschlag ist schließlich das Gutachten Melchior<br />

Canos von 1559 zum Katechismuskommentar Carranzas. Für die Ideologie der geistigen<br />

10<br />

Neuausgabe: Madrid 1962 (Biblioteca de autores cristianos).<br />

11<br />

Vgl. Ludwig von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der katholischen Reformation und Restauration.<br />

Bd. 6, Freiburg 1923, 503f.<br />

5


Wende jener harten Zeit gibt es kaum ein aufschlußreicheres Dokument als eben dieses mit<br />

Polemik und Ironie argumentierende Gutachten 12 . Wohl auf seinen Namen anspielend sagte<br />

über Cano einer seiner Verehrer, er könne die Ketzer wie ein „Spürhund“ von Ferne<br />

riechen 13 . Cano selbst äußerte sich kritisch über Autoren (gemeint ist die Gruppe der<br />

geistlichen Schriftsteller und Mystiker) seiner Zeit, die [Giovanni] Battista von Crema,<br />

Heinrich von Herph und Johannes Tauler täglich lesen und zitieren, aber ihre Irrtümer, ihren<br />

Geist und ihre Absicht weder durch den Geruch noch durch die Spuren noch durch den<br />

Geschmack zu erkennen vermögen 14 . In seinem Gutachten, das auch interessante<br />

Ausführungen über das Verhältnis von Glaube und Vernunft, Natur und Gnade enthält, wirft<br />

Cano Carranza massiv vor, das Laienvolk mit der Erörterung von komplizierten<br />

theologischen Fragen – wie etwa die nach der Rechtfertigung – in spanischer Sprache zu<br />

verwirren. Carranza wird darin nicht weniger als 50 Male alumbrado und 20 Male Lutheraner<br />

genannt, der eine falsche Lehre vertrete und sich einer unpräzisen Sprache bediene. Wer die<br />

allgemeine Berufung zur Vollkommenheit ohne die evangelischen Räte verkünde, der, so<br />

Cano ironisch, wisse mehr als Christus, der gesagt habe “geh, verkaufe, was du hast... (Mk<br />

10,21) ”, und nicht “geh und bete innerlich im Geiste (vade et ora mentaliter)” 15 . Cano greift<br />

die bei den alumbrados und Mystikern allzu leichtfertige Berufung auf die mystische<br />

Glaubenserfahrung an, denn sie führe dazu, daß man das Lehramt der scholastischen<br />

Theologen ablehne und an ihrer Stelle die volkstümlichen Autoren von geistlicher Literatur<br />

zu Autoritäten erkläre; wenn das der Weg sei, so Cano, dann schließen wir die akademischen<br />

Bücher und Kollegien, die Universitäten mögen zugrunde gehen und wir alle widmen uns<br />

fortan dem inneren Gebet. Cano wendet sich auch vehement gegen die Übersetzung der Bibel<br />

in die Volkssprachen und deren Lektüre durch das einfache Volk, vor allem durch die Frauen:<br />

”... auch wenn die Frauen mit unersättlichem Appetit danach verlangen, von dieser Frucht zu<br />

essen, ist es nötig, sie zu verbieten und ein Feuermesser davor zu stellen, damit das Volk nicht<br />

zu ihr gelangen könne” 16 .<br />

Wie verschieden davon war doch der kühne Wunsch nach Übersetzung des Neuen<br />

Testamentes in alle Sprachen, der Juan de Zumárraga, der erste Bischof von Mexiko-Stadt,<br />

am Ende seiner Doctrina cristiana 1546 festhielt: „Und ich bin nicht der Meinung derjenigen,<br />

die sagen, daß die idiotas und Ungebildeten die Evangelien und die Briefe nicht in der<br />

Sprache eines jeden Volkes lesen sollten. Denn es wäre wohl gegen den Willen Christi, daß<br />

seine Lehre und Geheimnisse nicht in der ganzen Welt bekannt werden. Daher meine ich, es<br />

wäre zweckmäßig, daß jede Person, gleich wie ungebildet sie wäre, die Evangelien und die<br />

Briefe des heiligen Paulus lesen könnte. Gott gebe, daß sie in alle Sprachen übersetzt werden,<br />

damit alle Völker, auch wenn sie Barbaren wären, sie lesen könnten. Unserem Herrn gefiele,<br />

daß ich dies in meinen Tagen noch erlebe“ 17 .<br />

Cano bleibt innerhalb des Predigerordens nicht unwidersprochen. Domingo de Soto hatte<br />

bereits am 14. Oktober 1558 auf Drängen des Großinquisitors ein kleines Gutachten zum<br />

12<br />

Die spanische Version dieses Gutachtens findet sich in: Fermín Caballero, Conquenses ilustres, vol. II:<br />

Melchor Cano, Madrid 1871, 536-615; die lateinische Version findet sich in: J. Sanz y Sanz, Melchor Cano.<br />

Cuestiones fundamentales de crítica histórica sobre su vida y sus escritos, Madrid 1959, 481-538. Das Gutachten<br />

wurde auch von Canos Mitbruder und alter ego Domingo de Cuevas unterzeichnet.<br />

13<br />

Vgl. Bataillon, Erasmo (wie Anm. 1), 702.<br />

14<br />

Vgl. Melchior Cano, De loci theologici. Ed. H. Serry, Bassani 1746, lib. XII, cap. 10; ähnlich auch in einem<br />

Brief an M. Venegas vom 28. März 1556, wo Cano vielsagend hinzufügt, über Iñigo (= Ignatius von Loyola)<br />

wisse er nur, daß er von Spanien geflohen sei, als man angefangen hatte, ihm als alumbrado den Prozeß zu<br />

machen; vgl. Caballero, Conquenses ilustres (wie Anm. 12), 500.<br />

15<br />

Caballero, Conquenses ilustres (wie Anm. 12), 577.<br />

16<br />

Ebd. 542.<br />

17<br />

Juan de Zumárraga, Suplemento del catecismo o enseñanza del cristiano (segunda parte de la „doctrina<br />

cristiana“ más cierta y verdadera para gente sin erudición y letras...“), in: Juan Guillermo Durán (Ed.),<br />

Monumenta catechetica hispanoamericana. Siglos XVI-XVIII, vol. II, Buenos Aires 1990, 115-159, 159.<br />

6


Katechismuskommentar Carranzas geschrieben und darin festgehalten, im besagten Buch<br />

finde sich gewiß keine formelle Häresie: “auch wenn einige Ausdrücke mißverstanden<br />

werden können, so muß man berücksichtigen, daß der Verfasser an anderen Stellen sie<br />

erklärt; wenn man also das eine oder andere Wort ändert, ist alles getan; seine Absicht ist<br />

zudem sehr heilig; um Jesuchristi willen sollen Euer hochwürdiges Gnaden daher sehr<br />

vorsichtig damit umgehen und jedes Risiko vermeiden” 18 . In einem weiteren Gutachten,<br />

geschrieben zwischen November 1558 und Januar 1559, in dem Soto einundneunzig ihm<br />

vorgelegte Sätze aus dem Katechismuskommentar kritisch bewertet, hält er eingangs fest:<br />

“Aus Respekt zu dem Verfasser, der hinsichtlich des Ordenslebens, der Tugend und der Lehre<br />

immer einen großen Ruf besaß, und heute Primas von Spanien ist, empfiehlt sich folgendes:<br />

auch wenn seine Sätze wegen der Bosheit der gegenwärtigen Zeiten einzeln und streng<br />

genommen als korrekturbedürftig herausgestellt werden, so erkläre man auch den Sinn, den<br />

der Verfasser zu beabsichtigen scheint, denn dieser Sinn ist gesund und entschuldigt ihn, und<br />

seine Absicht war immer eine katholische” 19 .<br />

Juan de la Peña, ein Schüler Carranzas, der ebenfalls um ein Gutachten zu seinem<br />

Katechismuskommentar gebeten wird, bemerkt ironisch und scharf zugleich, das Problem<br />

scheine in der Sprache zu liegen und man dürfe nicht auf eine bestimmte geistliche Sprache<br />

verzichten, nur weil sich die Lutheraner (für die Spanier des 16. Jh. synonym für alle<br />

Protestanten) ihrer bedienten: “Die Sprache... dieser Ketzer ganz zu vermeiden ist unmöglich,<br />

wenn wir nun das Sprechen nicht neu erlernen wollen und die Sprache des hl. Paulus<br />

vergessen, die von den unfrommen und profanen Ketzern am meisten benutzt wird” 20 .<br />

Die Ereignisse der Jahre 1558/1559 und Canos Breitseite zeigen die Wirkung, die bei<br />

manchen römischen Dokumenten der Gegenwart zu beobachten ist: zunächst stimmen sie<br />

viele ratlos und traurig, dann aber lösen sie ein schärferes Nachdenken aus und führen zu<br />

einer Unterscheidung der Geister, ja zu einer theologischen Erneuerung.<br />

Zum Beleg der ersten Reaktion mögen hier drei Zeugnisse genügen: Teresa selbst hält fest,<br />

daß sie die Konfiskation einiger geistlicher Bücher in der Volkssprache sehr bedauert hat 21 .<br />

Der Jesuit Pedro Navarro schreibt ironisch an seinen General Laínez: “Wir leben in einer Zeit,<br />

da man predigt, die Frauen müßten ans Spinnrad und sollten den Rosenkranz beten und<br />

dürften sich nicht mit anderen Frömmigkeitsformen befassen” 22 . Und Bartolomé de Las<br />

Casas, der in diesen Jahren seine Historia de las Indias in Valladolid verfaßt und beim Prozeß<br />

gegen Carranza als Entlastungszeuge des Angeklagten mutig („Er ist bei Gott kein Ketzer!“<br />

wird der alte Bischof von Chiapa zu Protokoll geben; bevor Carranza verhaftet wurde, hatte<br />

ihm Las Casas in einem Brief empfohlen, er sollte nach Valladolid kommen und seinen<br />

Verleumdern mutig entgegentreten; Las Casas glaubte wohl, daß es beim Inquisitionsprozeß<br />

rechtens zugehen würde) auftritt, vermacht im November 1559 das Manuskript dem Kolleg<br />

San Gregorio von Valladolid mit der Auflage, “daß sie diese Historia in den folgenden<br />

vierzig Jahren ... keinem Laien zum Lesen überlassen mögen... Es sei auch nicht ratsam, daß<br />

alle Mitglieder des Kollegs sie lesen dürfen, sondern nur die Klügsten unter ihnen, damit sie<br />

nicht vor der Zeit an die Öffentlichkeit kommt, besteht dazu doch kein Anlaß, noch würde es<br />

etwas nützen” 23 . Auch für Las Casas‘ Kampf um Gerechtigkeit und Recht für die<br />

amerikanischen Völker hat sich nach der geistigen Wende der Wind gedreht. Er, der Karl V.<br />

18<br />

Wortlaut in: Vicente Beltrán de Heredia, Domingo de Soto. Estudio biográfico documentado, Salamanca<br />

1960, 674.<br />

19<br />

Ebd. 696f.<br />

20<br />

Tellechea, Carranza (wie Anm. 4), vol. II, 240.<br />

21<br />

Teresa de Avila, Obras completas (wie Anm. 2), 142 (Vida 26,6).<br />

22<br />

Monumenta Historica Societatis Jesu: Litterae quatrimestres, vol. VI, 354.<br />

23<br />

Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 2: Historische und ethnographische Schriften. Hg. Mariano<br />

Delgado, Paderborn 1995, 148.<br />

7


zu den “Neuen Gesetzen” (1542) bewegen konnte, wird bei Philipp II. zumeist auf taube<br />

Ohren stoßen.<br />

Die zweite Reaktion wird von Cano selbst eingeleitet, denn parallel zum genannten<br />

Gutachten macht er sich daran, die scholastische Theologie methodisch neu zu begründen.<br />

Das Ergebnis ist das 1563 posthum erschienene Werk De loci theologici. Er scheut sich darin<br />

nicht zu sagen (Buch XII,10), daß er in seinen Vorlesungen die Ordnung des Thomas von<br />

Aquin vertauscht hat: zunächst habe er nämlich gelehrt, was der Glaube sagt, und erst später,<br />

was der Verstand zeigt. Seine theologische Methode besteht im wesentlichen in der Suche<br />

nach positiven Autoritäten oder Fundorten für die vorausgesetzten Glaubensaussagen. Die<br />

Reihenfolge der Fundorte wird so bestimmt: Heilige Schrift, kirchliche Überlieferung,<br />

kirchliches Lehramt (v.a. Konzilien), Lehramt der Theologen (v.a. Kirchenväter und<br />

Scholastiker), Kirchenrecht, philosophische und historische Vernunft. Canos Methode ist<br />

Ausdruck eines negativen Tutiorismus, einer extremen Angst vor Irrtümern und<br />

Abweichungen; um solches zu vermeiden müsse man in der Theologie den sichersten Weg<br />

gehen, und der bestehe eben darin, von den Glaubensaussagen auszugehen und diese nach<br />

allen Seiten hin abzustützen: “Das ‚Sicherheitsdenken‘, das ein theologisches, historisches<br />

und pastorales Risiko um beinahe jeden Preis auszuschließen gewillt war, sollte ein Merkmal<br />

der nachtridentinischen Theologie werden” 24 . So ist die “positive” katholische Theologie<br />

nach Trient entstanden, die eine Konzentration auf die sicheren Fundamente des Glaubens<br />

befürwortet und so auch eine scholastische Erneuerung auslöst; aber in den Phasen des<br />

Selbstdenkertums und der kreativen Auseinandersetzung mit neuen Fragen der Zeit, wie etwa<br />

bei der Tübinger Schule, dem Modernismus oder der nouvelle Théologie, wurden die Grenzen<br />

einer solchen Theologie schmerzlich sichtbar, da sie – gegen den Protestantismus gebaut –<br />

zur Festigung der katholischen Schultheologie nützlich ist, aber als hermeneutisches<br />

Instrumentarium zum Verstehen neuer geistiger Herausforderungen unzureichend ist.<br />

Nach den Maßnahmen der Jahre 1558/59, Canos De loci theologici und der<br />

Verabschiedung der Trienter Dekrete 1563, die u.a. die vom Konzil in Auftrag gegebene<br />

Vulgata als verbindlich erklären, weiß man in Spanien, woran man ist. Aber innerhalb der<br />

gezogenen Grenzen gibt es eine erstaunliche Gestaltungsfreiheit. Dieselben Bücher des<br />

geistlichen Modeautors Luis de Granada, die 1559 indiziert wurden, können sechs bzw.<br />

sieben Jahre später mit geringfügigen Änderungen betreff des inneren Gebets wieder<br />

erscheinen; Granada publizierte übrigens so gut wie sein ganzes Werk in eben diesen harten<br />

Zeiten! Man kann mit Alain Milhou die Behauptung wagen, daß die Verfasser geistlicher<br />

Literatur nicht zu fürchten hatten, beim Heiligen Officium angeklagt zu werden, wenn sie bei<br />

all ihrem Nachdruck auf dem inneren Gebet auch die Askese und die “Werke” betonten und<br />

sich der Liturgie, den Volksandachten und dem lauten Gebet gegenüber nicht völlig feindselig<br />

zeigten. Das scholastische Mißtrauen gegenüber der geistlichen Literatur in der Volkssprache<br />

hält auch Teresa de Avila und Juan de la Cruz nicht davon ab, ihre mystische Erfahrung in<br />

eben dieser Sprache zu beschreiben und Kritik an den Mißbräuchen ihrer Zeit zu üben, nun<br />

eben mit allen möglichen Kautelen oder Sicherheitsmaßnahmen<br />

Teresa überläßt ihre mystischen Erfahrungen und vielfältigen Unternehmungen der<br />

Prüfung und dem Urteil ihrer Beichtväter, ihrer Seelenführer und der besten Theologen der<br />

Zeit; sie hebt den Wert liturgischer Handlungen und der volkstümlichen Andachten, versöhnt<br />

Martha und Maria, das heißt Werke und Beschauung miteinander 25 , und beschreibt<br />

nachdrücklich ihre Heilsangst. Dennoch ist ihr Leben und Werk von einem subtilen Spiel mit<br />

24<br />

Ulrich Horst, Die Loci Theologici Melchior Canos und sein Gutachten zum Catechismo Christiano Bartolomé<br />

Carranzas, in: FZPhTh 36 (1989), 47-92, 92.<br />

25<br />

Die Komplementarität von Martha und Maria hatte Cano in seinem Gutachten (vgl. Caballero, Conquenses<br />

ilustres, wie Anm. 12, 575f) eindrücklich betont und damit jene geistlichen Schriftsteller kritisiert, die der<br />

kontemplativen Maria einseitig den Vorzug gaben.<br />

8


quasi-feministischen Gedanken durchzogen, die bei vielen Männern ihrer Zeit Anstoß erregt.<br />

Der Nuntius Sega soll 1578 über sie geäußert haben, “sie sei ein unruhiges,<br />

umherschweifendes und wiederspenstiges Weib, das unter dem Schein der Frömmigkeit<br />

schlechte Lehren erfinde, gegen die Verordnungen des Konzils von Trient die Klausur nicht<br />

beachte und sich als Lehrerin ausgebe gegen die Vorschrift des heiligen Paulus, daß die<br />

Frauen nicht lehren dürfen” 26 .<br />

Juan schreibt kluge Prologe, in denen er sich gründlich absichert, alles dem Urteil der<br />

Heiligen Mutter Kirche freiwillig unterstellt (Prologe zu Cántico, Subida und Llama) und<br />

treuherzig bekundet, er werde beim Zitieren von Stellen aus der Heiligen Schrift<br />

folgendermaßen vorgehen: “Zuerst werde ich sie lateinisch angeben und sie dann im Hinblick<br />

auf das erklären, worauf sie sich beziehen” (Prolog zu Cántico) 27 . Darüber hinaus bekundet<br />

er, weder der Erfahrung noch der Wissenschaft allein zu vertrauen, sondern diesen drei<br />

Kriterien folgen zu wollen: der Heiligen Schrift, der Überlieferung und der Lehre der<br />

Heiligen Mutter Kirche (Prolog zu Subida, 2). Da diese Kriterien gerade die ersten drei<br />

Fundorte im Canos Werk De loci theologici sind, können wir davon ausgehen, daß Juan, der<br />

kluge Mystiker und Theologe, dem neuen Paradigma katholischer Theologie seine Reverenz<br />

erweisen wollte. Juans Kritik an den kirchlichen (und gesellschaftlichen) Mißständen seiner<br />

Zeit ist naturgemäß schärfer als bei Teresa ausgefallen, denn als gut ausgebildeter Theologe<br />

konnte er treffsicherer den Finger in die Wunde legen. Er kritisiert schonungslos die<br />

Auswüchse der Volksfrömmigkeit, etwa bei den Wallfahrten, der Verehrung der Mutter<br />

Gottes, der Beicht- und Gebetspraxis; und er kritisiert darüber hinaus die inkompetenten<br />

Beichtväter und Seelenführer seiner Zeit, die kaum über Glaubenserfahrung verfügen und mit<br />

ihrem Dilettantismus bei den nach Gott dürstenden Seelen mehr Schaden als Nutzen<br />

anrichten. Seelsorgern kann man wohl keinen größeren Vorwurf machen, als das sie ihr<br />

Handwerk nicht beherrschen.<br />

4. Scholastik und Mystik<br />

Canos Werk will den theologischen Aristokratismus und die orthodoxe Lehre sicherstellen.<br />

Die Glaubenseinsicht hat Vorrang vor der Glaubenserfahrung und dem inneren Gebet, die<br />

nach seiner Meinung zum Illuminismus führen mußten. Der Brückenschlag zwischen<br />

Scholastik und Mystik ist ihm kein besonderes Anliegen. Und doch gehört zu den wirklich<br />

erstaunlichen Ereignissen dieser harten Zeiten, daß ein solcher Brückenschlag geschieht.<br />

Gerade Teresa und Juan werden viel dazu beitragen, ihn zu ermöglichen.<br />

Durch die Ratschläge ihrer Beichtväter hat Teresas Werk vielleicht an Spontaneität<br />

verloren, aber an theologischer Tiefe gewonnen. Alain Milhou bringt es auf den Punkt: “Die<br />

Kontrolle, der Teresa unterworfen war, hatte den Vorteil, sie zu nötigen, ihre spirituelle<br />

Erfahrung auf den Begriff zu bringen, Intelligenz und Sensibilität, Theologie und<br />

Frömmigkeit zu einen. Nach Art der Jesuiten wußte sie zu versöhnen, was der große<br />

Hochschullehrer Melchior Cano für unversöhnbar hielt” 28 . Der Dominikaner Domingo Báñez,<br />

Inhaber des ersten Lehrstuhls für systematische Theologie in Salamanca und Nachfolger von<br />

Vitoria und Cano, ist zeitweise Beichtvater von Teresa und schreibt ein zustimmendes<br />

Gutachten zu ihrem Buch Vida. 1588 erscheint bekanntlich die erste Gesamtausgabe der<br />

Schriften Teresas, von keinem geringeren als Luis de León, Professor zu Salamanca, mit<br />

königlicher Druckerlaubnis herausgegeben. Der Dominikaner Alonso de la Fuente, der<br />

Spürhund der Inquisition gegenüber den alumbrados in der Extremadura (1570-1582), ein<br />

26<br />

Jutta Burggraf, Teresa von Avila. Humanität und Glaubensleben, Paderborn 1996, 135 (vgl. auch Teresa de<br />

Avila, Obras completas, wie Anm. 2, 1181).<br />

27 13<br />

Juan de la Cruz, Obras completas. Ed. Lucino Ruano de la Iglesia, Madrid 1991.<br />

28<br />

Milhou, Die iberische Halbinsel (wie Anm. 6), 697, ähnlich auch Andrés, Historia (wie Anm. 3), 316.<br />

9


zweiter, aber weniger talentierter Melchior Cano, zeigt am 12. Okotber 1589 die Schriften<br />

beim Kronrat mit den Worten an: ”Und wenn diese Nonne wirklich heilig ist..., so konnte sie<br />

nicht die Autorin dieses Buches sein...; dieses dürfte eher das Werk einiger Ketzer sein, die es<br />

ihr zugeschrieben haben, um es schönzufärben” 29 . Aber De la Fuente wird kein Gehör<br />

geschenkt. Nach der Heiligsprechung 1622 werden Teresas Schriften in der gesamten<br />

katholischen Welt erst recht zu einem geistlichen Bestseller.<br />

Um einen Brückenschlag zwischen Theologie und Spiritualität, Scholastik und Mystik ist<br />

Juan de la Cruz besonders bemüht; er spricht in seinen Prologen ausdrücklich davon: mit der<br />

scholastischen Theologie versteht man die göttlichen Wahrheiten, mit der mystischen aber<br />

erfährt und schmeckt man sie durch Liebe; so sind scholastische und mystische Theologie<br />

aufeinander angewiesen (Prolog zu Subida, 3). Juan drückt sich immer wieder in<br />

scholastischer Sprache aus und zitiert präzis nicht nur die Bibel, sondern auch Agustinus und<br />

Dionysius Areopagit, Bernhard, Thomas und Aristoteles. Anders als Teresa wird der<br />

hermetische Juan im 17. Jh. kaum rezipiert; er bleibt ein Geheimtyp für Eingeweihte und steht<br />

unter Verdacht, Nachttischlektüre der Quietisten (Miguel de Molinos!) zu sein 30 . Erst nach<br />

der Seligsprechung 1675, vor allem aber nach der Heiligsprechung 1726 (Molinos'<br />

Quietismus wurde 1687 verurteilt), kommt eine Rezeption in Gang, die mit der Ernennung<br />

zum Kirchenlehrer 1926 den entscheidenden Antrieb erhält.<br />

Nicht zuletzt angeregt durch die Lektüre von Teresa und Juan versuchen die akademischen<br />

Theologen um 1600, in scholastischen Formeln auszudrücken, was die Mystiker erfahren und<br />

durch Bilder, Vergleiche und Gleichnisse beschreiben. So kommen Scholastik und Mystik,<br />

seit dem 13. Jahrhundert immer mehr getrennt, bei der theologischen und spirituellen<br />

Erneuerung des spanischen Katholizismus einander näher. Die Professoren von Salamanca<br />

behandeln nach Trient nicht nur alle theologischen, moralischen, juristischen, politischen und<br />

wirtschaftlichen Fragen der Zeit, sondern sprechen auch noch vom Gebet und von der<br />

mystischen Vereinigung mit Gott 31 . In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vertrat Vitoria<br />

hingegen eine streng rationale Scholastik und bemerkte ironisch, wahre Kontemplation sei die<br />

Lektüre der Heiligen Schrift, wahre Weisheit ihr Studium; diejenigen aber, die nicht studieren<br />

können, mögen sich lieber dem Gebet hingeben 32 .<br />

5. Ausblick<br />

Teresa und Juan leben und wirken in harten Zeiten. Eine Inquisition, die – Dostojewskis<br />

Legende vom Großinquisitor ähnlich – vielfach zu rigoros ist und das Gebot der<br />

Barmherzigkeit mißachtet, lauert immer und überall. Im Schatten des Prozesses gegen den<br />

unglücklichen Dominikaner Francisco de la Cruz in Lima (1572 verhaftet, 1578 verbrannt)<br />

sagt Juan Plaza, der Visitator der Jesuiten in Peru, 1577 in Cuzco seinem Mitbruder Luis<br />

López, der auch angeklagt werden sollte, das Heilige Offizium führe seine Geschäfte mit<br />

einer solchen Strenge, daß man unseren Herrn Jesus Christus, wenn er wieder auf die Erde<br />

käme, zum Scheiterhaufen verdammen oder zum Tragen eines sanbenito verurteilen würde 33 .<br />

29<br />

Alvaro Huerga, Las lecturas místicas de los alumbrados, in: Santa Teresa y la literatura mística hispánica.<br />

Actas del I congreso internacional sobre Santa Teresa y la mística hispánica. Ed. Manuel Criado de Val, Madrid<br />

1984, 571-581, 581.<br />

30<br />

Vgl. José Ignacio Tellechea, La mística de San Juan de la Cruz y las heterodoxias: Mística, alumbrados y<br />

quietistas, in: Actas del congreso internacional Sanjuanista. Avila 23-28 de Septiembre de 1991. 3 vols.,<br />

Valladolid 1993, vol. II, 347-369, 349f.<br />

31<br />

Andrés, Historia (wie Anm. 3), 267, 313.<br />

32<br />

Francisco de Vitoria, Comentarios a la IIa-IIae de Santo Tomás, vol. VI, Salamanca 1952, 312 (Kommentar<br />

zu q. 182, a. 4).<br />

33<br />

Vgl. Alvaro Huerga, Historia de los alumbrados (1570-1630), vol. III: Los alumbrados de Hispanoamérica<br />

(1570-1605), Madrid 1986, 195.<br />

10


Auch wenn die ca. 700 Todesopfer der spanischen Inquisition von 1530 bis zu deren<br />

Abschaffung im 19. Jh. verglichen mit den vielen Menschen, die dem Hexenwahn anderswo<br />

zum Opfer fielen, eine relativ kleine Zahl darstellen, wäre es zynisch das Wirken der<br />

Inquisition mit der Bemerkung zu verharmlosen, mit der Stalin die Opfer seines Terrors zu<br />

einer Fußnote der Geschichte herabwürdigen wollte: “wo gehobelt wird, fallen Späne”. Die<br />

Maßnahmen, die in den hier beschriebenen harten Zeiten getroffen wurden, riefen abgesehen<br />

von den konkreten menschlichen Tragödien und der sich ausbreitenden Kultur des<br />

Denunziantentums zwei Schattenseiten hervor, die besondere Beachtung verdienen:<br />

Der spanische Katholizismus des 16. und 17. Jh. weist dem gesprochenen Wort (Predigten,<br />

Andachten), dem Bild (sakrale Malerei und Holzschnitzerei) und der Gebärde<br />

(Mysterienspiele, Prozessionen) einen vorherrschenden Platz zu; all das, was alumbrados und<br />

Protestanten als unnötige Fesseln kritisierten, wird – freilich zumeist in einer von den<br />

Mißbräuchen gereinigten Form – zum Inbegriff des spanischen Barockkatholizismus; das geht<br />

gut, solange der ursprüngliche Reformelan präsent ist, kann aber mit der Zeit zum leeren<br />

Ritus und zur zweifelhaften Volksreligiosität verkommen.<br />

Die verschiedenen von der Inquisition zusammengestellten Listen verbotener Bücher<br />

sowie die von ihr wirkungsvoll inszenierten Bücherverbrennungen rufen im Volk mit der Zeit<br />

ein spontanes Mißtrauen gegenüber den Büchern und der Kultur überhaupt wach und<br />

befestigen darüber hinaus den theologischen Aristokratismus. Zuverlässige geistliche Autoren<br />

wie Teresa von Avila werden zwar viel gelesen; aber diese Lektüre kann das oben erwähnte<br />

Mißtrauen, dessen Folgen lange Zeit das Geistesleben belasten, nicht aus der Welt schaffen.<br />

In einem solchen Klima werden die Laien wie im Mittelalter wieder zu idiotas. Und wie im<br />

Mittelalter sind schreibende Frauen so gut wie nur hinter Klostermauern zu finden.<br />

Aber das wirklich erstaunliche Phänomen dieser harten Zeiten ist, daß nach den<br />

Maßnahmen der Jahre 1558/59 – Bataillon spricht ironisch von einem cordon sanitaire zum<br />

Schutz des Glaubens – Theologie und kirchliches Leben in Spanien eine für die katholische<br />

Welt beispielhafte Erneuerung durchmachen. Dies deutet darauf hin, daß das wahre cordon<br />

sanitaire zum Schutz des Glaubens weniger auf der Inquisition beruhte, als vielmehr auf der<br />

Unterscheidung der Geister durch die Theologen und Juristen sowie auf dem Wirken eines<br />

Episkopats und eines Klerus, die weitgehend gebildet und vorbildhaft waren, auf der<br />

erneuerten sonntäglichen Predigt, besonders in der Fastenzeit, auf den Kongregationen und<br />

Bruderschaften, auf den hervorragenden geistlichen Büchern, die in jener Zeit entstanden, und<br />

nicht zuletzt auf der missionarischen Dynamik so vieler Menschen, die nach Afrika, Europa<br />

und vor allem Amerika mit Begeisterung zogen 34 . Bei aller Kritik an den Maßnahmen jener<br />

harten Zeiten dürfen wir nämlich eines nicht übersehen: Teresas und Juans Zeiten waren in<br />

Spanien alles in allem auch Zeiten der ansteckenden „Freude“ am Katholischsein und der<br />

dynamischen kirchlichen Erneuerung, nicht der unsicheren und mutlosen, sich mit sich allein<br />

beschäftigenden kleinen Herde, die der Welt scheinbar nur noch die eigenen Identitäts- und<br />

Strukturprobleme mitzuteilen, aber keine frohe und freimachende Botschaft mehr zu<br />

verkünden hat.<br />

34 Vgl. Andrés, Historia (wie Anm. 3), 273.<br />

11


„Herr, gib mir dieses Wasser …!“ (Joh 4,15)<br />

Das Wasser als Symbol für das innere Beten bei Teresa von Avila“<br />

Von Mariano Delgado<br />

Brunnen in der Samariterin-Strasse, Fribourg<br />

„Ich finde nichts Passenderes, um gewisse geistliche Dinge zu erklären als das Wasser; ich habe es, weil<br />

ich wenig weiss und meine Intelligenz mir auch nicht weiterhilft und ich dieses Element sehr liebe,<br />

aufmerksamer beobachtet als andere Dinge“ – schreibt Teresa in ihrem Hauptwerk „Wohnungen der<br />

Inneren Burg“ (4. Wohnung, 2,2). Aber Teresa liebte das Wasser als Metapher für das innere Beten nicht<br />

nur, weil dieses Element in der trockenen zentralspanischen Hochebene ihre Aufmerksamkeit besonders<br />

auf sich zog, sondern weil es sie an die Begegnung Jesu mit der Samariterin erinnerte. In der Bitte dieser<br />

Frau – „Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierher kommen<br />

muss, um Wasser zu schöpfen“ (Joh 4,15) – sah Teresa ihre eigene mystische Erfahrung versinnbildlicht:<br />

auch sie war immer durstig, obwohl sie im Kloster viel betete und sich mit asketischen Übungen abplagte,<br />

bis der Herr ihr durch das innere Beten „lebendiges Wasser“ reichlich schenkte! Teresa selbst legt die Spur<br />

zu der Samariterin frei, als sie in ihrer Autobiographie schreibt: „Ach, wie oft fällt mir dann das lebendige<br />

Wasser ein, von dem der Herr zur Samariterin sprach (Joh 4)! Deswegen bin von diesem Evangelium<br />

begeistert. Das ist wirklich so, denn noch ohne dieses Gut so zu erkennen, wie heute, war ich das schon<br />

seit frühester Kindheit und bat den Herrn oft, mir dieses Wasser zu geben. Da, wo ich lebte, hatte ich<br />

immer eine Darstellung davon, als der Herr zum Brunnen kam, bei mir, mit folgender Aufschrift: ‚Domine,<br />

da mihi aquam’“ („Herr, gib mir dieses Wasser …!: Joh 4,15 – „Das Buch meines Lebens“, Kap. 30, 19).<br />

Inneres Beten als Freundschaft mit Gott<br />

Teresa lebte nach eigenen Aussagen in „schweren Zeiten“, in denen Inquisition und scholastische<br />

Theologen mit einem aristokratischen, akademischen Bewusstsein streng darüber wachten, dass Laien –<br />

auch Laienbrüder und Ordensfrauen – das innere Beten, das von vielen geistlichen Lehrern empfohlen<br />

wurde, nicht praktizieren. Sie sollten lieber beim Rosenkranz bleiben, so wisse man schliesslich auch, was<br />

1


sie beten. Der hochrangige Dominikanertheologe Melchior Cano schrieb 1559, das gemeine Volk sollte<br />

Martha sein und nicht versuchen, es Maria nachzumachen. Wer die allgemeine Berufung zur<br />

Vollkommenheit der Laien in der Welt und das innere Beten anpreise, der, so Cano mit beissender Ironie,<br />

wisse mehr als Christus, der gesagt habe „geh, verkaufe, was du hast“ (Mk 10,21), und nicht „geh und<br />

bete innerlich im Geiste“. Solche Theologen seien „Zerstörer des Ordenslebens und Volksbetrüger“. Aber<br />

Teresa liess sich davon nicht abhalten, das ihr teure innere Beten zu praktizieren. Sie war sich der Autorität<br />

der eigenen Gebetserfahrung so sicher, dass sie nicht zögerte, an die ängstlichen scholastischen<br />

Theologen ihrer Zeit diese Frage zu richten: „Was ist denn los, ihr Christen? Versteht ihr euch selbst noch?<br />

Ich würde am liebsten laut aufschreien und – obwohl ich nur die bin, die ich bin – mit denen disputieren,<br />

die behaupten, dass inneres Beten nicht erforderlich sei“ („Weg der Vollkommenheit“, 37,2). Welche<br />

kluge, streitbare Theologin wäre aus ihr geworden, hätte sie damals studieren dürfen!<br />

Vom Segen des inneren Betens aus eigener Erfahrung überzeugt, empfahl sie: „dass jemand, der mit dem<br />

inneren Beten begonnen hat, es ja nicht mehr aufgeben soll, mag er noch so viel Schlechtes tun, denn es<br />

ist das Heilmittel, durch das er sich wieder bessern kann, während ohne es alles sehr viel schwieriger wird<br />

[…] Wer aber noch nicht mit dem inneren Beten begonnen hat, den bitte ich um der Liebe des Herrn<br />

willen, sich ein so großes Gut doch nicht entgehen zu lassen. Hier gibt es nichts zu verlieren, sondern nur<br />

zu gewinnen“. Inneres Beten definiert sie dann schlicht und einfach „als Verweilen bei einem Freund, mit<br />

dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns<br />

liebt“ („Das Buch meines Lebens“, 8,5).<br />

Aus dieser Definition geht das Wesen des inneren Betens bei Teresa deutlich hervor: es geht um ein<br />

bewusstes Dasein in der Gegenwart Gottes, um eine stille, liebevolle Hinwendung zu einem Du, das<br />

grösser ist als wir und immer um uns wirbt. „Und wenn die Menschenseele Gott sucht, so sucht sie ihr<br />

Geliebter noch viel dringlicher“ – schrieb Johannes vom Kreuz, Mutter Teresas bester Schüler, im<br />

Kommentar zu seiner „Liebesflamme“ (3,28). Manchmal sagen wir in der Alltagssprache, wir gehen dahin<br />

oder dorthin „um Gott zu suchen“: aus dem Grund werden oft Exerzitien gemacht und so wurde früher<br />

ein Klostereintritt begründet. Es ist eigentlich anders: Gott sucht uns immer schon, denn er hat bei uns<br />

Wohnung genommen. Daher sagt das Zweite Vatikanische Konzil in „Gaudium et spes“ Nr. 22: „Denn er,<br />

der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt“. Beim<br />

inneren Beten geht es darum, dass wir uns dieser Einwohnung Gottes in uns „bewusst werden“ und uns<br />

Gott liebevoll zuwenden, damit er in unserer Seele immerwährend geboren werden und uns unaufhörlich<br />

verwandeln kann, denn nur so können wir ihm ähnlich werden und der uns aufgegebenen Bestimmung<br />

der Ebenbildlichkeit Gottes bzw. der Christusförmigkeit entsprechen. Mystiker wie Teresa von Avila und<br />

Johannes vom Kreuz sprechen daher von einer doppelten Vereinigung mit Gott: von der wesenhaften<br />

bzw. angeborenen, die immer besteht, und von derjenigen, die sich nur einstellt, wenn der Mensch sich<br />

dem Gnadenwirken Gottes öffnet und sich von ihm in Liebe umgestalten lässt, so dass der Wille beider<br />

übereinstimmt. Inneres Beten ist ein Weg zu dieser zweiten Vereinigung mit Gott.<br />

Einen Garten anlegen und bewässern<br />

Inneres Beten vergleicht Teresa mit der Bewässerung eines Gartens für den Herrn, damit Mensch und Gott<br />

sich ihrer Freundschaft erfreuen können. Um einen Garten anzulegen, muss zunächst der Boden<br />

vorbereitet werden, d.h. das Unkraut wird ausgerissen und gute Pflanzen werden eingesetzt. Der Herr<br />

selbst macht diese grundlegende Arbeit, indem er uns sucht und zu sich ruft. Uns kommt die Aufgabe zu,<br />

den Garten mit dem inneren Beten zu bewässern. Teresa erklärt es so: „Mit Gottes Hilfe haben wir als<br />

gute Gärtner nun dafür zu sorgen, dass diese Pflanzen wachsen, und uns darum zu kümmern, sie zu<br />

gießen, damit sie nicht eingehen, sondern so weit kommen, um Blüten hervorzubringen, die herrlich<br />

duften, um diesem unseren Herrn Erholung zu schenken, und er folglich oftmals komme, um sich an<br />

diesem Garten zu erfreuen und sich an den Tugenden zu ergötzen“ („Das Buch meines Lebens“, 11,6).<br />

Teresa spricht von vier verschiedenen Weisen der Bewässerung, je nach der Anstrengung, die damit<br />

verbunden ist: „Entweder, indem man Wasser aus einem Brunnen schöpft, was uns große Anstrengung<br />

kostet; oder mit Hilfe von Schöpfrad und Rohrleitungen, wo das Wasser mit einer Drehkurbel<br />

heraufgeholt wird; ich habe es selbst manchmal heraufgeholt: das ist weniger anstrengend als jene andere<br />

Art und fördert mehr Wasser; oder aus einem Fluss oder Bach: Damit wird viel besser bewässert, weil die<br />

Erde besser mit Wasser durchtränkt wird und man nicht so oft bewässern muss, und es ist für den Gärtner<br />

viel weniger anstrengend; oder indem es stark regnet; dann bewässert der Herr ihn ohne jede<br />

Anstrengung unsererseits, und das ist unvergleichlich viel besser als alles, was gesagt wurde“ („Das Buch<br />

meines Lebens“, 11,7).<br />

In diesen vier Arten der Bewässerung sieht Teresa eine Metapher für verschiedene Formen und Stufen des<br />

inneren Betens. Am Anfang ist viel Anstrengung erforderlich, „denn es sind die Anfänger selbst, die hier<br />

arbeiten, während der Herr das Vermögen gibt“. Das Ziel ist, so selbstverständlich und mühelos zu beten,<br />

also in der bewussten Gegenwart der Freundschaft mit Gott zu leben, wie der Regen den Garten<br />

bewässert. Ohne Anstrengung fühlen wir dann mit Paulus: „Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und<br />

sind wir“ (Apg 17,28). Das ist das „Gott finden in allen Dingen“ der Mystiker. Dann kann das Leben zu<br />

2


einem ständigen Gebet (in allen Formen, die dazu im Leben gehören: vom überschwänglichen Lob bis zu<br />

der bitteren Klage) werden, auch „zwischen den Kochtöpfen“, wie Teresa sagte, also mitten im Alltag.<br />

Wir können dann Gott überall finden, weil wir uns als von Gott Gesuchte wissen.<br />

In einem anderen Werk greift Teresa auf die Metapher von zwei Brunnenbecken, die sich nun auf<br />

unterschiedliche Weisen mit Wasser füllen, zurück, um das innere Beten zu erklären: „Beim einen kommt<br />

es von weiter her durch viele Röhren und Technik; das andere aber ist unmittelbar am Quellort des<br />

Wassers erbaut und füllt sich nach und nach ohne jedes Geräusch, und wenn die Quelle überströmend ist,<br />

wie die, von der wir sprechen, dann strömt aus ihr ein gewaltiger Bach hervor, sobald das Becken voll ist.<br />

Dabei bedarf es keiner Technik, noch saugt es die Rohrleitung auf, sondern es quillt immerfort Wasser<br />

daraus hervor.“ Den ersten Brunnen vergleicht Teresa mit der Anstrengung der Meditation beim Beten,<br />

„indem wir uns in der Meditation der erschaffenen Dinge bedienen und unseren Verstand abplagen“.<br />

Dazu spürte sie keine Begabung.<br />

„Die andere Quelle bekommt das Wasser von seinem Ursprung selbst, der Gott ist. Und so wie Seine<br />

Majestät es will, sobald es ihm gefällt, zuweilen eine übernatürliche Gnade zu erweisen, quillt es im<br />

grössten Frieden und in aller Ruhe und Zärtlichkeit aus unserem eigenen tiefsten Innern hervor, ohne dass<br />

ich weiss von wo noch wie“ (4. Wohnung, 2,3f.). „Den Seinen“, so heisst es im Psalm 127,2 „gibt's der<br />

Herr im Schlaf“.<br />

Dieses mühelos vom Himmel regnende (so die eine Metapher) oder aus dem Quellursprung (so die zweite<br />

Metapher) überströmende Wasser ist die Gnade Gottes, die uns in Überfülle umfängt und zum Beter<br />

macht, die zum menschenfreundlichen Gott mit Jesus Christus „Abba, Vater“ rufen (Gal 4,6; Röm 8,15).<br />

Johannes vom Kreuz hat in einem Gedicht von der Quelle göttlicher Gnade geschrieben:<br />

„Ich weiss, gewaltig strömen ihre Fluten<br />

dass sie bewässern Hölle, Himmel, Völker,<br />

auch wenn es Nacht ist.“<br />

Nochmals die Samariterin<br />

Gott sucht uns in allen Facetten unseres menschlichen Daseins. Das ist das Geheimnis seiner<br />

Menschwerdung. Den einen kommt er mitten im Alltag einer laienchristlichen, oder gar kirchenfernen<br />

Existenz entgegen; andere entdecken ihn erst nach langen Jahren einer Nachfolgeexistenz als<br />

Berufschristen, wie es Teresa auch geschah. Das Wichtigste ist aber, dass wir, in welchem Lebensstand<br />

und Beruf auch immer, für den um unsere Liebe werbenden menschenfreundlichen Gott offen sind: „Es<br />

wäre übel mit uns bestellt“, schreibt die kluge Teresa, „wenn wir erst dann Gott suchen könnten,<br />

nachdem wir der Welt schon abgestorben sind. Magdalena, die Samariterin und das kananäische Weib<br />

waren es noch nicht, als sie ihn fanden.“<br />

3


Eine Burg wie ein Diamant… und wie ein Lustgarten<br />

Die „Wohnungen der Inneren Burg“ nach Teresa von Avila – die erste Wohnung<br />

Von Mariano Delgado<br />

„Wie ich heute unseren Herrn anflehte, er möge durch mich reden …, da bot sich mir dar, was ich nunmehr<br />

sagen und als Fundament gebrauchen möchte: nämlich unsere Seele als eine Burg zu betrachten, die ganz<br />

aus einem Diamant oder einem sehr klaren Kristall besteht und in der es viele Gemächer gibt, gleichwie im<br />

Himmel viele Wohnungen sind. Denn wenn wir es recht betrachten, Schwestern, so ist die Seele des<br />

Gerechten nichts anderes als ein Paradies, in dem der Herr, wie er selbst sagt, seine Lust hat … Ich finde<br />

nichts, mit dem sich die grosse Schönheit einer Seele, ihre Weite und ihre hohe Befähigung vergleichen<br />

liesse.“<br />

Mit diesen Worten beginnt Teresa von Avila ihr Hauptwerk „Wohnungen der Inneren Burg“. Dieses Buch,<br />

das sie zwischen dem 2. Juni und dem 5. November 1577 aus Gehorsam an verschiedenen Orten in Stunden,<br />

die sie dem Schlaf abtrotzte, mit schneller, sicherer Hand geschrieben hat, ist die Summe ihres mystischen<br />

Erlebens und der Gipfel christlicher Mystik. Es handelt vom Gebet, vom Hineinwachsen in die<br />

Gottesfreundschaft bzw. von der Bewusstwerdung unserer Würde als Kinder, ja als Ebenbilder Gottes. Die<br />

Sprache ist eine metaphorische, und Teresa ist sich dessen wohl bewusst, dass alle Bilder letztlich nur<br />

unzureichende Annäherungen an die unsagbare Grösse Gottes sind, dessen Glanz und Wärme sie unter den<br />

Bedingungen ihres irdischen Daseins erleben durfte.<br />

Die Burgmetapher<br />

Wer in Avila, die ummauerte Geburtsstadt Teresas, gewesen ist, der meint, die Burgmetapher vor Augen zu<br />

haben, aber der Eindruck kann auch täuschen. Denn es geht Teresa nicht um die rohe Einfassung, die<br />

Ringmauer dieser Burg, sondern um die Bewusstmachung, dass in der Mitte der Burg der HERR, gleich der<br />

Sonne, wohnt, und jeder Winkel „von der Sonne, die in diesem Palaste strahlt,“ durchdrungen ist. Es ist also<br />

nicht wichtig, in welcher Wohnung wir uns befinden – den einen wird mehr, den anderen weniger an<br />

Gotteserfahrung gegeben, und manche verweilen immer nur in den ersten Wohnungen –, solange wir uns<br />

nach dieser Sonne orientieren und „die Augen auf Christum richten“, den Mensch gewordenen Gott: „Ihr<br />

dürft euch nicht vorstellen, dass diese Wohnungen wie aufgereiht eine hinter der anderen liegen. Richtet<br />

vielmehr eure Augen auf die Mitte, die das Gemach und der Palast ist, wo der König weilt, und stellt die Burg<br />

euch vor wie eine Zwergpalme, bei der viele Hüllen das köstliche Herzblatt umschließen. So liegen dort rings<br />

um diesen Raum viele andere Gemächer, und ebenso darüber.“<br />

Das Gebet als Eingangstor<br />

Wir sagten, das Buch handelt vom Gebet, denn für Teresa sind „das Gebet und die Andacht das Tor, durch<br />

das man die Burg betreten kann.“ Mehr noch: jeder Wohnung wird eine Gebetsform zugeordnet, aber dies<br />

1


in grosser Freiheit, „denn die Dinge der Seele muss man sich immer in Fülle und Weite und Größe denken.“<br />

Daher empfiehlt Teresa als „sehr wichtig“ für jede Seele, „die sich – viel oder wenig – dem Gebet widmet,<br />

…, dass man sie nicht in einen Winkel pfercht oder einengt. Man lasse sie durch all diese Wohnungen<br />

wandeln, aufwärts und abwärts und nach den Seiten hin; denn Gott hat ihr eine so grosse Würde verliehen.<br />

Auch dränge man sie nicht dazu, lange Zeit in einem einzigen Gemach zu bleiben“.<br />

Mit Gebet meint Teresa „das mündliche Gebet nicht minder als das Gebet im Geiste; denn um Gebet zu sein,<br />

bedarf beides der Ehrfurcht und Andacht. Ein Gebet, bei dem man nicht darauf achtet, mit wem man redet<br />

und was man erbittet, wer der Bittsteller ist und wer der Angeflehte, das nenne ich kein Gebet, mag man<br />

dabei auch noch so viel die Lippen bewegen.“ Gebet ist für Teresa vor allem aufmerksames „Verweilen bei<br />

einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen,<br />

dass er uns liebt“. Daher ist nicht entscheidend, ob wir mündlich oder im Geiste beten, sondern ob wir uns<br />

mit der nötigen Aufmerksamkeit und Liebe an IHN, den für uns und unser Heil Mensch gewordenen Gott,<br />

zuwenden.<br />

Menschen ohne Gebetsleben gleichen für Teresa „einem gelähmten, bewegungsunfähigen Körper, der zwar<br />

Hände und Füsse besitze, ihnen aber nicht gebieten könne.“ Diese Menschen haben sich so sehr daran<br />

gewöhnt, in den Geschäften dieser Welt, d.h. „in äusseren Dingen befangen zu sein, dass es völlig<br />

undenkbar erscheint, sie könnten jemals in sich gehen“. Nicht zu diesem Menschen will Teresa mit ihrem<br />

Buch sprechen, sondern zu denjenigen, die schliesslich in die Burg eingehen: „Obwohl sie tief in der Welt<br />

stecken, haben sie doch ein gutes Verlangen, und zuweilen – wenn auch selten – empfehlen sie sich dem<br />

Schutze unseres Herrn und denken darüber nach, wer sie sind, sei es auch nicht sehr gründlich. Auch beten<br />

sie jeden Monat irgendwann einmal, von tausend Geschäften erfüllt, mit denen ihre Gedanken fast immer<br />

umgehen.“<br />

Wenn Teresa vom Gebet als Eingangstor spricht, so ist sie sich zugleich der Unzulänglichkeit der Metapher<br />

bewusst: eigentlich sind alle Menschen „in der Burg“, denn wir leben immer schon im Lichte Gottes („Gott<br />

steht wie die Sonne über den Seelen, um sich Ihnen mitzuteilen“, sagt auch Johannes vom Kreuz), der uns<br />

von Anfang an mit seiner Gnade umfängt: „Denn du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoss<br />

meiner Mutter“ (Psalm 139,13). Daher schreibt Teresa: „Es scheint, als sagte ich einen Unsinn; denn wenn<br />

diese Burg die Seele ist, so ist doch klar, dass man nicht hineingehen muss, da man ja selbst die Burg ist.<br />

Genauso närrisch erschiene es, wenn man jemandem sagte, er möge in ein Zimmer gehen, in dem er sich<br />

bereits befindet. Doch ihr müsst verstehen, dass zwischen Darinnensein und Darinnensein ein grosser<br />

Unterschied besteht. Es gibt viele Seelen, die sich im Wehrgang der Burg aufhalten – also dort, wo die<br />

Wachen stehen – und denen nichts daran gelegen ist, ihre inneren Anlagen zu betreten. Sie wissen nicht,<br />

was an diesem wundervollen Ort zu finden ist, noch wer darin weilt, ja nicht einmal, was für Gemächer die<br />

Burg umschliesst.“ Anders gesagt: es gibt Menschen, die sich dessen nicht bewusst werden, dass Gott uns als<br />

sein Ebenbild geschaffen und zur Gottesfreundschaft bestimmt hat, und andere, die mitten in der Welt daran<br />

denken und sich nun zu Gott hin-wenden.<br />

Die erste Wohnung oder die bewusste Hinwendung zu Gott<br />

Gerade um den Anfang dieser Hinwendung zu Gott geht es in der ersten Wohnung. Sie ist die der<br />

Selbsterkenntnis im Angesichte Gottes, d.h. der Bewusstmachung unserer unserer Würde, aber auch unserer<br />

Geschöpflichkeit, Gebrechlichkeit, Niedrigkeit und „Sündhaftigkeit“, d.h. Erlösungsbedürftigkeit. Dazu<br />

bedarf es vor allem der „Demut“: „Solange wir uns auf dieser Erde befinden, gibt es nichts, was für uns<br />

wichtiger wäre als die Demut … Die Demut wirkt nämlich wie die Biene, die im Stock den Honig bereitet.<br />

Ohne sie geht alles verloren. Bedenkt aber, dass die Biene es nicht versäumt, hinauszufliegen, um den Nektar<br />

der Blüten zu sammeln. Genauso muss es die Seele mit der Selbsterkenntnis halten. Glaubt es mir und fliegt<br />

zuweilen aus, um die Grösse und Majestät eures Gottes zu betrachten.“ Zur Demut gehört auch die Tugend<br />

der Masshaltung: „Übertreibung sind nicht gut, auch nicht in der Tugend“, sagt die kluge Teresa – und hat<br />

die strengen asketischen Übungen mancher Schwestern vor Augen. Die Geduld, die alles erreicht, ist für sie<br />

eine andere Bezeichnung der Demut. Gemäss der augustinischen Tradition fliessen bei Teresa<br />

Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis zusammen: „Im Anblick seiner Grösse entdecken wir unsere<br />

Niedrigkeit, und angesichts seiner Reinheit sehen wir unseren Schmutz.“<br />

Die Tücken des Engels des Lichtes<br />

Gott können wir nichts vormachen: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und leite<br />

mich auf dem altbewährten Weg“ (Psalm 139,24), betet der Psalmist. Sich Gott zu stellen heisst,<br />

schonungslose Selbsterkenntnis zu betreiben. Gerade dies will „der Fürst dieser Welt“, „der Vater der Lüge“,<br />

der sich bekanntlich als „Engel des Lichts“ oder „Luzifer“ verkleidet, verhindern. Daher die Warnungen<br />

Teresas, „stets auf der Hut vor den Tücken des Satans“ zu sein „und uns nicht überlisten zu lassen“, indem<br />

er „unsere Selbsterkenntnis verdreht“. Das ist nicht altmodische, asketische Sprache, sondern eine erfahrbare<br />

Realität durch all die Frommen, die Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis verbunden haben. Wenn wir im<br />

2


Gewürm dieser Welt befangen bleiben und zum Gebet unfähig sind, so sollten wir uns fragen, ob wir<br />

wirklich unsere Augen auf Christus gerichtet haben oder vielmehr den Tücken Luzifers erlegen sind.<br />

Das Gebet der ersten Wohnung<br />

Wir sagten oben, dass Teresa jeder Wohnung eine Gebetsform zuordnet. Was kann nun das Gebet in dieser<br />

ersten Wohnung sein, der Wohnung der radikalen Hinwendung zu Gott und der Selbsterkenntnis in seinem<br />

Angesichte? Teresa deutet an, dass sie vor allem an das Gebet des Blinden bei Jericho denkt: „Jesus, Sohn<br />

Davids, hab Erbarmen mit mir!“ (Lk 18,38). Die bewusste Wiederholung und Meditation dieses Gebetes kann<br />

reichen, aber es gibt auch andere Möglichkeiten, die jeder in grosser Freiheit üben sollte. So etwa die Bitte<br />

aus dem Psalm 139, die oben erwähnt wurde, oder die Bitte aus dem Vaterunser nach Vergebung unserer<br />

Schuld, oder auch die Worte des „verlorenen Sohns“: „Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen…“<br />

(Lk 15,18). Die Hauptsache ist: wir machen uns redlich auf dem Weg zum dreifaltigen Gott, der Sonne, dem<br />

Licht, der in der Mitte der Burg, d.h. der Seele, Wohnung genommen hat (Joh 14,23), um darin seinen<br />

„Lustgarten“ zu haben, der uns besser kennt, als wir uns selber kennen, und der uns unaufhörlich zu seinem<br />

Bilde umformen möchte.<br />

3


„Ausdauer ist hier das Wichtigste“<br />

Die zweite Wohnung der „Inneren Burg“<br />

Mariano Delgado<br />

Teresas „Zweite Wohnung“ besteht aus einem einzigen Kapitel. In der Inneren Burg schreibt sie dazu<br />

wenig, weil sie, wie sie sagt, an anderer Stelle „bereits ausführlich“ darüber gesprochen hat. Gemeint<br />

sind die Werke Das Buch meines Lebens und Weg der Vollkommenheit. Darin sowie in der „Zweiten<br />

Wohnung“ geht es um die „Anfänger“, d.h. um die Menschen, die begonnen haben die sanfte Stimme<br />

des Guten Hirten zu vernehmen und das innere Beten als Eingangstor in die Burg zu üben. Zugleich aber<br />

geht es um die Trockenheit des Anfangs, um die Versuchungen und Hindernisse, sowie um die Mittel<br />

dagegen: „denn das sind nicht die Wohnungen, in denen es Manna regnet, die liegen weiter innen, wo<br />

alles nach dem schmeckt, was eine Seele möchte, weil sie nur noch das möchte, was Gott möchte“.<br />

Christliche Heilsdramatik<br />

Die Innere Burg Teresas ist Ausdruck der Heilsdramatik, die dem Christentum eigen ist: die<br />

Gottebenbildlichkeit ist unsere Bestimmung, denn es gibt in Wahrheit nur eine letzte Berufung des<br />

Menschen, und das ist „die göttliche“, wie das Konzil mit „Gaudium et spes“ (Nr. 22) betont hat. Daher<br />

sollten wir uns dieser unserer „erhabenen Würde“ bewusst werden und uns auf dem Weg zu Gott<br />

machen. Der klarste Weg dazu ist das Hören auf denjenigen, der als „der Weg, die Wahrheit und das<br />

Leben“ (Joh 14,6) in die Welt gekommen ist. Aber Christus ist nicht nur für die Christgläubigen<br />

gestorben; „sondern für alle Menschen guten Willens“. Daher haben die grossen Mystiker immer gespürt,<br />

was „Gaudium et spes“ deutlich betont hat, „dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet …in<br />

einer Gott bekannten Weise [mit ihm] verbunden zu sein“. Zur christlichen Heilsdramatik gehört nicht nur<br />

die Universalität der göttlichen Berufung des Menschen und des Erlösungswerks Christi, sondern auch das<br />

Wissen um den „Vater der Lüge“ (Joh 8,44), der sich am besten als „Engel des Lichtes“ verkleidet und<br />

uns vom Hineinwachsen in die Gottebenbildlichkeit abhalten will.<br />

Die Versuchungen<br />

Die Stimme und Rufe des Herrn, sagt Teresa, sind hier nicht wie in der vierten Wohnung, wo sie nur<br />

innerlich vernommen werden. Hier kommen sie eher durch die äusseren Sinne, z.B. „durch Worte, die<br />

man von guten Leuten wahrnimmt, oder in Predigten oder durch das, was man in guten Büchern liest …<br />

1


oder auch durch Krankheiten und Schwierigkeiten, ferner durch eine Wahrheit, die Er uns in den<br />

Augenblicken lehrt, in denen wir im inneren Beten verweilen.“ Aber wir sind hier bei der ersten Stufe des<br />

inneren Betens, beim mühsamen Schöpfen des Wassers aus einem tiefen Brunnen, wie Teresa anderswo<br />

sagt (Das Buch meines Lebens, Kap. 11) sagt; und das kostet uns bekanntlich grosse Anstrengung. Zudem<br />

sind der Verstand und die anderen Seelenvermögen nicht beruhigt und noch nicht auf den Herrn ganz<br />

ausgerichtet, sondern zerstreut und vielfach abgelenkt. Teresas Sprache wird in der „Zweiten Wohnung“<br />

martialisch: „Es prasselt Schläge und Geschützdonner mit solcher Wucht, dass die Seele sie nicht<br />

überhören kann. Denn hier geschieht es, dass die bösen Geister diese Schlangen von Welt vor Augen<br />

führen, und dass sie den Befriedungen der Welt, also der Wertschätzung, die man in ihr geniesst … und<br />

tausenderlei weiteren Hindernissen nahezu Ewigkeitswert zuschreiben“. Teresa spricht auch von einer<br />

Grundversuchung in dieser Anfangsphase, nämlich von der Verwandlung der geistlichen Demut in<br />

Hochmut. Dieser kann vielerlei Formen annehmen, z.B. dass wir grosse Wünsche hegen, „den Heiligen<br />

nachahmen zu wollen und sich nach dem Martyrium zu sehnen“, oder „dass doch wir alle sehr geistlich<br />

wären“. Dies und viele andere Ablenkungen gehören für Teresa zu der List des Engels des Lichtes.<br />

Das Kreuz umfassen<br />

Gegen diese Versuchungen empfiehlt uns Teresa verschiedene Mittel, allen voran Demut, Ausdauer,<br />

Beharrlichkeit und guten Willen: „Ausdauer ist hier das Wichtigste“. Wir sollten auch versuchen, die<br />

Seelenvermögen anders zu beschäftigen. Das Gedächtnis kann uns die Vergänglichkeit dieser Welt vor<br />

Augen führen, dass alles hier Schall und Rauch ist, und dass es sich folglich nicht lohnt, unser Herz an die<br />

Dinge dieser Welt zu verlieren, sondern dass wir uns bemühen sollten, uns ganz auf die „sehr kostbare<br />

Perle“ (Mt 13,46) auszurichten. Der Wille kann uns zeigen, dass Gott als wahrer Liebhaber uns nie im<br />

Stich lässt, uns begleitet und Leben und Sein gibt, so dass es sich lohnt, unseren Willen auf den Willen<br />

Gottes einzustimmen. In dieser Suche nach der Vereinigung mit dem Willen Gottes besteht für Teresa<br />

„die höchste Vollkommenheit, die man auf dem geistlichen Weg erlangen kann“. Der Verstand kann<br />

verstärkend dazu kommen und uns klarmachen, dass wir keinen besseren Freund gewinnen könnten, „die<br />

ganze Welt aber voller Falschheit sei und jene Vergnügungen, die ihm der Böse vor Augen führt, voller<br />

Mühsal, Sorgen und Widersprüchen.“. Für Teresa sind das „Argumente, um die bösen Geister zu<br />

besiegen“. Vieles ist darin gewiss in der Frömmigkeitssprache des 16. Jahrhunderts ausgedrückt, es bleibt<br />

aber im Kern gültig.<br />

Die „Ausdauer“ besteht aber für Teresa vor allem im Richten unserer Seelenvermögen auf die<br />

Betrachtung des Lebens und Leidens Jesu, denn in dieser Phase ist die bildhafte, gegenständliche<br />

Meditation sehr wichtig. Weiterhin martialisch sagt Teresa, „dass es keine besseren Waffen gibt, als die<br />

des Kreuzes“. Und Sprachgewaltig erteilt sie uns diesen Rat: „Umfasst das Kreuz, das euer Bräutigam auf<br />

sich nahm, und begreift, dass dies eure Aufgabe zu sein hat“.<br />

Bildhafte Meditation<br />

Eine solche Sprache könnte uns dazu verleiten, Teresas Mystik als „Leidensmystik“ zu bezeichnen, wie<br />

dies vielfach der Fall gewesen ist. Aber sie ist vor allem, wie jede christliche Mystik, eine „Liebesmystik“.<br />

Denn die bildhafte Betrachtung der Lebens und Leidens Jesu ist ein Mittel, ihn und die Menschen mehr zu<br />

lieben, ein Weg, sich existentiell dessen bewusst zu werden, dass Menschwerdung und Kreuzestod Jesu<br />

nicht nur „für uns“, so allgemein gesagt, stattfanden, sondern ganz besonders „für mich“. Im Buch<br />

meines Lebens (Kap. 12) empfiehlt Teresa dem Verstand: „Er kann sich vorstellen, bei Christus zu sein,<br />

und es sich zur Gewohnheit machen, sich sehr in seine heilige Menschheit zu verlieben, ihn immerfort bei<br />

sich zu haben und mit ihm zu sprechen, ihn in seinen Nöten zu bitten, sich in seinen Plagereien bei ihm zu<br />

beklagen, in glücklichen Stunden sich mit ihm zu freuen und ihn deswegen nicht zu vergessen, ohne sich<br />

um vorformulierte Gebete zu bemühen, sondern mit Worten, wie sie seinen Wünschen und seinem<br />

Bedürfnis entsprechen. Das ist ein ausgezeichnetes Mittel, um voranzukommen, und dazu in sehr kurzer<br />

Zeit“. Beten ist dann nichts anderes als ein vertraulicher Umgang mit Gott, ein bewusstes Leben „in der<br />

Gesellschaft Jesu“. Im selben Buch (Kap. 13) konkretisiert Teresa dieses Meditieren des Lebens und<br />

Leidens Jesu anhand einer Übung, die ihr besonders teuer war, nämlich das Nachdenken über „Christus<br />

an der Säule“: Es ist gut, „das eine Weile zu bedenken, und an die Schmerzen zu denken, die er dort<br />

erlitt, und warum er sie erlitt, wer derjenige ist, der sie erlitt, und mit welcher Liebe er sie erlitt.“ Dann<br />

relativiert sie dieses Nachdenken und betont, dass es vor allem darum geht, „bei Jesus“ zu sein: „Doch<br />

sollte man sich nicht immer damit ermüden und auf die Suche danach gehen, sondern auch einfach bei<br />

ihm verweilen und mit dem Verstand schweigen, und falls möglich, ihn damit beschäftigen, den<br />

anzuschauen, der mich anschaut, bei ihm zu bleiben, mit ihm zu sprechen, ihn zu bitten, sich vor ihm in<br />

Demut zu beugen und an ihm zu freuen, und zu denken, dass man es nicht verdient, bei ihm zu sein.“<br />

Teresa spricht nicht vom Hörensagen, wie viele Theologen, sondern aus Erfahrung: „Wenn man das zu<br />

tun vermag, und sei es auch nur am Anfang, wenn man mit dem inneren Beten beginnt, dann wird man<br />

2


grossen Nutzen davon haben; diese Art des Betens bringt viele Vorteile, zumindest fand meine Seele sie<br />

darin.“<br />

Wir wissen, dass Teresa das Nachdenken über „Christus an der Säule“ sehr liebte. Vor einem solchen Bild<br />

geschah die entscheidende Wende in ihrer Bekehrung, und bei allen Klostergründungen hatte sie dabei<br />

eine kleine Figur des gegeisselten Christus. Die spanische, nachtridentinische Frömmigkeit der Zeit pflegte<br />

eine sehr realistische Darstellung des Leidens in Skulpturen Jesu, der Jungfrau und der Heiligen. Auch die<br />

Mystiker liebten sie, aber sie waren zugleich bemüht, den Missbrauch zu vermeiden. Daher erinnert<br />

Johannes vom Kreuz in seinem Buch Aufstieg auf den Berg Karmel auf die Lehre der Kirche beim Trienter<br />

Konzil: „Der Einsatz von Skulpturen ist von der Kirche in zweierlei Absicht angeordnet worden, und zwar<br />

dass wir die dargestellten Heiligen verehren sollen, dass der Wille angespornt und die Ehrfurcht von der<br />

Heiligen dadurch geweckt wird. Wenn sie diesem Ziel dienen, sind sie segensreich, und ihr Einsatz ist<br />

notwendig; deshalb müssen wir die Figuren wählen, die am wahrhaftigsten und lebendigsten wirken und<br />

so den Willen am besten zur Verehrung anstacheln“.<br />

Den Rat erfahrener Personen suchen<br />

Als weiteres Mittel gegen die List des Engels des Lichtes empfiehlt Teresa „sich mit erfahrenen Personen<br />

zu besprechen“. Im Idealfall meint sie damit „Studierte“, d.h. Theologen, die auch über geistliche<br />

Erfahrung im inneren Beten verfügen. Aber sie ist klug genug, um zu wissen, dass der Umgang mit guten<br />

Theologen für die Unterscheidung der Geister immer nützlich ist, „sofern sie tugendhaft sind“: „Und man<br />

soll sich nicht täuschen, indem man sagt, dass Studierte ohne inneres Beten nichts sind für den, der es<br />

hält“ (Das Buch meines Lebens, Kap. 13). Zu Teresas Zeit hegten die akademischen Theologen einen<br />

Verdacht gegen spirituelle Autoren, die inneres Beten oder „mystische Theologie“ als ein existentielles<br />

Auskosten der Liebe Christi betonten. Teresa und Johannes vom Kreuz kennen dieses „Wespennest“ und<br />

betonen die Komplementarität von mystischer und scholastischer Theologie. Aber beide nehmen sich kein<br />

Blatt vor dem Mund, wenn es darum geht, die schlechten Theologen und Seelsorger ihrer Zeit zu<br />

kritisieren.<br />

Aus ihrer jahrelangen Leidensgeschichte unter den Fehlurteilen und der Strenge mancher Beichtväter<br />

entwickelt Teresa eine Schule des klugen Umgangs mit ihnen. Sie ermahnt ihre Schwestern, den<br />

Theologen der Kirche zu vertrauen, auch wenn ihnen die mystische Weisheit fehle; zugleich aber betont<br />

Teresa mit Nachdruck, man müsse eher den Rat jener Theologen suchen, die „gebildet, erfahren und<br />

Gottesdiener sind“ (Sechste Wohnung); denn es gebe auch „halbgebildete Theologen“ (Fünfte<br />

Wohnung), die der Seele mit schlechten Ratschlägen grossen Schaden zufügen können, wie sie selbst<br />

bitter erfahren habe, als sie „keine mit so guten Studien“ zur Verfügung hatte, „wie ich mir gewünscht<br />

hätte“ (Das Buch meines Lebens, Kap. 5; auch Kap. 26). Klug empfiehlt uns Teresa mehrere spirituelle<br />

Begleiter zu haben, um nicht vom Rat eines einzelnen abhängig zu sein.<br />

Nicht Aufhören mit dem inneren Beten<br />

Die Zweite Wohnung, die von der Trockenheit der Wüstenwanderung und der Bedeutung von Demut und<br />

Ausdauer handelt, endet mit einer Ermutigung zur beharrlichen Pflege des inneren Betens „als<br />

Eingangstor zu dieser Burg“, d.h. mit einer Ermutigung, die Gesellschaft Jesu zu suchen und betend und<br />

anbetend – sein Leben und sein Leiden betrachtend –, beim ihm zu verweilen. Als Frau in der katholischen<br />

Kirche ihrer Zeit konnte Teresa keine Theologie studieren noch die Bibel lesen, die nur auf Latein<br />

zugänglich war. Aber sie spricht mit der Lehrautorität, die aus ihrer Erfahrung kommt: „Der Herr selbst<br />

sagt: Niemand wird zu meinem Vater hinaufgehen, ausser durch mich (Joh 14,6) – ich weiss nicht, ob er<br />

es so sagt, ich glaube schon – und: Wer mich sieht, sieht meinen Vater (Joh 14,9). Wenn wir ihn aber nie<br />

anschauen und nie bedenken, was wir ihm verdanken und welchen Tod er für uns erlitten hat, dann weiss<br />

ich nicht, wie wir ihn kennen lernen oder in seinem Dienst Werke vollbringen könnten“.<br />

3


Das Dilemma des reichen Jünglings<br />

Die dritte Wohnung der „Inneren Burg“<br />

Von Mariano Delgado<br />

Vielschichtig ist die dritte Wohnung der „inneren Burg“. Sie ist geprägt von der Suche nach Sicherheit<br />

inmitten der Erfahrung der Trockenheit beim inneren Beten. Wer das Dilemma des reichen Jünglings versteht<br />

und sich „aus Liebe“ für die Nachfolge Jesu entscheidet, wird aber nicht enttäuscht werden: früher oder<br />

später wird sich die Gelassenheit einstellen, dass Gott uns nicht verlassen wird, sowie die Erkenntnis, dass nur<br />

er unser Verlangen stillen kann (sólo Dios basta).<br />

Die rechte Gottesfurcht<br />

„Glückselig der Mann, der den Herrn fürchtet“ (Ps 111,1), schreibt Teresa am Anfang der dritten Wohnung,<br />

die man durch die Ausdauer und das Erbarmen Gottes in der zweiten erreicht hat. Hier geht es zunächst<br />

darum, wie wir sicher wissen, dass wir bei aller Trockenheit in der Übung des inneren Betens auf dem<br />

richtigen Weg sind, nur nach Gottes Willen zu trachten. Die erste Empfehlung Teresas ist, sich in die richtige<br />

Gottesfurcht einzuüben. Das heisst nicht, ständig in Heilsangst bzw. -unsicherheit zu leben, wie Teresa<br />

manchmal im Sinne der katholischen Mentalität ihrer Zeit zwischen den Zeilen zu meinen scheint. Vielmehr<br />

geht es um die mystische Grundweisheit, dass wir Gott nicht besitzen können, dass wir also bei aller<br />

Vertrautheit mit ihm im Gebet grossen Respekt vor ihm haben müssen. Deswegen nennt ihn Teresa oft<br />

„Seine Majestät“. Am Anfang der Inneren Burg hatte sie geschrieben: „Denn ein Beten, das nicht darauf<br />

achtet, mit wem man spricht und was man erbittet, wer der Bitsteller ist und von wem er es erbittet, das<br />

nenne ich kein Gebet, auch wenn man dabei noch so sehr die Lippen bewegt“ (1 M 1). Das Wissen, dass<br />

man Gott nicht besitzen kann, führt auch zur Angst, ihn (für immer) zu verlieren. Das bedeutet „nichts<br />

anderes als viele Male zu sterben“ schreibt Teresa. Es handelt sich um einen Zustand der Unsicherheit: wir<br />

sind auf dem Weg zu Gott, weil wir verstanden haben, dass er uns gesucht und Wohnung bei uns<br />

genommen hat (Joh 14,23), dass ER und nur ER all unser Verlangen stillen kann, aber wir haben noch nicht<br />

die Erfahrung der Gelassenheit gemacht, die aus der Gewissheit entspringt, dass wir jetzt schon bei den<br />

Seligen weilen. Erst diese bringt uns zur Erkenntnis, dass Gott nicht von uns ausziehen, dass er uns nicht<br />

verlassen wird. Nun aber gilt zu beten, „dass Seine Majestät immer in mir lebe, denn wenn das nicht so wäre,<br />

welche Sicherheit kann dann ein so schlecht vergeudetes Leben wie das meine bieten?“ Gott hat man nicht<br />

in der Hand. Daher solle man sich „nicht in Sicherheit wiegen“: nicht die Bussübungen, noch die ständige<br />

Pflege des inneren Betens, noch die Zurückgezogenheit sollten uns Halt geben, sondern nur die recht<br />

verstandene „Gottesfurcht“.<br />

1


Das Dilemma des reichen Jünglings<br />

Es gibt viele Menschen, die durch die ersten zwei Wohnungen gegangen sind und den Entschluss gefasst<br />

haben, ein „korrektes“, wohlgefälliges Leben zu führen. In der Sprache Teresas: „Sie hegen den aufrichtigen<br />

Wunsch, Seine Majestät nicht zu beleidigen, wobei sie sich sogar von lässlichen Sünden hüten, und sich mit<br />

Bussübungen anzufreunden, auch mit ihren Zeiten der Sammlung, sie nutzen ihre Zeit gut aus, üben sich in<br />

Werken der Nächstenliebe, sind beim Sprechen, in ihrer Kleidung, und ihrem Familienleben, sofern sie eines<br />

haben, sehr korrekt.“ Genügt dies, damit der Herr die Seele „ganz in Besitz nimmt“? Gerade solche<br />

Menschen konfrontiert Teresa mit der Geschichte des reichen Jünglings (Mt 19,16-22): „Es kam ein Mann zu<br />

Jesus und fragte: Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Er antwortete: was<br />

fragst du mich nach dem Guten. Nur einer ist ‚der Gute’. Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die<br />

Gebote! … Der junge Mann erwiderte ihm: Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir jetzt noch?<br />

Jesus antwortete ihm: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das den Armen;<br />

so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach. Als der junge Mann<br />

das hörte, ging er traurig weg; denn er hatte ein grosses Vermögen.“<br />

Um vollkommen zu sein, genügt nicht ein „korrektes“ Leben nach den zehn Geboten zu führen oder ein<br />

Ordensgewand zu tragen. Denn Gott erwartet von uns mehr als die pflichtgemässe Erfüllung des Gesetzes: Er<br />

will vielmehr unsere Liebe als „unnütze Knechte“ (Lk 17,10)! Klug schreibt Teresa, dass diese Liebe „nicht<br />

das Produkt unserer Einbildung“ sein darf, sondern „durch Werke“ erprobt sein muss. Aber anschliessend<br />

stellt sie fest, dass es nicht auf die Werke ankommt, sondern auf die Liebe: um uns ihm ähnlich zu machen,<br />

bedarf Gott nicht unserer Werke, „wohl aber der Entschlossenheit unseres Willens“. Denn Gott, der auf<br />

geheime Art und Weise stets um unsere Liebe wirbt, will uns nicht „ohne uns“ zu sich führen. In einem<br />

Kommentar zu den Werken des Johannes vom Kreuz hat Edith Stein dieses Prinzip christlicher Mystik so<br />

ausgedrückt: „das Entscheidungsrecht über sich selbst steht der Seele zu. Es ist das große Geheimnis der<br />

persönlichen Freiheit, dass Gott selbst davor haltmacht. Er will die Herrschaft über die geschaffenen Geister<br />

nur als ein freies Geschenk ihrer Liebe ... Er will nicht Besitz von ihr ergreifen, ohne dass sie es selbst will.<br />

Doch tut er alles, um die freie Hingabe ihres Willens an den Seinen als Geschenk ihrer Liebe zu erlangen und<br />

sie dadurch zur beseligenden Vereinigung führen zu können.“<br />

Es genügt nicht, daran zu glauben, dass „Christus für alle gestorben ist“, oder dass es „in Wahrheit nur eine<br />

letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche“ (Gaudium et spes 22). Das sind zwar schöne und gute<br />

„Glaubenswahrheiten“, aber auf dem Weg der Liebe zu Gott sind wir erst, wenn wir dies auch persönlich<br />

verinnerlichen und mit dem Apostel Paulus sagen können: „nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.<br />

Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und<br />

sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20).<br />

Selbsterkenntnis<br />

Das Dilemma des reichen Jünglings zwischen der „korrekten“ Erfüllung des Gesetzes und der<br />

bedingungslosen Liebeshingabe an Jesus, der sich ebenso aus Liebe für uns hingegeben hat, ist auch unser<br />

Dilemma, wenn wir echte Selbsterkenntnis üben und uns vor Gott prüfen lassen. Teresa bringt einige<br />

Beispiele dafür, die jeder von uns um viele andere ergänzen könnte.<br />

Da ist ein reicher Mensch ohne Kinder und Erben, der aufgeregt und beunruhigt herumläuft, nur weil er eine<br />

kleine Einbusse erlitten hat: „wie sollte der Herr ihn dann bitten, alles für ihn zu verlassen?“ Ein anderer hat<br />

reichlich zu essen und sogar im Überfluss, denkt aber nur daran, seinen Besitz immer mehr und mehr zu<br />

vermehren. Solche Menschen, sagt uns Teresa, mögen das innere Beten praktizieren und auf dem Weg der<br />

Tugend sein, aber sie brauchen nicht zu befürchten, „dass sie in die näher beim König liegenden<br />

Wohnungen hinaufsteigen werden“. Dasselbe gilt für diejenigen, die um ihre Ehre so besorgt sind, dass sie in<br />

der kleinsten Geringachtung oder Schmälerung ihres Ansehens eine grosse Kränkung sehen. Oder wenn sie<br />

Frömmigkeitsübungen korrekt und vernünftig verrichten, aber nicht loslassen können, weil die Liebe zum<br />

Herrn noch nicht so weit ist, „um sie um ihre Vernunft zu bringen“. Und solange wir uns selbst „nicht<br />

losgelassen haben“, ist der Weg der Nachfolge als Weg der Vollkommenheit „sehr mühsam und<br />

beschwerlich“. Es geht dabei nämlich um die Dialektik ALLES/NICHTS. Gott kann für uns nur alles werden,<br />

wenn uns nichts mehr von den Dingen dieser Welt gefangen hält: „Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein<br />

Herz“ (Mt 6,21).<br />

All diese Beispiele gelten für Christenmenschen in der Welt wie für diejenigen, die in den Ordensstand<br />

eingetreten sind. Denn Teresa weiss im 16. Jahrhundert um die allgemeine Berufung zur Heiligkeit, die das<br />

Zweite Vatikanum in unserer Zeit deutlich verkündet hat. Daher sind ihre Ratschläge an alle Gottsuchenden<br />

gerichtet: „Es kommt nicht darauf an, ein Ordensgewand zu tragen oder nicht, sondern sich um die<br />

Einübung in die Tugenden zu bemühen und in allem unseren Willen dem Willen Gottes hinzugeben, und<br />

dass unsere Lebensordnung in dem bestehe, was Seine Majestät über unser Leben verfügt, und wir nicht<br />

wollen, dass unser Willen geschehe, sondern der seine.“ Auch für diejenigen, die in den Ordensstand<br />

eingetreten sind und weltlichen Besitz hinter sich gelassen haben, gilt das Prinzip der Entblössung und des<br />

2


Loslassens von allem, wenn sie auf dem Weg zu Gott voranschreiten wollen. Mit anderen Worten: in der<br />

Mystik Teresas (und Johannes vom Kreuz) geht es um eine Verähnlichung mit Gott aus Liebe. Es geht nicht<br />

um mehr zu tun, sondern um mehr zu lieben. Gott wird uns unseren Lohn „nach dem Mass der Liebe<br />

geben…, die wir zu ihm haben“.<br />

Demut und Geduld<br />

Wenn wir aus dem Dilemma des reichen Jünglings herausgekommen sind und aus Liebe Jesus nachfolgen<br />

wollen, so brauchen wir vor allem Demut und Geduld, um mit den Phasen der Trockenheit leben zu können.<br />

Demut, weil sie die Tugend der Selbsterkenntnis angesichts Gottes ist. In der ersten Wohnung sagte Teresa,<br />

dass für uns „nichts Wichtigeres“ als die Demut ist: „Die Demut wirkt nämlich wie die Biene, die im Stock<br />

den Honig bereitet“ … den Honig der Selbsterkenntnis. Demut ist für Teresa ein anderes Wort für Geduld.<br />

Bei denen, die nicht vorankommen, weil sie Herrsch-, Hab- und Ehrsucht nicht überwunden haben, weil sie<br />

nicht loslassen können, weil sie ihre Vernunft und ihre Ängste nicht den Händen Gottes überlassen können,<br />

vermutet Teresa immer als „Haken“ einen Mangel an Demut.<br />

Ausser Demut und Geduld empfiehlt uns Teresa in dieser Wohnung das Schauen „auf die Heiligen“, sich<br />

nicht so sehr über die Fehler anderer zu entsetzen, sondern über „die eigenen“, und sich mit jemandem zu<br />

besprechen, „der hinsichtlich der Dinge der Welt keine Illusionen mehr hat…, der sie durchschaut, damit wir<br />

uns durchschauen“. Für diejenigen, die in Demut die Nachfolge Jesu „aus Liebe“ wagen, im Vertrauen auf<br />

Gott „Dein Wille geschehe“ beten und ihm ihre Sorgen und Ängste überlassen, hat Teresa aus ihrer<br />

mystischen Erfahrung diese Weisheit parat: „Der Herr wird sich schon um ihre Seelen kümmern“.<br />

Gott allein genügt<br />

Teresas bekanntester Text hat in dieser dritten Wohnung seinen Sitz-im-Leben, kann aber auch als<br />

Zusammenfassung ihrer mystischen Erfahrung verstanden werden. Es handelt sich um einen Text, der<br />

wahrscheinlich den Ratschlag eines Beichtvaters (Johannes vom Kreuz?) ausdrückt, als Teresa ihm in der<br />

Phase der Trockenheit ihre Furcht mitteilte, dass Gott, der bei ihr im Seelengrund Wohnung genommen hatte<br />

(Joh 14,23), sie wieder verlassen könnte. Betrachten wir abschliessend diesen schönen Text in meiner eigenen<br />

Übersetzung:<br />

Nada te turbe,<br />

nada te espante<br />

todo se pasa,<br />

Dios no se muda,<br />

la paciencia<br />

todo lo alcanza,<br />

quien a Dios tiene<br />

nada le falta,<br />

sólo Dios basta.<br />

Nichts soll dich betrüben,<br />

nichts dich erschrecken<br />

alles geht vorüber,<br />

Gott zieht nimmer aus,<br />

Geduld<br />

erreicht alles,<br />

wer Gott bei sich hat,<br />

dem fehlt nichts,<br />

Gott allein genügt.<br />

Wir haben in diesem Text die Quintessenz der mystischen Erfahrung Teresas (und Johannes vom Kreuz). Der<br />

Trost, der Teresa hier zugesprochen wird, gilt auch für alle, die auf Gott gesetzt haben: bleiben wir gelassen,<br />

Gott, der bei uns Wohnung genommen hat, zieht nicht mehr aus, er meint es ernst mit uns, er ist treu und<br />

verlässlich, wer auf ihn baut, wird nicht enttäuscht werden, denn er wird uns immer viel mehr geben, „als wir<br />

verdienen“. In den Phasen der Trockenheit soll man sich in Demut und Geduld üben und das Ziel unseres<br />

Lebens nicht aus den Augen verlieren: nur Gott vermag unser Verlangen zu stillen.<br />

3


Das Gebet der Ruhe<br />

Die vierte Wohnung der „Inneren Burg“ (erster Teil)<br />

Von Mariano Delgado<br />

In der vierten Wohnung geht es um das Gebet der Ruhe und um das Gebet der Sammlung. Eigentlich<br />

geht das zweite dem ersten voraus, aber Teresa behandelt sie in umgekehrter Reihenfolge. Aus diesem<br />

Grund widmen wir uns in diesem Beitrag zunächst dem Gebet der Ruhe, während im nächsten vom<br />

Gebet der Sammlung die Rede sein wird.<br />

Am Anfang der vierten Wohnung hält Teresa fest, dass es hier um so köstliche, „übernatürliche“ Dinge<br />

geht, dass der Verstand ausserstande ist, „auch nur einen Umriss zu geben, wie man sie wenigstens in<br />

etwa so zutreffend beschreibend könnte, dass es für die, die keine Erfahrung davon haben, nicht mehr<br />

dunkel bleibt“ (4 M 1,2). Nur wer eine analoge Erfahrung gemacht habe, werde sie gut verstehen<br />

können.<br />

Teresa deutet hier an, dass ihr Werk nur ein Versuch zur Versprachlichung des letztlich Unaussprechlichen<br />

ist. Der Kern dessen, was zwischen Gott und einem Menschen geschieht, bleibt für Aussenstehende<br />

verborgen. Was die Mystiker uns bieten, ist ihre Interpretation mit der Vernunft ihrer Glaubenstradition.<br />

Auch Johannes vom Kreuz ist sich dessen bewusst. Deshalb schreibt er in den Prologen zu seinen Büchern,<br />

„dass weder menschliches Wissen ausreicht, um es zu verstehen, noch Erfahrung, um es sagen zu<br />

können“ bzw. dass alles, „was gesagt werden mag, hinter dem, was es dort gibt, um so vieles<br />

zurückbleibt, wie das Gemalte hinter dem Lebendigen“. Die vielen zirkelhaften Wiederholungen, die wir<br />

bei Teresa und Johannes finden, sind ein deutliches Zeichen ihres Ringens um die Mitteilung des letztlich<br />

Unaussprechlichen.<br />

Eine zweite Vorbemerkung macht Teresa eingangs: dass der Herr sich nicht an starren Regeln hält, dass<br />

manche auch in diese vierte Wohnung schnell gelangen können, ohne langes Verweilen in den anderen<br />

Wohnungen, „denn da es seine Güter sind, verschenkt der Herr was er will, wie er will und wem er will,<br />

ohne jemandem eine Kränkung zuzufügen“ (4 M 1,2). „Den Seinen“, so heisst es im Psalm 127,2 „gibt’s<br />

der Herr im Schlaf“. „Den Seinen“, d.h. jenen, die das „Gott allein genügt“ verstanden und sich mit all<br />

ihren Vermögen, mit ihrem Verstand und Willen auf Gott ausgerichtet haben, so dass der Versucher nicht<br />

mehr dazwischen kommen und keinen Schaden stiften kann.<br />

Nicht denken, sondern lieben<br />

In der asketischen Sprache der Zeit sagt uns Teresa, es gehe in dieser Wohnung um den Unterschied, den<br />

es zwischen Glücksempfindungen beim inneren Beten und Wonnen gibt. Die ersten „beginnen in unserer<br />

Natur selbst und enden in Gott. Die Wonnen aber beginnen in Gott, und unsere Natur verspürt und<br />

geniesst sie genauso sehr wie die besagten Empfindungen und noch viel mehr“ (4 M 1, 4). Dahinter<br />

1


versteckt sich, in heutiger Sprache ausgedrückt, der Unterscheid zwischen der gegenständlichen<br />

Betrachtung oder „Meditation“ und der ungegenständlichen oder „Kontemplation“, ein Unterschied, der<br />

zur Zeit Teresas nicht so deutlich war. Mit der erfrischenden Beschreibung ihrer Erfahrung ohne<br />

theologischen Überbau hat Teresa zur Klärung dieses Unterschieds in der geistlichen Literatur des 17.<br />

Jahrhunderts viel beigetragen.<br />

Zur Beschreibung ihrer Erfahrung der Wonne beim inneren Beten greift Teresa auf das Bibelwort „Denn<br />

mein Herz machst du weit“ (Ps 118/32) zurück, das sie täglich bei der Prim betete. Durch die Erfahrung<br />

dieser Erweiterung des Herzens als geschenkhaftes inneres „Berührtsein“ von der Gegenwart Gottes<br />

lernte Teresa, dass es beim inneren Beten nicht darauf ankommt viel zu denken oder die Vorstellungskraft<br />

mit frommen Bildern zu bemühen (Meditation), sondern viel zu lieben im Angesicht der Liebe Gottes<br />

(Kontemplation). Auf diese Grunderfahrung ihres Gebetslebens kommt sie immer wieder zu sprechen (4<br />

M 1,7; F 5,2).<br />

Bis sie verstand, dass es nicht darauf ankommt, „viel zu denken, sondern viel zu lieben“, und dass die<br />

Seele, bildhaft gesprochen, ganz bei Gott in den zentralen Wohnungen der Burg sein kann, während das<br />

Denken sich in den Aussenbezirken aufhält, hat sie selber oft darunter gelitten, dass sie ihre<br />

Seelenvermögen ganz auf Gott ausgerichtet hatte, aber ihr wirrer Gedankenstrom nicht aufhören wollte.<br />

Daher ihr Rat: „lassen wir dieses Mühlengeklapper ruhig weitergehen, und mahlen wir unser Mehl, indem<br />

Wille und Verstand nicht zu wirken aufhören“ (4 M 1,13). Wir sollten die Ablenkungen beim Beten (selbst<br />

bei der Eucharistie!) nicht so ernst nehmen, sondern die Gedanken frei walten lassen und uns liebend auf<br />

Gott ausrichten.<br />

Meditation und Kontemplation: die zwei Brunnen<br />

In einem anderen Beitrag (KS 2/2010, 4-6) sprachen wir bereits vom Wasser als Symbol für das innere<br />

Beten bei Teresa, denn sie findet „nichts Passenderes, um gewisse geistliche Dinge zu erklären als das<br />

Wasser“ (4 M 2,2). Nun müssen wir wieder davon reden, weil Teresa in der vierten Wohnung anhand<br />

eines Gleichnisses den Unterschied zwischen Meditation und Kontemplation erklärt.<br />

Sie spricht von zwei Brunnen mit zwei Becken, „die sich mit Wasser füllen“, aber auf unterschiedliche<br />

Weisen: „Beim einen kommt es von weiter her durch viele Röhren und Technik, das andere ist unmittelbar<br />

am Quellort des Wassers erbaut und füllt sich nach und nach ohne jedes Geräusch, und wenn die Quelle<br />

überströmend ist, wie die, von der wir sprechen, dann strömt aus ihr ein gewaltiger Bach hervor, sobald<br />

das Becken voll ist. Dabei bedarf es keiner Technik, noch saugt es die Rohrleitung auf, sondern es quillt<br />

immerfort Wasser daraus hervor“ (4 M 2,3).<br />

Mit den vielen Röhren und Technik ist nun die Meditation gemeint, „denn wir führen sie mit unseren<br />

Gedanken herbei, indem wir uns in der Meditation der erschaffenen Dinge bedienen und unseren<br />

Verstand abplagen“ (4 M 2,3). Die andere Quelle bekommt hingegen das Wasser „von seinem Ursprung<br />

her, der Gott ist“ (4 M 2,4). Diese Quelle st es, die unser Herz erweitert. Teresa weisst, dass dies alles eine<br />

Redeweise angesichts der unaussprechlichen Erfahrung der göttlichen Gegenwart ist. Daher betont sie,<br />

dass die Quelle dennoch nicht im Herzen sei, sondern wohl in der „Seelenmitte“. Während Johannes vom<br />

Kreuz, der gelernte Theologe, mit der Sprache der mystischen Theologie die Wirkung der mystischen<br />

Erfahrung als „Wissen im Nichtwissen“ und „Verstehen im Nicht-Verstehen“ beschreibt, erzählt Teresa,<br />

man ahne dabei, dass wir von den „Grossartigkeiten“ Gottes „soviel wie gar nichts“ wissen (4 M 2,5).<br />

Autorität der eigenen Erfahrung in schweren Zeiten<br />

Angesichts der überwältigen Erfahrung dieser Grossartigkeiten bleibt Teresa nur die Sprache des<br />

Gleichnisses üblich: „Sobald nämlich dieses himmlische Wasser aus der Quelle, ich meine aus der Tiefe in<br />

uns hervorzuquellen beginnt, sieht es so aus, als dehne und weite sich nach und nach unser ganzes Innere<br />

und bringe Güter hervor, die sich nicht benennen lassen, ja die Seele kann noch nicht einmal verstehen,<br />

was da ist, das ihr dort geschenkt wird. Sie nimmt einen Duft wahr, sagen wir jetzt einmal, wie wenn es in<br />

jenem inneren Abgrund ein Kohlenbecken gäbe, auf das man duftendes Räucherwerk streute. Man sieht<br />

weder die Lichtglut, noch wo sie ist, aber die Wärme und der Duftrauch durchdringen die ganze Seele,<br />

und oft genug hat auch der Leib Anteil daran … Schaut her und versteht mich: Man spürt keine Wärme<br />

und riecht auch keinen Duft, denn es ist etwas viel Zarteres als diese Dinge … Das ist nämlich nicht etwas,<br />

was man sich vormachen kann, da wir es uns nicht erwerben können, so sehr wir uns auch anstrengen<br />

mögen, und genau daran sieht man, dass es nicht von unserem Metall, sondern aus dem allerreinsten<br />

Gold der göttlichen Weisheit ist“ (4 M 2,6).<br />

2


Teresa weisst, was sie erfahren hat, auch wenn sie es nur in solchen paradoxen Bildern zu beschreiben<br />

vermag. Klug betont sie an die Adresse der prüfenden Theologen (es waren ja schwere Zeiten), dass sie<br />

sich zwar in der Interpretation auch irren kann, aber dass sie nicht lügt: „ich sage, was ich verstehe“ (4 M<br />

2,7). Und ebenso klug betont sie, dass es sich dabei um die Vereinigung mit dem Willen Gottes gehandelt<br />

haben muss, dass man aber deren Wirkungen an den Werken erkennt, „denn einen besseren<br />

Schmelztiegel zur Erprobung gibt es nicht“ (4 M 2,8).<br />

Immer wieder Demut bzw. Geduld<br />

Abschliessend empfiehlt uns Teresa, wie in den vorigen Wohnungen, Demut bzw. Geduld, denn dies<br />

erreicht alles bzw. ringt dem Herrn alles ab, „was wir uns nur von ihm wünschen“. Das erste Zeichen von<br />

Demut und Geduld ist nicht zu denken, dass wir diese Gnaden und Wonnen des Herrn „verdienen“ oder<br />

„erhalten müssten“. Fünf Gründe weisst Teresa dazu anzuführen: weil wir Gott „ohne jedes<br />

Eigeninteresse“ lieben sollten; weil es „arg wenig demütig“ wäre, „zu meinen, durch unsere armseligen<br />

Dienste etwas so Grosses erlangen zu können“; weil wir uns auf die Nachfolge Jesu und nicht auf die<br />

Wonnen einstellen sollten; weil Gott nicht verpflichtet ist, „sie uns zu schenken“; schliesslich weil dieses<br />

Wasser nicht durch Röhren herbeigeschafft werden kann: „wenn die Quelle keines geben will, nützt es<br />

wenig, dass wir uns abtun“. Teresa will sagen: „Wie sehr wir auch Meditation halten und uns sogar<br />

ausquetschen und Tränen hervorpressen mögen (Teresa denkt an die gefühlsbetonte Meditation der<br />

Leidensgeschichte Jesu, wie sie damals in der Tradition der geistlichen Übungen üblich war), es quillt von<br />

da kein Wasser hervor; es wird nur geschenkt, wem Gott will, oft gerade dann, wenn die Seele am<br />

achtlosesten ist“ (4 M 2,9).<br />

Das Gebet der Ruhe<br />

Das Beste, dass wir im Gebet der Ruhe tun könnten, ist uns Gott mit einem persönlichen Gebet (oder mit<br />

der Vaterunserbitte „Dein Wille geschehe“) immer wieder anzuvertrauen, damit er uns ihm ähnlich<br />

mache. Zwei solcher Gebete seien abschliessend empfohlen:<br />

Das Gebet von Bruder Klaus, wie es bei Gottesdiensten gesungen wird:<br />

Mein Herr und mein Gott,<br />

nimm alles von mir,<br />

was mich hindert zu dir.<br />

Mein Herr und mein Gott,<br />

gib alles mir,<br />

was mich fördert zu dir.<br />

Mein Herr und mein Gott,<br />

nimm mich mir<br />

und gib mich ganz zu eigen dir.<br />

Das Gebet des Ignatius von Loyola:<br />

Nehmt und empfangt, Herr,<br />

all meine Freiheit,<br />

all mein Gedächtnis, all meinen Verstand,<br />

und all meinen Willen,<br />

all mein Hab und Gut –<br />

Ihr habt es mir gegeben und Euch,<br />

Herr, gebe ich es zurück,<br />

alles ist Eures,<br />

verfügt damit gemäss<br />

Eurem göttlichen Willen.<br />

Gebt mir Eure Liebe und Gnade,<br />

denn sie genügen mir.<br />

3


Das stille Pfeifen des guten Hirten hören oder das Gebet der Sammlung<br />

Die vierte Wohnung der „Inneren Burg“ (zweiter Teil)<br />

Von Mariano Delgado<br />

Im ersten Beitrag zu den „Wohnungen der Inneren Burg“ hielten wir fest, dass Teresa diese Summe ihres<br />

mystischen Erlebens zwischen dem 2. Juni und dem 5. November 1577 aus Gehorsam an verschiedenen Orten –<br />

in Stunden, die sie dem Schlaf abtrotzte – mit schneller, sicherer Hand geschrieben hat. Das Werk ist nicht streng<br />

systematisch aufgebaut, und wir finden darin viele Exkurse und Wiederholungen, die den roten Faden<br />

unterbrechen. In der vierten Wohnung hat sie zunächst angefangen, vom Gebet der Ruhe zu sprechen. Aber als<br />

sie in 4 M 3 dessen Wirkungen beschreiben möchte, fällt ihr ein, dass sie vergessen hat, das Gebet der<br />

Sammlung zu behandeln, das gewöhnlich vor dem der Ruhe einsetzt.<br />

Das stille Pfeifen des guten Hirten hören<br />

An anderen Stellen – „Das Buch meines Lebens“ (V 14-15), „Weg der Vollkommenheit“ (CE 46-50, CV 28-29) –<br />

hat Teresa bereits über das Gebet der Sammlung geschrieben. Aus diesem Grund will sie sich nun kurz fassen.<br />

Sie stellt klar, was sie unter Gebet der Sammlung als Vorstufe zum Gebet der Ruhe versteht, und korrigiert<br />

frühere Aussagen. Die Sammlung erscheint ihr nun wie die Ruhe ebenfalls „übernatürlich“ zu sein und weniger<br />

dem eigenen Bemühen zu entspringen: „weil sie nicht bedeutet, im Dunkeln zu verweilen oder die Augen zu<br />

schliessen, und weil sie auch nicht in etwas Äusserlichem besteht, sondern weil es einfach so, ohne es zu wollen,<br />

passiert, dass sich die Augen schliessen und man sich nach Alleinsein sehnt; es scheint dann, als würde das<br />

Gebäude für das bereits erwähnte Gebet [der Ruhe] ohne jeden Kunstgriff errichtet, denn die Sinne und<br />

äusseren Dinge scheinen mehr und mehr ihr Recht zu verlieren“.<br />

Damit beschreibt Teresa, was sie selbst erfahren hat: dass auch im Gebet der Sammlung Gott der<br />

Haupthandelnde ist, der uns zu sich ruft, wann und immer er will, um uns ihm mehr und mehr gleichförmig zu<br />

machen. Aufgrund dieser Erfahrung ist Teresa nun im Stande, nach eigenen Metaphern zu suchen, die in der<br />

geistlichen Literatur so bisher nicht vorkamen. Darin – etwa in den Werken des Francisco de Osuna und des<br />

Bernardino de Laredo – war oft davon die Rede, dass bei der Sammlung die Seele „in sich geht“ oder dass sie<br />

„über sich hinaussteigt“. Selbstbewusst sagt uns nun Teresa: „Mit dieser Terminologie könnte ich nichts<br />

erklären, da ich sie schlecht beherrsche, doch so wie ich es auszudrücken vermag, werdet ihr es, glaube ich,<br />

schon verstehen“.<br />

Teresa spricht von den Sinnen und Seelenvermögen, „von denen ich schon sagte, sie seien die Bewohner dieser<br />

Burg“. Stellen wir uns vor sie „wären hinausgegangen und trieben sich Tage und Jahre lang mit fremden Leuten<br />

herum, die Feinde für das Wohl dieser Burg sind. Doch nun, da sie ihre Verlorenheit einsehen, haben sie sich der<br />

Burg langsam wieder genähert …, sie sind keine Verräter mehr, sondern sie schleichen sich um die Burg herum.<br />

Da der grosse König, der in der Wohnung dieser Burg weilt, ihren guten Willen bereits gesehen hat, möchte er<br />

sie in seinem grossen Erbarmen wieder an sich ziehen, und wie ein guter Hirte lässt er sie mit einem so zarten<br />

Pfeifen, dass sie es kaum selber merken, seine Stimme hören, damit sie nicht mehr verloren umherirren, sondern<br />

in seine Wohnung zurückkehren. Und solche Kraft hat dieses Pfeifen des Hirten, dass sie alle Äusserlichkeiten<br />

aufgeben, durch die sie ihm entfremdet waren, und in die Burg gehen“. Und manchmal sind wir schon in der<br />

Burg, bevor wir an Gott zu denken beginnen, und das Pfeifen des guten Hirten hören, ohne zu wissen wie: „Mit<br />

1


den Ohren war es jedenfalls nicht, denn man hört nichts, doch verspürt man deutlich ein sanftes<br />

Gezogenwerden nach innen“.<br />

In der biblischen Metapher des guten Hirten, der gekommen ist, damit wir „das Leben haben, und es in Fülle<br />

haben“ (Joh 10,10), hat Teresa die passende Beschreibung für den inneren Ruf Gottes zur Einkehr und zum<br />

inneren Beten gefunden: „Mir scheint, dass ich es noch nie so verständlich ausgedrückt habe wie jetzt … besser<br />

kann ich es nicht erklären“.<br />

Damit meint Teresa folgendes: Wir sind oft mit den Geschäften des Alltags beschäftigt und vergessen die Pflege<br />

der Freundschaft mit Gott durch das innere Beten, wir vergessen, uns zu Gott zu erheben. Dieser Zustand der<br />

Entfremdung von Gott wird uns nun bewusst, und wie der verlorene Sohn machen wir uns auf zu unserem Vater<br />

(Lk 15,20). Nun, die Einkehr ist bereits von Gott bewirkt, der unseren guten Willen gesehen und uns sanft zu<br />

sich gezogen hat.<br />

Das sanfte, stille Pfeifen des guten Hirten ist der „stillen Musik“ (música callada), von der Johannes vom Kreuz<br />

spricht, ähnlich. Ebenso ähnelt es der „Harfe Gottes“ von Gabriela Mistral, der chilenischen Nobelpreisträgerin<br />

für Literatur: „Der David den ‚ersten Musiker’ nannte, hat wie er eine Harfe: seine Harfe ist gewaltig. Ihre Saiten<br />

sind die Därme der Menschen. Keinen Augenblick der Stille kennt diese Harfe, keine Ruhe die Hand des<br />

glutvollen Harfenschlägers. Von Sonne zur Sonne lässt Gott auf seine Geschöpfe Melodien herabströmen. …<br />

Und niemals schweigt die Harfe, und niemals ruht die Hand des Spielers, noch die Himmel, die lauschen. Der<br />

Mann, der im Schweisse seines Angesichts den Acker aufreisst, weiss nicht, dass der Herr, den er manchmal<br />

leugnet, sein Gedärm schlägt. Die Mutter, die das Kind zur Welt bringt, weiß auch nicht, dass ihr Schrei das Blau<br />

des Himmels zerreißt, und in diesem Augenblicke ihre Saite blutend wird. Nur der Mystiker wusste es: kaum<br />

hörte er diese Harfe, da riss er seine Wunden auf, um mehr zu geben, um bis in alle Ewigkeit in den himmlischen<br />

Gefilden zu singen.“<br />

Eifrige Debatten<br />

Bewappnet mit dieser Grunderkenntnis hat Teresa, wie sie sagt, „eifrige Debatten“ mit mehreren geistlichen<br />

Personen, d.h. Theologen und Beichtvätern, über das Gebet der Sammlung geführt. Ihr Hauptakzent liegt in der<br />

Betonung, dass es weniger um eine Gebetstechnik oder um unser Wollen geht als vielmehr um eine Gnade, die<br />

Gott uns erweist: „Ich bin überzeugt, dass es sich dann, wenn seine Majestät sie erweist, um Menschen handelt,<br />

die schon dabei sind, die weltlichen Dinge aufzugeben“ (4 M 3). Damit meint Teresa nicht unbedingt Menschen,<br />

die in den Ordensstand eintreten wollen, sondern Menschen in jedem Stand, auch im Ehestand, die verstanden<br />

haben, dass alles in dieser Welt Schall und Rauch ist und allein Gott unser Verlangen erfüllen kann.<br />

Die in der geistlichen Literatur der Zeit vorkommenden Metaphern der Igel oder der Schildkröte, die sich in sich<br />

zurückziehen, wann sie immer wollen, hält Teresa für unzutreffend, weil es eben nicht an unserem Wollen oder<br />

Reflex liegt. Ebenso unbefriedigend ist für Teresa, „dass man sich bemüht, nicht nachzudenken“, um auf Gottes<br />

Wirken aufmerksam zu sein, denn zunächst und vor allem muss die Liebe zu Gott erwacht sein. Wenig hält<br />

Teresa auch von mühsamen Atemübungen als Gebetstechnik, die heute in vielen christlichen Bildungshäusern<br />

eifrig praktiziert werden. Und sie vermag dazu einige Gründe anzugeben:<br />

(1) Gott ist der Haupthandelnde und will nur, „dass wir ihn bitten und uns bewusst machen, dass wir in seiner<br />

Gegenwart sind, da er schon weiss, was wir brauchen“, und dass wir „in Demut warten“. (2) Gottes Wirken ist<br />

„sanft und friedlich“ und „etwas Mühsames zu tun“, wird eher schaden als nützen: „Die Seele soll sich, wie sie<br />

nur kann, in grösster Unbekümmerheit um ihren Vorteil und in grösster Ergebung in Gottes Willen lieber den<br />

Handeln Gottes überlassen, tue er mit ihr, was er will“. (3) Wenn wir uns krampfhaft bemühen, nichts zu<br />

denken, wird das Denkvermögen eher dazu angeregt, viel zu denken. (4) Statt unsere Seelenvermögen, die Gott<br />

uns gegeben hat, damit wir mit ihnen arbeiten, „mit einem Zauberbahn zu belegen“, sollten wir uns eher in die<br />

Haltung der Selbstvergessenheit und der Gelassenheit einüben. Dann werden wir, „ohne zu wissen wie, viel<br />

besser unterrichtet als durch all unsere Bemühungen“.<br />

„Herr, du weisst alles, du weisst, dass ich dich liebe“<br />

Im Gebet der Sammlung empfiehlt uns Teresa, „ganz gewaltlos und ohne Lärm zu versuchen, das diskursive<br />

Nachdenken des Verstandes aufzuhalten, aber nicht aufzuheben, auch nicht das Denken“; denn man solle hier<br />

„weder die Meditation noch die Betätigung des Verstandes unterlassen“. Es ist vielmehr gut, dass wir uns mit<br />

unseren Seelenvermögen daran erinnern, dass wir vor Gott verweilen, „und wer dieser Gott“ ist. Die Seele lasse<br />

einfach zu, „dass sie dieses geniesst, ohne jede Anstrengung, ausser ein paar liebevollen Worten“. Man solle<br />

Gott einfach gewähren lassen, „sich aber den Armen der Liebe überlassen“. Diese und ähnliche Formulierungen<br />

drücken aus, was der Kern des inneren Betens in der Schule des Karmels ist: es kommt nicht auf die<br />

Gebetstechnik an, sondern auf die Liebe, die wir zu Gott empfinden. In einer grandiosen Formel hat Teresa<br />

bekanntlich inneres Beten beschrieben als Freundschaft mit Gott: „als Verweilen bei einem Freund, mit dem wir<br />

oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt“ („Das Buch<br />

meines Lebens“, 8,5). Aber dieser Gott, der uns liebt, will auch ausdrücklich wissen, dass wir ihn lieben.<br />

Daher könnte eine einfache, teresianische Form des Gebets der Sammlung so gestaltet werden: wir<br />

vergegenwärtigen uns der Gegenwart Gottes, seiner Grösse, unserer Niedrigkeit und zugleich unserer<br />

„erhabenen Würde“ (Gaudium et spes 22) als Kinder Gottes, da wir sicher sein können, dass er uns liebt und<br />

2


von Anbeginn unseres Daseins (Psalm 139) zu sich berufen hat. Und dann können wir versuchen die Frage des<br />

Auferstandenen an Simon Petrus persönlich zu beantworten: „’Liebst du mich?’ …: ‚Herr, du weisst alles, du<br />

weisst, dass ich dich liebe’“ (Joh 21,17) … und das heisst: Du weisst, dass ich bereit bin, dir nachzufolgen und<br />

deinen Willen zu tun!<br />

In Zeiten wie diesen, wo wir alltäglich mit anderen religiösen Wegen und Sinnangeboten konfrontiert werden,<br />

könnte auch gut sein, beim Gebet der Sammlung eine andere Frage des Herrn mit den Worten des Simon Petrus<br />

zu antworten: „’Wollt auch ihr weggehen?’ ... ‚Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens.<br />

Und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist’“ (Joh 6,67-68). Mehr ist nicht nötig, denn,<br />

wie Teresa sagt, der Herr weiss schon, „was wir brauchen“.<br />

Die nächste Folge wird sich weiterhin mit der vierten Wohnung der „Inneren Burg“ beschäftigen: mit den<br />

Wirkungen des Gebets der Ruhe und mit der Gefahr der geistlichen Verdummung.<br />

3


Mariano Delgado<br />

Das Kolleg San Gregorio in Valladolid<br />

Das Kolleg San Gregorio in Valladolid wurde Ende des 15. Jahrhunderts als akademische<br />

Institution des Dominikanerklosters San Pablo gebaut. Heute ist es Hauptsitz des Museo<br />

Nacional Colegio de San Gregorio für christliche Kunst vom Frühmittelalter bis zum Beginn<br />

des 19. Jahrhunderts. Ein wichtiger europäischer Erinnerungsort ist es vor allem geworden,<br />

weil dort sowie im Kloster San Pablo 1550–1551 die weltberühmte Kontroverse zwischen<br />

dem ,,aristotelischen“ Humanisten Juan Ginés de Sepúlveda (um 1489/90–1573) und dem<br />

,,christlichen“ Humanisten Bartolomé de Las Casas (1484–1566), Bischof von Chiapa, über<br />

die Spanier und die Indios stattfand.<br />

Entstehung und Bedeutung des Kollegs<br />

Kolleg meint hier eine akademische Institution mit universitärem Niveau. Um 1500 wurden<br />

in Spanien am Sitz bedeutender Universitäten (Salamanca, Valladolid, Alcalá de Henares<br />

u. a.) viele Kollegien gestiftet, in denen Studenten wohnen und von ausgewählten Professoren<br />

in besonderen Disziplinen unterrichtet werden konnten. Das Kolleg San Gregorio wurde von<br />

dem Dominikaner Alonso de Burgos, Bischof von Palencia und Beichtvater der Katholischen<br />

Abbildung 1: Fassade des Kollegs San Gregorio<br />

87


Könige, 1487 gestiftet. Zwischen 1488 und 1496 wurde es im Stil der ,,isabellinischen Gotik“,<br />

der spanischen Renaissance-Gotik, gebaut. Es handelt sich um einen eklektischen Stil, der<br />

um 1500 in Spanien und Portugal (hier wird er ,,manuelinische Gotik“ genannt) sehr beliebt<br />

war. Mangels Dokumentation kann man die Baumeister der verschiedenen Teile nicht genau<br />

ermitteln. Besonders interessant sind die Hauptfassade (sie wird der Werkstatt des Gil de Siloé<br />

zugeschrieben; vgl. Abb. 1), der Hof (als Baumeister gilt Juan Guas) und die Kapelle (sie<br />

geht wahrscheinlich auf Simon von Köln zurück). Es mag hier genügen, die Ikonographie<br />

der Hauptfassade zu erklären.<br />

Das Tympanon des Portals (Abb. 2) zeigt, wie der Stifter das Kolleg Papst Gregor dem<br />

Großen, dem Namensgeber und Schutzpatron, kniend darbietet. Der Apostel Paulus (wegen<br />

des Klosters San Pablo) und der heilige Dominikus (weil es sich um eine Einrichtung<br />

des Dominikanerordens handelt) sind Zeugen dieses Vorgangs. Das Portal ist umgeben von<br />

Darstellungen wilder Männer, nur mit Schuppen und Haarfell bekleidet (Abb. 3). Zumeist<br />

werden sie als Symbol für die menschliche Natur verstanden (aber auch für die ,,Wilden“<br />

Amerikas, um die es bei der Kontroverse 1550–1551 ging), die erst durch den Kontakt mit der<br />

christlichen Wissenschaft und Erziehung ,,zivilisiert“ wird, während die angezogenen Ritter,<br />

die man an den Flanken der oberen Teile der Fassade findet, für die christlichen Tugenden<br />

stünden. Der Hauptteil der Fassade wird von einem Lebensbaum belegt, der aus dem großen<br />

Brunnen der Weisheit empor wächst und mächtig gedeiht. Er soll ein wohl geordnetes Leben<br />

und Gemeinwesen nach den Prinzipien der scholastischen Theologie darstellen, die im<br />

Kolleg gelehrt wird. Ein großes Wappen der Katholischen Könige, gestützt von zwei mächtigen<br />

Löwen und umrandet vom Patmos-Adler des Evangelisten Johannes, des Schutzpatrons<br />

der Dynastie, symbolisiert vermutlich die Verbundenheit des Stifters mit den Königen, die<br />

er zu Erben und Schirmherren des Kollegs machte. Schließlich ist eine Lilie gekrönt vom<br />

Bischofshut als Wappen des Stifters immer wieder präsent.<br />

Zu den Professoren des Kollegs im 16. Jahrhundert zählten bedeutende Dominikanertheologen<br />

wie Francisco de Vitoria, Melchor Cano, Luis de Granada und Bartolomé de<br />

Carranza. Letzteren ist es zu verdanken, dass San Gregorio zum Zentrum einer Scholastik<br />

mit Sensibilität für die spirituellen Tendenzen der Zeit (inneres Beten, Verlangen nach der<br />

Bibel und geistlicher Literatur in der Volkssprache) wurde.<br />

88<br />

Abbildung 2: Tympanon des Hauptportals


Die Kontroverse von 1550–1551<br />

Die Kontroverse von Valladolid wurde von Karl V. am 7. Juli 1550 einberufen, damit Sepúlveda<br />

und Las Casas, glänzende Polemiker und Wortführer der ,,Falken“ und der ,,Tauben“ in<br />

Abbildung 3: Die wilden Menschen<br />

89


der Kolonialfrage, ihre Meinung vor einer Kommission aus erstrangigen Juristen und Theologen<br />

freimütig begründen könnten. Sie fand in den Räumen des Kollegs San Gregorio und<br />

des benachbarten Klosters San Pablo in zwei Sitzungsperioden statt: die erste dauerte vom<br />

15. August bis wahrscheinlich Ende September 1550, die zweite vom 11. April bis 4. Mai<br />

1551. Ein veritables ,,Streitgespräch“ war die Kontroverse freilich nicht, da die Kontrahenten<br />

einander nicht zu Gesicht bekamen.<br />

Zur Debatte stand eigentlich nicht die Legitimität des spanischen Herrschaftsanspruchs,<br />

denn darüber ließ die Krone seit der öffentlichen Vorlesung des Francisco de Vitoria 1539<br />

in Salamanca nicht mehr disputieren, sondern die Frage, ,,ob es Seiner Majestät erlaubt ist,<br />

Krieg gegen jene Indianer zu führen, bevor man ihnen den Glauben verkündet, damit sie<br />

zunächst seiner Herrschaft unterworfen werden und danach leichter und bequemer [...]<br />

belehrt und erleuchtet werden können“. Der scholastische Theologe Domingo de Soto, der<br />

als Sekretär der Kommission eine Zusammenfassung der Kontroverse erstellte, fügte hinzu:<br />

,,Doktor Sepúlveda stellt die Behauptung auf, dass ein derartiger Krieg nicht nur erlaubt, sondern<br />

zweckmäßig ist. Der Herr Bischof [Las Casas] vertritt das negative Argument, indem<br />

er behauptet, dieser Krieg sei nicht nur nicht zweckmäßig, sondern gar nicht einmal erlaubt,<br />

ja ruchlos und stehe im Widerspruch zu unserer christlichen Religion“.<br />

Diskutiert wurde aber auch über die Barbarei der Indios und deren Einstufung als<br />

,,Sklaven von Natur“. Die Kontroverse geriet so zu einem Streit über die Einheit des<br />

Menschengeschlechts, also über die Frage, ob dieses aus gleichermaßen würdigen, wenn<br />

auch unterschiedlich begabten, doch immer zivilisations- und glaubensfähigen Geschöpfen<br />

besteht oder ob es vielmehr eine herrschende und eine dienende Menschheit<br />

gibt.<br />

Der „aristotelische Humanist“ Juan Ginés de Sepúlveda<br />

Sepúlveda (Abb. 4) war eine führende Autorität im Aristotelismus der Renaissance. Im Auftrag<br />

von Giulio Medici, dem späteren Papst Clemens VII., übersetzte er Werke des Aristoteles<br />

ins Lateinische, darunter auch die ,,Politik“. Im Dienst der päpstlichen Kurie verblieb er bis<br />

1536, als er von Karl V. zum offiziellen Reichschronisten ernannt wurde. Zur kolonialen Frage<br />

hat er sich mehrmals geäußert: zunächst 1544–1545 mit seinem Werk ,,Democrates secundus.<br />

Über die gerechten Gründe des Krieges gegen die Indios“, das nicht zuletzt aufgrund<br />

der Einwände des Bischofs von Chiapa nicht gedruckt werden konnte; wichtig ist auch seine<br />

,,Apologia“, die er im Frühjahr 1550 in Rom publizieren wollte, um die Orthodoxie des<br />

genannten Werkes zu verteidigen. Schließlich haben wir die Zusammenfassung der Kontroverse<br />

von Valladolid, die der Scholastiker Domingo de Soto erstellte und die Las Casas selbst<br />

1552 zusammen mit seinen eigenen Antworten drucken ließ.<br />

Sepúlveda rechtfertigt sein Eingreifen in die umstrittene koloniale Frage mit humanistischer<br />

Rhetorik: ,,Angesichts so viel Zwietracht in den Meinungen der gelehrtesten und<br />

klügsten Männer [...] dachte ich, dass ich mich aus einem solchen öffentlichen Geschäft,<br />

an dem sich so viele beteiligten, nicht heraushalten sollte; ich durfte auch nicht schweigen,<br />

wenn so viele redeten“.<br />

Freimut und Redlichkeit sind ihm nicht abzusprechen, denn er hat bei der Kontroverse<br />

von Valladolid eine entsprechende Ehrenerklärung abgegeben: ,,da sollte kein Verdacht am<br />

Platz sein, dass ich der Gerechtigkeit oder der Wahrheit, die so teuer sind, irgendeinen anderen<br />

Belang voranstelle“. Er war aber ein ,,Humanist“, kein Scholastiker. Das merkt man nicht<br />

nur an seinem eleganten, cicerorianischen Latein, sondern auch und vor allem an der Art<br />

90


und Weise, wie er mit manchen theologischen Argumenten umgeht. Mit seiner Betrachtung<br />

der Spanier als Vollstrecker des Zornes Gottes ob des Unglaubens und der Sünden gegen<br />

die Natur der Indios, seinem Verständnis der Konzessionsbulle Papst Alexander VI. vom<br />

4. Mai 1493 als Herrschaftsübertragung und seiner Verteidigung des Missionsrechts unter<br />

Einschluss des Zwangs zur Anhörung der Glaubenspredigt handelte sich Sepúlveda die akademische<br />

Verachtung der Scholastiker ein. Für sie war er ,,zweifellos berühmt in der Kunst<br />

der Rhetorik aber laienhaft in der Theologie“ (Cano). Die von der Soldateska in den Eroberungskriegen<br />

angerichteten Blutbäder lehnte er nicht weniger ab als Las Casas selbst; er hielt<br />

sie jedoch für ein notwendiges Übel, für eine Schocktherapie, damit die Wohltaten der christlichen<br />

Zivilisation nach Übersee gelangen könnten.<br />

Seine Absicht ist, auf ,,andere Gründe für einen gerechten Krieg“ aufmerksam zu machen,<br />

,,die nicht so oft zur Anwendung kommen, aber als sehr gerecht gelten und dem natürlichen<br />

sowie dem göttlichen Gesetz“ entsprechen. Diese sind die aristotelische Lehre der<br />

Sklaven von Natur; die ,,Sünde“ des Unglaubens bzw. des Götzendienstes, wenn dieser mit<br />

abscheulichen, widernatürlichen Praktiken wie Sodomie und Menschenopfern einhergeht;<br />

die Befreiung von Unschuldigen aus dem sicheren Tod durch Menschenopfer; und schließlich<br />

die Erleichterung der Ausbreitung des Christentums.<br />

Abbildung 4: Juan Ginés de Sepúlveda bitte<br />

noch nähere Beschreibung des Bildes<br />

– Buchillustration? – und ggf. Bildnachweis<br />

91


Das aristotelische Argument ist der wichtigste Beitrag Sepúlvedas zur Kontroverse. Demnach<br />

können diejenigen, deren natürliche Verfassung so beschaffen ist, dass sie anderen<br />

gehorchen müssten, ,,mit den Waffen“ unterworfen werden, ,,wenn sie nun deren Herrschaft<br />

ablehnen und kein anderer Weg da ist“. Auf den Einwand, das sei eine erstaunliche Lehre<br />

,,und weit entfernt von der allgemeinen Meinung“, lässt Sepúlveda antworten: ,,Erstaunlich<br />

vielleicht, aber nur für diejenigen, die die Philosophie nur von der Schwelle begrüßt haben“.<br />

Zunächst unterscheidet Sepúlveda zwischen dem juristischen und dem philosophischen<br />

Sklavereibegriff. Nach dem ersten bestehe die Sklaverei in einem akzidentiellen Grund, der<br />

zum Freiheitsverlust führe; nach dem zweiten geht sie auf ein angeborenes Unvermögen des<br />

Verstandes zur Selbstregierung sowie unmenschliche und barbarische Sitten zurück. Die verschiedenen<br />

Formen der Herrschaftsverhältnisse – des Vaters über den Sohn, des Mannes<br />

über die Frau, des Herrn über die Sklaven, des Richters über die Bürger, des Königs über die<br />

Völker, die seiner Herrschaft unterworfen sind – wurzeln im Naturrecht, das, wie Aristoteles<br />

lehrt, auf ein einziges Prinzip und Dogma zurückgeht: ,,Die Befehlsgewalt und Herrschaft<br />

des Vollkommenen über das Unvollkommene, der Stärke über die Schwäche, der erhabenen<br />

Tugend über das Laster“. Wer diesem Prinzip nicht freiwillig Folge leisten möchte, der könne<br />

dazu mit Gewalt gezwungen werden, denn ein solcher Krieg würde nach Aristoteles ähnlich<br />

der Jagdkunst gegen die wilden Tiere ,,dem Naturrecht“ entsprechen.<br />

Sepúlveda stuft dann alle Einwohner der Neuen Welt bezüglich Klugheit, Scharfsinn, allerlei<br />

Tugenden und menschlichen Gefühlen im Vergleich mit den Spaniern als so unterlegen<br />

ein ,,wie die Kinder den Erwachsenen, die Frauen den Männern, die grausamen und inhumanen<br />

Menschen den sehr sanften, die äußerst Unbeherrschten den Beherrschten und<br />

Maßvollen“. Kurzum: Alle Indios sind für ihn homunculi, barbarische Menschenfresser wie<br />

die Skythen der Antike, schwache Geschöpfe einer niederen Kulturentwicklung, die kaum<br />

eine erwähnenswerte Kulturleistung zustande gebracht hätten und die man folglich, wenn<br />

sie sich freiwillig nicht unterordneten, wie Tiere zu jagen habe. Wenn einige von ihnen, wie<br />

etwa die Völker Mexikos, genug Geschick zu besitzen schienen, um manche handwerkliche<br />

Tätigkeiten mit einer gewissen Kunstfertigkeit zu verrichten, so sei dies dennoch kein hinreichendes<br />

Argument gegen die obige Einschätzung; denn auch gewisse Tiere wie die Bienen<br />

und die Spinnen vermögen Kunstfertigkeiten zu verrichten, die kein menschliches Geschick<br />

nachzuahmen imstande sei. Und dass einige Indios über Häuser und ein gewissermaßen vernünftiges<br />

politisches Regiment in ihren Königreichen verfügten, zeige schließlich nur, dass<br />

sie keine bloßen Bären oder Affen bar jeder Vernunft seien. Als Sklaven von Natur müssten<br />

sie sich bereitwillig den Spaniern unterwerfen, denn nur so könnten sie sich weiterentwickeln<br />

– wobei bei Sepúlvedas Sprachwahl eher unwahrscheinlich ist, dass die Indios für ihn<br />

jemals, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit, mehr sein könnten als zweibeinige ,,Bienen und<br />

Spinnen“.<br />

Der „christliche Humanist“ Las Casas<br />

Anders als Sepúlveda kannte Las Casas (Abb. 5) die Neue Welt (die Karibik und Zentralamerika)<br />

aus eigener Erfahrung. Zwischen 1502 und 1547 war er fünf Mal zwischen Spanien und<br />

Westindien hin und her gesegelt (seit 1547 lebte er schwerpunktmäßig im Kolleg San Gregorio).<br />

Er hat die von den Hunden und den Waffen der Spanier zerfleischten Leiber der Indios<br />

mit Entsetzen und Mitleid wahrgenommen. Seit seiner Bekehrung 1514 hat er nicht aufgehört,<br />

für eine Besserung der Lage der Indios zu kämpfen und die Argumente derjenigen zu<br />

entkräften, die die Eroberungskriege und Versklavung der Indios schönfärben wollten. Sei-<br />

92


ne Sternstunde kam bei der Kontroverse von Valladolid, als er sich in Auseinandersetzung<br />

mit Sepúlveda der zentralen Bedeutung des anthropologischen, ,,aristotelischen“ Argumentes<br />

bewusst wurde und diesem nun seine ganz besondere Aufmerksamkeit schenkte.<br />

Las Casas war ein wahrhaft christlicher Humanist. Nicht nur, weil er die Autoren der<br />

griechischen und römischen Antike sehr gut kannte und mit gesundem Menschenverstand<br />

interpretierte, sondern vor allem aufgrund der Motive, die er angab, um sich an der kolonialethischen<br />

Debatte zu beteiligen: ,,Im Bewusstsein dessen, dass ich Christ, Ordensbruder,<br />

Bischof, Spanier und Untertan der Spanischen Könige bin, konnte ich es nicht lassen, das<br />

Schwert meiner Feder zur Verteidigung der Wahrheit, der Ehre des Hauses Gottes und des<br />

sanften Evangeliums Jesu Christi zu schwingen [...]. Aus all diesen Gründen sehe ich mich<br />

gezwungen, mich wie eine Mauer gegen die Unfrommen zu stellen, um jene sehr unschuldigen<br />

Völker zu verteidigen, die demnächst in das wahre Haus Israels eingeführt werden<br />

sollten, aber von grausamen Wölfen unaufhörlich verfolgt werden“. Selbstverständlich sind<br />

die Indios für Las Casas unsere Nächsten, die wir wie uns selbst zu lieben und zu achten haben.<br />

Aber er verleiht diesem Prinzip eine konkrete, spirituelle Tiefe, wenn er in Anlehnung<br />

an die Gerichtsrede Jesu im Kapitel 25 des Matthäusevangeliums in den Indios ,,Jesus Christus“<br />

sieht, den man ,,nicht einmal, sondern tausendfach geißelt, quält, ohrfeigt und kreuzigt“.<br />

Wenn er immer wieder die Indios als ,,unschuldig“ bezeichnet, dann meint dies nicht primär<br />

bukolische Unschuld; vielmehr handelt sich um einen terminus technicus vor dem Hintergrund<br />

der Theorie des gerechten Krieges: die Indios sind uns gegenüber unschuldig, weil sie<br />

uns vor unserer Ankunft kein Unrecht zugefügt, also keinen gerechten Kriegsgrund gegeben<br />

haben.<br />

Abbildung 5: Bartolomé de Las Casas bitte<br />

noch nähere Beschreibung des Bildes:<br />

Künstler, Entstehungszeit, Aufbewahrungsort,<br />

ggf. auch Bildnachweis<br />

93


Las Casas klagte zudem einen Perspektivenwechsel ein. Er fragte sich z. B., ob die Verleumder<br />

der Indios so sprechen würden, ,,wenn sie selbst Indios wären“. Aus diesem Grund hat<br />

er eine neue Gattung apologetischer Literatur begründet, die Europa und dem Christentum<br />

zur Ehre gereicht. Während man seit Sokrates unter ,,Apologie“ die Verteidigung der eigenen<br />

Position gegen unsachliche Vorwürfe verstand, schrieb Las Casas während und nach der<br />

Kontroverse von Valladolid zwei apologetische Werke zur Verteidigung der Anderen, ihrer<br />

Menschenwürde, ihrer Freiheit, ihrer Gleichberechtigung, der Werte und Logik ihrer Religionen<br />

und Kulturen: ,,sie wurden nämlich von einigen Leuten verleumdet“, die verbreiteten,<br />

,,diesen Menschen fehle es an gesunder Vernunft, um sich selbst zu regieren, sie hätten keine<br />

menschengemäße Regierungsform und keine geordneten Gemeinwesen“. Betrachten wir<br />

nun, wie Las Casas auf das aristotelische Argument Sepúlvedas antwortet.<br />

Für Las Casas ist der Barbarenbegriff bei Aristoteles nicht so eindeutig, wie Sepúlveda<br />

meint; auch seien die Indios nicht als Barbaren im engen aristotelischen Sinn zu bezeichnen.<br />

Ein Barbar ist erstens jeder Mensch, der wider die Vernunft und das Naturgesetz handelnd<br />

sich zum allerschlimmsten Lebewesen entwickelt, was auch bekanntlich unter den ,,Zivilisierten“<br />

vorkommen kann. Zweitens gilt als Barbar, wer eine fremde Sprache spricht, keine<br />

Schriftsprache hat oder einer uns fremden Kultur angehört. Barbaren im engen aristotelischen<br />

Sinn des Wortes sind aber drittens nur solche, die Monstern gleichen und wie wilde<br />

Tiere leben, ohne jedes politische Regiment; diese dritte Art sei aber äußerst selten im Menschengeschlecht<br />

anzutreffen. Auf diese letzte Gruppe beziehe sich Aristoteles in ,,Politik“ I,2<br />

und I,8, während er etwa in ,,Politik“ III und V von der zweiten Gruppe spreche und betone,<br />

dass es auch unter manchen Barbaren wahre Reiche und natürliche Könige und Herren<br />

samt politischem Regiment gebe. Zu dieser zweiten Gruppe gehörten nun die Indios, wobei<br />

die Spanier nach diesen Kriterien – fremde Sprache usw. – für sie genauso Barbaren seien<br />

wie sie für diese. Eine vierte – theologische – Barbarenklasse führt Las Casas noch ein,<br />

nämlich das Heidentum als Fehlen des christlichen Glaubens. Doch handele es sich bei den<br />

Indios nicht um eine ,,unentschuldbare“ Ablehnung des richtig verkündigten und überzeugenden<br />

Evangeliums, sondern nur um einen rein negativen Unglauben, der im Fehlen des<br />

Glaubens mangels seiner Kenntnis bestehe. Daher seien ihre Religionen nicht als teuflischer<br />

Götzendienst zu betrachten, sondern als Ausdruck eines aufrichtigen, wenn auch irregeleiteten<br />

Verlangens nach dem wahren Gott.<br />

Aber selbst wenn die Indios Barbaren im engen Sinn des Wortes wären, dürften sie in keiner<br />

Weise wie wilde Tiere gejagt werden, wie Sepúlveda mit Aristoteles behauptete. Die so<br />

gegen den Willen der Untergebenen erworbene Herrschaft müsste nämlich, wie Aristoteles in<br />

,,Politik“ III erhellt, tyrannisch, gewaltsam und ohne Dauer sein; und die tyrannische Herrschaft<br />

ist, wie Aristoteles wiederum in ,,Nikomachische Ethik“ VIII,12 sagt, die schlechteste<br />

aller politischen Herrschaftsformen; sie sollte daher keineswegs geduldet werden. Demgegenüber<br />

hält Las Casas fest, dass einzig die freiwillige Anerkennung der spanischen Herrschaft<br />

durch die indianischen Völker und ihre natürlichen Herren der legitime Weg zur<br />

Herrschaftserlangung wäre.<br />

Nach der Kontroverse bleibt Las Casas nicht bei der Zuordnung der Indios zur zweiten<br />

Barbarengruppe stehen, sondern geht einen Schritt weiter. In ,,Politik“ VII,8 und ,,Nikomachische<br />

Ethik“ VI beschreibt Aristoteles die Bedingungen eines idealen Staates, nämlich das<br />

Vorhandensein von Bauern, Handwerkern, Kriegern, reichen Leuten, Priestern und Richtern,<br />

die sich durch ökonomische, monastische und politische Klugheit auszeichnen. Las<br />

Casas versucht nun zu beweisen, dass diese Bedingungen auch bei den indianischen Gemeinwesen<br />

erfüllt, dass sie in manchen indianischen Königreichen gar besser ausgeprägt<br />

seien als bei den meisten Völkern der Antike und dass selbst die christlichen Gemeinwesen<br />

Europas einiges daraus lernen könnten. Wo Sepúlveda den außereuropäischen Barbaren die<br />

94


zivilisierten europäischen Christen entgegenstellt, um den natürlichen Herrschaftsanspruch<br />

der Letzteren über die Ersteren hervorzuheben, stellt Las Casas der christlich-abendländischen<br />

Zivilisation eine andere Art von Zivilisation gegenüber, die auch ihre Logik und<br />

ihre Werte habe: zwangsfreie interkulturelle Begegnung zum Wohl beider Bevölkerungsgruppen<br />

und nicht der Aufbau kolonialer Herrschaftsstrukturen ist sein Anliegen. Dass Las<br />

Casas in seiner Apologie zuweilen eine Idealisierung der von Sepúlveda den wilden Tieren<br />

gleichgesetzten Indios zum ,,engelgleichen Geschlecht“ betreibt – so etwa wenn er von den<br />

Bewohnern mancher karibischen Inseln (Bahamas) sagt, sie seien so einfältig, gelassen und<br />

friedfertig, dass es scheine, Adam habe in ihnen nicht gesündigt –, darf nicht verschwiegen<br />

werden.<br />

Aristoteles ist für Las Casas nur eine Pflichtübung, die er auf sich nimmt, um das ethnozentrische<br />

Argument Sepúlvedas mit denselben Waffen zu entkräften. Seine wahre Größe<br />

zeigt sich nämlich dort, wo er sich von Aristoteles verabschiedet, indem er dessen Dogmen,<br />

gleich wie sie lauten mögen, dem ethischen Universalismus biblischer und antiker Traditionen<br />

unterordnet. Sein Glaube sagt ihm, dass alle Menschen, wie barbarisch sie auch sein<br />

mögen, als Ebenbild Gottes erschaffen wurden und der gemeinsamen menschlichen Natur<br />

teilhaftig und zivilisations- und glaubensfähig sind, Ziele, an die sie nur mittels Überzeugung<br />

des Verstandes durch Vernunftgründe und sanfter Anlockung und Ermahnung des<br />

Willens durch das Beispiel eines guten Lebens herangeführt werden dürfen. In der stoischen<br />

Philosophie Ciceros findet er eine Konvergenz zur Glaubenslehre von der Gleichheit und<br />

Perfektibilität aller Menschen. Daher kann er als Ergebnis seiner Apologie manifestartig festhalten:<br />

,,So gibt es denn ein einziges Menschengeschlecht, und alle Menschen sind, was ihre<br />

Schöpfung und die natürlichen Bedingungen betrifft, einander ähnlich [...]. Alle Völker der<br />

Welt haben Verstand und Willen und das, was sich beim Menschen aus diesen beiden ergibt,<br />

nämlich die Entscheidungsfreiheit, und demzufolge haben alle die innere Kraft und Befähigung<br />

oder Eignung und den natürlichen Hang zum Guten, um in Ordnung, Vernunft,<br />

Gesetzen, Tugend und allem Guten unterwiesen, für sie gewonnen und zu ihnen geführt zu<br />

werden“.<br />

Man kann dies natürlich für einen ,,frommen Wunsch“ halten, der durch die Erfahrung<br />

des Bösen tagtäglich widerlegt wird. Bei allem anthropologischen Optimismus wusste Las<br />

Casas natürlich auch um die Macht der ,,Sünde“. Doch dies macht sein Manifest genauso<br />

wenig obsolet, wie die Verletzung der Menschenrechte die Menschenrechtserklärung ad absurdum<br />

führt. Entscheidend ist, dass Las Casas unter Rückgriff auf die Schöpfungstheologie<br />

wie auf das universalistische Naturrecht der Stoa ein Menschenbild idealtypisch verteidigt,<br />

das im Prinzip allen Völkern einen gleichberechtigten Platz in der Welt zuweist. Ein solches<br />

Menschenbild ist die Bedingung der Möglichkeit einer postkolonialen partnerschaftlichen<br />

Weltordnung, wie sie heute intendiert wird.<br />

Die Wirkungsgeschichte im 16. Jahrhundert<br />

Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass sich Las Casas’ anthropologische Hauptthese<br />

von der Zivilisations- und Glaubensfähigkeit aller Völker durchsetzen konnte, während die<br />

These, dass die Indios insgesamt keine Barbaren, sondern eher das Gegenteil davon seien,<br />

nicht einleuchten sollte. Der Franziskaner Bernardino de Sahagún, der größte Ethnograph<br />

der aztekischen Kultur, von dem Tzvetan Todorov zu verstehen gibt, er habe die Indios<br />

gekannt, während Las Casas sie eher geliebt habe, wird um 1570 unmissverständlich betonen,<br />

dass die Indios ,,unsere Brüder sind, hervorgegangen aus dem Stamm Adams wie<br />

95


wir; sie sind unsere Nächsten, die wir verpflichtet sind zu lieben wie uns selbst“. Er wird<br />

sich zwar auf den Streit, ob die Azteken vor der Begegnung mit den Christen ,,Wilde“<br />

oder ,,Zivilisierte“ waren, nicht einlassen wollen; er hält aber dezidiert fest, dass sie jetzt,<br />

also nach der Bekehrung, jedenfalls keine Barbaren sind: ,,Wie immer die alte Zeit auch<br />

gewesen sein mag, durch Erfahrung sehen wir jetzt, dass sie zu allen Handwerkskünsten<br />

befähigt sind und sie ausüben. Sie sind auch geschickt beim Erlernen aller geistigen<br />

Künste und der heiligen Theologie, wie man aus der Erfahrung mit jenen gesehen hat, die<br />

in diesen Wissenschaften unterrichtet wurden“. Und er fügt hinzu: ,,Sie sind denn auch<br />

nicht weniger für unser Christentum geeignet, wenn sie nur in ihm gebührend ausgebildet<br />

würden“.<br />

Den größeren ethisch-praktischen Einfluss bei der Gestaltung des Kolonialsystems wird<br />

aber der Jesuit José de Acosta um 1600 mit seiner ,,differenzierten“ Anthropologie ausüben.<br />

Für Acosta ,,ist Indio und Indio nicht dasselbe, um es mit Humor zu sagen, und es gibt Barbaren,<br />

die anderen Barbaren vieles voraushaben“. Konkret spricht er von drei verschiedenen<br />

Arten von Barbaren, wie die neu entdeckten Heiden allgemein genannt wurden: Zum ersten<br />

Typ gehören die Chinesen, Japaner und die meisten Völker der ostindischen Provinzen;<br />

ihnen bescheinigt er, sie seien genauso zivilisiert wie die Europäer, denn sie haben ,,feste<br />

Regierungsordnungen, staatliche Gesetze, befestigte Städte, hochangesehene Beamte, einen<br />

blühenden, wohlorganisierten Handel und – was noch wichtiger ist – den anerkannten Gebrauch<br />

der Schrift“. Zum zweiten Typ gehören die Indios der Hochkulturen Mexikos und<br />

Perus. Sie kannten zwar keine Schrift, hatten aber ein wohlgeordnetes politisches Regiment<br />

und einen prunkvollen Götterkult mit Priestern und Tempeln. Zum dritten Typ gehören die<br />

Nomaden, wie etwa die Guaraní und die meisten indianischen Völker, die ohne Gesetz und<br />

König, ohne Verträge und Verwaltung und auch ohne einen organisierten Götterkult leben.<br />

Sie sind nun die ,,Sklaven von Natur“, von denen Aristoteles sagt, dass sie wie Tiere gejagt<br />

und gezähmt werden dürfen. Alle drei Arten von Barbaren sind zwar zivilisations- und glaubensfähig,<br />

doch muss die Methode jeweils anders gehandhabt werden und besonders bei der<br />

dritten Gruppe einen paternalistischen Zwang einschließen.<br />

Acosta meint, dass Spanier und Indios gemeinsam und gleichberechtigt das Staatsvolk im<br />

spanischen Reich bilden: ,,Alle haben denselben König und sind denselben Gesetzen unterworfen“.<br />

Dann aber fügt er hinzu, dass nach Aristoteles die mit intellektuellen Fähigkeiten<br />

Begabten führen und die lediglich handwerklich Geschickten sich führen lassen sollen. So<br />

soll es nun zwischen Spaniern und Indios auch sein, die ersten sollen die zweiten, wenn<br />

notwendig, hart anpacken, aber nie unmenschlich unterdrücken; sie sollen sich vielmehr<br />

gegenseitig helfen, denn der Staat funktioniere nur, wenn die einen ihre Augen zum Sehen<br />

leihen und die anderen ihre Füße zum Gehen.<br />

Die Rezeption der Kontroverse in der Frühen Neuzeit und heute<br />

1552 ließ Las Casas die Zusammenfassung der Kontroverse, die Domingo de Soto erstellt hatte,<br />

mit anderen kleinen Traktaten in Sevilla drucken. Las Casas wollte damit das Gewissen<br />

Spaniens wachrütteln und gegen die Unterdrückung der Indios mobilisieren. Aber alsbald<br />

nährten seine Schriften die antispanische Polemik bei den Feinden des spanischen Hegemonialanspruchs.<br />

Obwohl die Krone ab 1554 immer strengere Druckverbote in der Amerika-<br />

Frage verfügte, war die polemische Rezeption der Kontroverse nicht mehr aufzuhalten. Es<br />

erschienen niederländische (1578), französische (1579, 1582, 1594, 1630, 1642, 1697, 1698,<br />

1701, 1822), englische (1583, 1625, 1699), deutsche (1597, 1599), lateinische (1598, 1614,<br />

96


1664) und italienische (1644, 1645) Übersetzungen, die die Kontroverse instrumentalisierten,<br />

weil nicht so sehr Las Casas’ Apologie der Indios oder der Freimut wahrgenommen<br />

wurden, mit dem Karl V. auf dem Zenit seiner Macht im Kolleg San Gregorio disputieren<br />

ließ, sondern die Grausamkeit der Spanier in Amerika, auf die Las Casas immer wieder verweist.<br />

Erst in unserer Zeit ist verstärkt davon die Rede, dass Las Casas und Sepúlveda typologisch<br />

die zwei Seelen in der abendländischen Brust gegenüber dem Fremden verkörpern.<br />

Die Kontroverse von Valladolid hat die Aufmerksamkeit vieler zeitgenössischer Schriftsteller,<br />

Künstler, Historiker, Theologen und Philosophen auf sich gezogen, die darin eine Sternstunde<br />

europäischer Kultur sehen, ja der ganzen Menschheit. Wir wollen hier nur drei Beispiele<br />

für diese Rezeption der Kontroverse festhalten.<br />

1939, am Vorabend der Eroberungskriege Hitlers, dessen Strategen voller Bewunderung<br />

für die ,,Blitzkriege“ der Konquistadoren bei der Eroberung Mexikos und Perus waren, publizierte<br />

Reinhold Schneider seinen Roman ,,Las Casas vor Karl V. Szenen aus der Konquistadorenzeit“.<br />

Aus dem historischen Stoff der Kontroverse im Kolleg San Gregorio macht<br />

Schneider eine zeitlose Parabel über Macht und Moral, Prophetie und Politik. Mit der Erinnerung<br />

an Las Casas’ Freimut im fernen 16. Jahrhundert wollte er auch im Dritten Reich das<br />

Gewissen wachrütteln. Aber trotz seiner Mahnung war ein neuer Las Casas nicht in Sicht.<br />

Im Kolumbusjahr 1992 schrieb Jean-Claude Carrière den Roman ,,La controverse de Valladolid“,<br />

der im selben Jahr von Jean-Daniel Verhaeghe mit bekannten Schauspielern verfilmt<br />

wurde. Hier geht es eher um die Nachdenklichkeit über den europäischen Umgang mit fremden<br />

Kulturen und Religionen.<br />

Schließlich hat sich der amerikanische Philosoph Immanuel Wallerstein 2006 in seinem<br />

Buch ,,The European Universalism. The Rhetoric of Power“ mit der Kontroverse von Valladolid<br />

ausführlich auseinandergesetzt. Darin sieht er eine beispielhafte Debatte über die Moralität<br />

des Weltsystems. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein war die Sepúlveda-Doktrin<br />

im Abendland maßgebend, d.h. die Rechtfertigung der Gewalt gegen die ,,Anderen“, die als<br />

Barbaren betrachtet wurden, sowie die Verpflichtung zur Durchsetzung der europäischen<br />

Kultur und Religion auf der ganzen Welt. Nach den großen antikolonialen Revolutionen des<br />

20. Jahrhunderts ist die Position Las Casas’ nicht mehr die einer kognitiven, warmherzigen<br />

Minderheit, sondern die der Vereinten Nationen und anderer weltpolitischen Strukturen:<br />

die unterdrückten Völker haben das moralische Recht, ,,die paternalistische Aufsicht durch<br />

die selbsternannten zivilisierten Völker zurückzuweisen“ (Wallerstein). Eine wahrhaft globale<br />

Welt, in der tendenziell Gleichberechtigung und friedlicher Austausch zwischen den<br />

Kulturen und Religionen gefragt sind, bahnt sich an – zumindest in der Theorie.<br />

Wir eröffneten dieses Essay mit einer Beschreibung der Hauptfassade des Kollegs San<br />

Gregorio und wollen es mit einem Wort des spanischen Schriftstellers José Jiménez Lozano<br />

über diesen denkwürdigen Ort abschließen. In seinem Buch ,,Kastilien. Eine spirituelle<br />

Reise durch das Herz Spaniens“ schreibt er: ,,Noch vierhundert Jahre nach dieser denkwürdigen<br />

streitbaren Disputation ist die arme Menschheit meilenweit davon entfernt, sich so<br />

rational und human zu zeigen, wie es Las Casas wollte, und dessen Thesen sind noch lange<br />

nicht überall bewahrheitet, am allerwenigsten in der Alltagspraxis der Regierungen und der<br />

Völker untereinander. Deshalb darf die mahnende Stimme des Bischofs von Chiapa gerade<br />

in diesem Haus und in unseren Tagen nicht ungehört verhallen, während wir uns vom<br />

Zauber dieser Steine und dessen, was sie bewachen, berücken lassen“.<br />

97


Literaturhinweise<br />

José de Acosta, De procuranda indorum salute, Bd. 1. Madrid 1984.<br />

Bartolomé de Las Casas, Obras completas, Bde. 6–8 (Apologética historia sumaria), 9 (Apologia),<br />

hrsg. von Vidal Abril bzw. Angel Losada. Madrid 1988/1992.<br />

Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, hrsg. von Mariano Delgado, Bd. 1 (Missionstheologische<br />

Schriften), Bd. 2 (Historische und ethnographische Schriften). Paderborn 1994–<br />

1995.<br />

Bernardino de Sahagún, Aus der Welt der Azteken. Ausgewählt und mit einem Nachwort<br />

versehen von Claus Litterscheid. Frankfurt/M. 1989.<br />

Juan Ginés de Sepulvéda, Demócrates segundo – o de las justas causas de la guerra contra<br />

los indios, hrsg. von Angel Losada. Madrid 1984.<br />

Jean-Claude Carrière, La controverse de Valladolid. Paris 1992.<br />

José Jiménez Lozano, Kastilien. Eine spirituelle Reise durch das Herz Spaniens. Mit einem<br />

Nachwort von Mariano Delgado. Fribourg/Stuttgart 2005.<br />

Reinhold Schneider, Las Casas vor Karl V. Szenen aus der Konquistadorenzeit. Frankfurt/<br />

M. 1983.<br />

Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt/M. 1985.<br />

Immanuel Wallerstein, Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus. Berlin<br />

2007.<br />

98


„Hüterin der Gerechtigkeit“<br />

Mystik, Politik und Kirche bei Bartolomé de Las Casas<br />

von Mariano Delgado<br />

Zwischen 2001 und 2005 führten Gotthard Fuchs und ich gemeinsam das<br />

Forschungsprojekt Die Kirchenkritik der Mystiker – Prophetie aus Gotteserfahrung<br />

durch. Das Ergebnis der Zusammenarbeit von mehr als 60 Mystikforschern<br />

und -forscherinnen aus verschiedenen Ländern und Sprachen<br />

konnten wir in den Jahren 2004–2005 als dreibändiges Werk für die wissenschaftliche<br />

Öffentlichkeit dokumentieren. 1 Vorliegender Beitrag über den Bischof<br />

von Chiapa, Bartolomé de Las Casas OP (1484–1566), möchte als Nachtrag<br />

zum genannten Forschungsprojekt verstanden werden.<br />

1. Die Gotteserfahrung des Bartolomé de Las Casas<br />

Las Casas ist, wie Marie-Dominique Chenu geschrieben hat, 2 vor allen Dingen<br />

ein „Prophet“ im biblischen Sinn des Wortes, d.i. ein von Gott Berufener<br />

(nabí), der seinen Zeitgenossen beharrlich – gelegen wie ungelegen – die Forderungen<br />

des Wortes Gottes in Erinnerung bringt. Wollen wir aber seine weltkluge<br />

Prophetie verstehen, so müssen wir zuerst nach der Quelle fragen, aus<br />

der er trank, nach der Gotteserfahrung, die jener zugrunde lag.<br />

Im schicksalhaften Alter von dreißig Jahren befand sich Las Casas, wie der<br />

Dichter, „in einem dunklen Wald, denn abgeirrt“ war er „vom rechten Weg“. 3<br />

Er war getauft, ja zum Priester geweiht, und hatte, wie er sagt, ein „mitleidiges<br />

Herz“, 4 dennoch war er – wie so viele „Berufschristen“ – nicht bekehrt. Er<br />

glaubte zu glauben und hatte doch die Glaubensmitte nicht entdeckt, jene praktizierte,<br />

nicht bloß geglaubte Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, auf die<br />

sich bekanntlich das Gesetz, die Propheten und die Reich-Gottes-Botschaft<br />

1 Vgl. Mariano Delgado / Gotthard Fuchs (Hg.), Die Kirchenkritik der Mystiker – Prophetie<br />

aus Gotteserfahrung. Bd. 1: Mittelalter (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte<br />

2), Fribourg/Stuttgart 2004; Bd. 2: Frühe Neuzeit (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte<br />

3), Fribourg/Stuttgart 2005, Bd. 3: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart (Studien zur<br />

christlichen Religions- und Kulturgeschichte 5), Fribourg/Stuttgart 2005. Die Anmerkungen in<br />

diesem Beitrag beschränken sich in der Regel auf den Beleg der Zitate. Auf weiterführende Sekundärliteratur<br />

wird aus Platzgründen weitgehend verzichtet.<br />

2 Vgl. Marie-Dominique Chenu, La Parole de Dieu, vol. 2: L’Evangile dans le temps, Paris<br />

1964, 201–212, 208.<br />

3 Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, Gesang I, Anfangsverse.<br />

4 Die Werke Las Casas’ werden nach folgenden Ausgaben zitiert: Bartolomé de Las Casas,<br />

Werkauswahl, hg. von Mariano Delgado, 4 Bde., Paderborn u.a. 1994–1997, abgekürzt als WA<br />

mit Band- und Seitenangabe. Ders., Obras completas, hg. von Paulino Castañeda, 14 Bde., Madrid<br />

1988–1998, abgekürzt als OC mit Band- und Seitenangabe. Hier: WA 2, 262.


174<br />

Mariano Delgado<br />

Jesu zurückführen lassen, und die ein wesentliches Merkmal echt christlicher<br />

Gotteserfahrung ist.<br />

Und doch erreichte ihn in diesem dunklen Wald, in der dunklen Nacht seiner<br />

Seele, das Licht des Heils, der helle Strahl des warmen sapientialen (messianischen)<br />

Stromes seiner Glaubensüberlieferung. Die Gotteserfahrung brachte ihn<br />

auf den rechten Weg zurück. Er selbst erzählt uns, 5 wie er bei der Vorbereitung<br />

einer Pfingstpredigt auf Kuba im Jahre 1514 „mit sich selbst über jene Stellen<br />

der Hl. Schrift nachzudenken“ begann und von diesen Worten aus dem Buch<br />

Jesus Sirach 34,21–27 unwiderruflich berührt wurde:<br />

[...] Wer ein Opfer von dem Gute eines Armen darbringt, gleicht dem, der den Sohn angesichts<br />

seines eigenen Vaters schlachtet. Brot der Dürftigen ist das Leben der Armen; wer sie<br />

um dasselbe bringt, ist ein Blutmensch. Wer das im Schweiße gewonnene Brot raubt, ist dem<br />

gleich, der seinen Nächsten tötet. Wer Blut vergießt und wer einen Tagelöhner betrügt, sind<br />

Brüder. 6<br />

Wie einst Augustinus und Franziskus und wie viele Christen seiner Zeit im<br />

Zuge der devotio moderna las er die Bibel als eine an ihn gerichtete Aufforderung<br />

zur Umkehr: Was bedeutet das „für mich hier und jetzt“? So begann er,<br />

damals noch Priester und Encomendero oder Sklavenhalter, „über das Elend<br />

und die Sklaverei, welche jene Völker [die Indios] erlitten, nachzudenken“. 7<br />

Erhellt wurde dieses Nachdenken durch das, was er „vor Jahren auf Española<br />

gehört und erfahren hatte, dass nämlich Ordensmänner des hl. Dominikus in<br />

der Predigt angekündigt hatten, dass die Spanier die Indios guten Gewissens<br />

nicht halten könnten und dass sie selbst denjenigen, welche sie hielten, Beichte<br />

und Absolution verweigern wollten“. 8 Auch Las Casas wurde von einem dieser<br />

Ordensmänner (wahrscheinlich 1512) die Absolution verweigert, weil er damals<br />

auf Española mit derselben Blindheit wie später auf Kuba Indios in seiner<br />

Encomienda hielt und nicht freilassen wollte.<br />

Die Ordensmänner des hl. Dominikus, auf die Las Casas hier anspielt, waren<br />

im September 1510 in Española angekommen. Sie entstammten allesamt den<br />

Observanten der kastilischen Provinz, die seit 1450 gegen die Verweltlichung<br />

kämpften und das ursprüngliche Ordenscharisma erneuern wollten. Las Casas<br />

selbst hat uns den Eifer dieser ersten Dominikanerkommunität beschrieben.<br />

Demnach hielten sie nicht nur die alten Regeln streng ein, sondern fügten weitere<br />

hinzu, um noch strenger leben zu können. Unter anderem beschlossen sie,<br />

keine Brot-, Wein- oder Ölalmosen zu erbetteln, solange sie gesund waren, 9<br />

was einen weitgehenden Verzicht auf diese Grundnahrungsmittel bedeutete.<br />

Las Casas vermerkt weiter, dass sie viele Jahre diese selbstauferlegte Strenge<br />

5 WA 2, 262.<br />

6 WA 1, 262f.<br />

7 WA 2, 263.<br />

8 WA 2, 263.<br />

9 Vgl. OC 4, 1519.


„Hüterin der Gerechtigkeit“ 175<br />

einhielten, wobei das Ordensleben des hl. Dominikus erblühte und erneuert<br />

wurde. 10<br />

Jede radikale Nachfolge ist „mystisch und politisch zugleich“, 11 um es in der<br />

Sprache heutiger politischer Theologie auszudrücken. Dominikanisch gesagt:<br />

Sie lebt aus der untrennbaren Einheit von Kontemplation und Aktion, von Gottes-<br />

und Nächstenliebe. Im Geiste strenger Observanz und radikaler Nachfolge<br />

nach Española gekommen, konnte es also nicht lange dauern, bis die furchtlosen<br />

Dominikaner in bester Ordenstradition die Praxis (hecho) mit dem Recht<br />

(derecho) – und zwar mit dem natürlichen und positiven, aber auch mit dem<br />

„göttlichen“ Recht der „Einheit und Gottebenbildlichkeit aller Menschen“ –<br />

verglichen, den Widerspruch feststellten und mit der berühmten Predigt Anton<br />

Montesinos zu Joh 1,23ff am vierten Adventssonntag 1511 12 die Missstände<br />

freimütig zur Anklage brachten, wie es zu ihrer prophetischen Aufgabe gehörte:<br />

Sagt, mit welcher Berechtigung und mit welchem Recht haltet ihr diese Indios in so grausamer<br />

und schrecklicher Sklaverei? [...] Sind sie keine Menschen? Haben sie keine vernunftbegabten<br />

Seelen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie zu lieben wie euch selbst? 13<br />

Die Beratungen der Dominikaner in der armseligen Strohhütte von Santo<br />

Domingo über die Lage der Indios und die darauf folgende prophetische Predigt<br />

Montesinos im Namen der ganzen Kommunität, in der die wilde koloniale<br />

Ausbeutung denunziert, die Menschenwürde der Indios verteidigt und das<br />

christliche Gewissen der spanischen Landsleute wachgerüttelt wird, gehören zu<br />

jenen Ereignissen, die wir in der Kirchen- und Menschheitsgeschichte durchaus<br />

als „epochal“ kennzeichnen sollten. Die Dominikaner gaben damit dem<br />

Christentum, kaum dass es die Neue Welt „in irdenen Gefäßen“ erreicht hatte,<br />

seinen ureigenen Charakter als „messianische Religion“ oder „Religion der<br />

Armen, der Mühseligen und Beladenen“ zurück, 14 denen das befreiende Evangelium<br />

des Lebens verkündet werden soll. Sie streuten so eine mystisch-politische<br />

Saat aus, die im Herzen des Bartolomé de Las Casas keimen und in seinem<br />

Lebenswerk reiche Früchte tragen wird.<br />

Nach seiner Verwandlung in einen bewussten „Hörer des Wortes“ – bei der<br />

Vorbereitung der Pfingstpredigt des Jahres 1514 – wird er auf seine Enco-<br />

10 Vgl. OC 4, 1519.<br />

11 Johann Baptist Metz, Zeit der Orden? Zur Mystik und Politik der Nachfolge, Freiburg i. Br.<br />

1977, 45.<br />

12 Nach dem römischen Ritus gehörte dieses Evangelium zum dritten Adventssonntag, nach<br />

dem damaligen Ritus des Predigerordens zum vierten.<br />

13 WA 2, 226.<br />

14 Pedro Henriquez Ureña, Las corrientes literarias en la América hispánica, México 1964,<br />

20; vgl. Chenu, L’Evangile (Anm. 2), 210; vgl. Michael Sievernich, Anfänge prophetischer Theologie.<br />

Antonio de Montesinos Predigt (1511) und die Folgen, in: Ders. u.a. (Hg.), Conquista und<br />

Evangelisation. Fünfhundert Jahre Orden in Lateinamerika, Mainz 1992, 77–98.


176<br />

Mariano Delgado<br />

mienda verzichten und dies anlässlich einer weiteren Predigt zu Mariä Himmelfahrt<br />

auch öffentlich bekannt geben. Das Lebenswerk des neuen Menschen<br />

in der „mystisch-politischen“ Radikalität der Nachfolge kann beginnen. In<br />

„seines Lebensweges Mitte“ steht er nun auf, eilt zu Pedro de Córdoba, seinem<br />

bewunderten Seelenführer, und gelobt ihm feierlich und quichotisch zugleich:<br />

Pater, ich werde alle Mittel erproben, die mir möglich sind, und ich will alle Mühen bestehen,<br />

die mir auferlegt werden, um das Endziel der Aufgabe zu erreichen, die ich begonnen<br />

habe; und ich hoffe, dass unser Herr mir beisteht; und sollte ich es nicht erreichen, so werde ich<br />

das getan haben, wozu ich als Christ verpflichtet war. 15<br />

2. Je mystischer, desto politischer<br />

In der nun folgenden Wirkungsphase als bekehrter Weltpriester finden wir bei<br />

Las Casas bereits seine zentrale mystisch-politische Einsicht, dass man in den<br />

unterdrückten Indios Christus „nicht einmal, sondern tausendfach geißelt,<br />

quält, ohrfeigt und kreuzigt“. 16 Er entfaltet daher eine fieberhafte Aktivität, um<br />

die Indios von den Händen ihrer Peiniger loszukaufen und die Krone davon zu<br />

überzeugen, dass eine friedliche Evangelisierung und Kolonisierung möglich<br />

und gar in wirtschaftlicher Hinsicht rentabler sei. Aber erst nach dem Scheitern<br />

dieser Pläne und seinem Eintritt in den Dominikanerorden zu Santo Domingo<br />

1522 werden seine Kontemplation und seine Aktion feste unverwechselbare<br />

Konturen annehmen. Für sein Leben gilt nun: „je mystischer, desto politischer“.<br />

17 Die langen Jahre des Studiums und Predigens, zuerst in Santo Domingo<br />

und dann in Puerto de Plata (Española), wo er als Prior wirkte, werden<br />

ihn zutiefst prägen. Als er mit dem großen Brief an den Indienrat vom 20.<br />

Januar 1531 den politischen Kampf im reifen Alter von 47 Jahren wieder aufnimmt,<br />

18 kann er aus einer soliden, theologisch durchdachten mystischen Erfahrung<br />

schöpfen. Er trifft nun eine bewusste Option für die Indios als die Armen<br />

und Bedrängten seiner Zeit, die, obwohl ungetauft, zum mystischen Leib<br />

Christi gehören; er betrachtet die Wirklichkeit systematisch mit ihren Augen, 19<br />

weil dies auch die Sicht Gottes ist; er teilt die Menschen in barmherzig/mitleidige<br />

und unbarmherzig/mitleidlose und handelt aus „Mitleid“ mit<br />

Opfern und Tätern, denen er die Frohbotschaft von Gott als Vater des Erbarmens<br />

prophetisch verkünden möchte; und er ist schließlich ein „betender“ Prophet,<br />

aber auch ein politisch denkender und handelnder Prophet.<br />

15 WA 2, 266.<br />

16 WA 2, 291.<br />

17 Beschlüsse der Diözesansynode Rottenburg-Stuttgart 1985/86. Weitergabe des Glaubens an<br />

die kommende Generation, Ostfildern 1986, 100.<br />

18 Vgl. WA 3/1, 341–358.<br />

19 Ausdrücklich wird er in seinen Schriften einklagen, wir sollten die Ereignisse so zu betrachten<br />

versuchen, „als wenn wir Indios wären“ („si Indus esset“). OC 9, 604.


„Hüterin der Gerechtigkeit“ 177<br />

Option für die Indios als die Armen und Bedrängten seiner Zeit. Die vorrangige<br />

„Option für die Armen“, von der die heutige Theologie der Befreiung immer<br />

wieder spricht, ist keine neue Erfindung, sondern ein Grundmerkmal der<br />

Christentumsgeschichte. Auch wenn die Theologen dies nicht immer so deutlich<br />

wie in der Gegenwart begründet haben, so hat es immer Zeugen gegeben,<br />

die diese Option eindrucksvoll mit Leben füllten und die Kirche daran erinnerten,<br />

dass Christus vom Vater gesandt wurde, „den Armen frohe Botschaft<br />

zu bringen... die im Herzen Zerknirschten zu heilen“ (Lk 4,18), „zu suchen und<br />

zu retten, was verloren war“ (Lk 19,10), und dass die Kirche daher „in den<br />

Armen und Leidenden... das Bild ihres armen und leidenden Gründers“ zu erkennen<br />

hat (Lumen gentium Nr. 8). Auch Las Casas hat eine solche Option in<br />

der Kirche seiner Zeit eingeklagt, und zwar nicht nur auf der Ebene des barmherzigen<br />

Verhaltens des Einzelnen (Werke der Barmherzigkeit usw.), sondern<br />

auf der Ebene der rechtlich-politischen Gestaltung eines gerechten, barmherzigen<br />

Gemeinwesens, wie sein Kampf um Schutzgesetze für die Indios, ja um ihr<br />

Recht auf politische Selbstbestimmung zeigt.<br />

Als er nach Belegen sucht, um eine solche Option zu begründen, zitiert er<br />

nicht nur die klassischen Bibelstellen, die in Lumen gentium Nr. 8 angeführt<br />

werden, sondern auch die einschlägigen Stellen aus dem Kirchenrecht, die von<br />

der Pflicht der Kirche, besonders der Bischöfe, zur Sorge um die „Elenden“<br />

handeln, „die aufgrund ihres Elends ihre Sachen nicht vertreten und ihrem<br />

Recht keine Geltung verschaffen“ können, „will sagen, aufgrund ihrer Armut<br />

oder Verzagtheit, des Verfalls oder der Erfahrung oder der Furcht oder sonstwelchen<br />

Unvermögens“. 20 Als „Elende“ wurden nach dem Kirchenrecht vor<br />

allem die Armen, Bedrängten, Waisen und Witwen verstanden. Las Casas<br />

dehnt nun diesen Begriff auf alle indianischen Völker Amerikas aus:<br />

Alle eingeborenen Indios im gesamten Bereich Westindiens im Ozeanischen Meer, sowohl<br />

Herren und Große wie Kleine und Vasallen sind ganz und gar und ausnahmslos die armseligsten<br />

und unterdrücktesten, bedrängtesten und ungeschütztesten Personen, welche unter allen Geschöpfen<br />

der Welt die schwersten Ungerechtigkeiten erleiden und am stärksten der Verteidigung,<br />

der Zuflucht und des Schutzes bedürfen. Elende sind nämlich jene, vor denen selbst die<br />

Natur die Menschen – es sei denn es handelt sich um bestialische und grausame Menschen –<br />

zum Mitleid mit ihnen bewegt.<br />

Und wenig später betont er nochmals mit Nachdruck,<br />

dass diese elenden Völker die erbarmungswürdigsten, niedergeschlagensten, am meisten<br />

beleidigten, ohnmächtigsten, schutzlosesten und bedürftigsten sind, welche auf dem Erdenrund<br />

zu finden sind, an deren Trübsalen und Nöten man auch mit größter Anstrengung, Zuneigung<br />

und Wirksamkeit Anteil zu nehmen hat. 21<br />

20 WA 3/1, 437.<br />

21 WA 3/1, 437f.


178<br />

Mariano Delgado<br />

Mitleid und Erbarmen als Handlungskriterium. Gerade weil die geschundenen<br />

Indios „Elende“ sind, die „Mitleid und Erbarmen“ verdienen, sieht Las<br />

Casas darin ein wirksames Kriterium, um die Menschen seiner Zeit zu beurteilen.<br />

Wenn er von den „Tyrannen“ spricht, die in Conquistas (Eroberungskriege:<br />

ingressus der Spanier in Amerika) und Encomiendas (sklavereiähnliche<br />

Zuteilung der Indios an die Konquistadoren: progressus der spanischen Präsenz<br />

in Amerika) die Indios unterdrücken, so ist das Fehlen von Mitleid und Erbarmen<br />

ein alles beherrschendes Motiv, etwa in seinem Ganz kurzen Bericht über<br />

die Zerstörung Westindiens, wo es immer wieder heißt: den Spaniern in Westindien<br />

„lag weder an Treue zu Gott oder zum König noch an Mitleid mit jenen<br />

von ihnen gequälten Völkern, noch kannten sie Erbarmen“, sie kannten oder<br />

empfanden „kein Mitleid“, wie Nero mit dem brennenden Rom; sie handelten<br />

„ohne Erbarmen mit dem Menschengeschlecht“ und ließen es „so sehr an<br />

Barmherzigkeit und Mitleid fehlen“ 22 usw. Das Fehlen von Mitleid und Erbarmen<br />

führt Las Casas nicht zuletzt auf die Habgier zurück, die sich im Herzen<br />

der Konquistadoren und Encomenderos eingenistet hat. Denn der Habgierige<br />

zeichnet sich durch „Unmenschlichkeit und Herzenshärte wider jede<br />

Barmherzigkeit“ aus, er „entbehrt eines mitleidigen Herzens“ und kennt „kein<br />

Mitleid“. Er „ist im Herzen hart, ohne jede Barmherzigkeit... hat mit niemanden<br />

Mitleid“, nicht einmal „mit seinen nächsten Angehörigen“; als Mensch<br />

ohne Mitleid und Erbarmen wird er „alles nur Mögliche tun“, um die Indios<br />

„zu verderben und ihr Leben zu zerstören“. 23 Es ist kein Zufall, dass Las Casas<br />

uns innerhalb seines Octavo remedio ein kleines Traktat über die zerstörerischen<br />

Auswirkungen der Habgier im menschlichen Herzen und in der Gesellschaft<br />

hinterlassen hat. 24<br />

Auf der anderen Seite handeln nach Las Casas diejenigen, die in den Indios<br />

bedrängte Menschen sehen, denen es beizustehen gilt, stets „von Mitleid bewegt“.<br />

Aber mit der Volksweisheit weiß er: „Was nicht im Blick ist, pflegt<br />

auch nicht im Herzen zu sein“; und mit Aristoteles kann er sagen, dass „nur<br />

das Leid, das vor Augen liegt, bemitleidet wird, dagegen was vor tausend Jahren<br />

war oder sein wird in tausend Jahren (genauso wie das, was in Westindien,<br />

zweitausend Meilen von Spanien entfernt geschieht) weder in der Hoffnung<br />

noch in der Erinnerung noch überhaupt Mitleid weckt oder noch nicht im gleichen<br />

Maße“. 25 Gerade weil er das weiß, hat er in seinen Werken das Leiden<br />

der Indios anschaulich beschrieben, „damit jener Christ noch größeres Mitleid<br />

mit jenen unschuldigen Völkern empfindet“. Daneben gibt er noch ein anderes<br />

Mitleidsmotiv für seine Schriften an:<br />

22 WA 2, 72, 89, 107, 132.<br />

23 WA 3/2 108f, 114, 111.<br />

24 Vgl. WA 3/2, 105–112.<br />

25 WA 3/1, 345. Es handelt sich um ein Zitat aus Aristoteles’ Rhetorik, II,8 (1386a).


„Hüterin der Gerechtigkeit“ 179<br />

Mitleid mit meinem Vaterland, nämlich Kastilien, damit Gott es dieser überaus großen Sünden<br />

wegen nicht zerstört, die gegen Seinen Glauben und Seine Ehre und gegen die Nächsten<br />

begangen wurden. 26<br />

Denn – wie nicht zuletzt Gustavo Gutiérrez betont hat 27 – Las Casas wollte<br />

beiden, den Opfern und den Tätern, den Indios und den Spaniern, das „Evangelium<br />

des Lebens“ verkünden.<br />

Die Frohbotschaft von Gott als Vater des Erbarmens. Gott ist für Las Casas<br />

– und hier herrscht größte Übereinstimmung mit der Enzyklika Dives in Misericordia<br />

Papst Johannes Paul II. 28 vor – der „Vater des Erbarmens“ (2 Kor<br />

1,3), einer, dessen Wille darin besteht, „dass alle gerettet und zur Erkenntnis<br />

seiner gelangen“ (1 Tim 2,4), einer, „der die Bekehrung der Welt zum Glauben<br />

an ihn mit Erbarmen, Milde, Sanftmut, Frieden und Frömmigkeit erreichen<br />

wollte“, 29 einer, „der, als er den Sohn... von weitem sah, im Innersten von<br />

Mitleid bewegt wurde“, 30 einer, der seinen Sohn nicht in die Welt gesandt hat,<br />

„dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn selig werde“, einer<br />

schließlich, der seinen Sohn nicht als Ankunft der Gerechtigkeit, „sondern der<br />

Barmherzigkeit“ in die Welt sandte. 31 Ein solcher Gott will, dass wir sein<br />

Evangelium „sanft und barmherzig“ verkünden, dass wir „Werke der Barmherzigkeit“<br />

üben, 32 „Barmherzigkeit gegen die Bedrängten zeigen“, 33 die Bedrängten<br />

befreien und den Verängstigten zur Hilfe eilen. 34 Aber die Frohbotschaft<br />

des Erbarmens muss den Opfern und den Tätern auf je verschiedene Art<br />

und Weise gepredigt werden. Gerade dies tut Las Casas, so dass er der Gefahr<br />

einer unverbindlichen, subjekt- und situationslosen Gottesrede entgeht.<br />

Gegenüber den Indios betont er das Motiv des „guten Hirten“, der nicht gekommen<br />

ist, „zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten“, sondern damit die<br />

Indios durch die Evangelisierung „das Leben haben und es in Fülle haben“<br />

(Joh 10,7–10). 35 Insbesondere den Bischöfen Westindiens wird Las Casas in<br />

Erinnerung rufen, dass sie dem Idealbild des „guten Hirten“ zu entsprechen<br />

26 WA 2, 135f.<br />

27 Gustavo Gutiérrez, Memoria de Dios y teología. In: Las Casas entre dos mundos. Congreso<br />

teológico internacional (Lima, 26–27–28 de Agosto de 1992), Lima 1993, 27–46, hier: 32: vgl.<br />

auch ders., Wenn wir Indianer wären..., in: Edward Schillebeeckx (Hg.), Mystik und Politik.<br />

Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft. Johann Baptist Metz zu Ehren, Mainz<br />

1988, 32–44; ders., En busca de los pobres de Jesucristo. El pensamiento de Bartolomé de Las<br />

Casas, Lima 1992 (Salamanca 1993).<br />

28 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika „Dives in Misericordia“. Über das göttliche Erbarmen.,<br />

hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls<br />

260), Bonn 1980.<br />

29 WA 3/1, 349.<br />

30 WA 1, 150.<br />

31 WA 1, ebd. 177.<br />

32 WA 1, 163 u.a.<br />

33 WA 1, 232.<br />

34 Vgl. WA 3/1, 346.<br />

35 WA 1, 303.


180<br />

Mariano Delgado<br />

haben und aus göttlichem Recht für die „Befreiung, Verteidigung und Bewahrung“<br />

ihrer Herde „unerbittlich und unermüdlich“ einzutreten haben. 36 Er<br />

selbst hat sich als Bischof bemüht, diesem Ideal zu entsprechen. Solche Bischöfe<br />

– und es gab in der Kirchengeschichte Lateinamerikas viele davon –<br />

werden in der Forschung sogar als „lascasianisch“ bezeichnet.<br />

Ein solcher Gott als „barmherziger Vater“ und „guter Hirt“ ist vom Leiden<br />

der Opfer der Geschichte zutiefst affiziert, vor allem dann, wenn, wie Las Casas<br />

schreibt, „das Geschrei soviel vergossenen Menschenblutes schon zum<br />

Himmel“ steigt und auch „die Erde selbst [...] es nicht mehr ertragen“ kann,<br />

„dass sie so sehr von Menschenblut getränkt ist“. 37 Las Casas ist sogar davon<br />

überzeugt, dass angesichts der Gräueltaten seiner Landsleute in der Neuen<br />

Welt „die Engel des Friedens weinen, ja Gott selbst Tränen vergießt“. 38<br />

Aber ein solcher Gott erbarmt sich auch der Täter, die er durch die Ankündigung<br />

seines Zornes zur zeitigen Umkehr, zum Verlassen des Todeswegs und<br />

zur Wahl des Lebenswegs aufrufen möchte. Seit seinem langen Brief an den<br />

Indienrat vom 20. Januar 1531 wird Las Casas immer wieder von einem Gott<br />

reden, „der ein gerechter Richter ist“, und den schrecklichen Tag „des überaus<br />

gerechten und strengen göttlichen Gerichtes“ beschwören, an dem seinen<br />

Landsleuten, vor allem der Krone und den Mitgliedern des Königlichen Rates,<br />

„genaueste Rechenschaft“ über das ihnen anvertraute Evangelisierungswerk<br />

abverlangt werden wird; spätestens an diesem Tag werden alle Untaten ans<br />

Licht kommen, und Gott wird jedem in Liebe und Gerechtigkeit nach seinen<br />

Werken vergelten.<br />

Das Gerichtsbewusstsein nach Mt 25,31–46 ist, wie Gustavo Gutiérrez bemerkt<br />

hat, 39 die zentralste Intuition in der Gottesrede Las Casas’. Dies führt<br />

ihn nicht nur dazu, im Leidenden hier und jetzt einen „anonymen Christus“ zu<br />

entdecken, dem es aus Mitleid und Barmherzigkeit heraus beizustehen gilt,<br />

sondern auch zu einer Gerichtshoffnung für die unschuldig leidenden, aber<br />

nicht-getauften Indios. Je älter er wird, desto mehr rückt diese tröstende Gerichtshoffnung<br />

in den Vordergrund. So hält er in seiner Geschichte Westindiens<br />

an die Adresse von Gonzalo Fernández de Oviedo, einem notorischen Verleumder<br />

der Indios, um 1561 fest: „Und es könnte sein, dass von diesen (Indios),<br />

die wir hienieden so sehr verachten, sich am Tag des Gerichts zur rechten<br />

Hand (Christi) mehr finden als von uns“. 40 Und in seinem Traktat über die<br />

Schätze Perus aus demselben Jahr wird er noch deutlicher:<br />

Mir scheint, sie (die Indios) könnten allenfalls einen gewissen Trost und Hilfe in der Vorstellung<br />

finden, dass am Tag des Gerichts, wenn alle herbeigerufen und angehört, wenn ihre<br />

36 Vgl. WA 3/1, 101–112.<br />

37 WA 3/1, 347.<br />

38 WA 3/1, 348.<br />

39 Vgl. die in der Anm. 27 zitierte Literatur.<br />

40 OC 5, 2398.


„Hüterin der Gerechtigkeit“ 181<br />

und der anderen Völker Verdienste und Sache erörtert, wenn alle Listen und Machenschaften<br />

der Tyrannen und die Nichtigkeit ihres Tuns offengelegt und durch das Wort des gerechten<br />

Richters zur ewigen Strafe verurteilt werden, die Unschuld derer, die von jenen hienieden Übles<br />

erlitten, so nicht anderweitige Sünden es verhindern (für die es auch ohne Glauben keine<br />

Entschuldigung gibt), zu Tage tritt, verteidigt und geschützt wird. 41<br />

Aber es ist wichtig, dass wir der Gottesrede Las Casas’ nicht nur „Gerichtsbewusstsein“<br />

abgewinnen, sondern auch das „pastoralkluge“ Richten der Gerichtsbotschaft<br />

an die richtige Adresse. Er versteht sie als eine „befreiende“,<br />

die allen Opfern, „die Unrecht leiden, eine unverlierbare Hoffnung zusagt“, als<br />

„Tröstungs- und Ermutigungskraft“ angesichts geschichtlicher Bedrängnis,<br />

aber auch als eine Botschaft, die alle erbarmungslosen Täter der Geschichte an<br />

Gottes Strenge und Gerechtigkeit erinnert. Häufig haben Berufschristen – wie<br />

das Dokument Unsere Hoffnung der Würzburger Synode 1975 anmahnte – den<br />

befreienden Charakter der Gerichtsbotschaft in der Kirche selbst verdunkelt,<br />

weil sie sie zwar laut und eindringlich vor den Kleinen und Wehrlosen, aber<br />

häufig zu leise und halbherzig vor den Mächtigen dieser Erde verkündet<br />

haben. 42<br />

Ein betender Prophet. Las Casas machte auch von einem fundamentalen<br />

Recht und einer fundamentalen Pflicht der Kirche vor Gott und den Menschen<br />

Gebrauch, nämlich angesichts des Unrechts oder inmitten von Leid und Elend<br />

„‚mit lautem Schreien’ (vgl. Hebr 5,7) den Gott des Erbarmens anzurufen“ und<br />

Erbarmen zu „erflehen“ (Dives in misericordia, Kap. 2). Erst diese Dimension<br />

erweist Las Casas als einen wirklichen „Jünger“ des Herrn. Zahlreiche Zeugnisse<br />

belegen seine Gebetspraxis.<br />

Er selbst sagt von sich, es scheine, dass er geboren wurde und Gott ihn dazu<br />

bestimmt habe, „um (vor Gott und den Menschen) ständig fremden Kummer<br />

zu beweinen“, den er freilich nicht weniger tief empfinde, „als wenn er mein<br />

eigener wäre“. So kann er nicht umhin, festzuhalten, was seine Seele ihm „jeden<br />

Tag beschreibt und beweint“, obwohl er „so leben könnte, wie andere<br />

leben, die dies nämlich übergehen, dabei aber vielleicht das Risiko eingehen,<br />

ihre Rettung aufs Spiel zu setzen“. 43 Aus den vielen fremden Zeugnissen seien<br />

hier nur zwei von Tomás de la Torre genannt, seinem Mitbruder und Mitarbeiter<br />

während der Zeit als residierender Bischof von Chiapa (1544–1546). De<br />

la Torre berichtet, wie sich Las Casas nachts in seiner Kammer lange Stunden<br />

dem Gebet widmete, wobei sein Seufzen und Klagen die Ordensbrüder tief<br />

41 WA 3/1, 297.<br />

42 Vgl. Unsere Hoffnung. Ein Glaubensbekenntnis in dieser Zeit, in: Gemeinsame Synode der<br />

Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung, Bd. 1, Freiburg<br />

2<br />

1978, 71–111 (Einleitung von Theodor Schneider: 71–84; Beschluss: 84–111), Gericht: I 4, S.<br />

92f.<br />

43 WA 3/1, 490f.


182<br />

Mariano Delgado<br />

beeindruckte. 44 Und als Las Casas 1545 die erbitterte Feindschaft der Gerichtsbeamten<br />

der Audiencia de los Confines zu spüren bekam, von denen er<br />

forderte, sie sollten den Untaten der Spanier Einhalt gebieten, wie dies die<br />

königlichen Neuen Gesetze vorsahen, soll er nach De la Torre in Tränen zu<br />

Gott gebetet haben:<br />

Herr, Du weißt, was ich damit beabsichtige und was ich damit verdiene, nämlich Hunger,<br />

Durst, Ermüdung und den Hass aller; wenn ich mich täusche, so täusche ich mich um deines<br />

Evangeliums willen; aber so wie ich es verstehe, glaube ich, mich nicht zu täuschen; und wenn<br />

ich es nicht richtig verstehen sollte, so wirst Du, Herr, mich erleuchten, damit ich nicht das Ärgernis<br />

bleibe, das ich in dieser Welt bin. 45<br />

3. Kirchenvision und Kirchenkritik<br />

Es ließe sich zeigen, dass Las Casas aufgrund dieser mystischen Erfahrung ein<br />

politisch denkender und handelnder Prophet war, der sich in die Kämpfe seiner<br />

Zeit einmischte, um im westindischen Kontext unter Normal-science-Bedingungen<br />

für die messianischen Werte Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit und<br />

schließlich auch für Frieden „unerbittlich und unermüdlich“ einzutreten. Aber<br />

das würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 46 Es genüge hier, die Kirchenvision<br />

und die Kirchenkritik Las Casas’ abschließend vorzustellen.<br />

Das Eintreten für Gerechtigkeit und Recht, vor allem zugunsten der „Elenden“<br />

und Bedrängten aller Art ist ein wesentliches Merkmal der mystischen<br />

Erfahrung Las Casas’ und seines prophetischen Wirkens. Dies wurzelt in seiner<br />

doppelten Überzeugung, a) dass die Indios unsere Brüder sind, „für die<br />

Christus sein Leben hingegeben hat“, 47 und b), dass Gott selbst Hüter der Gerechtigkeit<br />

ist und folglich die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung und Unterdrückung<br />

des Nächsten zutiefst verabscheut. Wenn Las Casas daher von der<br />

Kirche spricht, hegt er die Vision, dass auch diese „die Hüterin der Gerechtigkeit“<br />

sein und „in sich genauso wenig wie in anderen Unrecht“ dulden sollte. 48<br />

Das bedeutet, dass sich auch die Christen für den Aufbau einer Welt einsetzen<br />

sollten, die der Option Gottes und seiner Kirche für die Gerechtigkeit entspricht.<br />

Wir wissen, dass Las Casas selbst seine Rolle als Bischof in der alten<br />

advokatorischen Tradition – der Bischof als Vater der Armen, als Ankläger der<br />

Ungerechtigkeit und Hüter der Gerechtigkeit – gesehen hat. Für ihn war es<br />

selbstverständlich, dass dies auch für alle Bischöfe gelten sollte. Daher hat er<br />

44 Vgl. Francisco Ximénez, Historia de la provincia de San Vicente de Chiapa y Guatemala. 4<br />

Bde. (Biblioteca Guatemalteca de cultura popular 81–84), Guatemala 1965, hier Bd. 3, 666.<br />

45 Ximénez, Historia (Anm. 44), 776.<br />

46 Vgl. dazu u.a.: Mariano Delgado, Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit. Das Christentum<br />

des Bartolomé de Las Casas, Fribourg 2001.<br />

47 „Indi fratres nostri sunt, pro quibus Christus impendit animam suam“: OC 9, 664.<br />

48 WA 3/2, 239.


„Hüterin der Gerechtigkeit“ 183<br />

ein kleines Traktat geschrieben, um mit Vernunftgründen nachzuweisen, dass<br />

die Bischöfe „unermüdlich und unerbittlich“ für die Befreiung der Unterdrückten<br />

einzutreten haben. 49<br />

Ausgehend von dieser Vision der Kirche kann Las Casas nicht umhin, die<br />

Verfehlungen der Kirche seiner Zeit im westindischen Kontext zu kritisieren,<br />

wie einige Beispiele zeigen sollen.<br />

Zum einen kritisiert Las Casas das Betrachten der Werke der Barmherzigkeit<br />

als quasi Ersatz für die gebotene Gerechtigkeit. Von den vielen Vorwürfen, die<br />

gegen Las Casas zu Lebzeiten wie posthum erhoben wurden, ist die unbarmherzige<br />

Härte und Strenge gegenüber den Spaniern, seinen Landsleuten, im<br />

theologischen Sinn der schwerste. Denn er legt uns nahe, es habe ihm bei seinem<br />

Kampf um Gerechtigkeit und Recht das rechte Maß gefehlt; so hätte gerade<br />

er, der so gekonnt juristisch argumentierende Anwalt der Indios, die<br />

Rechtsmaxime verletzt, wonach summus ius summa iniuria bedeute, höchstes<br />

Recht also höchstes Unrecht sei. Er hätte wissen müssen, dass seine radikale<br />

Restitutionsforderung nicht zu erfüllen war und die Gewissensnot vieler Spanier<br />

vertiefte. Wie so oft verkennen diejenigen, die so reden, den homiletischen<br />

Charakter des Denkens des Bischofs von Chiapa, das ein eindringlicher Bekehrungsappell<br />

an die Spanier ist, aber sie verkennen auch den Inhalt dieses Denkens,<br />

weil sie zumeist nur vom Hörensagen oder aus fragmentarischer Lektüre<br />

heraus argumentieren.<br />

Las Casas’ Restitutionsforderung ist weniger Ausdruck von unverhältnismäßiger<br />

Strenge als vielmehr Zeichen seiner mitleidigen Liebe zu den Tätern,<br />

denen er auf dem Boden des moralischen Tutiorismus des Mittelalters („in<br />

dubio pars tutior eligenda est“, also im Zweifelsfalle ist die moralisch sichere<br />

Möglichkeit zu wählen, und die Restituton war eben diese „sichere“ Möglichkeit)<br />

den Weg zur Umkehr und zum Heil deutlich machen will. Zu seiner Zeit<br />

dachten nämlich viele, es genüge zum Heil, wenn man Bußübungen verrichte<br />

oder im Testament „Werke der Barmherzigkeit“ verfüge, die aus dem unrechtmäßig<br />

angehäuften Vermögen finanziert werden sollen. Mit beißender<br />

Ironie kritisiert Las Casas diesen Missbrauch von Gottes Erbarmen:<br />

Und wenn sie lange Zeit in einer Einöde bei strengster Bußübung gelebt haben, bekennen<br />

sie, dass Gott barmherzig sei und sich erbarme, und meinen deshalb, dass er ihnen die Plünderungen<br />

und Übel, die sie gegen Gott und zum Leidwesen von Millionen ihrer Nächsten verübt<br />

haben, nicht anrechnen werde; denn sie verfügen in Testamenten und in ihrem letzten Willen,<br />

um die Überschreitungen zu sühnen, von den Gütern, die sie zurücklassen, sollen zehn oder<br />

mehr Arme gekleidet oder in irgendeinem Kloster ein Altar errichtet werden, an dem drei oder<br />

vier Messen pro Woche gelesen werden ...? 50<br />

Las Casas geht einen Schritt weiter. Er kritisiert nicht nur die fehlgeleitete<br />

Frömmigkeit der Gläubigen, sondern auch die Praxis der Seelsorger selbst:<br />

49 Vgl. WA 3/1, 101–112.<br />

50 WA 1, 290f.


184<br />

Mariano Delgado<br />

Alle Ordensleute und Kirchenmänner begehen eine Todsünde, wenn sie irgendwelche Spenden<br />

und Gaben von den Encomenderos annehmen, auch wenn sie damit Kirchen und Klöster<br />

für den Altardienst bauen, es in Gold, Silber und Schmuck anlegen, Kapläne einstellen oder<br />

Kapellen und Begräbnisstätten bauen. 51<br />

Zum anderen kritisiert Las Casas den Einsatz von jedwedem Zwang bei der<br />

Evangelisierung der Indios. Mit seinem missionstheologischen Werk Die einzige<br />

Art der Berufung aller Völker zur wahren Religion hat er eine eindrucksvolle<br />

Apologie des Christentums als der Religion der Freiheit, der Barmherzigkeit,<br />

des Friedens und der Gerechtigkeit verfasst. Die zentrale These, die<br />

das ganze Werk wie ein cantus firmus begleitet, ist, dass durch die göttliche<br />

Vorsehung nur eine einzige Art, alle Menschen – ohne irgendeinen Unterschied<br />

sei es der Religion und der Irrtümer, sei es der Sittenverderbnis – die<br />

wahre Religion zu lehren, auf der ganzen Erde und für jede Zeit eingesetzt<br />

wurde, „nämlich die Überzeugung des Verstandes durch Vernunftgründe und<br />

die sanfte Anlockung und Ermahnung des Willens.“ 52 Der schon durch<br />

Augustinus vertretene, in der ecclesia militans aber nicht immer konsequent<br />

durchgehaltene Grundsatz, dass der Glaubensakt dem freien Willen entspringt,<br />

führt Las Casas zur bedingungslosen Verteidigung einer wirklich zwangsfreien<br />

Glaubenspredigt und zu einer Anklage der in der Amerika-Mission herrschenden<br />

Zwangspraxis. Diese hatte vor allem zwei Formen angenommen.<br />

Der Hauptstrom befürwortete, dass die Indios, ob sie es wollen oder nicht,<br />

zunächst unter die zeitliche Gewalt des christlichen Fürsten gebeugt werden<br />

müssen. Nach der Unterwerfung könnte dann unmittelbar die Predigt in der gebotenen<br />

Form erfolgen, die die Indios nicht zum Glauben zwänge, „sondern sie<br />

mit Vernunftgründen überzeugte und sanft anlockte, nachdem ja durch die<br />

besagte Unterwerfung die Hindernisse aus dem Weg geräumt wären“. 53 Dies<br />

war die Position des Humanisten Juan Ginés de Sepúlveda bei der Kontroverse<br />

von Valladolid (1550–1551) und der faktische Gang der Amerika-Mission:<br />

zunächst Unterwerfung, dann Missionierung unter dem herrschenden Zwang.<br />

Las Casas nennt diese Sicht die der einzigen Art der Berufung aller Völker zur<br />

wahren Religion radikal „entgegengesetzte Art“, weil sie „Krieg“ bedeutet und<br />

eine Situation herbeiführt, in der die Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt wird.<br />

Abgesehen davon, dass ein solcher Krieg gegen Menschen, die bisher niemals<br />

etwas über den Glauben oder die Kirche erfahren haben und zudem weder<br />

rechtlich noch faktisch den Christen unterworfen waren, „rechtswidrig, ungerecht,<br />

frevelhaft und tyrannisch“ 54 wäre, betont Las Casas, dass Gott nicht die<br />

unterwürfige Zustimmung von Sklaven will, sondern die von freien Menschen.<br />

51 WA 3/2, 382f.<br />

52 WA 1, 107.<br />

53 WA 1, 259.<br />

54 WA 1, 305.


„Hüterin der Gerechtigkeit“ 185<br />

Eine andere Form des Zwanges bestand darin, dass Missionare bei der Evangelisierung<br />

der Indios nicht selten auf Züchtigungsmethoden zurückgriffen,<br />

wie Prügeln, Peitschen, Fesseln, körperliche Strafen oder das Einjagen von<br />

Angst. Glaubensboten, die solches tun, so Las Casas freimütig, „irren und verschulden<br />

sich sehr – auch dann, wenn sie die Macht und Autorität von Bischöfen<br />

haben mögen“. 55<br />

4. Ausblick<br />

Las Casas’ Einheit von „Mystik und Politik“ zeigt uns, wie Barmherzigkeit<br />

angesichts des Unrechts bzw. inmitten von Leid und Elend entsteht und praktische<br />

Gestalt annimmt. Sie beginnt mit der Öffnung des Herzens zur Kompassion<br />

mit fremdem Leid, zu einem Miteinander-Leiden und -Fühlen mit den<br />

Opfern, das zu einer „moralischen Unruhe“ führt (Sehen). Das unruhig gewordene<br />

Herz beleuchtet die Wirklichkeit im Lichte des Evangeliums und des vorhandenen<br />

Rechtsbewusstseins, also auf dem Boden des natürlichen, positiven<br />

und göttlichen Rechts (Urteilen), und drängt dann zu einem barmherzigen Handeln<br />

in Wort und Tat (Handeln).<br />

Als Las Casas nach einer praktischen Kurzformel des Christseins sucht, findet<br />

er sie in der Schrift De vita christiana (Über das christliche Leben) aus der<br />

Zeit des Augustinus:<br />

Jener ist ein Christ, der allen gegenüber Barmherzigkeit übt, der von dem Unrecht an jedem<br />

bewegt wird, der es nicht leidet, dass in seiner Gegenwart ein Armer unterdrückt wird, der den<br />

Elenden zu Hilfe kommt, der den Notleidenden oft beisteht, der mit den Betrübten betrübt ist,<br />

der den Schmerz des anderen wie seinen eigenen fühlt, der durch fremde Tränen zum Weinen<br />

gebracht wird. 56<br />

Las Casas denkt dabei nicht nur an die „Werke der Barmherzigkeit“, sondern<br />

auch an eine Kirche, die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der<br />

Menschen, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“, als eigene „Freude<br />

und Hoffnung, Trauer und Angst“ empfindet (Gaudium et spes, Nr. 1) und sich<br />

mit Sachverstand und Barmherzigkeit in die Konflikte der Zeit einmischt.<br />

Bischof Bartolomé de Las Casas, ein Christ aus der fernen Konquistadorenzeit,<br />

steht in diesem Sinne dem Kirchenverständnis des II. Vatikanums (vgl. auch<br />

Lumen gentium, Nr. 8) sehr nahe.<br />

Zusammenfassung: Der Beitrag stellt Las Casas’ Bekehrung zu einem Gott dar, der „Vater des<br />

Erbarmens“ und „Hüter der Gerechtigkeit“ ist: Dieser Gott erwartet von uns, dass wir Christus in<br />

den Armen und Leidenden suchen (Lumen gentium 8), Kompassion mit fremdem Leid haben und<br />

55 WA 1, 331.<br />

56 WA 1, 281.


186<br />

Mariano Delgado<br />

für die Gerechtigkeit eintreten. Las Casas’ Kampf für Gerechtigkeit und Recht in der Begegnung<br />

der Spanier und der Indianer ist als Folge seiner spirituellen, mystischen Entwicklung zu betrachten.<br />

Die Einheit von Mystik und Politik wird bei ihm deutlich. Getragen von einer Vision der<br />

Kirche als „Hüterin der Gerechtigkeit“ betreibt Las Casas auch eine schonungslose Kritik mancher<br />

Verhaltensweisen in der Kirche seiner Zeit.<br />

Summary: The article describes the conversion of Las Casas to a God who is the „father of mercy“<br />

and the „keeper of justice“. This God expects us to look for Christ in the poor and the suffering<br />

(Lumen Gentium 8), to have compassion with the sufferings of others and to stand up for justice.<br />

Las Casas’ battle for justice in the encounter between the Spanish and the Indians should be seen<br />

as the consequence of his personal spiritual and msytical development. He embodies the unity of<br />

mysticism and politics. Carried by his vision of the church as the „keeper of justice“, Las Casas<br />

furthermore formulates unsparing criticism regarding certain practices of the church of his time.


Mariano Delgado<br />

Spanische Inquisition und Buchzensur<br />

Im sechsten Kapitel des ersten Teils des „Don Quijote“ von Miguel de Cervantes<br />

wird eine sinnreiche Parodie der Buchzensur inszeniert. Es handelt sich dabei nicht<br />

um eine blinde, undifferenzierte Verbrennung aller Bücher Don Quijotes, obwohl<br />

dessen Nichte, als Volksstimme, dem Pfarrer, der sich vom Barbier ein Buch nach<br />

dem anderen reichen lassen wollte, „um zu sehen, was sie enthielten“, zuriet: „Verschont<br />

kein einziges; sie haben alle gesündigt. Am besten mit allen zum Fenster hinaus<br />

in den Hof; dort schichtet man einen Scheiterhaufen daraus und verbrennt sie.“ 1<br />

Der Pfarrer folgte diesem Rat nicht und verschonte – nach einer „bitteren und<br />

gründlichen Untersuchung“ – einige Ritterromane, allen voran „Amadis von Gallien“,<br />

was nicht ohne Brisanz ist, wurden doch im Jahr 1555 die zu Valladolid tagenden<br />

Cortes (Ständeparlament) ersucht, alle „Bücher voller Lügen und Eitelkeiten<br />

wie der Amadis und sämtliche Bücher dieser Sorte, die nach ihm unter seiner Qualität<br />

und Machart Zuflucht gefunden haben, sowie solche, die Liebeslieder und -geschichten<br />

und andere Eitelkeiten“ 2 enthalten, zu verbieten – was auch der Jesuit<br />

Juan de Mariana 1579 als Qualifikator oder Konsultor der Indexbehörde (1583)<br />

dem Generalinquisitor Gaspar de Quiroga (1573–1594) wärmstens empfohlen<br />

hatte.<br />

Entstehung und Besonderheiten<br />

Die Spanische Inquisition wurde 1478 durch die Bulle „Exigit sincerae“ Papst Sixtus’<br />

IV. errichtet, um die Glaubensreinheit der „Conversos“, der aus dem Judentum<br />

und dem Islam zum Christentum Bekehrten, zu überwachen, nicht primär um sich<br />

um die Buchzensur zu kümmern. Sie nahm ihre Arbeit erst 1480 auf und bestand als<br />

Institution – mit kurzer Unterbrechung in den liberalen Phasen von 1813 und 1820<br />

– bis zu ihrer endgültigen Aufhebung am 15. Juli 1834 durch die Regentin María<br />

Cristina fort. Als um 1500 das gedruckte Buch zum typischen Mittel sozialer Kommunikation<br />

avancierte und Auflagen und Verbreitung neue Dimensionen erreichten,<br />

wurde den staatlichen wie kirchlichen Behörden klar, daß sie eine gewisse Kontrolle<br />

ausüben mußten. Nach einigen Anläufen durch Innozenz VIII. 1487 und<br />

Alexander VI. 1501 verabschiedete Leo X. 1515 während des Fünften Laterankonzils<br />

die Bulle „Inter sollicitudines“, die den Ortsbischöfen das Privileg vorbehielt,<br />

die Druckgenehmigungen zu erteilen. Diesen Weg bestätigte das Trienter Konzil in<br />

7/2006 – www.stimmen-der-zeit.de<br />

461


Mariano Delgado<br />

der XVII. und XXV. Sitzung, und Pius IV. promulgierte 1564 die konziliaren Zensurmaßnahmen<br />

zusammen mit dem neuen Index 3 .<br />

Das katholische Spanien nahm sich aber die Freiheit, die Dinge anders zu regeln.<br />

Hier reservierte sich der Staat die Kontrolle über die Druckgenehmigungen,<br />

während der Inquisition die Kontrolle des Buchmarktes überlassen wurde. Auch<br />

wenn es manchmal Konflikte zwischen beiden Zensurbehörden gab – nicht zuletzt,<br />

weil die Inquisition bestrebt war, ihre Kompetenzen zu erweitern und sich in das<br />

Verfahren der Druckgenehmigung einzumischen –, so kann man sagen, daß diese<br />

Aufgabenteilung weitgehend eingehalten wurde. Gleichwohl muß man beide Aktivitäten<br />

als komplementär betrachten, denn das reibungslose Funktionieren der<br />

staatlichen und der kirchlichen Buchzensur setzt ein gemeinsames Ziel voraus: Spanien<br />

von allem frei zu halten, was den Interessen von Staat und Kirche entgegenwirken<br />

könnte.<br />

Während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts trat die Inquisition als Zensurinstanz<br />

kaum in Erscheinung. Die Katholischen Könige hatten mit der Pragmatischen<br />

Sanktion vom 8. Juli 1502 die Buchhändler verpflichtet, Einfuhrgenehmigungen zu<br />

beantragen sowie die außerhalb des spanischen Machtgebiets erschienenen Bücher<br />

zur Prüfung vorzulegen. Für die im Inland gedruckten Bücher sollte vorab eine<br />

Druckgenehmigung eingeholt werden, die nur nach sorgfältiger Prüfung erteilt<br />

werden durfte. Zunächst wurden die obersten Gerichtshöfe („Audiencias“) von<br />

Valladolid und Granada sowie die Erzbischöfe oder Bischöfe von Toledo, Sevilla,<br />

Burgos, Salamanca und Zamora mit dem Druckgenehmigungsverfahren betraut.<br />

Ab 1554 – und nachdem der Kronrat bedauern mußte, daß einige Druckgenehmigungen<br />

zu leichtfertig erteilt worden waren – wurde das Verfahren zentralisiert und<br />

ausschließlich dem Kronrat unterstellt.<br />

Bis Mitte des 16. Jahrhunderts tat sich die Inquisition lediglich durch einige<br />

Edikte als Zensurbehörde hervor. Am Anfang stand das Edikt des Generalinquisitors<br />

Adrian von Utrecht (1518–1522) vom 7. Juni 1521, mit dem die Konfiszierung<br />

aller Bücher Martin Luthers, der nach der Exkommunikation als notorischer<br />

Ketzer galt, angeordnet wurde. Es folgten unter anderem einige<br />

Verfügungen des Generalinquisitors Alonso de Manrique (1523–1538) zwischen<br />

1523 und 1534 sowie weitere Edikte in den 40er Jahren, um die Verbreitung verdächtiger<br />

Bücher zu kontrollieren. Zur Publikation der ersten Indices sowie zum<br />

systematischen Ausbau des „Buchprozesses“ mit dem Buch, einem „stummen<br />

Ketzer“, als dem Angeklagten, kam es aber erst ab 1551. In den 50er Jahren des<br />

16. Jahrhunderts fand nämlich eine Verschärfung der inquisitorischen wie der<br />

staatlichen Buchzensur in Spanien statt. Dies hat vor allem mit folgenden drei<br />

Faktoren zu tun: daß der Protestantismus sich mehr und mehr durch den Buchdruck<br />

ausbreitete und auch Spanien davon nicht verschont blieb, da Bücher und<br />

kommentierte Bibelübersetzungen protestantischer Autoren in den heimischen<br />

Markt gelangt waren, so daß die Entstehung eines Kryptoprotestantismus zu be-<br />

462


Spanische Inquisition und Buchzensur<br />

fürchten war; daß der Propagandakrieg gegen die „Monarchia hispanica“ neue<br />

Dimensionen erreicht hatte, weil deren Feinde aus der prophetischen Kritik einiger<br />

Kirchenleute an den Untaten der Spanier in der Neuen Welt Munition für<br />

die eigenen Ziele gewannen, die Spanier im allgemeinen und den Katholischen<br />

König im besonderen als brutale Tyrannen und Feinde des Menschengeschlechts<br />

hinzustellen; und schließlich und vor allem, weil eine geistige Wende gegen jene<br />

Tendenzen im Schatten des spanischen Katholizismus stattfand, die als „philoprotestantisch“<br />

galten, nämlich gegen die Alumbrados, den Erasmianismus, die<br />

Bibelübersetzungen in der Volkssprache und die geistlichen Autoren, die ebenso<br />

in der Volkssprache schrieben und das innere Gebet befürworteten; zugleich<br />

wurde der theologische Aristokratismus der Scholastiker gefestigt, wonach die<br />

Bibel und die geistliche Literatur nur dem Klerus reserviert sei, nicht den Laien<br />

und schon gar nicht den Frauen.<br />

Der erste Index<br />

So kam es 1551 zum ersten Index der Spanischen Inquisition, der nicht zufällig von<br />

Generalinquisitor Fernando de Valdés (1547–1566) verabschiedet wurde. Valdés hat<br />

in der Forschung den Ruf, die Kompetenzen der Inquisition immer wieder erweitern<br />

zu wollen. So dürfte er in der Verbreitung protestantischer Bücher und Bibelübersetzungen<br />

nicht zuletzt einen Grund dafür gesehen haben, sich selbst und das<br />

Inquisitionstribunal als Zensurbehörde zu profilieren. Anhand des Vollzugs der ersten<br />

Index-Maßnahmen merkt man, daß die Inquisition noch lernen mußte, wie sie<br />

beim Buchprozeß vorzugehen hatte. Die Indexbehörde übernahm die Liste des Katalogs<br />

der Universität Löwen aus dem Jahr 1550 und fügte einige spezifische Bestimmungen<br />

für die spanische Situation dazu, so zum Beispiel das Verbot von Bibelübersetzungen<br />

in der Volkssprache, von Anthologien der Heiligen Schrift, von<br />

Werken des Erasmus von Rotterdam und seiner spanischen Schüler. Die Buchhändler<br />

protestierten noch 1551 mit einem Schreiben an den obersten Inquisitionsrat. Sie<br />

sahen in der Konfiszierung und Verbrennung von Werken protestantischer Autoren<br />

wie Philipp Melanchthon, die antike Philosophen oder Kirchenväter edierten<br />

und kommentierten, oder von medizinischen und juristischen Büchern, die lediglich<br />

hie und da fragliche Sätze enthielten, einen großen finanziellen Schaden, „denn<br />

es gibt viele, die Frau und Kinder haben und all ihr Vermögen in diese Bücher gesteckt<br />

haben“ 4 .<br />

Nachdem die Inquisitoren Toledos Ende 1551 oder Anfang 1552 eine Denkschrift<br />

mit den praktischen Zweifeln bei der Anwendung der Index-Maßnahmen<br />

an den Inquisitionsrat zugesandt hatten, antwortete dieser am 4. April 1552 mit<br />

einer „Carta acordada“ bzw. einem Brief an alle Inquisitoren mit den Beschlüssen<br />

anläßlich der Zweifelsfälle. Darin findet sich eine erste Systematisierung des Ver-<br />

463


Mariano Delgado<br />

fahrens der Buchzensur: 1. Alle Bücher sollten konfisziert, aber nur die häretischer<br />

Autoren öffentlich verbrannt werden, während die Werke katholischer Autoren<br />

bis auf weiteres in den Büros der Inquisition aufbewahrt werden sollten;<br />

ebenso sollte eine Liste mit den Namen ihrer Besitzer erstellt und dem Inquisitionsrat<br />

zugeschickt werden, damit dieser die nötigen Maßnahmen verfügte. 2.<br />

Die Bücher in der Volkssprache, die Anthologien von Texten der Episteln, Evangelien<br />

und Predigten enthielten, sowie die Katechismen, Heiligenviten und sonstigen<br />

Werke katholischer Autoren sollten ihren Besitzern zurückgegeben werden,<br />

wenn sie frei von Häresien oder Verdachtsmomenten waren. 3. Die Bücher<br />

katholischer Autoren, wie zum Beispiel der Kirchenväter oder antiker Philosophen,<br />

die Kommentare von Ketzern enthielten, sollten nach ihrer Säuberung<br />

(„Expurgation“) an ihre Besitzer zurückgegeben werden. 4. Die Bibelausgaben<br />

sollten konfisziert und die Namen ihrer Besitzer aufgeschrieben werden; das<br />

Exemplar sollte nach den noch zu entwerfenden genauen Regeln gesäubert und an<br />

die Besitzer zurückgegeben werden.<br />

Nachdem am 20. August 1554 der Generalinquisitor Valdés die Regeln für die<br />

„Censura general de Biblias“ drucken ließ, konnte die anvisierte massive Säuberung<br />

der Bibelausgaben vorgenommen werden. Es handelte sich um die erste wirklich<br />

autonome Buchzensur der Spanischen Inquisition, die von den Katalogen der Sorbonne<br />

und Löwen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wesentlich abweicht.<br />

Nicht weniger als 70 lateinische Ausgaben, die aus den Druckorten Paris, Antwerpen,<br />

Basel, Zürich und Lyon zwischen 1526 und 1552 nach Spanien gelangt waren,<br />

waren davon betroffen. Die Säuberungen beziehen sich in der Regel nicht auf den<br />

Bibeltext selbst, sondern nur auf die Kommentare ketzerischer oder verdächtiger<br />

Autoren, vor allem wenn diese jene Fragen betrafen, die konfessionell umstritten<br />

waren: etwa das Verhältnis von Glaube und Heilsvertrauen, die Bedeutung der<br />

Werke bei der Rechtfertigung oder den freien Willen. Nach der Expurgation sollten<br />

die Exemplare mit einer Urkunde, die das gereinigte Material und das Datum festhielt,<br />

an ihre Besitzer zurückgegeben werden.<br />

So hat die Spanische Inquisition zu Beginn der 50er Jahre zwei wichtige Instrumente<br />

der Buchzensur eingeführt, die später von der Römischen Inquisition nachgeahmt<br />

werden sollten: den Index und die Expurgation („Reinigung“). Letztere<br />

wird aber erst ab der Reinigung von Gaspar de Quiroga 1584, die eine Liste der Stellen<br />

anführt, die aus jedem Werk getilgt werden sollten, ihre definitiven Konturen<br />

gewinnen. Bujanda vermerkt nicht zu Unrecht, daß die allgemeine Bibelzensur von<br />

1554 nicht die Verbreitung, den Besitz oder die Lektüre der Bibel verbieten, sondern<br />

eher den „sicheren“ Gebrauch gewisser Ausgaben ermöglichen wollte, die im<br />

Index von 1551 verboten worden waren oder ähnliche Merkmale enthielten. In diesem<br />

Sinn war der allgemeinen Bibelzensur eine gewisse Toleranz nicht abzusprechen.<br />

Der Spielraum für die Toleranz wurde aber nach der geistigen Wende in der<br />

zweiten Hälfte der 50er Jahre immer enger.<br />

464


Spanische Inquisition und Buchzensur<br />

Eine Denkschrift und ihre Folgen<br />

Die zufällige Aufdeckung von kryptoprotestantischen Gruppierungen in Sevilla<br />

und Valladolid 1557 und 1558, denen es bis dahin gelungen war, Bücher protestantischer<br />

Autoren aus dem Ausland einzuschmuggeln, ließ bei der Krone und der Inquisition<br />

alle Alarmglocken läuten. Am 2. Juni 1558 sandte Generalinquisitor<br />

Valdés an Philipp II. eine Denkschrift über die Buchzensur, die den Versuch darstellt,<br />

die Gunst der Stunde zu nutzen und die Kompetenzen des Heiligen Offiziums<br />

zu erweitern. Darin schlägt er unter anderem vor, daß die Inquisitoren regelmäßig<br />

die Häfen besuchen, um die Personen und die Bucheinfuhr zu kontrollieren;<br />

daß keine Bücher gedruckt werden, weder auf lateinisch noch in der Volkssprache,<br />

ohne daß sie vorher von den Inquisitoren gesehen und geprüft werden; daß keine<br />

Bücher gedruckt werden, ohne den Autor, den Druckort und den Drucker zu nennen;<br />

daß die Richter monatlich die Druckwerkstätten besuchen, sichten, was gedruckt<br />

wird und in Erfahrung bringen, ob dort oder anderswo geheimes Drucken<br />

praktiziert wurde; daß die Buchhändler keine Ballen mit Büchern aus dem Ausland<br />

auspacken, ohne daß die Inquisition dies überwache, und daß die weltlichen Richter<br />

über die ankommenden Ballen und die darin enthaltenen Bücher genaues Protokoll<br />

führen; daß die Buchhändler keine Bücher verkaufen, ohne daß sie vorher<br />

von der Inquisition geprüft werden; daß die Buchhändler in ihren Läden öffentlich<br />

gut sichtbar eine Liste der darin enthaltenen Bücher sowie der vom Heiligen Offizium<br />

verbotenen aushängen; daß niemand irgendein Buch in irgendeiner Sprache<br />

von den Ausländern kaufe, die Spanien besuchen; daß man prüfe, ob es zweckmäßig<br />

ist, überall bekanntzugeben, daß diejenigen, die anzeigen möchten, daß andere<br />

Bücher mit lutheranischen Irrtümern besitzen, ein Drittel oder ein Viertel der Güter<br />

der Denunzierten bekommen werden sowie darüber hinaus Straffreiheit, falls sie<br />

an diesem Delikt beteiligt gewesen seien; daß man prüfe, ob es zweckmäßig ist, alle<br />

Bücher in der Volkssprache zu konfiszieren, damit sie untersucht werden und man<br />

lediglich solche zum Lesen freigibt, die gut und über jeden Verdacht der Häresie<br />

erhaben sind; daß man verbietet, Bücher auf Spanisch zu verkaufen, die im Ausland<br />

gedruckt wurden; und schließlich daß die Buchhändler auf dem letzten Blatt eines<br />

jeden verkauften Buches ihren Namen und ihre Unterschrift vermerken, damit<br />

man, falls nötig, wisse, wer das Buch verkauft habe.<br />

Philipp II. wird auf der Grundlage dieser Denkschrift am 7. September 1558 eine<br />

Pragmatische Sanktion über den Buchdruck und die Bücher verabschieden, die als<br />

die schwerwiegendste Zensurmaßnahme in der Geschichte der Spanischen Inquisition<br />

anzusehen ist. Der König geht darin weitgehend auf die Vorschläge des Generalinquisitors<br />

ein, wenn auch mit zwei wichtigen Ausnahmen: Von einer Belohnung<br />

für die Denunziation ist darin nicht die Rede, und von einer Betrauung der Inquisition<br />

mit der Sichtung der Bücher vor dem Druck auch nicht, vielmehr wird bekräftigt,<br />

daß die Druckgenehmigung allein dem Kronrat obliegt – unter Androhung<br />

465


Mariano Delgado<br />

der Todesstrafe für diejenigen, die Bücher ohne besagte Druckgenehmigung<br />

„drucken oder drucken ließen oder am Druck beteiligt wären“ 5 . Ansonsten wird<br />

den Universitäten von Salamanca, Valladolid und Alcalá sowie den Erzbischöfen,<br />

Bischöfen, Prälaten und den Ordensoberen „aller Orden dieser Kronreiche“ befohlen,<br />

„sehr behutsam und schnell“ die Bibliotheken in ihrem Zuständigkeitsbereich<br />

gründlich zu visitieren: Über die verdächtigen oder verworfenen Bücher, oder über<br />

solche, die Irrtümer und falsche Lehren enthielten oder von unzüchtigen Sachen<br />

handelten und ein schlechtes Beispiel gäben, gleich wie sie verfaßt und gemacht<br />

wären, sei es auf lateinisch oder in den Volkssprachen, auch wenn es sich um solche<br />

Bücher handeln sollte, die mit königlicher Genehmigung gedruckt wurden, sollten<br />

sie einen mit ihren Namen unterzeichneten Bericht an den Kronrat senden, „damit<br />

man dort die Sache prüfe und das Nötige verfüge“ 6 . Ein weiterer Erlaß untersagte<br />

den Universitäten, die Buchzensur a posteriori zu praktizieren, da dies ausschließlich<br />

der Inquisition zustehe.<br />

Flankiert wurden diese Maßnahmen von einer königlichen Verordnung vom 22.<br />

November 1559, wonach alle im Ausland studierenden oder lehrenden Spanier innerhalb<br />

von vier Monaten zurückkehren sollten; ausgenommen waren nur jene,<br />

die sich in Bologna, Neapel oder Coimbra eingeschrieben hatten. Diese letzte<br />

Maßnahme wurde später teilweise aufgehoben, sie ist jedoch sehr bezeichnend für<br />

das geistige Klima jener Zeiten in Spanien. Viel gravierender waren jedoch zwei<br />

weitere Maßnahmen, die im August 1559 Schlag auf Schlag folgten: Am 17. August<br />

veröffentlichte der Generalinquisitor Valdés – nicht zuletzt auf Anraten des Salmantiner<br />

Theologen Melchior Cano – einen instruktiven Index, der zur Konfiszierung<br />

und Verbrennung vieler Bücher führte; dazu zählten alle Übersetzungen der<br />

Bibel oder deren einzelne Bücher in der Volkssprache; ferner zahlreiche Werke des<br />

Erasmus, die Werke seiner Schüler Alfonso und Juan de Valdés; die damals dem<br />

rheinischen Mystiker Johannes Tauler zugeschriebenen „Institutiones“ und sogar<br />

die geistlichen Hauptwerke in der Volkssprache von spanischen Mystikern wie<br />

Francisco de Osuna OFM, Juan de Avila, Francisco de Borja SJ und Luis de<br />

Granada OP. Als gleich darauf am 21. August die Inquisition den Dominikaner<br />

Bartolomé Carranza (de Miranda), den ehemaligen Beichtvater Karls V. und<br />

Philipps II., den hoch angesehenen Professor der Theologie (in Valladolid) und<br />

Trienter Theologen, den amtierenden Erzbischof von Toledo und Primas von Spanien<br />

nicht zuletzt aufgrund eines Gutachtens von Melchior Cano zu seinem Werk<br />

„Comentarios al Catechismo christiano“ (1558) in einer Nacht-und-Nebel-<br />

Aktion verhaften ließ, wußte man, daß die Ereignisse der Jahre 1557 bis 1559 nicht<br />

nur mit den Ereignissen auf der europäischen Makroebene zu tun hatten (zur selben<br />

Zeit ging Papst Paul IV., ehemals römischer Generalinquisitor, gegen die italienischen<br />

Franziskanerspiritualen unerbittlich vor; 1559 veröffentlichte er den ersten<br />

römischen Index verbotener Bücher), sondern vor allem mit einer tiefen<br />

geistigen Wende in Spanien selbst.<br />

466


Spanische Inquisition und Buchzensur<br />

Die Besonderheit des neuen Valdés-Index aus dem Jahr 1559 gegenüber den bisherigen<br />

Zensurmaßnahmen findet sich in der Abteilung der Bücher auf Spanisch<br />

und darunter in den geistlichen Büchern und Bibelübersetzungen. Gemäß dem<br />

Gutachten des Melchior Cano von 1559 zum Katechismuskommentar Carranzas<br />

galten sie nun als die größte Gefahr und als das Tor zu einer eventuellen Protestantisierung<br />

Spaniens. Dieser Index stellte den Versuch dar, die Volksfrömmigkeit in<br />

neue Bahnen zu lenken und den Geist Trients restriktiv zu interpretieren. Wie die<br />

neue Forschung klargemacht hat, hörte die Zensur mit dem Index von 1559 auf,<br />

„nur Teil der Strategie im Kampf gegen die Häresie zu sein; sie verwandelte sich in<br />

ein Instrument zur Kontrolle der intellektuellen Produktion im Inland“ 7 . In den<br />

wissenschaftlichen Auseinandersetzungen sowie in den Kämpfen um Lehrstühle<br />

wurde nun die Anklage des Gegners vor der Inquisition zur bevorzugten Waffe:<br />

„Das Rationalitätsprinzip machte dem Inquisitionsurteil Platz.“ 8<br />

Zur Hermeneutik der Qualifikatoren und der Index-Regeln<br />

In der Folge stand das Buch als Medium generell unter Verdacht – nicht nur das<br />

theologische und religiöse Buch, sondern auch die Literatur, die Geschichte, die<br />

Philosophie und die Naturwissenschaft. Im Index von 1612 hieß es:<br />

„Und es ist gewiß, daß durch kein anderes Medium sich die Häresie ausbreitet und verrät<br />

als durch die Bücher, die, obwohl sie stumme Lehrer sind, ständig sprechen und zu jeder Zeit<br />

lehren.“ 9<br />

Auch Generalinquisitor Antonio de Zapata (1627–1632) gab treffend die Mentalität<br />

der Inquisition wieder, wenn er 1632 die Schreib- und Publikationslust als „das<br />

beste Instrument und das effektivste Mittel, das der Vater der Lüge und der Täuschung<br />

erfinden konnte“ bezeichnete 10 .<br />

Beim Buchprozeß geht es um die Orthodoxie eines stummen Opfers. Ab der<br />

Mitte des 16. Jahrhunderts kann man beobachten, daß dieser Prozeß – von den ersten<br />

Verdachtsmomenten bis zum abschließenden Urteil – bei der Spanischen Inquisition<br />

eine feste Form annimmt. Drei Aspekte dieses Prozesses verdienen besondere<br />

Beachtung: die Denunziation, die Zentralisierung der letzten Entscheidung<br />

und schließlich die hermeneutische Rolle der Qualifikatoren oder Konsultoren.<br />

Mit der Denunziation, zu der die Menschen in den Edikten der Inquisition ausdrücklich<br />

aufgefordert wurden, konnte das Buch „sichergestellt“ und der Prozeß<br />

eröffnet werden. Die Denunziation erfolgte durch Privatpersonen oder durch Institutionen,<br />

und sie betraf immer das ganze Buch, auch wenn es sich dabei nur um eine<br />

Kleinigkeit handelte. Je präziser die Denunziation war, um so schneller konnte auch<br />

die Inquisition eine Entscheidung treffen. Zu den Denunzianten gehörten vor allem<br />

die Qualifikatoren selbst, da sie aufgrund ihrer Arbeit den Buchmarkt gut kannten.<br />

467


Mariano Delgado<br />

Man findet darunter aber auch Universitätsprofessoren, Ordensleute oder Angehörige<br />

des Weltklerus und Staatsbeamte. Die Denunziationen kamen also vor<br />

allem aus dem Kreis jener Menschen, die mit der Buchkultur vertraut waren.<br />

Mangels einer genauen Bestimmung der Dinge, die Gegenstand der Denunziation<br />

sein sollten, konnte diese sehr willkürlich erfolgen und ein generelles Klima des<br />

Verdachts um das Buch schaffen. Um zu verhindern, daß einzelne Personen sich<br />

manche schwerwiegende Entscheidung anmaßten, wurde aber die letzte Entscheidung<br />

dem Inquisitionsrat vorbehalten. Zahlreiche Briefe zwischen dem Inquisitionsrat<br />

und den Distrikttribunalen zeugen davon, wie minuziös und hierarchisch<br />

das System funktionierte.<br />

Besonders bedeutsam war die bisher wenig erforschte Rolle der Qualifikatoren<br />

oder Konsultoren. Sie sind „die Hauptakteure“ des Zensurprozesses, denn die Entscheidung<br />

der Inquisition basierte auf deren Gutachten: „Der Qualifikator faßt die<br />

verschiedenen Sätze des Buchs in Kategorien, die in der Lehre bewertet werden und<br />

so die Entscheidung des Inquisitionsrates bestimmen können.“ 11 Um Qualifikator<br />

zu werden, mußte man zwei Bedingungen erfüllen, abgesehen von gutem Leumund:<br />

ein zumeist durch akademische Titel nachgewiesenes intellektuelles Niveau<br />

und eine Herkunft aus der Gruppe der „Altchristen“, also aus einer Familie mit<br />

christlichen Vorfahren mindestens seit vier Generationen, d.h. ohne Conversos aus<br />

dem Judentum oder dem Islam. Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts<br />

kamen angesichts der großen Nachfrage praktische Kriterien hinzu: Beschränkung<br />

der Qualifikatoren auf eine bestimmte Anzahl nach Tribunal sowie Gleichgewicht<br />

unter den verschiedenen Orden. Letzteres war aber nicht möglich, da zunächst die<br />

Dominikaner und später die Jesuiten die meisten Qualifikatoren stellten. Die Kandidaten<br />

mußten sich um das Amt eines Qualifikators von sich aus bewerben. Da<br />

diese Aufgabe, wenn auch unbesoldet, mit großem sozialem Prestige verbunden<br />

war, war die Nachfrage ab Ende des 16. Jahrhunderts sehr stark. Eine jahrelange<br />

Verzögerung der Inquisition bei der Antwort oder gar eine Ablehnung konnte beim<br />

Betroffenen einen Ansehensverlust zur Folge haben. Die Inquisition mußte nie die<br />

Gründe für einen negativen Bescheid benennen. Die Zusammenarbeit zwischen<br />

dem Qualifikator und der Inquisition konnte aufgrund einer ausdrücklichen Entscheidung<br />

der Behörde erfolgen, auch hier ohne Angabe von Gründen. Zumeist<br />

aber waren Tod oder Wohnortwechsel des Qualifikators der Grund für das Ende<br />

der Zusammenarbeit. In der Qualifikatoren-Forschung ist noch so gut wie alles zu<br />

tun:<br />

„Die konkreten Kriterien für die Kontrolle der Intellektuellen, die in den Zensursitzungen<br />

zur Anwendung kamen, sind uns nur sehr allgemein bekannt. Es genügen hierzu nicht die<br />

berühmten Regeln, die zum Teil in Anlehnung an die Trienter erfolgten und seit dem<br />

Quiroga-Index allen Indices vorangestellt werden. Wir werden im Ungewissen bleiben, solange<br />

die einzelnen Zensurdossiers über Bücher und Personen nicht eingehend studiert werden,<br />

genauso wie die Papiere der internen Beratungen, von denen einige langsam publiziert<br />

468


Spanische Inquisition und Buchzensur<br />

werden. Jeder Index ist de facto ein bloßer Katalog der Zensur- und Säuberungsmaßnahmen,<br />

die nach den entsprechenden Denunziationen, Begutachtungen und Zensuren, die im Index<br />

nie erwähnt werden, im Inquisitionsrat mehrheitlich approbiert wurden. Der kritische Forscher<br />

befindet sich also im Dunkeln sowohl über die konkreten Kriterien, die bei dem Verbot<br />

oder der Säuberung eines bestimmten Werkes den Ausschlag gaben, als auch über die<br />

Gründe, die dazu führten, daß dieses Buch und darin diese und jene Stelle Gegenstand der<br />

Säuberung wurden. In den Prozessen über die Personen gibt es hingegen genug Information<br />

über die Kriterien und Gründe für den Arrest.“ 12<br />

Neben den Denunzianten und den Qualifikatoren sollte man in der Forschung<br />

der Hermeneutik der Index-Regeln verstärkte Aufmerksamkeit widmen, die den<br />

Rahmen für die Interpretation eines Index darstellen. Besonders wichtig sind in diesem<br />

Zusammenhang die Regeln des Index von Quiroga (1583), die uns erkennen<br />

lassen, wie diese entstanden und wie sie sich zu den Trienter Regeln verhielten. So<br />

hat Quiroga nicht nur nicht alle Bestimmungen Trients übernommen, sondern sogar<br />

selbstbewußt neue aufgestellt, die sich aus der Gesetzgebung der spanischen<br />

Buchzensur ergaben. Auffallend sind dabei die Unterschiede in bezug auf die Bibelübersetzungen,<br />

die obszöne Literatur und die Druckgenehmigung. So verbietet<br />

die VI. Regel alle Bibelübersetzungen in der Volkssprache, gleichgültig, ob es sich<br />

dabei um vollständige oder partielle Übersetzungen handelt, während der Römische<br />

Index in der IV. Regel eine konziliantere Position einnimmt, „indem die Übersetzungen<br />

unter bestimmten Bedingungen erlaubt werden“ 13 .<br />

Nach gründlicher Überlegung verzichtet der spanische Index von 1583 gänzlich<br />

auf die VII. Regel des Trienter Index über die obszöne Literatur. Aus verständlichen<br />

Gründen übernimmt der spanische Index nicht die X. Trienter Regel, da die Druckgenehmigung<br />

in Spanien der staatlichen Zensur ausschließlich vorbehalten war.<br />

Während im Bereich der Bibelübersetzungen oder in den anderen Akzenten, die der<br />

spanische Index von 1583 setzte, der Dissens mit Rom bestehen bleiben wird,<br />

kommt es mit der Zeit im Fall der „obszönen“ Literatur zu einer langsamen<br />

Annäherung an die Trienter Regel. Ähnlich wie schon Generalinquisitor Bernardo<br />

de Sandoval y Rojas (1608–1618) 1612 kam Zapata 1632 der Trienter Regel ein Stück<br />

entgegen:<br />

„Ebenso werden jene Bücher verboten, die von irgendwelchen obszönen Liebesdingen<br />

handeln oder davon erzählen und diese lehren, indem sie darin Häresien oder Glaubensirrtümer<br />

vermischen ... Und man macht darauf aufmerksam, daß der Heilige Römische Stuhl<br />

besagte Bücher, die von irgendwelchen obszönen Liebesdingen handeln oder davon erzählen<br />

und diese lehren, verboten hat, auch wenn darin keine Häresien oder Glaubensirrtümer<br />

vermischt wären.“ 14<br />

Im Index von 1640 wird Generalinquisitor Antonio de Sotomayor (1632–1643)<br />

ganz die Trienter Linie vertreten und besagte Werke verbieten, „auch wenn darin<br />

keine Häresien oder Glaubensirrtümer vermischt wären“; es wird befohlen, die Be-<br />

469


Mariano Delgado<br />

sitzer solcher Bücher durch die Inquisitoren „streng zu bestrafen“ – was dazu<br />

führen wird, daß ab der Mitte des 17. Jahrhunderts Werke verboten werden, „die<br />

bisher von der inquisitorischen Zensur frei waren“ 15 . Das hängt nicht zuletzt mit<br />

dem allgemeinen geistigen Qualitätsverlust Spaniens ab der Mitte des 17. Jahrhunderts<br />

zusammen, der sich auch auf die Engstirnigkeit der Qualifikatoren und die<br />

Dekadenz der Inquisition auswirkte.<br />

Zum „Historikerstreit“ über die Folgen der Buchzensur<br />

für die spanische Gesellschaft<br />

Seit dem Artikel „Espagne“ von Masson de Morvilliers in der „Encyclopédie<br />

méthodique“ (1782), vor allem aber seit der „Historia crítica de la Inquisición en<br />

España“ des Juan Antonio Llorente, die 1817 in französischer und 1819 bis 1822 in<br />

deutscher Übersetzung in vier Bänden erschien, ist es üblich geworden, die Inquisition<br />

für den Nachholbedarf Spaniens in allen guten Wissenschaften verantwortlich<br />

zu machen. So ist bei einem sonst so kritischen Kirchenhistoriker wie Ignaz von<br />

Döllinger der Einfluß Llorentes unverkennbar, wenn es in seiner berühmten Rede<br />

„Über die Vergangenheit und Zukunft der katholischen Theologie“ (1863) über<br />

Spanien pauschal heißt:<br />

„Im siebzehnten Jahrhundert trat wieder ein großer Umschwung ein. In Spanien, welches<br />

den Protestantismus ferne gehalten, teils wieder ausgestoßen hatte, entsagte man wieder den<br />

exegetischen, kirchengeschichtlichen und patristischen Studien und ihrer Verbindung mit der<br />

dogmatischen Theologie und wandte sich zurück zu der geschichts- und kritiklosen Scholastik.<br />

Es war eine eklektische, aber doch überwiegend aristotelisch-thomistische Metaphysik<br />

und Dogmatik, welche Bannez, Suarez, Vasquez aufbauten, das letzte Aufflackern einer bereits<br />

erlöschenden Lampe, und darauf folgte Nacht und Dunkel, denn nun ging in Spanien<br />

die Wissenschaft an der Inquisition zugrunde, um dort (bis jetzt) nicht wieder aufzuleben.“ 16<br />

Andere Autoren heben die negative Rolle der Inquisition für die Pflege der Naturwissenschaften,<br />

der Philosophie oder der Literatur hervor.<br />

Die Apologeten der Inquisition, die sich im Schatten des Traditionalismus und<br />

Ultramontanismus formierten und noch in der Francozeit die spanische Inquisitionsforschung<br />

prägten, scheinen hingegen nichts anderes im Blick zu haben, als die<br />

„Klugheit“ und die „Mäßigung“ vieler Inquisitoren und Indices hervorzuheben,<br />

die, so Marcelino Menéndez Pelayo, „kein einziges, wirklich verdientes und relevantes<br />

philosophisches Werk verurteilten – weder von Ausländern noch von Spaniern“<br />

17 , eine Behauptung, die einer kritischen Prüfung bereits anhand der ersten Indices<br />

nicht standhält.<br />

Der Historikerstreit ist in seinem Kern insofern unlösbar, als wir natürlich nicht<br />

sagen können, was ohne die Inquisition aus der Literatur, der Naturwissenschaft, der<br />

470


Spanische Inquisition und Buchzensur<br />

Philosophie, der Philologie oder der Theologie in Spanien geworden wäre. Auch<br />

gute, konkrete Studien aus jüngster Zeit über Inquisition und Literatur, Naturwissenschaft<br />

und Zensur, über die inquisitorische Kontrolle der Intellektuellen im<br />

„Siglo de Oro“ („Goldenes Zeitalter“) oder des „französischen“ Buchs im 18. Jahrhundert<br />

können die im Prinzip unhistorische Frage: „Was wäre gewesen, wenn?“<br />

nicht beantworten. Genauso wird man berücksichtigen müssen, daß die kirchliche<br />

und die staatliche Zensur das gedruckte Wort kontrollieren konnten, nicht aber den<br />

mündlichen Gedankentransfer, so daß es immer Kreise und Konventikel gab, die<br />

über die Tendenzen diesseits der Pyrenäen gut unterrichtet waren. Zudem häufen<br />

sich nach der endgültigen Abschaffung der Inquisition 1834 nicht gerade die Kants,<br />

Einsteins und Diltheys in Spanien, so daß die Inquisition als monokausale Erklärung<br />

für die intellektuelle Dekadenz seit dem Siglo de Oro nicht herhalten kann.<br />

Wir können aber einige Aspekte der spanischen Kultur und Mentalität feststellen,<br />

die nicht zuletzt aufgrund des historischen Wirkens der Inquisition Spanien von anderen<br />

vergleichbaren europäischen Ländern unterscheiden: 1. Da wäre allen voran das<br />

Klima des Mißtrauens gegenüber den Büchern zu nennen, das sich in Spanien aufgrund<br />

der „Pädagogik der Angst“ 18 breitmachte und bis ins 20. Jahrhundert hinein die<br />

einfachen Volksschichten prägte, denn das Buch als Medium stand generell unter Verdacht.<br />

2. Die Frivolität, mit der die Inquisition den Häresiebegriff auf eine diffuse „inquisitorische<br />

Häresie“ in den „theologischen Anmerkungen“ der Qualifikatoren ausdehnte<br />

und der Kleingeist, mit dem sie in den Reinigungen die „Syllabus-Methode“<br />

praktizierte – vom „System“ ganz zu schweigen, das die Denunziation förderte und<br />

auch vor Folter im Prinzip nicht haltmachte –, wirkten wie ein Damoklesschwert auf<br />

die heimischen Autoren, die sich vor dem Verfassen eines Buchs gezwungen sahen,<br />

zunächst einmal Selbstzensur zu üben – worüber uns die klugen Prologe zwischen den<br />

Zeilen unterrichten. 3. Die Prozesse gegen nichttheologische Bücher im allgemeinen<br />

sowie gegen Humanisten und Theologen, die in der Bibelforschung, in den patristischen<br />

Studien oder der Geschichtswissenschaft philologisch und quellenkritisch auf<br />

der Höhe der Zeit arbeiten wollten, zeigen, daß die Inquisition nicht bereit war, die<br />

wissenschaftliche Autonomie der nicht-theologischen Disziplinen anzuerkennen. Von<br />

paradigmatischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Prozeß gegen Antonio<br />

de Nebrija um 1500 sowie gegen die Hebraisten Salamancas um 1570. Das Ergebnis<br />

konnte der Wissenschaft nicht förderlich sein:<br />

„Es sind dann die Theologen, d.h. die Inquisitoren, nicht die Grammatiker, Philologen<br />

oder Humanisten, die den Text der heiligen Bücher bestimmen, und zwar nach Kriterien, die<br />

der Materie als autonomer Disziplin fremd sind.“ 19<br />

4. Aus theologischer Sicht ist besonders bedauerlich, daß das Verbot der Bibelübersetzungen<br />

in der Volkssprache den Laien die unmittelbare Bibellektüre entzog.<br />

So wurde der Klerikalisierungsprozeß, den Trient für die Weltkirche ohnehin gefördert<br />

hatte, im Wirkungsbereich der Spanischen Inquisition so weit getrieben, daß<br />

471


Mariano Delgado<br />

das Volk jahrhundertelang die kirchlichen Angelegenheiten für die Sache des Klerus<br />

hielt. Solange der Klerus, wie dies in der ersten Phase der Trienter Rezeption<br />

weitgehend der Fall war, in Bildung und Tugendhaftigkeit vorbildlich war, konnte<br />

er in Predigten und Katechesen sowie in der kategorialen Seelsorge der Bruderschaften<br />

und Kongregationen das Niveau des spanischen Katholizismus heben; als<br />

er aber spätestens nach Anbruch der Aufklärung im allgemeinen mittelmäßig bis reaktionär<br />

wurde, gab es unter den abhängig gehaltenen Laien kaum Kräfte, die die<br />

geistig-geistliche Führung übernehmen konnten.<br />

Abschließender Blick auf den „Quijote“<br />

Im dritten Kapitel des zweiten Teils des Quijote findet sich ein vielsagender Dialog<br />

zwischen dem Bakkalaureus Sansón Carrasco und Don Quijote, der seine Aktualität<br />

nicht verloren haben dürfte. Auch wenn es heute keine Buchzensur im eigentlichen,<br />

historischen Sinn mehr gibt, so haben wir es im „Rezensionswesen“ selten<br />

mit wirklich wissenschaftlichen Auseinandersetzungen „sine ira et studio“ zu tun,<br />

sondern zumeist eher mit der von Kurt Tucholsky den Literaturkritikern seiner<br />

Zeit vorgehaltenen „Lobversicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit“ oder aber<br />

mit einem besserwisserischen, kleingeistigen und neidvollen Applizieren gegen die<br />

fremde Schule. Der Bakkalaureus leitet das Thema mit einer Spitze gegen die engstirnigen<br />

vom Neid geführten Zensoren fremder Werke ein, die selbst aber kaum ein<br />

lesenswertes Buch zustandebringen:<br />

„,Durch ihren Geist berühmte Männer, große Dichter, ausgezeichnete Geschichtsschreiber<br />

sind stets oder meist für solche, die sich ein Geschäft und ein Vergnügen daraus machen,<br />

fremde Werke zu beurteilen, ohne je etwas aus eigner Fundgrube geliefert zu haben, der Gegenstand<br />

des Neides.‘ ,Das ist nicht zu verwundern‘, sagte Don Quixote, ,denn es gibt auch<br />

Theologen, die nicht auf die Kanzel taugen und doch darum sehr geschickt sind, die Mängel<br />

oder die überflüssigen Auswüchse in den Predigten andrer wahrzunehmen.‘ ,Das alles hat<br />

seine Richtigkeit, Herr Don Quixote‘, sagte Carrasco; ,aber ich wünschte, so strenge Bücherrichter<br />

wären nachsichtiger und minder peinlich genau; ich wünschte, sie hätten kein so<br />

scharfes Augenmerk auf kaum wahrnehmbare Sonnenstäubchen, die sich in dem strahlenden<br />

Licht des Werkes finden, das sie beurteilen. Wenn aliquando bonus dormitat Homerus, so<br />

sollten sie bedenken, wie wach er meistens sein mußte, um über sein Werk so viel Licht und<br />

so wenig Schatten zu verbreiten; es könnte sogar sein, daß die Dinge, die ihnen als Fehler erscheinen,<br />

nur natürliche Flecken des Gesichts wären, die bisweilen seine Schönheit nur noch<br />

reizvoller machen. Darum sage ich, wer sich ein Buch herauszugeben entschließt, der setzt<br />

sich einer großen Gefahr aus, denn es ist vom Unmöglichen das Unmöglichste, es so zu<br />

schreiben, daß es jeden Leser befriedigt‘.“ 20<br />

Cervantes, der die Gunst des Generalinquisitors Bernardo de Sandoval y Rojas<br />

genoß, verzichtete – trotz dieser treffenden wie ironischen Beobachtung – in<br />

472


Spanische Inquisition und Buchzensur<br />

der zweiten Auflage des zweiten Teils des Quijote, die kurz vor seinem Tod 1616<br />

in Valencia erschien und zur Grundlage der meisten Übersetzungen wurde, auf<br />

einen Satz aus dem Kapitel 36: „Las obras de caridad que se hacen tibia y flojamente<br />

no tienen mérito ni valen nada“ („Die Werke der Nächstenliebe, die lau<br />

und nachlässig getan werden, sind nicht verdienstvoll und haben keinen Wert“).<br />

Cervantes betrieb die „Selbstreinigung“ vermutlich, weil ihm zu Ohren gekommen<br />

war, daß gerade dieser Satz beim Heiligen Offizium von einem Leser – vielleicht<br />

von Lope de Vega, seinem Rivalen um die Gunst der Lesergemeinde, der<br />

„familiar“ (informeller Mitarbeiter) der Inquisition war und sich damit brüstete,<br />

man werde bei Cervantes schon etwas finden? – als „skandalös und häretisch“<br />

denunziert worden war. Die freiwillige Zensur ab der zweiten Auflage half aber<br />

nichts, denn die erste Auflage von 1615 war weiterhin im Umlauf, und in der Regel<br />

XIII des Quiroga-Index von 1583 wird ausdrücklich befohlen und verboten,<br />

„daß niemand aus eigener Autorität solche Irrtümer entferne, ausreiße und tilge<br />

oder die Bücher, Papiere und Blätter verbrenne, gleich wo diese sich befänden,<br />

ohne daß sie zunächst den Inquisitoren gezeigt werden: damit diese davon<br />

Kenntnis nehmen und das Nötige hierfür verfügen“ 21 . So wird die angezeigte<br />

Stelle bei der Expurgation des Generalinquisitors Zapata 1632 nicht fehlen. Die<br />

Wirkungsgeschichte des Quijote ist somit auch ein lehrreiches Kapitel für die<br />

Rolle der neidvollen Denunziation beim Funktionieren der inquisitorischen<br />

Buchzensur.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Der Quijote wird nach folgender Übersetzung zitiert: M. de Cervantes Saavedra, Der scharfsinnige<br />

Ritter Don Quixote von der Mancha (Frankfurt 1979), 3 Bde. mit laufender Seitenzählung; hier Bd. 1,<br />

96 (Erster Teil, Kap. 6).<br />

2 F. de los Reyes Gómez, El libro en España y América. Legislación y censura (siglos XV–XVII) (Madrid<br />

2000), 2 Bde. mit fortlaufender Seitenzählung, hier Bd. 2, 795f.<br />

3 Zu den Trienter Indexregeln vgl. Index. Der Vatikan u. die verbotenen Bücher, hg. v. H. Wolf (München<br />

2006) 30–35.<br />

4 Vgl. Reyes Gómez (A. 2) Bd. 2, 1248.<br />

5 Vgl. ebd. 799–804, 801.<br />

6 Ebd. 803.<br />

7 V. Pinto Crespo, Inquisición y control ideológico en la España del siglo XVI (Madrid 1983) 305.<br />

8 Ebd. 661.<br />

9 J. Pardo Tomás, Ciencia y censura. La Inquisición española y los libros científicos en los siglos XVI y<br />

XVII (Madrid 1991) 23.<br />

10 Á. Alcalá, El control inquisitorial de intelectuales en el siglo de oro. De Nebrija al „Índice“ de Sotomayor<br />

de 1640, in: Historia de la Inquisición en España y América, 3 Bde., hg. v. J. Pérez Villanueva u.<br />

B. Escandell Bonet (Madrid 1984–2000) Bd. 3, 829–956, 836.<br />

11 Pinto Crespo (A. 7) 45.<br />

12 Alcalá (A. 10) 837f.<br />

473


13 J. Martínez de Bujanda, Índices de libros prohibidos del siglo XVI, in: Historia de la Inquisición (A.<br />

10) Bd. 3, 773–828, 820.<br />

14 Alcalá (A. 10) 864, Hervorhebung M. D.<br />

15 Ebd. 864.<br />

16 Zit. nach J. Finsterhölzl, Ignaz von Döllinger (Graz 1969) 237f.<br />

17 M. Menéndez Pelayo, Historia de los Heterodoxos Españoles, 2 Bde. (Madrid 1987) 310 (Buch V,<br />

Epilog).<br />

18 Alcalá (A. 10) 908.<br />

19 A. Márquez, Literatura e Inquisición en España (1478–1834) (Madrid 1980) 40.<br />

20 Cervantes Saavedra (A. 1) 707 (Zweiter Teil, Kap. 3).<br />

21 Index des livres interdits VI: Index de l’Inquisition Espagnole 1583, 1584, hg. v. J. M. de Bujanda (Qué-<br />

bec 1993) 886.<br />

474<br />

Mariano Delgado


„Mit welchem Recht...?“<br />

Die Kontroverse über die Legitimität der Unterwerfung der Indios<br />

durch die Spanier im 16. Jahrhundert<br />

von Mariano Delgado<br />

Diese Kontroverse soll hier anhand der typologischen Argumente des „Scholastikers“<br />

Francisco de Vitoria (um 1483/1492–1546), des „aristotelischen Humanisten“<br />

Juan Ginés de Sepúlveda (um 1489/90–1573) und des „christlichen<br />

Humanisten“ Bartolomé de Las Casas (1484–1566) erörtert werden. 1 Denn<br />

nicht zuletzt an ihnen zeigt sich der bis heute anhaltende Januskopf Europas<br />

bzw. der abendländischen Kultur gegenüber der außereuropäischen Welt. 2 Be-<br />

1 Zitierte Ausgaben und benutzte Abkürzungen: Francisco de Vitoria, Vorlesungen (Relectiones), 2<br />

Bde. (Theologie und Frieden 7 und 8), hg. von Ulrich Horst / Hans-Gerd Justenhoven / Joachim<br />

Stüben, Stuttgart/Berlin/Köln 1995–1997: in Bd. II befinden sich die Vorlesungen „De Indis“<br />

(370–541, abgekürzt: DI) und „De iure belli“ (542–605, abgekürzt: DIB); Juan Ginés de Sepúlveda,<br />

Demócrates segundo – o De las justas causas de la guerra contra los Indios (lat.-span.), hg. von<br />

Ángel Losada, Madrid 1984 (abgekürzt: DS mit Seitenangabe); Ángel Losada (Hg.), Apología de<br />

Juan Ginés de Sepúlveda contra Fray Bartolomé de Las Casas y de Fray Bartolomé de Las Casas<br />

contra Juan Ginés de Sepúlveda, Madrid 1975; ders. (Hg.), Epistolario de Juan Ginés de Sepúlveda,<br />

Madrid 1966; ders. (Hg.), Juan Ginés de Sepúlveda a través de su „epistolario“ y nuevos documentos,<br />

Madrid 1949; ders. (Hg.), Tratados políticos de Juan Ginés de Sepúlveda (Exhortación<br />

a la guerra contra los turcos. Del reino y deberes del rey. Demócrates primero o Diálogo sobre la<br />

compatibilidad entre la milicia y la religión cristiana), Madrid 1963; Bartolomé de Las Casas,<br />

Werkauswahl, 4 Bde., hg. von Mariano Delgado, Paderborn u.a. 1994–1997, abgekürzt: WA mit<br />

Band- und Seitenangabe; ders., Obras completas, 14 vols., ed. Paulino Castañeda Delgado, Madrid<br />

1988–1998, abgekürzt: OC mit Band- und Seitenangabe.<br />

2 Zu diesem Thema ist in den letzten Jahren eine Flut von Arbeiten erschienen. Hier können wir nur<br />

auf eine sehr geringe Auswahl verweisen (ansonsten werden in diesem Beitrag nur Zitationsbelege<br />

angegeben): Mariano Delgado, Kolonialismusbegründung und Kolonialismuskritik. Der Januskopf<br />

Europas gegenüber der außereuropäischen Welt, in: ders. / Matthias Lutz-Bachmann (Hg.),<br />

Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität, München 1995, 153–170; ders.,<br />

Abschied vom erobernden Gott. Studien zur Geschichte und Gegenwart des Christentums in Lateinamerika<br />

(Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft, Supplementa 43), Immensee 1996; ders.,<br />

Die Indios als Sklaven von Natur? Zur Aristoteles-Rezeption in der Amerika-Kontroverse im<br />

Schatten der spanischen Expansion, in: Günter Frank / Andreas Speer (Hg.), Der Aristotelismus<br />

in der Frühen Neuzeit – Kontinuität oder Wiederaneignung? Wiesbaden 2007, 353–372; Immanuel<br />

Wallerstein, Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus, Berlin 2007; Michael<br />

Sievernich, Interkulturelle Kommunikation und christliche Mission in der frühen Neuzeit, in:<br />

Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittealter und in der Frühen Neuzeit, Bd. 1:<br />

Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden), hg. von Ludger Grenzmann<br />

/ Thomas Haye / Nikolaus Henkel / Thomas Kaufmann, Berlin/New York 2009, 125–141;<br />

José Antonio Fernández-Santamaría, The State, War and Peace. Spanish Political Thought in the<br />

Renaissance 1516–1559, Cambridge 1977; Anthony Pagden, The Fall of Natural Man. The Ame-


158<br />

Mariano Delgado<br />

sondere Aufmerksamkeit soll dabei den Gründen geschenkt werden, die sie für<br />

ihre jeweilige Beteiligung an der Kontroverse ausgeben.<br />

Fruchtbare Kontroversen entstehen nur, wenn die entscheidenden Fragen gestellt<br />

werden, sich kluge Köpfe daran beteiligen und die Rahmenbedingungen<br />

für einen freien Diskurs gegeben sind. Das war im Spanien des 16. Jahrhunderts<br />

weitgehend der Fall – zumindest bis zur geistigen Wende Mitte des<br />

1550er Jahre, als unter Philipp II. aus Gründen der „Staatsräson“ ein Diskussions-<br />

und Publikationsverbot in der controversia de Indis verhängt wurde, einschließlich<br />

der Konfiszierung aller Werke, in denen die altamerikanischen<br />

Kulturen in einem guten Licht erschienen. 3<br />

1. Entscheidende Fragen und erste Antworten<br />

Mit der Bulle „Inter cetera“ vom 4. Mai 1493 nahm Papst Alexander VI. die<br />

von den Katholischen Königen geäußerte „fromme“ Absicht zufrieden zur<br />

Kenntnis, „mit der Hilfe der göttlichen Barmherzigkeit die besagten Festländer<br />

und Inseln mitsamt ihrer Bevölkerung zu unterwerfen und sie zum katholischen<br />

Glauben zu bekehren“. Zu diesem Zweck „schenkte, gewährte und übertrug“<br />

er den spanischen Königen und ihren Nachfolgern „für alle Zeiten“ die<br />

neu entdeckten und neu zu entdeckenden Inseln und Festländer innerhalb einer<br />

bestimmten Demarkationslinie. Mehr noch: die spanischen Könige wurden als<br />

Herren über die dort wohnenden Menschen bestellt „mit voller und unumschränkter<br />

Gewalt, Autorität und Oberhoheit jeglicher Art“. Darüber hinaus wurden<br />

sie beauftragt, für die Evangelisierung „würdige, gottesfürchtige, geschulte,<br />

geschickte und erfahrene Männer“ zu bestellen, „auf dass sie die vorgenannten<br />

Einwohner im katholischen Glauben unterrichten und sie zu guten Sitten<br />

erziehen“. 4<br />

Die Konzessionsbulle reichte zunächst als Begründung des spanischen ingressus<br />

und progressus aus: Die Herrschaft wurde übernommen, notfalls mit<br />

Eroberungskriegen oder Conquistas; und zur besseren Evangelisierung und Europäisierung<br />

der Indios erschien Ende 1503 die Einführung der Encomienda als<br />

rican Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge 1986 (span.: La caída del<br />

hombre natural. El indio americano y los orígenes de la etnología comparativa, Madrid 1988);<br />

Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1985.<br />

3 Vgl. Lewis Hanke, La libertad de palabra en la América del siglo XVI, in: ders., La lucha por la<br />

justicia en la conquista de América, Madrid 1988, 78–95, 86; Mariano Delgado, Spanische Inquisition<br />

und Buchzensur, in: Stimmen der Zeit 224 (2006) 461–474.<br />

4 Klaus Koschorke / Frieder Ludwig / Mariano Delgado, Außereuropäische Christentumsgeschichte:<br />

Asien, Afrika, Lateinamerika 1450–1990, Neukirchen/Vluyn 3 2010, 220f (lateinischer Originalwortlaut<br />

in: America pontificia primi saeculi evangelizationis 1493–1592, ed. Josef Metzler,<br />

Vatikanstadt 1991, Bd. 1, 79–83).


„Mit welchem Recht ...?“ 159<br />

zweckmäßig, d.h. die Zuteilung der Indios zum Arbeitsdienst an die Spanier,<br />

die im Prinzip wie gute Herren über jene herrschen und sich dabei um deren<br />

zeitliches und geistliches Wohl kümmern sollten. 5 Zwar waren seit der zweiten<br />

Reise des Kolumbus 1494 Kirchenleute immer dabei, wenn auch in sehr bescheidener<br />

Zahl, aber das spanische Vorgehen wurde nicht ernsthaft in Frage<br />

gestellt, auch nicht als die Encomienda – entgegen der Absicht der am 26. November<br />

1504 verstorbenen frommen Königin Isabella – eine sklavereiähnliche<br />

Färbung nahm: zu fremd schienen den Spaniern die neu entdeckten Völker, um<br />

sich mit ihrem Leid zu solidarisieren.<br />

Auch außerhalb Spaniens wurde gegen dieses Vorgehen zunächst kaum Protest<br />

angemeldet. Portugal hatte nicht die päpstliche Konzession oder den spanischen<br />

Herrschaftsanspruch prinzipiell in Frage gestellt, sondern nur den Verlauf<br />

der Demarkationslinie, weil diese seine – aus früheren päpstlichen Konzessionen<br />

erwachsenen – Rechte tangierte. Die Bedenken Portugals wurden bekanntlich<br />

mit dem bilateralen Vertrag vom 7. Juni 1494 in Tordesillas ausgeräumt.<br />

Die Gelehrtenrepublik des humanistischen Europa gab sich ihrerseits mit der<br />

Meinung des in Paris lehrenden schottischen Philosophen und Theologen<br />

Johannes Major (1467–1550) zufrieden. Im 1509 erstmals gedruckten Kommentar<br />

zu 2 Sententiarum dist.44, q.3 tangiert er die Amerika-Frage, um mit<br />

Aristoteles’ Politik zu schließen, dass die Spanier über die Indios herrschen<br />

können wie „die Griechen über die Barbaren“: Da die Indios „Sklaven von Natur“<br />

seien, regiere sie rechtens „die erste Person, die sie erobert“. 6<br />

Die Lage änderte sich erst nach der Ankunft der ersten Dominikanerkommunität<br />

in Española im September 1510. Die kleine Gruppe entstammte dem<br />

Observantenzweig der kastilischen Provinz. Gemäß ihrem Ordenscharisma der<br />

veritas, contemplatio und compassio konnten die Predigerbrüder nicht umhin,<br />

angesichts der Lage der Indios die Praxis mit dem Recht und dem Evangelium<br />

5 Vgl. deutsche Übersetzung der Encomienda-Verordnung Isabellas von Kastilien vom 20. Dezember<br />

1503 in: Koschorke / Ludwig / Delgado, Christentumsgeschichte (Anm. 4), 221f.<br />

6 John Major, In secundum librum sententiarum, Paris 1519, f. clxxxvij r : „Etiam aliud est: Populus<br />

ille bestialiter vivit; citra ultraque equatorum et sub polis vivunt homines ferini, ut Ptholomaeus in<br />

Quadripartito dicit. Et iam hoc experientia compertum est [...]“. („Diese Völker leben wie Bestien;<br />

auf beiden Seiten des Äquators und unter den Polen befinden sich wilde Menschen, wie Ptholomäus<br />

in seinem ,Tetrabiblos‘ sagt. Und das wird in unseren Tagen durch die Erfahrung bewiesen.<br />

Da sie nun Sklaven von Natur sind, regiert sie rechtens die erste Person, die sie erobert. Wie der<br />

Philosoph in den Kapiteln 3 und 4 aus dem ersten Buch der ‚Politik‘ sagt, ist es klar, dass einige<br />

Menschen Sklaven von Natur und andere Herren von Natur sind; und bei einigen Menschen ist es<br />

determiniert, dass es so wird und andere daraus Nutzen ziehen. Und es ist gerecht, dass der eine<br />

Sklave ist und der andere Herr, und es ist zweckmäßig, dass einer befiehlt und der andere gehorcht,<br />

denn auch die Befehlsqualität gehört zum natürlichen Herrn. Daher sagt der Philosoph im<br />

ersten Kapitel des erwähnten Buches, dass dies der Grund ist, weshalb die Hellenen Herren über<br />

die Barbaren sein sollen, denn von Natur sind Barbaren und Sklaven ein und dasselbe“). Von Las<br />

Casas zitiert in: OC IX,622. Vgl. auch Pagden, Caída (Anm. 2), 66.


160<br />

Mariano Delgado<br />

zu vergleichen und einige, entscheidende Fragen zu stellen. Dies taten sie<br />

durch den Mund ihres besten Predigers, Fray Antón Montesino, am vierten<br />

Adventssonntag des Jahres 1511 in der bescheidenen Kirche Santo Domingos.<br />

Dieses Ereignis gehört zu jenen Markierungen der Weltgeschichte, an denen<br />

wir merken, was wir dem Christentum verdanken – und warum dieses eine unentbehrliche<br />

spirituelle Wurzel Europas ist. Denn die Assyrer haben „ihre<br />

Opfer“ nicht bedauert. 7 Bei den Fragen Montesinos meldet sich aber die Stimme<br />

„des christlichen Gewissens“ als die Stimme der Kompassion mit fremdem<br />

Leid deutlich zu Wort: „Sagt, mit welchem Recht und mit welcher Gerechtigkeit<br />

haltet ihr diese Indios in solch grausamer und entsetzlicher Knechtschaft?<br />

Mit welcher Machtbefugnis habt ihr solch verabscheuungswürdige Kriege gegen<br />

diese Menschen geführt, die ruhig und friedlich in ihren Ländern lebten, in<br />

denen ihr so unendlich viele von ihnen getötet und mit unerhörten Verheerungen<br />

ausgerottet habt? [...] Sind sie etwa keine Menschen? Haben sie keine vernunftbegabten<br />

Seelen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie wie euch selbst zu lieben?“<br />

8<br />

Nun waren die entscheidenden Fragen gestellt, und in einer ganz bestimmten<br />

christlichen Perspektive: denn darin wird nicht nur nach dem „Recht“ gefragt,<br />

sondern auch nach der Betrachtung der Indios als „unserer Nächsten“, d.h. als<br />

„Kinder Gottes“ oder Menschen „wie wir“. Die Krone holte sich Rat bei den<br />

Experten ein, d.h. bei einer ad hoc gebildeten Junta oder Kommission von Juristen<br />

und Theologen. Ähnlich wie die Kronräte hatten solche Kommissionen<br />

die Aufgabe, für eine gute Regierung zu sorgen und so das königliche Gewissen<br />

zu entlasten.<br />

Was den progressus betrifft, so führten die Beratungen zu den Gesetzen von<br />

Burgos (1512) und Valladolid (1513) über die Encomienda. 9 Vereinzelt kam<br />

7 Vitorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert,<br />

München 1997, 1042.<br />

8 WA II,226.<br />

9 In den Augen der Missionare war die Encomienda noch schlimmer als die Unterdrückung der<br />

Kinder Israels durch die Ägypter. So heißt es im gemeinsamen lateinischen Brief der Dominikaner<br />

und Franziskaner Españolas an den Hof vom 27. Mai 1517: „Weder der Pharao noch das ägyptische<br />

Volk unterdrückte so grausam die Kinder Israels, und auch nicht die Verfolger der Märtyrer<br />

die Kinder der Kirche.“ Miguel Angel Medina, Una comunidad al servicio del indio. La obra de<br />

Fray Pedro de Córdoba O.P. (1482–1521), Madrid 1983, 253. Und 1519 werden acht Hofprediger<br />

in Anwesenheit von Las Casas am Hof Karls (bei Barcelona) die Encomienda anprangern als „die<br />

härteste Überforderung, die man in Taten oder in wahrhaftigen und erdichteten Schriften auf<br />

Erden jemals erlebt hat“. Weiters heißt es dort: „und wenn man es recht bedenkt, ist sie [die Encomienda]<br />

lediglich ein Ebenbild der harten Knechtschaft, in der der Pharao das Volk Israel hielt;<br />

und wenn sie schon alles Schlechte jener Knechtschaft hat, so gehören zu ihr auch andere Dinge,<br />

die weitaus schlimmer sind: Obwohl man sie [die Kinder Israels] hart arbeiten ließ, nahm man<br />

ihnen doch nicht ihren Besitz, denn selbst in der Zeit jener harten Knechtschaft waren die Kinder<br />

Israels reich und überaus wohlhabend; und man sorgte gut für ihre Nahrung, denn in der Wüste<br />

wollten sie später zu den Fleischtöpfen zurückkehren, die sie in Ägypten hatten; und sie wurden<br />

von den Ägyptern so hoch geschätzt, daß diese ihnen alles gaben, was sie an herrlichstem Ge-


„Mit welchem Recht ...?“ 161<br />

bereits bei den Kommissionsmitgliedern das Argument zur Sprache, dass die<br />

Indios „Sklaven von Natur“ im Sinne des Philosophen seien, also wie „sprechende<br />

Tiere“, die sich nicht selber regieren könnten. 10 Auch der Franziskaner<br />

Juan Cabedo (Quevedo), erster Bischof des Festlandes (Santa María del Darién,<br />

Panamá), berief sich 1519 am Hof de jungen Karls bei Barcelona zum<br />

Entsetzen des frühen Las Casas auf die aristotelische Lehre der Sklaven von<br />

Natur. 11<br />

Auf die Bedenken bezüglich des ingressus wurde 1513 mit dem so genannten<br />

Requerimiento reagiert, einer Konquistadorenproklamation, die von den<br />

Rechten der spanischen Könige kraft der päpstlichen Konzessionsbulle sprach<br />

und die Indios – auf Spanisch, wohlgemerkt – aufforderte, sich diesem Herrschaftsanspruch<br />

freiwillig zu unterwerfen, wenn sie nicht mit Feuer und<br />

Schwert dazu gezwungen werden wollten. 12 In den Gutachten der Kommissionsmitglieder<br />

wird die Unterwerfungsaufforderung nicht nur mit der päpstlichen<br />

Konzession und dem daraus erwachsenen Missionsrecht begründet, sondern<br />

auch unter Berufung auf Dtn 20,10–12 und auf andere Stellen aus der<br />

Exodusgeschichte Israels wie Ex 1,13–14. Ebenfalls ist darin die Rede von der<br />

Sünde des Unglaubens und von Sünden wider die Natur, die von den Spaniern<br />

unterbunden werden sollten. 13<br />

Die altamerikanischen Reiche wurden nach der Requerimiento-Methode unterworfen<br />

– und dies von Haudegen wie Hernán Cortés und Francisco Pizarro,<br />

die keinen königlichen Auftrag dazu hatten. Die Krone zog sie zwar zur<br />

schmeide hatten, und damit zogen sie fort – ich glaube, so etwas würden unsere Leute nicht mit<br />

den Indios machen; und trotz jener harten Knechtschaft wuchs das Volk Israel, und bei dieser<br />

Knechtschaft ist das Volk Westindiens zugrunde gegangen.“ WA II,300. Auch Las Casas wird<br />

mehrmals die Indios mit den Israeliten und die Spanier mit den Ägyptern vergleichen, so etwa<br />

noch kurz vor seinem Tod 1565, in seiner letzten Denkschrift an den Indienrat: Die tyrannische<br />

Herrschaft der Repartimientos oder Encomiendas, „mit der wir die natürlichen Könige, die Herren<br />

und die Untergebenen gewaltsam und gegen alle Vernunft und Gerechtigkeit ihrer Freiheit und<br />

ihres Lebens beraubt haben“, hält er für „viel ungerechter und grausamer als die Unterdrückung<br />

der Juden in Ägypten durch den Pharao“. OC XI/2,216.<br />

10 So legten Bernardo de Mesa, der spätere Bischof Kubas, und der Lizentiat Gil Gregorio Gutachten<br />

vor, die die spanische Herrschaft mit diesem Argument rechtfertigten. Vgl. die von Pagden, Caída<br />

(Anm. 2), 77 (Anm. 91) zitierte Stelle aus dem Gutachten des Gil Gregorio. Der Kronjurist Juan<br />

López de Palacios Rubios, auch er ein Mitglied dieser Kommissionen, bezog sich in seinem Werk<br />

„De las islas del mar océano“, zwischen 1512 und 1514 geschrieben, auf die vom schottischen<br />

Nominalisten Johannes Major ins Gespräch gebrachte aristotelische Theorie der natürlichen<br />

Ungleichheit der Menschen. Vgl. Juan López de Palacios Rubios, De las Islas del mar océano,<br />

México 1954, 87ff.37.25. In seiner Historia de las Indias wird Las Casas Mesa, Gregorio und Palacios<br />

Rubios mit scharfen Worten bedenken, vgl. dazu das Personenregister in: OC V,2633ff.<br />

11 Vgl. OC V,2402–2425. Deutsch in Auszügen: WA II,311–317. Da gerade 1519 in Paris eine Neuauflage<br />

des Sentenzenkommentars von Johannes Major erschien, kann man davon ausgehen, dass<br />

Bischof Cabedo sich daran inspirierte.<br />

12 Vgl. deutsche Übersetzung in: WA II,247–248.<br />

13 Vgl. einzelne Autoren und Belege in Delgado, Abschied (Anm. 2), 43–46. Es geht vor allem um<br />

Matías de Paz, Juan López de Palacios Rubio, Gregorio López und Martín Fernández de Enciso.


162<br />

Mariano Delgado<br />

Rechenschaft, sie nahm aber zugleich ihren Anteil an der Beute (das königliche<br />

Fünftel) sowie die gewaltsam errungene Herrschaft über die neuen Länder<br />

und Menschen gerne an.<br />

Die indiophilen Missionare konnten dabei nur zwei Erfolge verbuchen, und<br />

beide auf der römischen Ebene. Einerseits erreichten Dominikaner, dass ihr<br />

Ordensmagister, Thomas de Vio Cajetan († 1534), um 1517 im Kommentar zu<br />

STh II–II q.10 und q.66, a.8, ad 2 um des Thomas von Aquin unter dem Eindruck<br />

der ihm zu Ohren gekommenen Rechtstiteldiskussion eine klärende Unterscheidung<br />

in die Ungläubigentypologie der Christenheit einführte. Mit einem<br />

Federstrich nahm er dem Argument des Unglaubens den Wind aus den<br />

Segeln und machte zugleich klar, dass keinerlei Grund für einen gerechten<br />

Krieg gegeben und nur die friedliche Evangelisierung angebracht wäre. Denn<br />

bei den neu entdeckten Völkern handelt es sich um Menschen, die „weder de<br />

iure noch de facto“ bisher christlichen Fürsten unterworfen waren: „Gegen solche<br />

Ungläubigen kann kein [christlicher] König und kein Kaiser, auch nicht<br />

die Römische Kirche einen Krieg führen, um ihre Länder zu besetzen oder sie<br />

der zeitlichen Gewalt zu unterwerfen; es gibt nämlich keinerlei Grund für einen<br />

gerechten Krieg. [...] Zu diesen Ungläubigen sind Prediger zu senden, die<br />

gute, bewährte Männer sind, auf dass sie jene durch das Wort und das Lebensbeispiel<br />

zu Gott hin bekehren, sie nicht unterdrücken, berauben, unterwerfen“.<br />

14<br />

Der zweite Erfolg der indiophilen Partei war das Erwirken einiger Schreiben<br />

Papst Pauls III. im Jahre 1537: das Breve „Pastorale officium“ vom 29. Mai<br />

verlieh dem Erzbischof von Toledo weitgehende Exkommunikationsbefugnisse<br />

gegenüber den Sklavenhaltern, und die Bulle „Sublimis Deus“, auch „Veritas<br />

ipsa“ genannt, die wie ein Rundschreiben an alle Gläubigen gerichtet war, betonte<br />

die friedliche Evangelisierung und proklamierte die Menschenwürde der<br />

Indios: diese dürfen „ihrer Freiheit und ihres Besitzes nicht beraubt werden<br />

[...]. Auch ist es nicht erlaubt, sie in den Sklavenstand zu versetzen“. 15 Aber<br />

die päpstliche Einmischung verletzte die Patronatsrechte der spanischen Krone,<br />

so dass es zum Publikationsverbot und zu einem schweren Patronatskonflikt<br />

kam. 16 Dieser konnte mit dem Vertrag von Nizza im Juni 1538 beigelegt wer-<br />

14 Thomas von Aquin, Opera omnia. Ed. Leonina. Bd. IX. Rom 1897, 94. Als Ordensgeneral (1508–<br />

1518) hatte Cajetan 1510 unter der Leitung von Pedro de Córdoba die erste Dominikanerkommunität<br />

in die Neue Welt ausgesandt. Las Casas berichtet, dass Jerónimo de Peñafiel, damals Prior<br />

von San Pablo in Valladolid, Cajetan 1517 in Rom persönlich unterrichtete. Las Casas vermerkt<br />

voller Bewunderung weiter, wie Cajetan, der gerade an dem Kommentar zu STh II–II arbeitete,<br />

das Problem des Krieges gegen die Indios im Kommentar zu q.66, a.8 meisterhaft klärte: „Mit<br />

einer gewissen Unterscheidung von Ungläubigen, die er vornahm, brachte er Licht in die ganze<br />

Blindheit, die man vorher hatte und heute noch stärker hat, weil man seine Lehre, die wahr und<br />

katholisch ist, weder studiert noch befolgt hat.“ WA II,246.<br />

15 WA I,246–248, hier 247 (dort, 246–250, Lit. sowie Erklärung des historischen Kontextes).<br />

16 Vgl. Mariano Delgado, Der Konflikt zweier Universalismen. Westindische Patronatskonflikte<br />

zwischen Karl V. und Papst Paul III. und zwischen Philipp II. und Papst Pius V., in: Daniel Bü-


„Mit welchem Recht ...?“ 163<br />

den, nachdem sich der Papst bereit erklärt hatte, mit dem sibyllinisch formulierten<br />

Breve „Non indecens videtur“ vom 19. Juni 1538 manche Bestimmungen<br />

„in forma brevis“ zu Lasten anderer Personen zurückzunehmen, die ihm<br />

„per circumventionem“, also unter Vortäuschung falscher Tatsachen, abverlangt<br />

worden seien. Das warf zwar kein gutes Licht auf die frommen indiophilen<br />

Missionare, aber der Papst konnte dafür im November desselben Jahres<br />

seinen Enkel Ottavio Farnese mit Margaretha von Parma, der unehelichen<br />

Tochter Karls V., verheiraten.<br />

Unterdessen war die Rechtfertigung des spanischen Herrschaftsanspruchs<br />

mit Berufung auf die Konzessionsbulle und das Requerimiento ruchbar geworden.<br />

Nach der Unterwerfung der altamerikanischen Reiche versuchten auch<br />

Franzosen und Engländer in Amerika Fuß zu fassen. So sandte Franz I. von<br />

Frankreich 1534 – im selben Jahr, in dem die erste Ladung vom Inka-Gold<br />

nach Spanien kam! – Jacques Cartier zur Erforschung des heutigen Quebec<br />

aus. Proteste des spanischen Gesandten wegen dieser Einmischung in das Herrschaftsgebiet,<br />

das der Papst den spanischen Königen exklusiv übertragen hatte,<br />

soll der Franzose mit der Bemerkung quittiert haben, „man möge ihm doch das<br />

Testament des Urvaters Adam zeigen, in dem dieser die Könige von Kastilien<br />

und Portugal zu Universalerben eingesetzt habe“. 17<br />

Das war im Wesentlichen der Stand der Dinge in der controversia de Indis<br />

um 1539. Das humanitäre Argument für den ingressus und progressus der<br />

Spanier kam unter Berufung auf die päpstliche Schenkung mit der damit verbundenen<br />

Pflicht zur Evangelisierung und Erziehung der Indios „zu guten Sitten“<br />

zwar vor, aber ohne systematische Schärfe.<br />

2. Der „Scholastiker“ Francisco de Vitoria<br />

Das änderte sich, als Francisco de Vitoria, der beste scholastische Kopf seiner<br />

Zeit und Begründer der Schule von Salamanca, die Bühne betrat. Seine Denkform<br />

bei der Behandlung dieser Fragen wird in den Vorlesungen „De Indis“<br />

(Über die Indios) und „De iure belli“ (Über das Kriegsrecht) aus dem Frühjahr<br />

1539 deutlich, die als eine Einheit verstanden werden sollten. Man muss dabei<br />

allerdings Folgendes bedenken:<br />

(1) Vitoria war ein akademischer Lehrer, der eigentlich seine Ruhe haben<br />

wollte und sich eher widerwillig mit der Sache befasste, obwohl er von der Ungerechtigkeit<br />

des spanischen Vorgehens gegen Menschen, die unsere Nächsten<br />

chel / Volker Reinhardt (Hg.), Modell Rom? Der Kirchenstaat und Italien in der Frühen Neuzeit,<br />

Köln u.a. 2003, 83–100.<br />

17 Wolfgang Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, Bd. II: Die Neue Welt, Stuttgart<br />

1985, 47.


164<br />

Mariano Delgado<br />

sind und uns bisher kein Unrecht getan haben, 18 überzeugt war, zumindest was<br />

die Eroberung des Inka-Reichs betrifft. 1534 verweilten einige Gefolgsleute<br />

von Francisco Pizarro in Spanien. Mit einem Teil des Lösegeldes, das sie für<br />

Atahualpa erhalten hatten, wollten sie sich von den angesehenen Theologen<br />

und Juristen den Persilschein des „gerechten Krieges“ nachträglich ausstellen<br />

lassen. Vitoria, der durch die Dominikaner in Pizarros Gefolge über die Umstände<br />

der Eroberung Perus Informationen aus erster Hand hatte, schrieb am 8.<br />

November 1534 an seinen Mitbruder Miguel Arcos: „Ich versuche, solchen<br />

Menschen aus dem Weg zu gehen. [...] Ich schreie zwar nicht und inszeniere<br />

keine Tragödie gegen sie [...]; da ich aber nicht mehr so tun kann, als ob ich<br />

nichts davon wüsste, sage ich ihnen nur, dass ich davon nichts verstehe und die<br />

Berechtigung und Gerechtigkeit der Sache nicht sicher sehe; daher sollen sie<br />

andere fragen, die mehr davon verstehen. [...] Sie sollen sehen, wie sie damit<br />

fertig werden, und uns in Ruhe lassen“. 19<br />

(2) Vitoria machte sich in der controversia de Indis wie die Eule der Minerva<br />

erst „mit der einbrechenden Dämmerung“ 20 bemerkbar, d.h. nachdem die<br />

Unterwerfung der altamerikanischen Reiche eine Tatsache geworden war. So<br />

sagt er am Anfang seiner Vorlesung De Indis, es gehe darin um jene „Barbaren<br />

der Neuen Welt [...], die vor vierzig Jahren unter spanische Herrschaft kamen“.<br />

21 Vitoria scheint sich zu diesen Fragen nur geäußert zu haben, weil er<br />

einen Brief des Kaisers vom 31. Januar 1539 in diesem Sinne deutete; und ge-<br />

18 „Hispani sunt proximi barbarorum“: DI I,3,1: 464f.<br />

19 Francisco de Vitoria, Relectio de Indis, ed. Luciano Pereña et al. (CHP 5), Madrid 1967, 137–<br />

139, hier 139, Hervorhebung: MD. Vgl. dazu Reginaldo Agostino Iannarone, Génesis del pensamiento<br />

colonial en Francisco de Vitoria, in: ebd., 31–41; Vicente Beltrán de Heredia, Ideas del<br />

Maestro Francisco de Vitoria anteriores a las relecciones „De Indis“ acerca de la colonización de<br />

América según documentos inéditos, in: Ciencia Tomista 57 (1930) 145–165. Nebenbei gesagt:<br />

Karl V. selbst hatte in dieser Sache nicht so viele Skrupel. Das Geld aus Peru kam ihm angesichts<br />

seiner chronischen Finanznot gut gelegen. Am 1. Februar 1536 schrieb er an Kaiserin Isabel, er<br />

habe gehört, dass Gold aus Peru in Sevilla eingetroffen sei (der Krone stand immer ein Fünftel der<br />

Kriegsbeute zu); sie möge veranlassen, alles in Silber- und Goldmünzen zu gießen und wirklich<br />

alles mit den nötigen Sicherheitsvorkehrungen nach Barcelona bringen zu lassen, damit es von<br />

dort aus mit den Galeeren nach Genua gebracht werde. Vgl. Manuel Fernández Alvarez (Hg.),<br />

Corpus documental de Carlos V., 5 vols., Salamanca 1973ff, hier I,459. Und in einem weiteren<br />

Brief vom 20. Februar an die Kaiserin betonte er: „treiben Sie Geld überall auf, und wenn Gott<br />

uns mit Geld aus Peru besucht, auch wenn es von Privatpersonen sei, greifen wir zu. Senden Sie<br />

mir die Galeeren mit den Menschen und dem gesicherten Geld so bald wie möglich“ (vgl. ebd.,<br />

I,474). Aus der Korrespondenz Karls der dreißiger, aber auch der vierziger und fünfziger Jahre<br />

könnte man eine Fülle von Zeugnissen dieser Art zusammenstellen. Die europäischen Gläubiger,<br />

bei denen er trotz seiner Macht in der Kreide steht und die ihm dies immer wieder zu spüren<br />

geben, müssen stets warten, bis Gott ihn mit einer neuen Ladung Gold (und Silber) aus Peru oder<br />

Westindien besucht. Und da Frankreichs König auch mit Gold aus Peru von Gott besucht werden<br />

möchte, musste Karl in seinen Briefen, besonders ab 1550, immer wieder Anweisungen zum Bau<br />

von Galeonen geben, die die Goldschiffe vor französischen Überfällen schützen sollen.<br />

20 Georg W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M. 1972, 14.<br />

21 DI, Praeludium (370–371).


„Mit welchem Recht ...?“ 165<br />

nauso wird er nach einem weiteren Brief des Kaisers vom 10. November 1539<br />

schweigen. Im ersten Brief bittet ihn der Kaiser ein Gutachten über „gewisse<br />

Themen und Zweifelsfälle“ zu verfassen, die der Bischof von Mexiko durch<br />

den Augustiner Joan de Oseguera an den Indienrat geschickt hatte und die<br />

„Unterweisung und Bekehrung der dortigen Eingeborenen zu unserem heiligen<br />

Glauben“, also eher „theologische Angelegenheiten“, betreffen. Wenn es darin<br />

auch Fragen gäbe, die eher „die Regierung als die Bildung“ betreffen, so sollte<br />

Vitoria seine Antwort an den Indienrat senden, damit diese Behörde für eine<br />

gute Regierung der Indios sorgen könne. 22 Im zweiten Brief wendet sich der<br />

Kaiser besorgt an den Prior des Dominikanerkollegs San Esteban zu Salamanca,<br />

weil man ihn darüber informiert habe, dass sich einige Magister des<br />

Ordens in Predigten und Vorlesungen „über das Recht geäußert haben, das Wir<br />

auf die Inseln und das Festland Westindien haben“, aber auch über die päpstlich<br />

abgesegnete Teilung mit Portugal. Da die Behandlung solcher Fragen ohne<br />

Kenntnis des Kaisers „nicht nur sehr nachteilig und skandalös“ sei, sondern<br />

auch „Schaden für Unsere Krone in diesen Reichen“ mit sich bringe, befahl<br />

Karl V. dem Prior Folgendes zu tun: dass dieser „unverzüglich“ die betroffenen<br />

Magister und Ordensleute zu sich zitiere und ihnen unter Eid schwören<br />

lasse, wann, an welchen Orten und mit welchen Menschen sie darüber gesprochen<br />

und ob sie auch etwas geschrieben und anderen Kopien davon gegeben<br />

haben; dass er die schriftlichen Zeugnisse konfisziere und an den Indienrat<br />

schicke; dass er den Betroffenen im Namen Seiner Majestät strengstens<br />

anordnete, nicht mehr darüber zu disputieren oder Texte drucken zu lassen<br />

„ohne Unsere ausdrückliche Genehmigung“. 23<br />

(3) Vitoria war ein Vertreter des scholastischen Aristokratismus im Spanien<br />

des 16. Jahrhunderts, der die Angelegenheit wie eine akademische quaestio<br />

nach dem Prinzip des distinguendum est nüchtern betrachtete. Er bemerkt, ihm<br />

sei bisher nichts Schriftliches zu diesem Problem zu Gesicht bekommen, und<br />

niemals habe er „an einem Streitgespräch oder einer Beratung über diesen<br />

Gegenstand“ teilgenommen, 24 man habe ihn also, die größte theologische<br />

Autorität seiner Zeit, einfach nicht gefragt; er äußere sich nur, weil die Sache<br />

mit den Barbaren eine „Doppelgestalt“ zu haben scheine, denn sie sei „weder<br />

von sich aus so eindeutig ungerecht, dass nicht über deren Gerechtigkeit gesprochen<br />

werden könne, noch andererseits so eindeutig gerecht, dass man nicht<br />

nach deren Ungerechtigkeit fragen könnte“; 25 er wisse nicht mit hinreichender<br />

Sicherheit, „ob zur Erörterung und Entscheidung des besagten Problems jemals<br />

Theologen bestellt wurden, die man in einer so bedeutenden Angelegenheit in<br />

22 Vitoria, Relectio de Indis (Anm. 19), 154f.<br />

23 Vitoria, Relectio de Indis (Anm. 19), 152f.<br />

24 DI I,2,7 (456–457).<br />

25 DI I, praeludium 7 (380–381).


166<br />

Mariano Delgado<br />

würdiger Weise anhören könnte“; 26 und er äußere sich schließlich nicht, um<br />

„neue Streitereien zu entfachen“, 27 sondern weil es sich um eine umstrittene<br />

Sache handele, deren Entscheidung „nicht allein den Rechtskundigen“ zukomme:<br />

„vielmehr ist es auch Aufgabe der Theologen, hier Stellung zu beziehen,<br />

da es um die Instanz des Gewissens geht“. 28 Vitoria schaltet sich also mit seiner<br />

Autorität in die Diskussion ein, aber mit allen nötigen Kautelen, die ein<br />

Akademiker zu formulieren weiß, wenn er nicht eindeutig Partei ergreifen<br />

möchte. Und er reklamiert dabei für die scholastische Theologie die Deutungshoheit.<br />

(4) In seiner allgemeinen Vorlesung „De iure belli“ hatte Vitoria die Latte<br />

für einen „gerechten Krieg“ sehr hoch gelegt: weder der Unglaube, noch die<br />

Erweiterung des Herrschaftsbereichs, noch persönlicher Ruhm oder ein anderer<br />

Vorteil für den Herrscher stelle einen gerechten Kriegsgrund dar, sondern allein<br />

„empfangenes Unrecht“, wobei nicht jedes Unrecht jeden beliebigen Umfangs<br />

für einen Krieg ausreiche. 29 Vitoria wollte damit sicherlich den Krieg als<br />

Übel eindämmen, wie aus dieser Schlussfolgerung hervorgeht: „Man muss sich<br />

daran erinnern, dass die anderen Mitmenschen sind, die wir wie uns selbst zu<br />

lieben verpflichtet sind, und dass wir alle einen gemeinsamen Herrn haben, vor<br />

dessen Richterstuhl wir alle über unsere Taten Rechenschaft ablegen müssen.<br />

Es ist nämlich ein Zeichen schlimmster Rohheit, nach Gründen zu suchen und<br />

sich dann darüber zu freuen, dass es Gründe für die Tötung und Verfolgung<br />

von Menschen gibt, die Gott schuf und für die Christus starb. Man muss sich<br />

vielmehr nur gezwungenermaßen und unfreiwillig in die Notwendigkeit eines<br />

Krieges fügen.“ 30 Bei der Anwendung seiner Kriegsethik in der controversia<br />

de Indis hat man allerdings den Eindruck, dass Vitoria nicht nur die angeblichen<br />

Kriegsgründe für den spanischen ingressus und progressus scharfsinnig<br />

demontiert, sondern dass er ebenso nach Gründen sucht, um den Spaniern ein<br />

„humanitäres Interventionsrecht“ zu gewähren und so die Faktizität der seit<br />

vierzig Jahren stattgefundenen Expansion zu rechtfertigen. Der abbauende und<br />

der aufbauende Gedankengang müssen bei Vitoria als eine Einheit betrachtet<br />

werden.<br />

Die Berufung auf die „Sünde“ des Unglaubens oder auf die niedrige Kulturstufe<br />

der Indios, so stellt Vitoria in Einklang mit Cajetan eingangs fest, reiche<br />

nicht aus, um ihre Herrschaft in Frage zu stellen. Als „sichere Schlussfolgerung“<br />

gelte vielmehr, „dass jene Leute, bevor die Spanier zu ihnen kamen, echte<br />

Herren sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich waren.“ 31<br />

26 DI I, praeludium 8 (382–383).<br />

27 DI I, praeludium 8 (380–381).<br />

28 DI I, praeludium 8 (372–373 und 380–383).<br />

29 DIB q.3.<br />

30 DIB, Conclusiones: 602–603. Hervorhebung MD.<br />

31 DI I,1,16 (404f).


„Mit welchem Recht ...?“ 167<br />

Ebenso liefert uns Vitoria eine fundamentale Kritik des universalen Machtanspruches<br />

von Kaiser und Papst, also der Grundlage des Requerimiento. 32<br />

Aus der Entdeckung folge kein Herrschaftsrecht 33 und ebenso wenig aus der<br />

begründeten Ablehnung des Christentums, denn die Unkenntnis des Christentums<br />

vor der Ankunft der Spanier könne den Indios nicht zu Lasten gelegt werden,<br />

und es sei nicht „hinreichend deutlich, ob der christliche Glaube den Barbaren<br />

bisher so dargelegt und verkündet worden ist, dass sie bei einer neuerlichen<br />

Sünde dazu verpflichtet sind zu glauben“. 34 Auch die „Sünden gegen<br />

das Naturgesetz“ geben im Prinzip keinen Interventionsgrund her, denn auch<br />

unter Christen werde dieses verletzt, etwa bei Hurerei oder Diebstahl. 35 Ebenso<br />

wenig taugt das Argument, die Indios seien Sklaven von Natur, „weil sie vernunftmäßig<br />

zu schwach seien, auch nur sich selbst zu regieren“. Denn niemand<br />

sei von Natur aus Sklave „im politischen und rechtmäßigen Sinne“. Wohl können<br />

einige wie Kinder sein, die von anderen bis zum Erwachsenenalter geleitet<br />

werden sollen; aber sie bleiben dennoch „echte Herren im öffentlichen als auch<br />

im privaten Bereich“. 36 Ungültig ist auch eine Wahl nach dem Requerimiento-<br />

Prinzip, „weil Furcht und Unwissenheit fehlen müssten [...] möglicherweise<br />

verstehen sie nicht, was die Spanier fordern. Ferner fordern die Spanier dies<br />

von einer wehrlosen und furchtsamen Schar, wenn sie diese in bewaffnetem<br />

Zustande umringen“. 37 Außerdem hätten die Indios ihre eigenen Herren, und<br />

das Volk könne ohne ausreichenden Grund nicht neue Herren zu Lasten der alten<br />

annehmen; auch könnten ihre Herren allein einen neuen Fürsten nicht einsetzen<br />

ohne die Zustimmung des Volkes. 38<br />

Über das Argument, Gott selbst habe in seinem ewigen Ratschluss die Indios<br />

ob ihrer Abscheulichkeit zur Verdammung verurteilt und den Spaniern in die<br />

Hände geliefert, wie einst die Kanaaniter in die Hände der Juden, will Vitoria<br />

nicht lange diskutieren. Zu deutlich ist ihm die Plumpheit einer solchen Behauptung,<br />

denn es sei sehr gefährlich, Prophezeiungen solcher Art in Umlauf<br />

zu setzen, die nicht nur gegen den allgemeinen Verstand, sondern auch gegen<br />

die elementarsten Regeln der Schriftauslegung verstießen und durch keinerlei<br />

Wunder bestätigt worden seien. 39<br />

32 Der Kaiser sei nicht Herr der ganzen Welt („Imperator non est dominus totius orbis“: DI I,2,1,2:<br />

412f) und auch der Papst sei nicht Herr der ganzen Welt „im politischen und zeitlichen Sinne“<br />

(„Papa non est dominus civilis aut temporalis totius orbis“: DI I,2,2,5: 422f). Beide besitzen also<br />

„keinerlei zeitliche Vollmacht über diese Barbaren oder über andere Ungläubige“ (DI I,2,2,8:<br />

428f).<br />

33 DI I,2,3 (430–433).<br />

34 DI I,2,4 (444f).<br />

35 DI I,2,5 (450f).<br />

36 DI I,1,16 (405).<br />

37 DI I,2,6 (454f).<br />

38 „Item nec [...] ipsi principes possunt novum principem creare sine assensu populi“. DI I,2,6 (454f).<br />

39 DI I,2,7 (454f).


168<br />

Mariano Delgado<br />

Nach der Demontage der vermeintlich rechtmäßigen Titel schreibt Vitoria<br />

rhetorisch, aus der ganzen Erörterung scheine zu folgen, „dass die Barbaren<br />

keinen Grund für einen gerechten Krieg hergäben“; die Spanier müssten sich<br />

folglich in irgendeiner Form zurückziehen, was mit einem großen Verlust für<br />

diese verbunden wäre, würde doch der Handel mit Westindien aufhören. Unter<br />

Verweis auf Portugal hält Vitoria zwar fest, dass dies nicht zwangsläufig der<br />

Fall sein müsste, denn die Portugiesen stehen mit vielen vergleichbaren Völkern,<br />

„die sie nicht unterworfen haben, in einem regen Handelsverkehr, und<br />

dies mit großem Gewinn“. Vitoria vermerkt auch, dass die Krone zu Recht die<br />

Einfuhr von Gold und Silber aus Westindien mit einem ertragreichen Zoll – „in<br />

der Höhe eines Fünftels des Wertes oder auch mehr“ – belegen könnte, „da der<br />

Seeweg vom (spanischen) Herrscher entdeckt wurde und die Barbaren kraft<br />

seiner Autorität als Händler sicher wären.“ Aber für Vitoria „ist offenkundig,<br />

dass es weder nützlich noch dem Herrscher erlaubt wäre, auf die Lenkung jener<br />

Provinzen ganz und gar zu verzichten, nachdem sich dort die Bekehrung<br />

vieler Barbaren vollzogen hat.“ 40<br />

Wir werden nie wissen, ob Vitoria hiermit seine Vorlesung wirklich abschließen<br />

wollte. Tatsache ist, dass er in einem zweiten Gang mit scholastischer<br />

Akribie nach legitimen Gründen für die spanische Intervention sucht.<br />

Diese sind das Recht auf Wandel und Handel, das Missionsrecht, das Recht zur<br />

Verteidigung der Unschuldigen, die freie Wahl durch die Indios, die Hilfe für<br />

Bundesgenossen und Freunde und schließlich die Unfähigkeit der Barbaren zur<br />

politischen Selbstführung.<br />

Ausgehend vom Vernunftpostulat, dass am Anfang der Welt es jedem erlaubt<br />

gewesen sei, überall hinzugehen und sich dort niederzulassen, und dass<br />

seitdem das Menschengeschlecht eine Kommunikationsgemeinschaft, gleichsam<br />

eine Art universale Staatenrepublik bilde, 41 fordert Vitoria für die Spanier<br />

in der Neuen Welt ein Recht auf Wandel und Handel ein, dass die freie Ein-<br />

und Auswanderung, das Recht auf Niederlassung, den freien Handel, die freie<br />

Ausbeutung der Naturressourcen und das Einbürgerungsrecht kraft Geburt im<br />

Einwanderungsland einschließt. Wenn ein solches Migrationsrecht zwischen<br />

Spaniern und Franzosen gelte (die bilateralen Friedensverträge, die nach den<br />

Kriegen ausgehandelt wurden, enthielten in der Tat solche Klauseln), so gelte<br />

dies „auch für die Barbaren“. Aber die Schwachstelle der Argumentation Vitorias<br />

liegt wohl in der von ihm immer wieder gemachten Einschränkung: Die<br />

Spanier dürfen dieses Migrationsrecht beanspruchen, sofern den Einheimischen<br />

dadurch keine Nachteile oder Schäden erwachsen. Wer bestimmt das<br />

40 DI I 3,7,17 (486–489).<br />

41 „... totus orbis, qui aliquo modo est una respublica...“ Vitoria, Relectio de potestate civili 21, in:<br />

ders., Vorlesungen (Anm. 1), Bd. II, 156f; vgl. auch DI I,3,1 (460f): „Secundo a principio orbis,<br />

cum omnia essent communia, licebat unicuique in quamcumque regionem vellet intendere et peregrinari.“


„Mit welchem Recht ...?“ 169<br />

nun – die Einheimischen selbst nach den eigenen Wertmaßstäben oder die einwanderungswilligen<br />

europäischen Christen nach den ihrigen? Dass hier die<br />

Europäer die Interpretationshoheit behalten, geht aus dem Schluss hervor, den<br />

Vitoria zieht: Wenn die Barbaren den friedlichen Spaniern das Völkerrecht auf<br />

Wandel und Handel verweigern und sie angreifen, auch nachdem die Spanier<br />

ihnen klar gemacht haben, dass sie daraus keinen Nachteil oder Schaden hätten,<br />

so dürfen die Spanier Gewalt anwenden, „weil es erlaubt ist, Gewalt mit<br />

Gewalt abzuwehren“. 42 Nach der Theorie des gerechten Krieges dürften die<br />

Spanier dann, wenn nötig, die Städte der Barbaren besetzen und sie unterwerfen,<br />

mehr noch: „Ja, die Spanier könnten die Barbaren [...] nicht mehr als Unschuldige,<br />

sondern als unredliche Feinde behandeln, sämtliche Satzungen des<br />

Kriegrechts (omnia belli iura) anwenden, sie berauben, in die Gefangenschaft<br />

führen, ihre alten Herren absetzen und neue einsetzen – freilich in einer maßvollen,<br />

der Art der Sache und der Unrechtstaten angemessenen Weise.“ 43<br />

Ähnlich verhält es sich mit Vitorias Erörterung des Missionsrechtes. Aus<br />

dem Evangelisierungsauftrag Christi (Mk 16,5; Mt 28,18), den der Papst für<br />

die Neue Welt den Spaniern exklusiv anvertraut habe, leitet Vitoria letzten Endes<br />

ein graduales Interventionsrecht ab, „bis sich Gelegenheit und Sicherheit<br />

zur Verkündigung des Evangeliums einstellen“. 44 Dasselbe gilt bei Verhinderung<br />

der Bekehrung, oder bei Gewalt gegen die zu Christus Bekehrten, so dass<br />

diese getötet oder zur Wiederaufnahme des Götzendienstes genötigt werden.<br />

Auch hier können die Spanier „die Satzungen des Kriegsrechts“ zur Anwendung<br />

bringen. Und schließlich könne der Papst den Barbaren, wenn ein großer<br />

Teil von ihnen zu Christus echt bekehrt wäre – gleich ob dies friedlich oder<br />

unter Einschüchterung oder Drohungen geschah und gleich ob sie ihn darum<br />

gebeten haben oder nicht –, „einen christlichen Herrscher geben und die anderen,<br />

ungläubigen Herren entfernen“. 45 Vitoria betont aber stets, nicht anders als<br />

Cajetan in seinem Thomaskommentar oder Papst Paul III. in der Bulle „Sublimis<br />

Deus“ von 1537, dass die Indios weder ihres Eigentums beraubt noch zur<br />

Annahme des Christentums gezwungen werden dürfen.<br />

Ein weiterer Interventionsgrund wäre die Verteidigung der Unschuldigen,<br />

die von den Barbaren geopfert oder sonst getötet werden, „um sich von deren<br />

Fleisch zu ernähren“. 46 Die Intervention wäre für Vitoria gemäß dem Bibelwort<br />

„Rette die, die man zum Tode führt“ (Spr 24,11) eine Pflicht der Nächstenliebe,<br />

für die man keine päpstliche Ermächtigung bräuchte. Hatte er früher<br />

die „Sünde“ des Unglaubens als unrechtmäßiger Titel bezeichnet, so schlägt er<br />

sich nun nicht einfach auf Seiten derjenigen, die unter Berufung auf Papst In-<br />

42 DI I,3,1 (468f).<br />

43 DI I,3,1 (470–471). Hervorhebung MD.<br />

44 DI I,3,2 (476–477).<br />

45 DI I,3,4 (478f).<br />

46 DI I,3,5 (480–481).


170<br />

Mariano Delgado<br />

nozenz IV. († 1254), Antoninus von Florenz († 1459) oder Augustinus von Ancona<br />

(† 1328) „Sünden“ gegen die Natur bei den Heiden, wie z.B. Sodomie,<br />

als ausreichenden Grund dafür sehen, dass Christen einen gerechten Krieg gegen<br />

sie führen und dabei Herren austauschen und eine neue Herrschaft einführen<br />

dürfen. Ihre These, dass die Barbaren für Sünden gegen die Natur prinzipiell<br />

bestraft werden können, lehnt Vitoria weiterhin ab: „Denn Gläubige haben<br />

über Ungläubige keine größere Vollmacht als umgekehrt Ungläubige über<br />

Christen.“ Abgesehen davon, dass daraus folgte, „dass der König der Franzosen<br />

die Italiener bekriegen könnte, weil sie eine Sünde gegen die Natur begehen.“<br />

47 Vitoria möchte das Argument der Sünde gegen die Natur lediglich auf<br />

den Fall eingeschränkt wissen, dass das Verhalten der Barbaren – z.B. Unschuldige<br />

opfern und zur Speise machen – „für Unschuldige schädlich ist“. 48 In<br />

diesem Falle wäre die Intervention geboten, selbst wenn alle Indios, also sowohl<br />

Täter wie Opfer, mit Menschenopfern und Anthropophagie einverstanden<br />

wären und eine Verteidigung durch die Christen ablehnen würden; denn sie<br />

hätten nicht das Recht, über ihr Leben so zu verfügen, dass sie für sich oder<br />

ihre Kinder einer solchen Praxis zustimmten. Aber auch hier betont Vitoria,<br />

dass es nicht erlaubt wäre, nach der Unterbindung dieser Praktiken „weitergehende<br />

Maßnahmen zu ergreifen und bei dieser Gelegenheit die Güter oder Gebiete<br />

der Barbaren zu besetzen“. 49 Auch dürfe die humanitäre Intervention<br />

nicht größere Übel im Gefolge haben. 50<br />

Bei der echten und freiwilligen Wahlentscheidung (per veram et voluntariam<br />

electionem) zugunsten des Königs von Spanien hält sich Vitoria nicht lange<br />

auf; denn es scheint auf Anhieb einleuchtend und im Naturrecht begründet zu<br />

sein, sofern die Wahl wirklich frei, die spanische Herrschaft für die Indios eine<br />

bessere sei und sowohl die Herren wie die Untertanen den König von Spanien<br />

als souveränen Fürsten haben möchten. Dazu sei nicht die Zustimmung aller<br />

(consensus omnium) nötig, sondern nur die der Mehrheit (consensus maioris<br />

partis), auch wenn die anderen widersprechen (etiam aliis contradicentibus).<br />

Ganz besonders betont Vitoria, dass Christen, die innerhalb einer Stadt oder<br />

Provinz die Mehrheit bilden, „zugunsten des Glaubens und für das Gemeinwohl“<br />

einen christlichen Herrscher gegen den Willen der übrigen wählen dürfen,<br />

„auch dadurch, dass sie dann andere, ungläubige Herren aufgeben würden“.<br />

51<br />

Eingreifen ist auch legitim, wenn man von Bundesgenossen und Freunden<br />

zur Hilfe gegen fremde Tyrannei gerufen wurde: „Dies taten, wie man berichtet,<br />

die Tlaxkalteken (im Krieg) gegen die Mexikaner: Sie vereinbarten mit den<br />

47 DI I,2,8 (502–503).<br />

48 DI I,3,5 (480–481), auch DI II,8 (502–503).<br />

49 DI I,2,9 (504–505).<br />

50 DI I,3,7 (524–525).<br />

51 DI I,3,6 (482–483).


„Mit welchem Recht ...?“ 171<br />

Spaniern, ihnen dabei zu helfen, die Mexikaner niederzukämpfen.“ 52 Vitoria<br />

begnügt sich mit dieser Feststellung, fragt aber nicht, ob die Spanier eingeladen<br />

wurden, als Eroberer nach Mexiko zu kommen. Hernán Cortés selbst lässt<br />

in seinem zweiten Bericht an Karl V. eher raffiniertes Machtkalkül als humanistische<br />

Bundesgenossenschaft durchschimmern: „Ich erinnerte mich an jenes<br />

Wort aus dem Evangelium, das da lautet: Omne regnum in se ipsum divisum<br />

desolabitur. Ich verhandelte also mit beiden Parteien, dankte jeder von ihnen<br />

im geheimen für ihre guten Ratschläge und versicherte jeder, dass ich mit ihr<br />

mehr als mit der anderen befreundet sei.“ 53 Es erstaunt auch, dass Vitoria als<br />

Autorität hier einen Kommentar Cajetans zur STh II–II q.40, a.1 zitiert, wonach<br />

ein Gemeinwesen billigerweise Fremde zur Bestrafung von Feinden wie<br />

gegen Übeltäter im Innern herbeirufen kann, denn die Spanier wurden nicht<br />

eingeladen, als Eroberer nach Mexiko zu kommen.<br />

Schließlich wird das Argument der zivilisatorischen Obhut bemüht. Sollte<br />

wirklich zutreffen, dass die Indios verstandesmäßig Kindern oder geistig unterentwickelten<br />

Menschen gleichzusetzen seien – was man durch Erfahrung<br />

vor Ort leicht herausfinden könne und Vitoria anzunehmen scheint, schenkt er<br />

doch denjenigen Gehör, die bei den Indios waren und meinen, deren Dummheit<br />

sei viel größer „als sie bei anderen Völkern bei Kindern und Halbwüchsigen<br />

ist“ –, dann bestünde kein Zweifel, „dass es nicht nur erlaubt, sondern in<br />

höchstem Grade angemessen wäre, ja die betreffenden Herrscher wären dazu<br />

verpflichtet“, sie in ihre Obhut zu nehmen und zu leiten, „solange sie sich auf<br />

dieser Stufe befänden“. Vitoria macht jedoch die Einschränkung, „dass es zum<br />

Wohl und Nutzen der Barbaren und nicht nur für den Gewinn der Spanier<br />

geschieht“; 54 und auch in diesem Falle blieben die Indios legitime Herren ihrer<br />

Länder und Güter.<br />

Vitoria hat in der Forschung einen sehr guten Ruf: Er gilt als der nüchterne<br />

Scholastiker mit dem scharfen Verstand, der das moderne Völkerrecht begründet<br />

und die klassische Theorie des gerechten Krieges, die von gerechtem<br />

Grund (causa iusta), rechter Absicht (recta intentio) und legitimer Autorität (legitima<br />

auctoritas) sprach, um Prinzipien wie die Verhältnismäßigkeit (proportionalitas),<br />

die allerletzte Möglichkeit (ultima ratio), das akzidentielle Töten<br />

von Unschuldigen oder die „Kollateralschäden“ (per accidens autem etiam<br />

scienter aliquando licet interficere innocentes), das Recht im Krieg (ius in bello)<br />

und die oben vorgestellten Gründe für eine humanitäre Intervention ergänzt<br />

hat. Von dort zu den Genfer Konventionen ist der Weg nicht mehr weit.<br />

In der controversia de Indis hat man allerdings den Eindruck, dass Vitoria<br />

ein Zauderer, ein subtiler Scholastiker ist, der die bisherigen Rechtstitel demontiert,<br />

um sie durch ein Interventionsrecht zu ersetzen, das viele Trug-<br />

52 DI I,3,7 (482–483).<br />

53 Hernán Cortés, Cartas de relación, ed. Angel Delgado Gómez, Madrid 1993, 188 (zweiter Bericht).<br />

54 DI I,3,7 (484–487).


172<br />

Mariano Delgado<br />

schlüsse enthält. So könnte nach Vitoria eine christliche Mehrheit in der Bevölkerung<br />

nach einem christlichen Herrscher verlangen, wie einst die Franzosen<br />

unter Childerich. 55 Und wie könnte eine christliche Mehrheit in den Städten<br />

und Territorien Westindiens entstehen?: durch Wahrnehmung des Migrations-<br />

und Missionsrechts, zu deren Durchsetzung auch die graduale Gewaltanwendung<br />

erlaubt sei. Durch das Migrationsrecht, weil damit viele Christen<br />

dorthin gelangen könnten, die in der zweiten Generation Bürger jener Länder<br />

wären; durch das Missionsrecht, weil damit auch viele Indios für das Christentum<br />

und die spanische Herrschaft gewonnen werden könnten. Sogar Schüler Vitorias<br />

wie Melchor Cano und Domingo de Soto betonten, was evident war,<br />

nämlich dass die Spanier nicht als peregrini, sondern als invasores kamen:<br />

„Kämen die Franzosen so nach Spanien, würden die Spanier das nicht dulden.“<br />

56<br />

Vitorias Beitrag zur controversia de Indis verdient bis heute das von Las Casas<br />

gesprochene Urteil, wonach der gelehrte Magister bei der Demontage der<br />

unrechtmäßigen Titel scharfsinnig argumentiert hätte, aber bei der Begründung<br />

legitimer Titel von falschen Tatsachen ausgegangen sei, die ihm von den Tätern<br />

erzählt wurden. Um die kaiserliche Partei zu besänftigen, habe er einige<br />

Thesen entschärft, die zu hart klangen. Vitoria selbst gebe uns dies zu verstehen,<br />

da er sich bei den rechtmäßigen Titeln immer nur im Konjunktiv äußere. 57<br />

Vitoria „die Anerkennung der kulturellen und religiösen Alterität“ zu bescheinigen<br />

oder ihn für einen Vorläufer der „interkulturellen und interreligiösen<br />

Kommunikation, die man heute ‚Dialog‘ nennt“, zu halten, 58 schiene mir daher<br />

kaum angemessen.<br />

3. Der „aristotelische Humanist“ Juan Ginés de Sepúlveda<br />

Sepúlveda gehörte in Bologna zum Schülerkreis des Humanisten Pietro Pomponazzi,<br />

einer führenden Autorität im Aristotelismus der Renaissance. Im Auf-<br />

55 DI I,3,15 (482–483).<br />

56 So Melchor Cano, hier zitiert nach Ulrich Horst, Leben und Werke Francisco de Vitorias, in: Vitoria,<br />

Vorlesungen (Anm. 1), I,13–99, hier 94. Ähnlich auch Domingo de Soto, De iustitia et iure<br />

V, q.3 arg.2), hier zitiert nach OC XI/2,178: „Darf etwa ein jeder aus irgendeiner Nation auf der<br />

Suche nach Gold in eine andere Nation wandern? [...] Darauf ist zu antworten: Dies ist selbstverständlich<br />

von Rechts wegen überhaupt nicht erlaubt, es sei denn, die Einwohner selbst stimmen<br />

dem zu oder betrachten selbst ebendiese Schätze als herrenloses Gut. Denn nach dem Völkerrecht<br />

sind die Regionen aufgeteilt, und deswegen dürfen die Völker jener Region alle Sachwerte derselben<br />

in gemeinsamem Besitz haben. Ausländer dürfen also nicht gegen den Willen der Bewohner<br />

deren Dinge besetzen. Mit dieser Begründung dürfen die Gallier nicht zu uns herüberkommen<br />

und wir nicht zu ihnen, falls sie es nicht wollen.“<br />

57 OC IX,626–629.<br />

58 Sievernich, Kommunikation (Anm. 2), 140, 141.


„Mit welchem Recht ...?“ 173<br />

trag von Julius Medici, dem späteren Papst Clemens VII., übersetzte er Werke<br />

des Aristoteles ins Lateinische, darunter auch die Politik. Er gehörte auch zu<br />

den Beratern von Papst Hadrian VI. Im Dienste der Kurie verweilte er bis<br />

1536. Danach wurde er von Karl V. zum offiziellen Reichschronisten ernannt.<br />

In seinen Schriften zur politischen Situation der Zeit hielt er einen Krieg des<br />

Kaisers gegen Türken und Protestanten für zweckmäßig und gerecht. Ähnlich<br />

denkt er über den spanischen ingressus und progressus in der Neuen Welt.<br />

Sein Werk Democrates secundus (1544–45) trägt den Untertitel Über die gerechten<br />

Gründe des Krieges gegen die Indios; nicht zuletzt aufgrund der Einwände<br />

des Bartolomé de Las Casas durfte dieses Werk nicht erscheinen.<br />

Wichtig ist auch seine Apologia, 59 die er im Frühjahr 1550 in Rom publizieren<br />

wollte, um die Orthodoxie des Democrates secundus zu verteidigen. Schließlich<br />

haben wir die Zusammenfassung der Disputation von Valladolid, 60 die der<br />

Scholastiker Domingo de Soto erstellte und Las Casas selbst 1552 zusammen<br />

mit seinen eigenen Antworten drucken ließ. Sepúlvedas Denken wird im<br />

Democrates secundus am konsequentesten begründet, während die anderen<br />

Schriften nur Nuancen liefern angesichts der Einwände des Las Casas. Auch<br />

über Sepúlveda seien einige Vorbemerkungen erlaubt:<br />

(1) Der Zeitpunkt seines Eingreifens in die controversia de Indis ist kein Zufall.<br />

Die scharfen, aber auch ambivalenten Schlüsse des Magisters Vitoria hatten<br />

die Kontroverse nicht entschieden, sondern Unzufriedenheit bei den Encomenderos<br />

wie bei den indiophilen Missionaren hinterlassen. Mit der Verlautbarung<br />

der Leyes Nuevas durch Karl V. konnten diese 1542 einen Achtungserfolg<br />

verzeichnen; 61 denn das Ziel derselben war das Ende der Indianersklaverei und<br />

die deutliche Abmilderung der bestehenden Encomiendas, verbunden mit dem<br />

Verbot, dass diese vererbt oder neue eingerichtet werden. Wir wissen nicht, ob<br />

Sepúlveda von den Encomenderos bezahlt wurde. Tatsache ist, dass er als<br />

Hauptargument die These der Indios als Sklaven von Natur vertritt, die ihrem<br />

Anliegen entspricht. Er selber rechtfertigt freilich sein Eingreifen mit humanistischer<br />

Rhetorik: „Angesichts so viel Zwietracht in den Meinungen der gelehrtesten<br />

und klügsten Männer und da mir in meinem Nachdenken über die<br />

Sache gewisse Überlegungen eingefallen waren, dachte ich, dass ich mich aus<br />

einem solchen öffentlichen Geschäft, an dem sich so viele beteiligten, nicht<br />

heraushalten sollte; ich durfte auch nicht schweigen, wenn so viele redeten –<br />

vor allem wenn so bedeutsame und mit so großer Autorität ausgestattete Personen<br />

mich einluden, meine Meinung schriftlich zu fixieren und meine Lehre<br />

offen darzulegen, zu der sie zu neigen schienen, nachdem ich sie ihnen kurz<br />

59 Losada (Hg.), Apología (Anm. 1).<br />

60 Deutsch: WA I,337–436.<br />

61 Vgl. Wortlaut der Leyes Nuevas in: Francisco Morales Padrón, Teoría y Leyes de la conquista,<br />

Madrid 1979, 428–440.


174<br />

Mariano Delgado<br />

erläutert hatte“. 62 Aus anderen Schriften Sepúlvedas wissen wir: mit dieser<br />

kryptischen Bemerkung im Vorwort seines Democrates secundus meint er,<br />

dass kein geringerer als der Generalinquisitor Fernando de Valdés ihn darum<br />

gebeten hatte, als Emissäre der Encomenderos sich am Hof befanden, um gegen<br />

die Leyes Nuevas zu protestieren. 63<br />

(2) Sepúlveda war davon überzeugt, dass er damit „Indult und Autorität des<br />

Apostolischen Stuhles sowie Gerechtigkeit und Ehre unserer Könige und der<br />

Nation“ verteidigte. Freimut und Redlichkeit sind ihm nicht abzusprechen,<br />

denn er hat bei der „Disputation von Valladolid“ eine entsprechende Ehrenerklärung<br />

abgegeben: „da sollte kein Verdacht am Platz sein, daß ich der Gerechtigkeit<br />

oder der Wahrheit, die so teuer sind, irgendeinen anderen Belang<br />

voranstelle“. 64<br />

(3) Sepúlveda war ein „Humanist“, kein Scholastiker. Das merkt man nicht<br />

nur an seinem eleganten, cicerorianischen Latein, sondern auch und vor allem<br />

an der Art und Weise, wie er mit manchen theologischen Argumenten umgeht.<br />

Mit seiner Betrachtung der Spanier als Vollstrecker des Zornes Gottes ob der<br />

Sünden gegen die Natur der Indios, mit seiner Auslegung der Sünde des Unglaubens<br />

als Kriegsgrund, seinem Verständnis der Konzessionsbulle als Herrschaftsübertragung<br />

und seiner Verteidigung des Missionsrechtes unter Einschluss<br />

des Zwangs zur Anhörung der Glaubenspredigt handelte sich Sepúlveda<br />

die akademische Verachtung der Scholastiker ein. Für sie war er<br />

zweifellos „in der Kunst der Rhetorik berühmt“, aber eher „laienhaft in der<br />

Theologie“. 65<br />

(4) Aber Sepúlveda war kein Kriegstreiber. Die klassische Theorie des gerechten<br />

Krieges, die er im ersten Teil seines Democrates secundus brillant zusammenfasst,<br />

setzte er voraus: 66 man solle den Krieg an sich nicht suchen, nur<br />

das empfangene Unrecht berechtige nach dem Naturrecht jeden zu einer bewaffneten<br />

Antwort, während bei anderen Gründen nur die dazu befugte Autorität<br />

den Krieg als ultima ratio erklären dürfe; und auch hier wäre zu bedenken,<br />

dass die Gier nach Macht oder die Gewinnung von Lebensraum für ein enges<br />

und überfülltes Reich kein legitimer Grund wäre. 67 Und bei alledem dürfe man<br />

schließlich die Mäßigung und die Verhältnismäßigkeit nicht vergessen, damit,<br />

wenn möglich, den Unschuldigen kein Leid zugefügt werde etc.<br />

62 DS, 1–2. Hervorhebung MD.<br />

63 Vgl. Losada, Introducción, in: DS, XIII–XIV.<br />

64 WA I,373.<br />

65 Melchor Cano, De locis theologicis, ed. Juan Belda Plans, Madrid 2006, 555 (IX,2); vgl. auch<br />

Domingo Báñez, Comentaría in Secundam Secundae angelici doctoris D. Thomae, Venedig 1587,<br />

col. 875 (in II–II, De fide, q.10, a.10).<br />

66 DS, 3–19.<br />

67 DS, 16: „istud enim latrocinari esset, non belligerare“ („denn das wäre nicht mehr Krieg, sondern<br />

Raub“).


„Mit welchem Recht ...?“ 175<br />

(5) Sepúlvedas Absicht ist, auf „andere Gründe für einen gerechten Krieg“<br />

(sunt, et aliae iusti belli causae) aufmerksam zu machen, „die nicht so oft zur<br />

Anwendung kommen, aber als sehr gerecht gelten und dem natürlichen sowie<br />

dem göttlichen Gesetz“ entsprechen: 68 Diese sind die aristotelische Lehre der<br />

Sklaven von Natur; die „Sünde“ des Unglaubens bzw. des Götzendienstes,<br />

wenn dieser mit abscheulichen, widernatürlichen Praktiken wie Sodomie und<br />

Menschenopfern einhergeht; die Befreiung von Unschuldigen aus dem sicheren<br />

Tod in Menschenopfern; und schließlich die Erleichterung der Ausbreitung<br />

des Christentums.<br />

Das aristotelische Argument ist der wichtigste Beitrag Sepúlvedas zur Kontroverse.<br />

Demnach können diejenigen, deren natürliche Verfassung so beschaffen<br />

ist, dass sie anderen gehorchen müssten, „mit den Waffen“ unterworfen<br />

werden, „wenn sie nun deren Herrschaft ablehnen und kein anderer Weg da<br />

ist“. Auf den Einwand, das sei eine erstaunliche Lehre „und weit entfernt von<br />

der allgemeinen Meinung“, antwortet Sepúlveda: „Erstaunlich vielleicht, aber<br />

nur für diejenigen, die die Philosophie nur von der Schwelle begrüßt haben.“<br />

Denn diese Lehre sei unter den Philosophen alt und entspreche dem Naturrecht.<br />

69<br />

Sepúlveda bezieht sich vor allem auf das dritte, das fünfte und das achte Kapitel<br />

des ersten Buches der Politik. Zunächst unterscheidet Sepúlveda, Aristoteles<br />

folgend, zwischen dem juristischen und dem philosophischen Sklavereibegriff.<br />

Nach dem ersten bestehe die Sklaverei in einem akzidentiellen Grund,<br />

der zum Freiheitsverlust führe; nach dem zweiten geht sie auf ein angeborenes<br />

Unvermögen des Verstandes sowie unmenschliche und barbarische Sitten zurück.<br />

Die verschiedenen Formen der Herrschaftsverhältnisse – des Vaters über<br />

den Sohn, des Mannes über die Frau, des Herrn über die Sklaven, des Richters<br />

über die Bürger, des Königs über die Völker, die seiner Herrschaft unterworfen<br />

sind – wurzeln im Naturrecht, das, wie die Weisen lehren, auf ein einziges<br />

Prinzip und Dogma zurückgeht: „Die Befehlsgewalt und Herrschaft des Vollkommenen<br />

über das Unvollkommene, der Stärke über die Schwäche, der erhabenen<br />

Tugend über das Laster“. 70 Wer diesem Prinzip nicht freiwillig Folge<br />

leisten möchte, der könne dazu mit Gewalt legitimerweise gezwungen werden,<br />

etwa im Rahmen eines gerechten Krieges, wie die Philosophen lehren, wofür<br />

Sepúlveda eine Stelle aus der Politik des Aristoteles paraphrasiert: „Daher wird<br />

auch die Kriegskunde in gewissem Sinne von Natur eine Erwerbskunde sein.<br />

Denn die Jagdkunst ist ein Teil von ihr, und sie kommt teils gegen die Tiere,<br />

teils gegen solche Menschen zur Anwendung, die von Natur zu dienen be-<br />

68 DS, 19.<br />

69 DS, 19 (425–436).<br />

70 DS, 20. Vgl. Aristoteles, Politik I,8: 1256b.


176<br />

Mariano Delgado<br />

stimmt sind, aber nicht freiwillig dienen wollen, so dass ein solcher Krieg dem<br />

Naturrecht entspricht“ 71.<br />

Unter Berufung auf Aristoteles’ Politik I 72 stuft dann Sepúlveda „alle“ Einwohner<br />

der Neuen Welt bezüglich Klugheit, Scharfsinn, allerlei Tugenden und<br />

menschlichen Gefühlen im Vergleich mit den Spaniern als so unterlegen ein<br />

„wie die Kinder den Erwachsenen, die Frauen den Männern, die grausamen<br />

und inhumanen Menschen den sehr sanften, die äußerst Unbeherrschten den<br />

Beherrschten und Maßvollen“, kurzum: Alle Indios sind für ihn „arme, schwache<br />

Geschöpfe“ (homunculi), barbarische Menschenfresser wie die Skythen<br />

der Antike, die kaum als vernunftbegabte Wesen zu betrachten sind und die<br />

man folglich, wenn sie sich freiwillig nicht unterordnen, wie Tiere zu jagen<br />

hat. Auch haben sie kaum eine erwähnenswerte Kulturleistung zustande gebracht.<br />

Dass die Indios über Häuser und ein gewissermaßen vernünftiges politisches<br />

Regiment in ihren Königreichen verfügen, zeige schließlich nur, dass<br />

sie keine bloßen Bären oder Affen bar jeder Vernunft seien.<br />

Wir erinnern uns, dass Cajetan mit einem Federstrich das Argument des Unglaubens<br />

entkräftet hatte; auch Vitoria hatte die Sünde des Unglaubens nicht<br />

gelten lassen; und die „Sünden gegen die Natur“ schränkte er auf die gemäßigte<br />

Verteidigung der Unschuldigen im Falle von Menschenopfern ein, ohne daraus<br />

einen Herrschaftsanspruch abzuleiten. Sepúlveda wendet sich zunächst<br />

gegen die „modernen Theologen“, die so denken, vermengt die Sünde des Götzendienstes<br />

mit den Menschenopfern und macht aus der Sünde des Unglaubens<br />

einen legitimen Kriegsgrund. Vitorias Argumentation im Blick, betont Sepúlveda,<br />

dass Sünden wider die Natur den gerechten Krieg nicht deshalb rechtfertigen,<br />

weil sie bei einzelnen Menschen vorkommen, wie das auch unter Christen<br />

der Fall sein kann, sondern weil sie bei den Indios als „öffentliche“, also<br />

strukturelle Sünden gelten, die von ihren Gesetzen gut geheißen werden. 73<br />

Hatte Augustinus gemeint, dass ein Krieg nur gerecht sei, wenn er als Antwort<br />

auf erlittenes Unrecht erfolge, so meint Sepúlveda, dass mit dem Krieg gegen<br />

die götzendienerischen Indios vor allem das Unrecht gegen Gott gerächt werden<br />

müsse, „das ja auch am meisten der Rache würdig ist“. 74<br />

Die Befreiung der Unschuldigen, die den Göttern geopfert werden, hängt mit<br />

der Sünde des Unglaubens zusammen und wird bei Sepúlveda, wie früher bei<br />

Vitoria, schnell abgehakt. Die Argumentation ist eine sehr ähnliche, und auch<br />

Sepúlveda spricht unter Verweis auf das Bibelwort „Rette die, die man zum<br />

Tode führt“ (Spr 24,11) von einem Gebot der Nächstenliebe. Sepúlvedas Akzent<br />

liegt darin, dass er – den interessierten Berichten von Hernán Cortés<br />

71 DS, 22. Aristoteles, Politik I,8: 1256b.<br />

72 Vgl. Aristoteles, Politik I,2f.5.8: 1252a–1253b, 1254ab, 1256ab.<br />

73 DS, 56–57.<br />

74 DS, 60.


„Mit welchem Recht ...?“ 177<br />

Glauben schenkend –, von „über 20.000 Menschen“ spricht, 75 die allein in Mexiko<br />

den Götzen jährlich geopfert wurden. Die Menschenopfer gewinnen damit<br />

den Charakter einer „Massenvernichtungswaffe“, die man unbedingt aus der<br />

Welt schaffen müsse. 76<br />

Auch die Erleichterung der Ausbreitung des Christentums ist für Sepúlveda<br />

eine Folge des Liebesgebots: damit eine unendliche Zahl von Menschen, die<br />

„in der gefährlichen Finsternis“ umherirrt, „auf dem nächstgelegenen und kürzesten<br />

Weg zum Licht der Wahrheit“ angezogen wird. 77 Wohlgemerkt, Sepúlveda<br />

behauptet nicht, dass die Indios zum Glauben genötigt werden können,<br />

denn mit Augustinus weiß er, dass Glauben Sache des freien Willens ist. Wohl<br />

meint er, dass die Indios von den Spaniern zur Annahme ihrer Herrschaft<br />

zwecks Erleichterung der Evangelisierung und auch „zum Hören der Glaubenspredigt“<br />

gezwungen werden können. 78 Die wichtigsten Autoritäten Sepúlvedas<br />

sind einerseits Augustinus (seine Lehre von den zwei Phasen der Kirche und<br />

die Auslegung des Gleichnisses vom Hochzeitsmahl, vgl. Lk 14,23, wobei Sepúlveda<br />

meint, dass Augustinus im Brief an den Donatisten Vincencius nicht<br />

nur vom Zwang gegenüber den Ketzern spreche, sondern auch und vor allem<br />

gegenüber den Heiden) 79 und andererseits die Konzessionsbulle, 80 mit der die<br />

spanischen Könige für Sepúlveda eindeutig beauftragt worden seien, die neuen<br />

Barbaren zu unterwerfen, um deren Evangelisierung zu erleichtern.<br />

Nicht wenige Autoren wundern sich heute, dass Sepúlveda eine schlechte<br />

Presse hat. Sie meinen, dass er letztlich nur die Prinzipien des aristotelischen<br />

Humanismus auf die spanische Expansion anwenden wollte. 81 Das Problem ist<br />

aber nicht, dass Sepúlveda für die Führung des jeweils Besseren eintrat, denn<br />

ein solches Prinzip, rein philosophisch verstanden, ist im Sinne der Meritokratie<br />

auch heute weiterhin gültig. Das Problem liegt eher darin, dass er ganze<br />

Völker in globo als „Sklaven von Natur“ bezeichnete, und unter Verachtung<br />

ihrer Kulturen daraus einen Grund für ihre dauerhafte Unterwerfung konstruierte.<br />

82 Denn dass die Indios jemals fähig sein könnten, sich selber „vernünftig“,<br />

d.h. zivilisiert nach europäischen Maßstäben, zu regieren, ist bei Se-<br />

75 DS, 61.<br />

76 DS, 62f.<br />

77 DS, 64.<br />

78 DS, 64.<br />

79 Vgl. DS, 75.<br />

80 Vgl. DS, 80f.<br />

81 So Horst Pietschmann, Aristotelischer Humanismus und Inhumanität? Sepúlveda und die amerikanischen<br />

Ureinwohner, in: Wolfgang Reinhard (Hg.), Humanismus und Neue Welt (Mitteilung<br />

XV der Kommission für Humanismusforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft), Weinheim<br />

1987, 143–166.<br />

82 Auch nach der Kontroverse von Valladolid blieb Sepúlveda seiner aristotelischen Weltsicht treu<br />

und hielt die Indios weiterhin für „Sklaven von Natur“. Denn in seinem Spätwerk „De regno“<br />

(1571) wiederholt er dieselben Ansichten. Vgl. Juan Ginés de Sepúlveda, Del reino y los deberes<br />

del rey, in: Losada (Hg.), Tratados políticos (Anm. 1), 29–125, 34ff.


178<br />

Mariano Delgado<br />

púlvedas Vokabular mehr als fraglich. Daher verdient er m.E. auch in der controversia<br />

de Indis den Vorwurf, den ihm Erasmus am 16. August 1532 machte,<br />

nachdem Sepúlveda ihm seine Antapologia (ein Werk, in dem er sich gegen<br />

eine Verteidigungsschrift des Erasmus an Alberto Pio, den Fürsten von Capri,<br />

wandte, der vorher Erasmus ob dessen Pazifismus als so schädlich wie Luther<br />

bezeichnet hatte) gesandt hatte: „Ich bewundere in Deinem Werk sowohl die<br />

Gelehrsamkeit und Begabung als auch den glanzvollen Stil. Dennoch war ich<br />

zutiefst enttäuscht, als ich sah, dass Du Dein Können in den Dienst einer<br />

solchen Sache stellst. Es ist bedauerlich, dass eine Begabung wie die Deinige,<br />

die nur Christus und den Musen zu verdanken ist, sich von einer polemischen<br />

Minderheit missbrauchen lässt.“ 83<br />

4. Der „christliche Humanist“ Bartolomé de Las Casas<br />

Anders als Vitoria und Sepúlveda kannte Las Casas die Neue Welt (die Karibik<br />

und Zentralamerika) aus eigener Erfahrung. Zwischen 1502 und 1547 war er<br />

fünf Male zwischen Spanien und Westindien hin und her gesegelt. Seit seiner<br />

Bekehrung 1514 hatte er nicht aufgehört, für eine Besserung der Lage der<br />

Indios zu kämpfen – manchmal, wie in Sachen der schwarzen Sklaven, mit<br />

Vorschlägen, die er bei weiteren Bekehrungen als falsch einsah und bitter bereute.<br />

84 Seit seinem Eintritt in den Predigerorden 1522 hatte er geschwiegen<br />

und sich dem Studium und der Seelsorge gewidmet. 1531 meldete er sich mit<br />

einem langen Brief an die Mitglieder des Indienrates wieder zu Wort. 85 Darin<br />

las er diesen die Leviten: er erinnerte sie daran, dass sie das Gewissen des<br />

Königs mit einer guten Regierung für die Indios entlasten sollten. Auch hielt er<br />

fest, dass nach der Konzessionsbulle die Evangelisierung der Indios der Hauptzweck<br />

der spanischen Präsenz in der Neuen Welt sei. 1534, als er sich in Nicaragua<br />

befand und Nachricht von den Untaten Pizarros in Peru erhielt, reagierte<br />

er anders als Vitoria: er schiffte sich mit einigen Gefährten ein, um nach Peru<br />

zu gelangen und sich den Eroberern entgegen zu stemmen. Wegen Windstille<br />

am Äquator musste er unverrichteter Dinge zurückkehren. Parallel dazu<br />

schrieb er weitere Briefe an den Indienrat. 86 Von da an wird er öfter intervenieren.<br />

1540 kam er nach Spanien und hatte entscheidenden Anteil am Zustande-<br />

83 Losada (Hg.), Epistolario (Anm. 1), 32.<br />

84 Vgl. WA II,281–282; vgl. dazu Isacio Pérez Fernández, Bartolomé de las Casas ¿contra lo<br />

snegros? Revisión de una leyenda, Madrid 1991.<br />

85 Vgl. WA III/1,340–359.<br />

86 Vgl. WA III/1,359–369.


„Mit welchem Recht ...?“ 179<br />

kommen der Leyes Nuevas. 87 Nach einem gescheiterten Zwischenspiel als<br />

Bischof in Chiapa, um diese durchzusetzen, kehrte er 1547 definitiv nach Spanien<br />

zurück. Von nun an hatte er nur ein Ziel: die Argumente derjenigen wie<br />

Sepúlveda zu entkräften, die Conquistas und Encomiendas schönfärben wollten.<br />

Seine Sternstunde kam im Umfeld der „Disputation von Valladolid“<br />

(1550–1551), als er in Auseinandersetzung mit Sepúlveda sich der zentralen<br />

Bedeutung des anthropologischen, „aristotelischen“ Argumentes bewusst wurde<br />

und diesem nun seine ganz besondere Aufmerksamkeit schenkte. Zum besseren<br />

Verständnis des lascasianischen Standpunktes in der controversia de Indis<br />

seien wiederum einige Vorbemerkungen erlaubt:<br />

(1) Las Casas war ein wahrhaft christlicher Humanist. Nicht nur, weil er die<br />

Autoren der griechischen und römischen Antike sehr gut kannte und mit gesundem<br />

Menschenverstand interpretierte, sondern vor allem aufgrund der Motive,<br />

die er angab, um sich an der controversia de Indis zu beteiligen: „Im Bewusstsein<br />

dessen, dass ich Christ, Ordensbruder, Bischof, Spanier und Untertan<br />

der Spanischen Könige bin, konnte ich es nicht lassen, das Schwert meiner<br />

Feder zur Verteidigung der Wahrheit, der Ehre des Hauses Gottes und des<br />

sanften Evangeliums Jesu Christi zu schwingen [...] Aus all diesen Gründen<br />

sehe ich mich gezwungen, mich wie eine Mauer gegen die Unfrommen zu<br />

stellen, um jene sehr unschuldigen Völker zu verteidigen, die demnächst in das<br />

wahre Haus Israels eingeführt werden sollten, aber von grausamen Wölfen unaufhörlich<br />

verfolgt werden.“ 88 Selbstverständlich sind die Indios für Las Casas<br />

unsere Nächsten, die wir wie uns selbst zu lieben und zu achten haben. Aber er<br />

verleiht diesem Prinzip eine konkrete, spirituelle Tiefe, wenn er in Anlehnung<br />

an die Gerichtsrede Jesu im Kapitel 25 des Matthäusevangeliums in den Indios<br />

„Jesus Christus“ sieht, den man „nicht einmal, sondern tausendfach geißelt,<br />

quält, ohrfeigt und kreuzigt“, 89 bzw. „unsere Brüder, für die Christus sein Leben<br />

hingegeben hat“. 90<br />

(2) Las Casas war ein ruheloser, unerschrockener, leidenschaftlicher Verteidiger<br />

der Sache der Indios, weil er von der Gerechtigkeit derselben überzeugt<br />

war und dies daher seinem Gewissen schuldete. Wenn er immer wieder die Indios<br />

als „inocentes“ bezeichnet, 91 dann meint dies nicht primär bukolische Unschuld,<br />

sondern es handelt sich um einen terminus technicus vor dem Hintergrund<br />

der Theorie des gerechten Krieges: die Indios sind uns gegenüber un-<br />

87 Vgl. Isacio Pérez Fernández, Bartolomé de las Casas en torno a las „Leyes Nuevas de Indias“ (Su<br />

promotor, inspirador y perfeccionador), in: Ciencia Tomista 102 (1975) 379–457; ders., Hallazgo<br />

de un nuevo documento básico de Fray Bartolomé de las Casas. Guión de la redacción de las<br />

„Leyes Nuevas de Indias“, in: Studium 33 (1992) 459–504.<br />

88 OC IX,72f. Hervorhebung MD.<br />

89 WA II,291.<br />

90 OC IX,664: „Indi fratres nostri sunt, pro quibus Christus impedit animam suam“.<br />

91 So z.B. in seinem Ganz kurzen Bericht über die Zerstörung Westindiens: WA II,135, spanisch:<br />

OC X,86; vgl. auch OC IX,72f.


180<br />

Mariano Delgado<br />

schuldig, weil sie uns vor unserer Ankunft kein Unrecht zugefügt, also keinen<br />

gerechten Kriegsgrund gegeben haben.<br />

(3) Las Casas hatte die von den Hunden und den Waffen der Spanier zerfleischten<br />

Leiber der Indios mit Entsetzen und Mitleid wahrgenommen. Um<br />

einen Sturm der Entrüstung zu entfachen, beschrieb er die Schrecken des Krieges<br />

– nicht anders als Goyas Pinsel dreihundert Jahre danach oder die modernen<br />

Kriegsberichterstatter – mit einer empathischen Feder, die Kompassion mit<br />

den Opfern und Entsetzen über das Wüten von „Christen“ wecken wollte; denn<br />

er wusste mit Aristoteles, dass „nur das Leid, das vor Augen liegt, bemitleidet<br />

wird“. 92<br />

(4) Las Casas klagte in der controversia de Indis einen Perspektivenwechsel<br />

ein. Er fragte sich z.B., ob ein John Major (oder ein Sepúlveda) so sprechen<br />

würde, „wenn er selbst ein Indio wäre“ („si Indus esset“). 93 Aus diesem Grund<br />

hat Las Casas eine neue Gattung apologetischer Literatur begründet, die Europa<br />

und dem Christentum zur Ehre gereicht. Während man seit Sokrates unter<br />

Apologie die Verteidigung der eigenen Position gegen unsachliche Vorwürfe<br />

verstand, schrieb Las Casas zwei besondere Werke mit dem Titel Apologie<br />

(Adversus persecutores et calumniatores gentium novi orbis ad oceanum reperti<br />

apologia, ein Werk, das er während und nach der Kontroverse von Valladolid<br />

schrieb und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein unveröffentlicht<br />

blieb, 94 und Apologética historia sumaria, 95 größtenteils nach der Kontroverse<br />

von Valladolid geschrieben und erst 1909 erschienen) zur Verteidigung der<br />

Anderen, ihrer Menschenwürde, ihrer Freiheit, ihrer Gleichberechtigung, der<br />

Werte ihrer Religionen und Kulturen. Wir wollen uns nun darauf beschränken,<br />

die Kritik des Las Casas an den wichtigsten Argumenten zur Rechtfertigung<br />

des spanischen ingressus und progressus unter dem Vorwand der humanitären<br />

Intervention zu präsentieren.<br />

Las Casas wird immer wieder den oben erwähnten Kommentar Cajetans zitieren,<br />

dass der Unglaube oder das Heidentum keinen Kriegsgrund darstellen.<br />

Dies gelte besonders bei den neu entdeckten Völkern, da es sich bei ihnen nur<br />

um einen negativen Unglauben mangels Kenntnis des Evangeliums handelte.<br />

Ihr „Götzendienst“ sei als Ausdruck des natürlichen Verlangens nach dem<br />

wahren Gott, als irregeleitete, aber entschuldbare Form der Gottesverehrung zu<br />

verstehen, wenn das Licht des Glaubens fehle. Denn die wahre Absicht der<br />

Götzendiener bestehe nicht darin, Steine anzubeten, sondern in ihnen und<br />

durch gewisse Erscheinungen der göttlichen Macht den Weltenschöpfer zu<br />

würdigen, gemäß der Kenntnis, die sie von ihm besäßen. Im Schatten des Göt-<br />

92 WA III/1,345; Aristoteles, Rhetorik II,8: 1386a.<br />

93 OC IX,604.<br />

94 OC IX.<br />

95 OC VI, VII und VIII; deutsche Auswahlübersetzung in: WA II,325–512.


„Mit welchem Recht ...?“ 181<br />

zendienstes haben wir es also mit authentischer Religiosität zu tun und nicht<br />

mit teuflischen Erscheinungen.<br />

Mehr Sorgen bereitet Las Casas das Argument, die Vermengung des Götzendienstes<br />

mit Menschenopfern reiche für einen gerechten Krieg der Spanier<br />

gegen die Indios aus. 96 Las Casas bestreitet, dass Menschenopfer bei den Indios<br />

geradezu in industriellen Dimensionen vorkämen, wie Sepúlveda meinte.<br />

Darüber hinaus lautet eine der originellsten Thesen seiner Apologie fremder<br />

Religiosität, „dass es nicht gegen das Naturgesetz oder die natürliche Vernunft<br />

ist, wenn diese von jedem positiven menschlichen wie göttlichen Gesetz getrennt<br />

ist, dem falschen oder wahren Gott (wenn man den falschen für den<br />

wahren hält) Menschenopfer darzubringen“. 97 Da alle Menschen durch die natürliche<br />

Tendenz der Vernunft den wahren Gott ersehnen, ihn mit dem Besten,<br />

was sie haben, anbeten wollen, und die Menschen eben das höchste Gut seien,<br />

müsse man bei den Menschenopfern der Indios zuerst von einer rechten Absicht<br />

ausgehen. Außerdem glauben die Indios, das allgemeine Wohl und Glück<br />

ihrer Gemeinwesen hänge von den Menschenopfern ab, womit es nicht verwunderlich<br />

sei, wenn sie in der Not Gott das opfern, was in ihren Augen das<br />

Kostbarste und Gottgefälligste sei.<br />

Mit dieser Deutung der Menschenopfer wollte Las Casas der Verteidigung<br />

der Unschuldigen als Vorwand für Eroberungskriege den Wind aus dem Segel<br />

nehmen. In einem späteren Werk nuanciert er seine Position: Wenn die Indios<br />

nach wiederholter Ermahnung Menschenopfer und Anthropophagie beibehalten<br />

und Unschuldige dabei zum Opfer fallen sollten, könnte man sie unter Anwendung<br />

eines gemäßigten Zwangs zur Aufgabe solcher Praktiken nötigen.<br />

Die Intervention sollte allerdings nur zur Verteidigung der Unschuldigen geschehen<br />

und nicht etwa, um die Indios für solche kriminellen Handlungen zu<br />

bestrafen oder sie gar als Knechte zu unterwerfen und ihrer Güter zu berauben,<br />

wie dies in der Tat geschehe; und zuvor sollte sorgfältig abgewogen werden,<br />

ob die Zahl der Unschuldigen, die der gewaltsamen Intervention letztlich zum<br />

Opfer fallen würden, größer sei, als die Zahl derer, die man vor dem ungerechten<br />

Tod zu retten beabsichtige; man müsse aber auch bedenken, ob das mit<br />

einer solcher Intervention notwendigerweise verbundene Ärgernis am Ende<br />

doch überwiegen und der christlichen Predigt hinderlich sein würde. In einem<br />

solchen Falle müsse man von einer derartigen Befreiung der Unschuldigen absehen,<br />

würde diese doch gegen die Vernunftregel verstoßen, die uns vorschreibt,<br />

das kleinere Übel zu wählen. Da Las Casas der Meinung ist, die<br />

96 Zu Götzendienst und Menschenopfern bei Las Casas vgl. WA II,381–466; vgl. dazu Mariano<br />

Delgado, Religion in der Renaissance und die Innovation des Bartolomé de Las Casas, in: ders. /<br />

Hans Waldenfels (Hg.), Evangelium und Kultur. Begegnungen und Brüche. Festschrift für Michael<br />

Sievernich (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 12), Freiburg Schweiz/<br />

Stuttgart 2010, 397–410.<br />

97 WA III/1,501.


182<br />

Mariano Delgado<br />

Menschenopfer der Indios seien weniger schlimm als die Eroberungskriege der<br />

Spanier, empfiehlt er, Menschenopfer und Götzendienst so lange zu dulden, bis<br />

die Indios selbst, von friedlichen Missionaren überzeugt, solche Praktiken aufgeben.<br />

Vitorias Recht auf Wandel und Handel lässt Las Casas im Prinzip gelten, er<br />

betont aber, dass die Indios selbst darüber entscheiden sollten, ob die Christen<br />

ihnen Nutzen oder Schaden bringen – und immer vorausgesetzt, dass die Christen<br />

als friedliche Wanderer auftreten. 98<br />

Auch im Falle einer Behinderung des Missionsrechtes schränkt Las Casas<br />

die Intervention stark ein. Diese wäre nämlich nur dann rechtens, wenn die Indios<br />

im Wissen um den Glauben die Predigt behinderten, was bei ihnen nicht<br />

der Fall sein kann: „Wenn sie uns hingegen behinderten in der Annahme, wir<br />

würden sie als unsere Feinde berauben und töten, ohne daß sie zuvor überhaupt<br />

etwas von unserem Glauben erfahren hätten, dürften sie sich rechtmäßig gegen<br />

die Unseren zur Wehr setzen, und wir könnten keinen gerechten Krieg gegen<br />

sie führen.“ 99<br />

Für Las Casas wäre die freiwillige Anerkennung der (subsidiären) spanischen<br />

Oberherrschaft ohne jeden Zwang durch die Indios, durch ihre natürlichen<br />

Herren wie durch das Volk, der einzige legitime Titel. Dazu sei aber nicht<br />

nur die Zustimmung der Mehrheit nötig, wie Vitoria sagte, sondern die „aller<br />

Betroffenen“. Das klingt auf den ersten Blick unvernünftig, aber Las Casas<br />

meinte dies nicht im Sinne der modernen parlamentarischen Demokratie, bei<br />

der jeder Bürger eine Stimme hat, sondern im Sinne der partizipativen Ständedemokratie<br />

des Mittelalters, in der die Rechtsregel „quod omnnes tangit, ab<br />

omnibus tractari et approbari debet“ hoch gehalten wurde 100 – vor allem in den<br />

98 Zur Kritik an Vitoria und dessen Instrumentalisierung durch Sepúlveda vgl. OC IX,624–629.<br />

99 WA I,367. Las Casas fügt hinzu: Und selbst wenn die Indios darin übereinkommen, „uns nicht<br />

anzuhören, sondern in den Ländern, in welchen es niemals Christen gegeben hatte, an ihren eigenen<br />

Riten festzuhalten, dürfen wir keinen Krieg gegen sie führen“. In seinem Summarium der Disputation<br />

von Valladolid bemerkt Domingo de Soto, „daß sich (wenn ich mich nicht täusche) der<br />

Herr Bischof getäuscht und die Sachverhalte verwechselt hat. Eine Sache nämlich ist es, daß wir<br />

sie zwingen können, uns predigen zu lassen, wie es Auffassung vieler Lehrer ist; eine andere<br />

Sache ist es, daß wir sie nötigen dürfen, zu unseren Predigten zu kommen, wofür nicht so vieles<br />

spricht. Genau dies hat er dort behandelt, daß wir sie nämlich nicht dazu zwingen dürfen, uns anzuhören.“<br />

WA I,368. Der Zwang zur Anhörung der Predigt, der in manchen Phasen der ecclesia<br />

militans gegenüber den Juden praktiziert wurde, gehörte nicht zum Missionsrecht. Sepúlveda<br />

postulierte jedoch auch, wie wir oben sahen, den Zwang zur Anhörung, was diese Antwort von<br />

Las Casas letztlich begründet. Darüber hinaus wusste Las Casas aus seiner Missionspraxis sehr<br />

genau, dass im amerikanischen Kontext nach der Unterwerfung der Indios ein faktischer „Zwang<br />

zur Anhörung“ herrschte. Vgl. dazu Paulino Castañeda Delgado, Las doctrinas sobre la coacción<br />

y el „ideario“ de Las Casas, in: OC II,17*–42*.<br />

100 WA III/1,283 (darin auch Anm. 26). Zu dieser Rechtsregel vgl. u.a. Yves M.-J. Congar, Quod<br />

omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet, in: Heinz Rausch (Hg.), Die geschichtlichen<br />

Grundlagen der modernen Volksvertretung. Die Entwicklung von den mittelalterlichen Korporationen<br />

zu den modernen Parlamenten, 2 Bde., Darmstadt 1980, hier I,115–182; Antonio Marongiu,


„Mit welchem Recht ...?“ 183<br />

Ständeversammlungen zum Herrschaftsantritt. Las Casas will letztlich denjenigen,<br />

die sich durch den Herrschaftswechsel benachteiligt fühlen, ein „Vetorecht“<br />

gewähren, d.h. die Lex regia zwischen Volk und Krone sollte so lange<br />

ausgehandelt werden, bis sie den berechtigten Interessen aller Betroffenen<br />

Rechnung trägt. Nicht anders dachten schließlich die Vertreter der kastilischen<br />

Kommunen (Comuneros) gegenüber Karl V. 101<br />

Am härtesten geht Las Casas mit dem aristotelischen Argument Sepúlvedas<br />

ins Gericht. Für Las Casas 102 ist weder der Barbarenbegriff bei Aristoteles so<br />

eindeutig, wie Sepúlveda meint; noch sind die Indios als „Sklaven von Natur“<br />

zu betrachten. Ein Barbar ist erstens jeder Mensch, der wider die Vernunft und<br />

das Naturgesetz handelnd sich zum allerschlimmsten Lebewesen entwickelt,<br />

was auch bekanntlich unter „Zivilisierten“ vorkommen kann. 103 Zweitens gilt<br />

als Barbar, wer eine fremde Sprache spricht, keine Schriftsprache hat oder einer<br />

uns fremden Kultur angehört. Barbaren im engen aristotelischen Sinne des<br />

Wortes sind aber drittens nur solche, die Monstern gleichen und wie wilde<br />

Tiere leben, ohne jedes politische Regiment; diese dritte Art sei aber äußerst<br />

selten im Menschengeschlecht anzutreffen. 104 Auf diese letzte Gruppe beziehe<br />

sich Aristoteles in Politik I,2 und I,8, während er etwa in Politik III 105 und<br />

Politik V 106 von der zweiten Gruppe spreche und betone, dass es auch unter<br />

manchen Barbaren wahre Reiche und natürliche Könige und Herren samt politischem<br />

Regiment gebe. Zu dieser zweiten Gruppe gehören nun die Indios,<br />

wobei wir nach diesen Kriterien – fremde Sprache usw. – für sie genauso Barbaren<br />

sind wie sie für uns.<br />

Und selbst wenn die Indios Barbaren im engen Sinne des Wortes wären,<br />

dürften sie in keiner Weise mittels Kriegen wie Tiere gejagt werden, wie<br />

Sepúlveda behauptete. Die so gegen den Willen der Untergebenen erworbene<br />

Herrschaft müsste nämlich, wie Aristoteles in der Politik III erhellt, tyrannisch,<br />

gewaltsam und ohne Dauer sein; und die tyrannische Herrschaft ist, wie Aristoteles<br />

wiederum in der Nikomachischen Ethik VIII,12 sagt, 107 die schlechteste<br />

aller politischen Herrschaftsformen und sollte keineswegs geduldet werden.<br />

Das Prinzip der Demokratie und der Zustimmung (Quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet)<br />

im 14. Jahrhundert, in: ebd., 183–211; José Antonio Maravall, La corriente democrática en<br />

España y la fórmula „Quod omnes tangit“, in: ders., Estudios de historia del pensamiento español,<br />

Bd. I, Madrid 1973, 173–190.<br />

101 Vgl. dazu Mariano Delgado, Die Zustimmung des Volkes in der politischen Theorie von Francisco<br />

de Vitoria, Bartolomé de Las Casas und Francisco Suárez, in: Die Ordnung der Praxis. Neue<br />

Studien zur Spanischen Spätscholastik, hg. von Frank Grunert / Kurt Seelmann (Frühe Neuzeit<br />

68), Tübingen 2001, 157–181.<br />

102 Vgl. WA II,495–512; OC IX,76–125; vgl. auch Delgado, Indios als Sklaven (Anm. 2).<br />

103 Vgl. Aristoteles, Politik I,2: 1253a.<br />

104 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik VII,1: 1145a.<br />

105 Vgl. Aristoteles, Politik III,14: 1285a; III,16: 1287b; III,17: 1287b–1288a.<br />

106 Vgl. Aristoteles, Politik V,11: 1314a; V,10: 1311a.<br />

107 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik VIII,12: 1160b.


184<br />

Mariano Delgado<br />

Las Casas bleibt aber bei der Zuordnung der Indios zur zweiten Barbarengruppe<br />

und bei der Kritik der kolonialen Kriegsführung nicht stehen, sondern<br />

geht einen Schritt weiter. In Politik VII,8 und Nikomachische Ethik VI beschreibt<br />

Aristoteles 108 bekanntlich die Bedingungen der Möglichkeit eines<br />

idealen Staates, nämlich das Vorhandensein von Bauern, Handwerkern, Kriegern,<br />

reichen Leuten, Priestern und Richtern, die sich durch ökonomische, monastische<br />

und politische Klugheit auszeichnen. Las Casas versucht in seinen<br />

apologetischen Werken auch zu beweisen, dass diese Bedingungen bei den indianischen<br />

Gemeinwesen erfüllt und in manchen sogar besser ausgeprägt seien<br />

als bei den meisten Völkern aus der europäischen Antike. Dass seine Beschreibung<br />

der Indios manchmal stark idealisierende Züge trägt – so z.B. wenn er<br />

von den Bewohnern mancher karibischen Inseln (Bahamas) sagt, sie seien so<br />

einfältig, gelassen und friedfertig, dass es scheine, „Adam habe in ihnen nicht<br />

gesündigt“ 109 –, darf hier nicht verschwiegen werden.<br />

Aristoteles bleibt aber für Las Casas nur eine Pflichtübung, die er auf sich<br />

nimmt, um das Hauptargument Sepúlvedas mit denselben Waffen zu entkräften.<br />

Las Casas’ wahre Größe zeigt sich nämlich dort, wo er sich von Aristoteles<br />

verabschiedet, indem er dessen Dogmen, gleich wie sie lauten mögen, dem<br />

ethischen Universalismus biblischer und stoischer Traditionen unterordnet:<br />

„Lebe wohl Aristoteles? Denn von Christus, der die ewige Wahrheit ist, haben<br />

wir das Gebot erhalten: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘ (Mt<br />

22,40)“ 110. Mit solchen Sätzen gab Las Casas zu verstehen, dass es ihm vor allem<br />

um einen christlichen Humanismus ging – genauso wie den ersten Dominikanern<br />

Españolas, als sie im Advent 1511 die entscheidenden Fragen stellten.<br />

Sein Glaube sagte ihm, dass alle Menschen als Ebenbild Gottes erschaffen<br />

wurden, und dass sie des Glaubens sowie der gesitteten Lebensführung im<br />

Prinzip fähig sind. Daher kann Las Casas mit seiner Glaubenstradition und mit<br />

Cicero seine Kritik des aristotelischen Arguments mit folgenden Worten abschließen,<br />

die wie ein Manifest der universalen Menschenwürde klingen: „So<br />

gibt es denn ein einziges Menschengeschlecht, und alle Menschen sind, was<br />

ihre Schöpfung und die natürlichen Bedingungen betrifft, einander ähnlich.“ 111<br />

108 Vgl. Aristoteles, Politik VII,8: 1328b; Nikomachische Ethik VI: 1138b–1145a.<br />

109 OC VIII,1319.<br />

110 OC IX,100f.<br />

111 WA II,377; vgl. Marcus Tullius Cicero, De legibus – Über die Rechtlichkeit. Übersetzung, Anmerkungen<br />

und Nachwort von Karl Büchner, Stuttgart 1989, 19f/30ff. Die lascasianische Anthropologie<br />

ist nicht Zeichen eines vermeintlichen Unvermögens, zu einem „differenzierten Menschenbild“<br />

zu kommen, wie Las Casas immer wieder vorgehalten wird. Denn Las Casas sagt ja<br />

wiederholt, dass es bei den Indios verschiedene Kultur- und Zivilisationsgrade gibt. Vielmehr ist<br />

sie Ausdruck einer grundsätzlichen „Anthropologie des Glaubens“, die von der prinzipiellen Wahrheits-<br />

und Freiheitsfähigkeit, Gleichheit, Güte und Perfektibilität oder möglichen Vervollkommnung<br />

aller Menschen ausgeht, denn für alle gilt die eschatologische Bestimmung der Gottebenbildlichkeit.<br />

Vgl. dazu Mariano Delgado, Las Casas als „Anthropologe des Glaubens“, in: WA<br />

II,327–342. Eine solche „Anthropologie“ wurde z.B. durch das II. Vaticanum (u.a. „Nostra aetate“


„Mit welchem Recht ...?“ 185<br />

Denn alle Menschen sind im Prinzip „mit Verstand und freiem Willen“ ausgestattet.<br />

Ein solches Menschenbild ist die Bedingung der Möglichkeit einer partnerschaftlichen<br />

Weltordnung, wie sie heute intendiert wird.<br />

Las Casas, den die chilenische Literaturnobelpreisträgerin Gabriela Mistral<br />

„eine Ehre für das Menschengeschlecht“ nannte, 112 ist damals und heute vielfach<br />

kritisiert worden: von Einseitigkeit, blinder Leidenschaft, Nestbeschmutzung<br />

und maßlosen Übertreibungen ist die Rede. Aus akademischer Sicht verdient<br />

er gewiss die Kritik, die der ihm wohl gesonnene Scholastiker Domingo<br />

de Soto äußerte: man wünschte sich manchmal „einen anderen Stil“. 113 Aber<br />

das ist eine Kritik der Form, nicht des Inhaltes. Dieser ist in unserer globalisierten<br />

Welt aktueller denn je.<br />

5. Ausblick<br />

Im Zusammengang mit der Suche nach legitimen Gründen für die spanische<br />

Kolonisierung und Missionierung der Neuen Welt wurde über das Recht auf<br />

humanitäre Intervention, das Subjekt, den Zeitpunkt und die Form derselben<br />

sehr intensiv nachgedacht. Vitoria, Sepúlveda und Las Casas stehen für Argumentationsformen,<br />

die auch heute anzutreffen sind. Besonders die vier von Sepúlveda<br />

angeführten „anderen“ Gründe für einen gerechten Krieg gegen die Indios<br />

wurden seitdem immer wieder vorgebracht, um gewaltsame Interventionen<br />

humanitär zu rechtfertigen: „die Barbarei der anderen, das Unterbinden<br />

von Praktiken, die universelle Werte verletzen, die Verteidigung unschuldiger<br />

inmitten der grausamen anderen sowie die Schaffung der Möglichkeit, universelle<br />

Werte zu verbreiten.“ 114 Dienten Aristoteles, das Naturrecht und die Ausbreitung<br />

des Christentums damals als Rechtfertigung, so sind es heute „Menschenrechte<br />

und Demokratie“. 115<br />

Mit der leidenschaftlichen Widerlegung der Argumente des aristotelischen<br />

Humanisten Sepúlvedas und dem Vorwurf an den Scholastiker Vitoria, von<br />

falschen Tatsachen auszugehen, die dem spanischen Herrschaftsanspruch dienlich<br />

waren, war Las Casas seiner Zeit voraus. Denn in der westlichen Welt wa-<br />

1 und „Gaudium et spes“ 22) verkündet: „Alle Völker sind nämlich eine Gemeinschaft und haben<br />

einen Ursprung, da Gott das ganze Menschengeschlecht auf dem gesamten Antlitz der Erde hat<br />

wohnen lassen; auch haben sie ein letztes Ziel, Gott, dessen Vorsehung, Zeugnis der Güte und<br />

Heilsratschlüsse sich auf alle erstrecken.“ Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse<br />

und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen<br />

und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hg. von Peter Hünermann, Freiburg 42 2007, Nr. 4195.<br />

112 Gabriela Mistral, Poesía y prosa, ed. Jaime Quezada, Caracas 1993, 417.<br />

113 WA III/1,501.<br />

114 Wallerstein, Barbarei (Anm. 2), 15.<br />

115 Wallerstein, Barbarei (Anm. 2), 37.


186<br />

Mariano Delgado<br />

ren bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein die Argumente der ersteren bestimmend,<br />

während Las Casas’ Einwände nur von einer Minderheit geteilt<br />

wurden – von einer „kognitiven Minderheit“, wie man heute sagen würde. Erst<br />

in unserer entzauberten Zeit, der Zeit nach „Auschwitz“ und dem Kolonialismus,<br />

ist eine Kongenialität mit Las Casas’ Denken auch bei uns zu beobachten.<br />

Las Casas hat ein Doppeltes gezeigt: zum einen dass die außereuropäischen<br />

Völker nicht einfach unzivilisiert sind, sondern andere Kulturen und Werte haben,<br />

aus denen wir lernen könnten; zum anderen dass die europäische Kultur<br />

einen – christlich-stoischen – Kern enthält, der weiterhin universalisierbar wäre.<br />

Las Casas wäre also kein Kronzeuge des moralischen oder legalen Relativismus<br />

unserer Zeit, auch wenn er aufgrund seiner Sicht der Menschenopfer und<br />

der Verteidigung der Unschuldigen so missverstanden werden kann. 116 Las Casas’<br />

Sicht konvergiert heute mit denjenigen, die nach einem selbstkritischen<br />

„aufgeklärten Eurozentrismus“ 117 bzw. nach einem wahrhaft „universellen<br />

Universalismus“ 118 rufen, d. h. zu mehr Sensibilität für unsere Fehler und mehr<br />

Offenheit für die Werte anderer Kulturen, zu mehr Beteiligung aller Betroffenen<br />

am Aufbau einer neuen Weltordnung. Dazu brauchen die Europäer heute<br />

gewiss Nachdenklichkeit und Selbstbescheidung – aber auch Selbstbewusstsein.<br />

Zusammenfassung: Anhand der typologischen Argumente des „Scholastikers“ Francisco de Vitoria<br />

(um 1483/1492–1546), des „aristotelischen Humanisten“ Juan Ginés de Sepúlveda (um<br />

1489/90–1573) und des „christlichen Humanisten“ Bartolomé de Las Casas (1484–1566) legt der<br />

Beitrag die Kontroverse über die Legitimität der Unterwerfung der Indios durch die Spanier im<br />

16. Jahrhundert dar. Denn nicht zuletzt an ihnen zeigt sich der bis heute anhaltende Januskopf<br />

Europas bzw. der abendländischen Kultur. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den Gründen<br />

geschenkt, die sie für ihre Beteiligung an der Kontroverse ausgeben. Bei dieser Kontroverse wurde<br />

über das Recht auf humanitäre Intervention, das Subjekt, den Zeitpunkt und die Form derselben<br />

sehr intensiv nachgedacht. Vitoria, Sepúlveda und Las Casas stehen für Argumentationsformen,<br />

die auch heute anzutreffen sind. Mit der leidenschaftlichen Widerlegung der Argumente des aristotelischen<br />

Humanisten Sepúlvedas und dem Vorwurf an den Scholastiker Vitoria, von falschen<br />

Tatsachen auszugehen, die dem spanischen Herrschaftsanspruch dienlich waren, war Las Casas<br />

seiner Zeit voraus. Denn in der westlichen Welt waren bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die<br />

Argumente der ersteren bestimmend, während Las Casas’ Einwände nur von einer Minderheit geteilt<br />

wurden. Erst in unserer entzauberten Zeit, der Zeit nach „Auschwitz“ und dem Kolonialismus,<br />

ist eine Kongenialität mit Las Casas’ Denken auch bei uns zu beobachten.<br />

Abstract: Using the typological arguments of the „Scholastic“ Francisco de Vitoria (around<br />

1483/1492–1546), the „Aristotelian humanist“ Juan Ginés de Sepúlveda (around 1489/1490–<br />

1573) and the „Christian humanist“ Bartolomé de Las Casas (1484–1566), the contribution presents<br />

the controversy concerning the legitimacy of the subjugation of indigenous people by the<br />

Spanish in the 16 th century. If nothing else, the Janus-faced character of European or Western cul-<br />

116 Vgl. Wallerstein, Barbarei (Anm. 2), 17.<br />

117 Wolfgang Reinhard, Der „Andere“ als Teil der europäischen Identität. Von „Barbaren“ zum „edlen<br />

Wilden“, in: Delgado / Lutz-Bachmann, Herausforderung (Anm. 2), 132–152, 151.<br />

118 Wallerstein, Barbarei (Anm. 2), 9.


„Mit welchem Recht ...?“ 187<br />

ture, which has persisted to this day, is apparent in their arguments. Special attention is given to<br />

the reasons proffered by the participants for their involvement in the controversy. In this dispute<br />

one thought deeply about the right to humanitarian intervention, about the subject, the point in<br />

time and the form of the intervention. Vitoria, Sepúlveda and Las Casas represent forms of argumentation<br />

which are still encountered today. Las Casas was ahead of his time with his impassioned<br />

refutation of the arguments of the Aristotelian humanist Sepúlveda and with the reproach<br />

he made against the Scholastic Vitoria for starting out from erroneous facts which conveniently<br />

served the Spanish claim to power. In the Western world the arguments of Vitoria and<br />

Sepúlveda were determinative until the middle of the 20 th century, whereas the objections of Las<br />

Casas were only shared by a minority. Only now in our demystified time, the period following<br />

„Auschwitz“ and colonialism, is it possible to observe a thinking among us which is congruent<br />

with that of Las Casas.


Mariano Delgado<br />

Don Quijote – für Theologen<br />

Bücher wie „Don Quijote“ 1 haben eine bewegte Rezeptionsgeschichte. Als Miguel<br />

de Cervantes 1605 (erster Teil) und 1615 (zweiter Teil) das Hauptwerk seines<br />

Scharfsinns drucken ließ, gab er es aus der Hand und somit zur Interpretation frei.<br />

Cervantes hat wie jeder Autor eine Vorstellung davon, wie er verstanden bzw. nicht<br />

mißverstanden werden will. Im Quijote fehlen Ansätze einer Selbstinterpretation<br />

nicht; sie sind sogar zahlreich vorhanden und an zentralen Stellen des Werkes „gezielt“<br />

gestreut. Es genügt, hier zunächst auf den Prolog zu verweisen. Mit dem<br />

Kunstgriff der Zitation eines anonymen Freundes gibt Cervantes dem Leser folgende<br />

Selbsteinschätzung mit auf den Weg:<br />

„Das Ganze ist ja vielmehr eine Satire auf die Ritterbücher ... auch enthält es keine Predigten,<br />

in denen Göttliches mit Menschlichem vermengt ist – eine Vermischung vor der jeder<br />

fromme Christ sich billig hüten soll“ (I, Prolog: 44).<br />

Gewiß, dies kann wie eine kluge Schutzbehauptung verstanden werden, damit<br />

der Geschichtenerzähler Miguel de Cervantes von der stolzen akademischen<br />

Zunft der Moralphilosophen und Theologen wie von den inquisitorischen Wächtern<br />

über eine Literatur, die der katholischen Glaubens- und Sittenlehre zu entsprechen<br />

hatte, in Ruhe gelassen werde. Hauptsache ist, daß wir als Leser die<br />

Selbstinterpretation des Autors nicht unkritisch übernehmen: zum einen, weil<br />

dies hermeneutisch gefährlich sein und zu einer gewissen Blindheit führen kann;<br />

zum anderen, weil literarische Werke im Prinzip als offene Kunstwerke zu verstehen<br />

sind und deren Interpretation in der Interaktion zwischen Leser und Text geschieht.<br />

Besonders die neue Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer und Paul Ricœur<br />

hat darauf aufmerksam gemacht. Darin liegt auch begründet, daß Werke wie der<br />

Quijote nie zu Ende interpretiert werden können, sondern uns immer wieder von<br />

neuem „zu denken“ geben. Aus der Rezeptionsgeschichte geht zum Beispiel hervor,<br />

daß der Quijote den Lesern des 19. oder 20. Jahrhunderts vielfach anderes zu<br />

denken gegeben hat als den Zeitgenossen des Autors, denn auch für die Literaturkritik<br />

gilt, daß die Vergangenheit vielfach aus der Sicht der Gegenwart interpretiert<br />

wird.<br />

16*<br />

219


Der religiöse Humus: „Schwere Zeiten“<br />

Das 16. Jahrhundert ist die Zeit, in der dank des Buchdrucks so etwas wie eine geistliche<br />

Belletristik entsteht. Es ist aber auch die Zeit, in der sich jene konfessionellen<br />

Identitäten herausbilden, die die religiös-kulturelle Tiefengeschichte Europas bis in<br />

die Gegenwart hinein prägen: die Zeit, in der man zwischen dem protestantischen<br />

und dem katholischen Christsein wählen muß, keine Zeit für Kompromisse und<br />

Mittelwege also – jedenfalls nicht in Spanien nach der geistigen Wende von 1558 bis<br />

1560 (Inquisitionsprozesse und Autodafés gegen die Kryptoprotestanten in Valladolid<br />

und Sevilla, Verhaftung des spanischen Primas und Erzbischofs von Toledo<br />

Bartolomé Carranza OP, erster Index verbotener Bücher des Großinquisitors Fernando<br />

Valdés, Konfiskation und Verbrennung einiger geistlicher Bücher und Teilübersetzungen<br />

der Bibel in der Volkssprache, aber auch von Werken des Erasmus<br />

von Rotterdam und seiner Schüler, verschiedene Begleitmaßnahmen durch Philipp<br />

II., um Spanien von manchen Tendenzen aus dem reformatorischen Europa frei zu<br />

halten). Teresa de Ávila, der Anfang der 1560er Jahre zu ihrem großen Bedauern einige<br />

geistliche Bücher in der Volkssprache konfisziert wurden, fühlt sich in der Unmittelbarkeit<br />

der mystischen Erfahrung von Jesus Christus selbst getröstet: „Da<br />

sagte der Herr zu mir: ,Sei nicht betrübt, denn ich werde dir ein lebendiges Buch geben‘.“<br />

2 Ihre Epoche nennt sie – und zwar unter direkter Anspielung auf die überall<br />

lauernde Inquisition – „tiempos recios“ („schwere Zeiten“) 3 . Im Spanien des 16.<br />

Jahrhunderts lassen sich vier geistige Tendenzen unschwer erkennen 4 :<br />

1. Die Alumbrados, auch Iluminados genannt, sind eher Laien und Conversos<br />

oder Neuchristen aus dem Judentum. Sie gehen von der Berufung aller zur geistlichen<br />

Vollkommenheit aus, wozu das innere Gebet und die private Erleuchtung<br />

abseits der kirchlichen Vermittlung befürwortet werden. Die „reine Liebe“ zu Gott,<br />

die weder der Hoffnung auf den Himmel noch der Angst vor der Hölle bedarf, ist<br />

für sie das Ziel, und dies könne durch Gottes Fügung in jedem Stand erreicht werden.<br />

2. Die Erasmianer sind zumeist gebildete Laien oder Kleriker mit niederen<br />

Weihen. Sie teilen mit Alumbrados (und Protestanten) die Berufung aller zur Vollkommenheit<br />

und äußern unter anderem eine quasi-protestantische Kritik an der<br />

katholischen Kultpraxis und am Mönchtum, die Erasmus von Rotterdam mit dem<br />

Satz „monachatus non est pietas“ plakativ formuliert.<br />

3. Die Scholastiker vertreten einen theologischen Aristokratismus, wonach die<br />

„sacra doctrina“ (die Theologie) etwas für die akademisch Eingeweihten, nicht für<br />

das gemeine Volk, und schon gar nicht für die Frauen sei; sie lehnen nicht nur das<br />

innere Gebet, sondern auch die geistliche Literatur in der Volkssprache ab oder<br />

stehen ihr mißtrauisch gegenüber, da dies nur Verwirrung im Volk und Unruhe in<br />

Kirche und Gesellschaft hervorrufe; sie verachten zudem die Humanisten als Männer,<br />

die eher von Philosophie und Philologie als von Theologie etwas verstehen.<br />

220<br />

Mariano Delgado


Don Quijote – für Theologen<br />

4. Die geistlichen Schriftsteller und Mystiker schreiben auf spanisch, um der religiösen<br />

Bildungssehnsucht der Laien – besonders der Frauen – geistliche Nahrung<br />

zu geben; anders als Alumbrados und Erasmianer kritisieren sie nicht das Klosterleben<br />

oder die katholische Kultpraxis als solche, sondern nur die Mißstände; aber<br />

auch sie befürworten die Lektüre der Bibel in der Volkssprache und halten das<br />

innere Gebet für die vollkommenere Form.<br />

Um die Mitte des 16. Jahrhunderts werden nun die scholastischen Theologen,<br />

allen voran die von Melchior Cano angeführten Dominikaner, eine geistige Wende<br />

gegen die anderen drei Tendenzen herbeiführen. Gegen die Übersetzung der Bibel<br />

in die Volkssprache und das entsprechende Verlangen der frommen Frauen wendet<br />

sich Cano zum Beispiel mit Worten, die wir heute nur noch mit großem Befremden<br />

lesen können:<br />

„Auch wenn die Frauen mit unersättlichem Appetit danach verlangen, von dieser Frucht<br />

zu essen, ist es nötig, sie zu verbieten und ein Feuermesser davor zu stellen, damit das Volk<br />

nicht zu ihr gelangen könne.“ 5<br />

Nach der geistigen Wende und den oben erwähnten Begleitmaßnahmen – die<br />

nicht zuletzt den Versuch von Kirche und Krone darstellen, die im Gefolge des<br />

Buchdrucks neuaufkeimende (religiöse) Kultur zu kontrollieren und zu dirigieren<br />

– weiß man in Spanien, woran man ist. Aber innerhalb der gezogenen Grenzen gibt<br />

es eine erstaunliche Gestaltungsfreiheit. Dieselben Bücher des geistlichen Modeautors<br />

Luis de Granada, die 1559 indiziert wurden, können wenige Jahre später mit<br />

geringfügigen Änderungen wieder erscheinen.<br />

Cervantes als Kryptoerasmianer?<br />

Zu den intellektuellen Moden des 19. und 20. Jahrhunderts gehörte das Interesse für<br />

Heterodoxe und Dissidenten im Spanien des Goldenen Zeitalters, die zu Quasivorläufern<br />

der aufgeklärten Freidenker uminterpretiert wurden. Der Dichter Antonio<br />

Machado hielt Miguel Servet, Miguel de Cervantes und Miguel de Molinos für die<br />

drei heterodoxen „Migueles“, auf die das moderne Spanien besonders stolz sein<br />

sollte. Vor diesem Hintergrund wurden auch Cervantes die Ideen und Absichten<br />

eines modernen Freidenkers unterstellt. In diesem Zusammenhang deutet etwa<br />

Marcelino Menéndez Pelayo an, daß die wahre intellektuelle Gefolgschaft Cervantes’<br />

zu suchen ist „in der polemischen Literatur der Renaissance, im latenten, aber<br />

immer lebendigen Einfluß jener erasmianischen, freien, bissigen und scharfsinnigen<br />

Gruppe, die in Spanien so mächtig wurde und die besten Köpfe am Hof des Kaisers<br />

hinter sich versammelte“ 6 . Américo Castro geht noch weiter und sieht in Cervantes<br />

„einen großen Versteller, der Meinungen gegen den Strom der Zeit mit Ironie<br />

und Geschick verfremdete“, bzw. „einen geschickten Heuchler, der in Sachen, die<br />

221


Mariano Delgado<br />

die herrschende Religion und Moral betreffen, mit größten Kautelen gelesen und<br />

interpretiert werden sollte“ 7 .<br />

Für Castro nahm sich Cervantes nicht bewußt vor, „ein Lehrsystem für oder gegen<br />

die katholische Theologie darzustellen“. Gleichwohl nehme er gegenüber gewissen<br />

katholischen Glaubensinhalten und -praktiken „eine ziemlich kritische Einstellung“<br />

ein: „Sein Christentum ... erinnert uns in bestimmten Fällen mehr an<br />

Erasmus als an Trient.“ 8 Aber die „bestimmten Fälle“ (eigentlich nur Indizien, die<br />

unterschiedlich interpretiert werden können), die Castro zusammengetragen hat,<br />

werden Kenner der spanischen Geistesgeschichte des 16. Jahrhunderts kaum überzeugen:<br />

daß Cervantes Lieblingsschüler des Humanisten und Erasmus-Sympathisanten<br />

Juan López de Hoyos in Madrid war; daß er in Fragen der Moral eher dem<br />

gesunden Menschenverstand, der Natur und der Vernunft als der kirchlichen Lehre<br />

folge; daß er kirchliche Bräuche und Institutionen wie Rosenkranzgebet, Prozessionen,<br />

Begräbnisfeierlichkeiten, Kleriker, Einsiedler und Theologen zuweilen kritisiert<br />

oder zumindest lächerlich gemacht habe; daß er Sentenzen antiker Heiden<br />

zustimmend zitiere; daß sein Christentum Züge der „Philosophia Christi“ trage;<br />

und schließlich, daß er Sympathie für geistliche Literatur wie das Werk „Luz del<br />

alma“ von Felipe de Meneses OP zeige, das Castro als eindeutig „erasmianisch“ einstuft.<br />

Seit den Studien Castros wurde die These, bei Cervantes handle es sich um einen<br />

Kryptoerasmianer, immer wieder, wenn auch mit verschiedenen Nuancen, aufgenommen.<br />

Marcel Bataillon zum Beispiel lehnt zwar das Bild eines heuchlerischen<br />

Cervantes als Freidenker, Rationalist und Feind der Gegenreformation ab, vertritt<br />

aber auch die These einer erasmianischen Grundprägung:<br />

„Er ist nicht ein Ungläubiger, der sein wahres Denken hinter salbungsvollen Orthodoxieerklärungen<br />

versteckt. Er ist ein gebildeter Gläubiger, für den in der Religion sich nicht alles<br />

auf derselben Ebene befindet, der über vielen Sachen, die in der Volksfrömmigkeit hochgehalten<br />

werden, lächelt, und der offen über sie lachen würde, wie die damaligen Erasmianer,<br />

wenn die Erfordernisse der neuen Trienter Orthodoxie ihn nicht zu einer klugen Zurückhaltung<br />

zwingen würden.“ 9<br />

Bataillon muß aber den Text des Quijote zensieren, um darin eine strengere<br />

Koinzidenz mit dem erasmianischen Ideal zu finden, so etwa, wenn es um die<br />

Selbstcharakterisierung der Frömmigkeit des Ritters im grünen Mantel geht, die er<br />

für die wahre Frömmigkeit Cervantes’ hält:<br />

„Ich höre täglich die Messe, teile gern mit den Armen, was ich habe, ohne mich meiner<br />

guten Werke zu rühmen, um nicht Heuchelei und Eitelkeit in meinem Herzen aufkommen<br />

zu lassen, Feinde, die sich unvermerkt auch in dem Besten einnisten. Ich trachte, die Uneinigen<br />

zu versöhnen, verehre die heilige Jungfrau und vertraue stets auf die unendliche Barmherzigkeit<br />

Gottes, unseres Herrn“ (II, 16: 810).<br />

222


Bataillon führt dazu aus:<br />

Don Quijote – für Theologen<br />

„Setzen wir die Sonntagsmesse anstelle der täglichen Messe, übergehen wir die Verehrung<br />

der heiligen Jungfrau – die andererseits Don Diego nicht daran hindert, sein ganzes Vertrauen<br />

auf die göttliche Barmherzigkeit zu setzen: Dieses Bild eines einfachen, wohlhabenden,<br />

frommen und wohltätigen Lebens ohne jeden Schatten der Heuchelei entspricht ganz dem<br />

erasmianischen Ideal.“ 10<br />

Nur dem erasmianischen Ideal? Eine solche Art von Literaturkritik, die den<br />

Autor nicht ernst nimmt, sondern ihn sagen läßt, was wir letztlich hören wollen, ist<br />

nicht seriös. Woher wollen wir wissen, daß Cervantes beim Porträt des Ritters im<br />

grünen Mantel eher an das erasmianische Ideal als an das der tridentinischen<br />

Reform dachte, wie es um 1600 die christliche Alltagskultur prägte?<br />

Die Hauptschwäche der Betrachtung Cervantes’ als eines Kryptoerasmianers in<br />

den verschiedenen Varianten liegt – wie José Jiménez Lozano angemerkt hat – darin,<br />

daß dies den Intellektuellen des 19. und 20. Jahrhunderts eingefallen ist, nicht aber<br />

den Zeitgenossen von Cervantes selbst, auch nicht den peniblen inquisitorischen<br />

Zensoren seines Werks, die dem historischen spanischen Erasmianismus näher standen<br />

und ihn deshalb auch besser beurteilen konnten als wir.<br />

Vom Erasmianismus bei Cervantes kann man nur sprechen, wenn man darunter<br />

eine Chiffre für den gemeinsamen Nenner zwischen den oben vorgestellten Tendenzen<br />

der Alumbrados, Erasmianer und geistlichen Schriftsteller bzw. Mystiker<br />

versteht. Vieles davon war nicht erst seit dem genialen Vulgarisator Erasmus<br />

bekannt, sondern bereits seit den Tagen der Devotio moderna. Was davon in die<br />

katholische Reform einging, prägte, nun aber von der Kirche und den Theologen<br />

kontrolliert und kanalisiert, die katholische Kultur gebildeter Laien zur Zeit Cervantes’.<br />

Warum sollte man dies „Erasmianismus“ nennen?<br />

An der Grenze zur Heterodoxie stehen im Quijote nur drei Stellen; sie verweisen<br />

weniger auf Erasmus, als auf den Quietismus und die umstrittenen Fragen im religiösen<br />

Humus um 1600. Die erste Stelle handelt von der „reinen Liebe“, von der<br />

Sancho unter Verweis auf eine Predigt seines Pfarrers berichtet, was das Erstaunen<br />

Don Quijotes über die theologische Bildung des Schildknappen hervorruft:<br />

„,Und weißt du nicht, daß es nach Ritterbrauch einer Dame große Ehre bringt, wenn ihr<br />

viele fahrende Ritter dienen, die sonst keinen Wunsch haben, als ihr um ihrer selbst willen zu<br />

dienen, und keine andre Gebühr für ihr anhaltendes und tugendsames Streben fordern als die<br />

Erlaubnis, ihr Ritter zu sein?‘ ,Das ist ja genau so, wie ich es habe predigen hören‘, sprach<br />

Sancho; ,unsern Herrgott soll man um seiner selbst willen lieb haben, ohne an Himmel und<br />

Hölle zu denken; und dabei möchte ich ihn lieber um dessen willen lieben und ihm dienen,<br />

was er vermag.‘ ,Zum Teufel, Sancho!‘ rief der Ritter; ,du bist ein bloßer Bauer und sagst<br />

manchmal so gelehrte Sachen, daß man glauben sollte, du hättest studiert’“ (I, 31: 398f.).<br />

Das Problem der reinen Liebe zu Gott ohne Hoffnung auf den Himmel und ohne<br />

Angst vor der Hölle – ein Postulat der Alumbrados und Mystiker, das zur Zeit Cer-<br />

223


Mariano Delgado<br />

vantes’ auch Thema eines anonymen und Teresa de Ávila zugeschriebenen berühmten<br />

Sonetts war – wird hier angesprochen und wie ein heißes Eisen (Don Quijotes<br />

Erstaunen über die Bildung Sanchos) sofort fallen gelassen. Die reine Liebe galt um<br />

1600 als mystisches Ideal. Aber die Kontroverse um die reine Liebe war noch kein<br />

beherrschendes Thema der theologischen Auseinandersetzung, wie dies einige Generationen<br />

später in Frankreich bei Jacques-Bénigne Bossuet und François Fénelon<br />

der Fall sein sollte, als im Schatten der Quietismuskrise (1687 wurden einige Sätze<br />

des spanischen Mystikers Miguel de Molinos als „quietistisch“ verurteilt) der Disput<br />

metaphysische Züge annahm.<br />

Die zweite Stelle verweist ebenfalls auf den Quietismus und das innere Gebet. Die<br />

Hirtin Marcela läßt Cervantes sagen:<br />

„Meine Wünsche schweifen nicht über die Grenzen dieser Berge hinaus, und wenn sie sich<br />

jemals höher erheben, so geschieht es einzig, um die Schönheit des Himmels zu betrachten,<br />

dessen Anblick meine Seele in ihre erste Heimat zurückführt“ (I, 14: 170. 172).<br />

Hier bleibt Cervantes durchaus im Rahmen der von der Kirche geduldeten quasiquietistischen<br />

Tendenz der spanischen Mystik, für die die stille Betrachtung des<br />

Himmels ein Weg zur Erhebung der Seele zu Gott war – ohne deshalb die kirchliche<br />

sakramentale Vermittlung zu leugnen.<br />

Die dritte Stelle ist zugleich die einzige, die von der spanischen Inquisition getilgt<br />

wurde, und zwar erst im Index des Kardinals Zapata von 1632, auch wenn sie in<br />

der zweiten Ausgabe (Valencia 1616) bereits fehlte. Hier nun der fragliche Satz der<br />

Herzogin, der in den älteren deutschen Übersetzungen – so auch in der hier zitierten<br />

–, die der Ausgabe von Valencia folgen, fehlt: „Und Ihr Sancho mochtet daran<br />

denken, daß die Werke der Nächstenliebe, die lau und nachlässig vollzogen werden,<br />

kein Verdienst nach sich ziehen und ganz wertlos sind“ (II, 36) 11 .<br />

Wir haben es hier mit einem Satz zu tun, der die subtile Kontroverse zwischen<br />

Dominikanern und Jesuiten über die Frage tangierte, ob jedes gute Werk, das im<br />

Gnadenstand vollbracht wird, einen Zuwachs an Gnade verdiente oder ob man<br />

dazu eher das letzte Werk mit einem höheren Liebesgrad als bisher vollbringen<br />

sollte. Letzteres vertrat der Dominikaner Domingo Báñez. Die Kontroverse nahm<br />

skurrile Züge an und machte die Grenzen der theologischen Spekulation sichtbar,<br />

denn selbst für die Fachtheologen wurde es schwer, den Überblick zu wahren und<br />

Position zu beziehen. Man hat zu Recht darauf hingeweisen 12 , daß die Inquisition<br />

bei der Tilgung dieser Stelle nicht leichtfertig agierte: Cervantes’ Bemerkung, daß<br />

solche gute Werke „kein Verdienst nach sich ziehen und ganz wertlos sind“, stellt in<br />

der Tat eine inakzeptable Extrapolation des von Báñez Postulierten dar und könnte<br />

als eine allgemeine Geringschätzung dieser Werke verstanden werden.<br />

224


Don Quijote – für Theologen<br />

Cervantes als Moraltheologe und Propagandist der Trienter Dekrete?<br />

Den Gegenpol bilden Autoren, für die Cervantes quasi ein Moraltheologe und Propagandist<br />

der Dekrete des Trienter Konzils ist. In seinem Werk „Cervantes, a nueva<br />

luz“ (Frankfurt 1966) meint Paul Descouzis, im Quijote deutliche Spuren von mindestens<br />

zwölf tridentinischen Dekreten zu finden, die – so seine These – Cervantes<br />

beim Schreiben die Feder geführt haben. Gleichwohl wird vom Trienter Konzil nur<br />

ein einziges Mal ausdrücklich gesprochen, nämlich beim Hinweis auf das Verbot<br />

von Duellen (II, 56). Daß Cervantes hier und anderswo bewußt von den Trienter<br />

Dekreten ausgegangen sei, um sie beim Volk bekannt zu machen, ist eher unwahrscheinlich<br />

und widerspricht der schöpferischen Dynamik, die literarischen Werken<br />

zugrundeliegt. Vielmehr dürfte Cervantes bei der Behandlung mancher Themen die<br />

von Trient – wie von der spanischen Kirche und Krone – gezogenen Grenzen präsent<br />

gehabt haben, die ja den „selbstverständlichen“ Rahmen bildeten, in dem die<br />

Literatur im Spanien des Goldenen Zeitalters enstehen konnte. Die Konfessionalisierungsthese<br />

(Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard) hat uns darüber belehrt,<br />

daß es auch im protestantischen Europa einen ähnlichen konfessionellen Kultur-<br />

Dirigismus gab.<br />

Ohne jeden polemischen Charakter finden sich dann im Quijote die wichtigsten<br />

katholischen Thesen vertreten, die das Trienter Konzil in Abgrenzung zu den Protestanten<br />

demonstrativ bejahte:<br />

„Die Notwendigkeit der guten Werke zum Heil; den sakramentalen Charakter von Ehe,<br />

letzter Ölung und Weihe; die Notwendigkeit und den Wert der Beichte; die Legitimität und<br />

Zweckmäßigkeit des Heiligen-, Bilder- und Reliquienkultes; die Existenz des Fegefeuers und<br />

der Nutzen der Suffragien; die Realität des freien Willens und damit zusammenhängend auch<br />

des Verdienstes in den menschlichen Handlungen; die Anerkennung der Hierarchie und des<br />

kirchlichen Lehramtes; die Annahme des Primats des Römischen Hohenpriesters.“ 13<br />

Ob Cervantes dies aus purem Zynismus machte, also um bei der Inquisition nicht<br />

anzuecken, wie Castro meint, oder aus echter Überzeugung, wie andere meinen,<br />

läßt sich nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Denn dafür müßten wir ein Röntgenbild<br />

seiner Seele machen können. Aber aus Cervantes einen Moraltheologen<br />

und Propagandisten der Trienter Dekrete zu machen, geht eindeutig zu weit.<br />

Diese Theorie stützt sich vor allem auf die expliziten dogmatischen und moraltheologischen<br />

Diskurse im Quijote. Wenn wir uns die wichtigsten davon näher anschauen,<br />

so merken wir, daß Cervantes darin zwar mehr theologische Bildung als<br />

ein gewöhnlicher Laie bekundet, zugleich aber die angesprochenen Probleme aus<br />

der Sicht eines Fachtheologen sehr oberflächlich darstellt und den Diskurs abbricht,<br />

wenn er gründlicher hätte argumentieren können.<br />

Dies gilt unter anderem für das Problem der „futura contingentia“ (des unableitbar<br />

Zukünftigen) und für das diesbezügliche Wissen des Teufels, das Cervantes in<br />

225


Mariano Delgado<br />

der Begegnung Don Quijotes mit dem Puppenspieler und seinem wahrsagenden<br />

Affen behandelt (II, 25). Alle wollen die Wahrsagerkünste des Affen sehen, der angeblich<br />

Meister Pedro die Antwort auf alle möglichen Fragen ins Ohr flüstert. Aber<br />

Don Quijote stellt diesen mit einer gezielten Fangfrage nach der Zukunft auf die<br />

Probe: „Sagt mir doch, Herr Prophet ... was steht uns bevor?“ Worauf Meister<br />

Pedro die Wahrsagerei seines Affen „theologisch“ abgrenzt: „Werter Herr, dieses<br />

Tier gibt weder Antwort noch Auskunft über Zukünftiges; auf das Vergangene versteht<br />

es sich ein wenig und so auch auf die Gegenwart“ (II, 25: 907).<br />

Nachdem der Puppenspieler seine „Kunst“ vorgeführt und auf eine Frage<br />

Sanchos nach seiner Frau zur Belustigung aller geantwortet hat, folgt sogleich ein<br />

typisches Lehrgespräch zwischen Don Quijote und Sancho, in dem der erste dem<br />

zweiten, der als einfache Volksseele geneigt war, auf die Tricks des Puppenspielers<br />

hereinzufallen, sagt, was man von der Wahrsagerei zu halten habe:<br />

„Höre Sancho ... ich halte dafür, daß dieser Meister Pedro ... einen stillschweigenden oder<br />

ausdrücklichen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen haben muß, ... nach dem dieser dem<br />

Affen jene Geschicklichkeit verlieh, die ihm seinen Unterhalt verschafft. ... Was mich zu<br />

diesem Glauben bringt, ist, daß der Affe nur über vergangene und gegenwärtige Dinge Bescheid<br />

gibt und sich die Wissenschaft des Teufels auch in der Tat nicht weiter erstreckt.<br />

Zukünftige Dinge weiß er nicht, außer etwa durch Vermutungen, die aber sehr selten eintreffen;<br />

Gott allein ist die Kenntnis aller Zeiten vorbehalten; für ihn gibt es weder Vergangenes<br />

noch Zukünftiges, alles ist ihm Gegenwart“ (II, 25: 909f.).<br />

Diese Episode enthält einige Elemente, die auf eine literarische Abhängigkeit<br />

Cervantes’ von Meister Pedro Ciruelos Werk „Reprobación de las supersticiones y<br />

hechicerías“ (1539) hinweisen; das Buch erlebte im 16. Jahrhundert mehrere Auflagen<br />

und hatte den Charakter eines Vademecums für solche Fragen. Aber auf die<br />

subtile Unterscheidung Ciruelos, wonach es zukünftige Dinge gäbe, die aus der<br />

Verkettung von Ursache und Wirkung erfolgen und über die wir (und der Teufel)<br />

begründete Vermutungen anstellen können, während es andere Dinge gebe, die sich<br />

kraft des freien Willens des Menschen ereignen und daher nur Gott bekannt sind,<br />

oder auf die tiefsinnige theologische und philosophische Problematik der „futura<br />

contingentia“, die um 1600 von Francisco Suárez auf höchstem Niveau behandelt<br />

wurde, geht Cervantes nicht ein. Eher hat man den Eindruck, daß er das Thema mit<br />

dem Wissen behandelt, das ein gebildeter Katholik nach einer guten Predigt haben<br />

könnte.<br />

Ähnliches gilt für Episoden, die auf der Technik der sogenannten Zweifels- oder<br />

Gewissensfälle aufgebaut zu sein scheinen. Zur Zeit Cervantes’ wurden in Spanien<br />

unter Einfluß der Jesuiten moraltheologische Lehrstühle zur Lösung von „Gewissensfragen“<br />

und „Gewissensnöten“ eingerichtet; außerdem wurden viele moraltheologische<br />

Handbücher verfaßt, die nicht zuletzt die Predigtkultur und die Seelsorge<br />

prägten.<br />

226


Don Quijote – für Theologen<br />

Nachdem Sancho in der Sierra Morena einen Mantelsack mit „vier Hemden von<br />

zarter holländischer Leinwand nebst andrer feiner Wäsche – alles so sauber wie zierlich<br />

– und ein hübsches Klümpchen Gold, das in ein Schnupftuch eingebunden war“<br />

(I, 23: 273) gefunden hat, sagt ihm Don Quijote zunächst, daß er das Geld behalten<br />

könne. Bald darauf sehen sie aber einen nackten Menschen in der Nähe herumlaufen.<br />

Weil Don Quijote ihn für den Besitzer des Fundes hält, will er ihn suchen, worauf sich<br />

zwischen Sancho und Don Quijote folgender moraltheologischer Diskurs ergibt:<br />

„,Wäre es nicht besser, gestrenger Herr, wir suchten ihn lieber nicht?‘, sprach Sancho;<br />

,denn finden wir ihn und gehört ihm das Geld, so muß ich es ihm notwendig wiedergeben.<br />

Klüger wäre es also, wir ließen unser nutzloses Suchen und behielten unsern Fund in allen<br />

Ehren, bis wir einmal von ungefähr und ungesucht seinen rechten Herrn anträfen, vielleicht<br />

wenn schon alles verzehrt ist und dann –: wo nichts ist, da hat der Kaiser sein Recht verloren.‘<br />

,Falsch, lieber Sancho‘, versetzte Don Quixote; ,denn da wir den Herrn dieser Sachen<br />

wenigstens vermuten und ihn fast sehen konnten, so sind wir verpflichtet, ihn aufzusuchen<br />

und ihm das Seinige zuzustellen; suchen wir ihn aber nicht, so macht uns schon die Wahrscheinlichkeit<br />

der Vermutung, daß er der Besitzer ist, ebenso strafbar, wie wenn wir es sicher<br />

wüßten’“ (I, 23: 278).<br />

Hier ist das Problem des Besitzens einer zufällig gefundenen fremden Sache im<br />

guten Glauben korrekt dargestellt, ohne auf die Feinheiten näher einzugehen. Aber<br />

im Verlauf der Geschichte bleibt der Zweifelsfall ungelöst, denn der nackte Mann,<br />

der sich als der Besitzer entpuppte, war nicht mehr zurechnungsfähig. Erst zu Beginn<br />

des zweiten Teils – vermutlich, weil ein aufmerksamer theologischer Leser<br />

Cervantes darauf hingewiesen hat –, wird nochmals an den ungelösten Fall erinnert.<br />

Der Bakkalaureus Sansón Carrasco leitet das Thema mit einer vielsagenden Spitze<br />

gegen die engstirnigen vom Neid geleiteten Zensoren fremder Werke ein, die selbst<br />

aber kaum ein lesenswertes Buch zustande bringen:<br />

„,Das ist nicht zu verwundern,‘ sagte Don Quixote, ,denn es gibt auch Theologen, die<br />

nicht auf die Kanzel taugen und doch darum sehr geschickt sind, die Mängel oder die überflüssigen<br />

Auswüchse in den Predigten andrer wahrzunehmen.‘ ,Das alles hat seine Richtigkeit,<br />

Herr Don Quixote,‘ sagte Carrasco; ,aber ich wünschte, so strenge Bücherrichter wären<br />

nachsichtiger und minder peinlich genau ... Ferner tadelt man den Verfasser, weil er zu sagen<br />

vergaß, was Sancho Pansa mit den hundert Goldstücken machte, die er in dem Mantelsack in<br />

der Sierra Morena fand ...‘ ,Herr Sanson,‘ antwortete Sancho, ,ich bin jetzt nicht in der Stimmung,<br />

mich mit Zählen oder Erzählungen einzulassen, denn ich fühle eine große Magenschwäche<br />

... Ich habe ihn daheim, meine Hausehre erwartet mich’“ (II, 3: 707f.).<br />

Auf weitere Fragen des Bakkalaureus antwortet Sancho später, daß er die Golddukaten<br />

ausgegeben habe „zu Nutz und Frommen meiner selbst, meiner Frau und<br />

meiner Kinder ... Jeder kehre vor seiner Tür und sehe nicht Weiß für Schwarz und<br />

Schwarz für Weiß an“ (II, 4: 710). Damit ist diese Gewissensfrage für Cervantes erledigt.<br />

227


Mariano Delgado<br />

Dieser und andere moralische Zweifelsfälle zeigen, daß man von Cervantes nicht<br />

die Präzision und Kohärenz eines Moraltheologen erwarten darf. Wenn er moraltheologische<br />

Fragen behandelt, so scheint er dies mit gesundem Menschenverstand<br />

und der Bildung eines belesenen Laien, der die Sonntagspredigt hörte, zu tun. Als<br />

Dichter interessiert ihn wohl mehr die gelungene Erzählung als theologische Spitzfindigkeiten.<br />

Cervantes als Volksprediger?<br />

Die These von Cervantes als Volksprediger wird vor allem von Salvador Muñoz<br />

Iglesias vertreten. In seinem Werk „Lo religioso en el Quijote“ spricht er von verschiedenen<br />

Ebenen religiöser Diskurse. Er stellt zunächst eine äußere Religiosität<br />

(religiosidad epidérmica) fest, die sich in den Sprichwörtern mit religiösem Bezug,<br />

in den aus der Bibel übernommenen Redewendungen sowie schließlich im Umgang<br />

mit kirchlichen Personen und der lateinischen Sprache artikuliert. Unter Kernreligiosität<br />

(religiosidad medular) versteht er die nähere Darlegung religiöser Themen<br />

wie die Eigenschaften Gottes und des Teufels, die Behandlung von Tod, Gericht,<br />

Hölle und Herrlichkeit, der sieben Sakramente, des Heiligenkults, frommer Gegenstände<br />

und Bräuche, sowie moralischer Themen. Als dritte Ebene bezeichnet er<br />

dann die bewußt reflektierte Religiosität (religiosidad refleja). Hier setzt er sich mit<br />

der These Castros und Bataillons (Cervantes als Erasmianer) sowie mit der These<br />

Descouzis’ (Cervantes als Moraltheologe und Propagandist der Trienter Dekrete)<br />

kritisch auseinander, bevor er abschließend sein eigenes Urteil fällt.<br />

Muñoz Iglesias versteht die religiösen Diskurse im Quijote im wesentlichen als<br />

Spiegel der Religiosität des Autors und plädiert für die persönliche Identifikation<br />

desselben mit den katholischen Positionsbestimmungen des Quijote. Dies gilt<br />

zunächst für die zahlreichen „Glaubensbekenntnisse“. Sancho will kein anderes<br />

Verdienst haben, als seinen „aufrichtigen und festen Glauben an Gott und an alles,<br />

was die heilige römisch-katholische Kirche vorschreibt“ (II, 8: 742). Er versteht sich<br />

immer wieder als „alter Christ“ (I, 20; II, 3; II, 4), während Don Quijote sich als<br />

„guter und treuer katholischer Christ“ bezeichnet (I, 19: 223), der zur Verteidigung<br />

des katholischen Glaubens bereit zum Kampf ist (II, 27). Und dem Sohn des Ritters<br />

im grünen Mantel sagt Don Quijote über den christlichen Ritter: „Er muß Theologe<br />

sein, um über den christlichen Glauben, zu dem er sich bekennt, klare und bündige<br />

Auskunft geben zu können, sooft es verlangt wird“ (II, 18: 832f.).<br />

Gewiß, einige dieser Sätze könnten mit Blick auf die geistige Enge mancher Zensoren<br />

und Denunzianten geschrieben worden sein. Aber ihre allgemeine Einstufung im<br />

Sinn Castros als heuchlerische „Orthodoxieprahlerei“ 14 wäre Muñoz Iglesias zufolge<br />

eine tendenziöse Überinterpretation. Denn das persönliche Glaubensleben Cervantes’<br />

würde eher die Echtheits- als die Heucheleithese unterstützen. Cervantes studierte<br />

228


Don Quijote – für Theologen<br />

nicht nur bei dem Humanisten Juan López de Hoyos in Madrid, sondern vermutlich<br />

auch in einem Jesuitenkolleg (in Valladolid oder Sevilla). Unter den geistlichen Autoren,<br />

die er im Quijote nennt, finden sich der Augustiner Cristóbal de Fonseca (Tratado<br />

del amor de Dios, Salamanca 1592) und der Dominikaner Felipe de Meneses (Luz del<br />

alma, Valladolid 1554). Wahrscheinlich hatte Cervantes auch Francisco de Osuna gelesen<br />

und – warum nicht? – Teresa de Avila, deren Werke 1588 erschienen.<br />

Sein persönliches Leben zeugt von einer überdurchschnittlichen Frömmigkeitspraxis.<br />

Während der Gefangenschaft in Argel (1575–1580) schrieb er immer wieder<br />

Gedichte zu Ehren Gottes, der Heiligen Jungfrau und des Allerheiligsten Sakraments.<br />

Daß er seine Befreiung den Trinitariern verdankte, hat Cervantes wohl nie<br />

vergessen. Seit 1609 gehörte er der Laienkongregation der Indignos Esclavos del<br />

Santísimo Sacramento (Unwürdige Knechte des Allerheiligsten Sakraments) an, die<br />

am 30. November 1608 durch den Trinitarier Alonso de la Purificación gegründet<br />

wurde. Drei Wochen vor seinem Tod trat er in den „Venerable Orden Tercera de San<br />

Francisco“ (Ehrwürdiger Dritter Orden des hl. Franziskus) ein. 1610 hatten seine<br />

Schwester Andrea und seine Frau Catalina die Profeß im besagten Orden abgelegt.<br />

Vor seinem Tod empfing Cervantes die Sterbesakramente; er ließ sich im Kloster der<br />

Trinitarierinnen begraben.<br />

Ohne so weit gehen zu wollen wie Descouzis, ist Muñoz Iglesias doch der Meinung,<br />

daß Cervantes über weite Strecken letzlich wie ein Volksprediger anmutet.<br />

Seine Feder, die er „Zunge der Seele“ (II, 16: 815) nennt, habe Cervantes bewußt in<br />

den frommen Dienst der „Evangelisierung durch die Literatur“ gestellt, die für die<br />

Autoren des Goldenen Zeitalters kennzeichnend ist 15 .<br />

Für diese These spricht die starke Präsenz von „Predigten“ und Lehrgesprächen<br />

im Quijote, meistens, aber nicht nur, aus dem Mund von Don Quijote und Sancho<br />

selbst. Zu den „Predigten“ Don Quijotes, der als fahrender Ritter aus eigener<br />

Autorität zu sprechen scheint, können wir seine Diskurse über den Frieden (I, 18 u.<br />

I, 37), über den gerechten Krieg und die Liebe zu den Feinden (II, 27), über die göttliche<br />

Vorsehung (I, 18), über die sieben Todsünden und die Tugenden (II, 58), über<br />

die ehrenhafte Frau (II, 22), über die Wahrsagerei (II, 25) und die Vorbedeutungen<br />

(II, 58), über die Dankbarkeit (II, 58) sowie die guten Lehren zählen, die er Sancho<br />

(II, 42) und Roque Guinart (II, 60: 1240f.) erteilt. Unter den Predigten Sanchos, der<br />

sich als einfacher Laienchrist zumeist auf die Autorität seines Dorfpfarrers beruft,<br />

ließen sich unter anderem seine Gedanken über die reine Liebe (I, 31), über den Tod<br />

(II, 20) und über die Vorbedeutungen (II, 73) nennen, vor allem aber seine grandiose<br />

Volkssentenz: „Wer gut lebt, predigt gut ... ich weiß von keiner andern Theologie“<br />

(II, 20: 860). Darüber hinaus gibt es viele Dialoge zwischen beiden, die auch als Predigten<br />

verstanden werden könnten, wie zum Beispiel über die Heiligkeit und den<br />

Heiligenkult, die Reliquien und die Tugenden (II, 8 u. II, 58).<br />

Beide, Don Quijote und Sancho, halten sich zum eigenen Erstaunen gegenseitig<br />

für „Theologen“ und fähig, als Wanderprediger durch die Welt zu ziehen. Nach<br />

229


Mariano Delgado<br />

dem Diskurs über die reine Liebe sagt Don Quijote zu Sancho, dieser rede wie ein<br />

Gebildeter (I, 31: 398f.). Noch konkreter wird Don Quijote nach Sanchos Diskurs<br />

über den Tod:<br />

„Ich wiederhole es Dir, Sancho, wenn es dir so wenig an Verstand und an Kenntnissen<br />

fehlte wie an guten Anlagen, so könntest du die Kanzel besteigen und mit Anstand als<br />

Prediger die Welt durchziehen“ (II, 20: 860).<br />

Nach dem Diskurs über den gerechten Krieg, über die „Imitatio Christi“ und die<br />

Liebe zu den Feinden sagt Sancho seinerseits zu Don Quijote: „Mich soll der<br />

Teufel holen ... wenn mein Herr nicht ein Theologe ist, und ist er’s nicht, so gleicht<br />

er wenigstens einem, wie ein Ei dem andern“ (II, 27: 932). Nach dem Diskurs über<br />

die ehrenhafte Frau, sagt Sancho über seinen Herrn:<br />

„Ich sag ..., daß er, wenn er anfängt, Sprüche aneinander zu reihen und Ratschläge zu geben,<br />

nicht nur eine Kanzel unter den Arm nehmen, sondern ihrer zwei an jeden Finger<br />

stecken ... kann“ (II, 22: 871f.).<br />

Dem „christlichen Beruf“ treu geblieben?<br />

Keine der drei oben vorgestellten Thesen wird Cervantes’ Werk gerecht. Die These<br />

eines Cervantes als Kryptoerasmianer privilegiert die impliziten Diskurse und eine<br />

Hermeneutik des Verdachts, wonach Cervantes in Wirklichkeit nicht meine, was er<br />

sage, sondern das, was er zwischen den Zeilen zu verstehen gebe, wofür er aber mit<br />

einer erasmianischen Brille gelesen werden müßte. Die anderen zwei Thesen privilegieren<br />

die expliziten Diskurse und eine Hermeneutik der Sinnrettung, wonach<br />

Cervantes bei seiner Verteidigung des katholischen Christentums wörtlich zu verstehen<br />

sei, da er seine Literatur bewußt in den Dienst der nachtridentinischen Evangelisierung<br />

der Kultur gestellt habe. Besonders die These, die Cervantes als Moraltheologen<br />

und Propagandisten der Trienter Dekrete einstuft, geht zu weit, während<br />

der These vom Volksprediger unter Umständen eine gewisse Plausibilität nicht abzusprechen<br />

ist, wenn man dabei den Unterschied zwischen Laienliteratur und Katechese<br />

wahrt; denn an den Scharfsinn oder die Reformabsicht der Berufstheologen<br />

und Mystiker kommt Cervantes nicht heran – was die damaligen Leser von ihm<br />

auch nicht erwartet haben.<br />

Auf alle Fälle wird man Cervantes bescheinigen müssen, daß er als Schriftsteller<br />

mit den Glaubens- und Sittenfragen im Quijote sehr „klug“ umgeht. Wenn er<br />

wirklich anders dachte, als er zu verstehen gibt, so hat er sich seine Kritik, wie Don<br />

Quijote manchmal seine Tapferkeit, „für bessere Zeiten“ (II, 28: 935) aufgespart –<br />

was auch als Zeichen der Klugheit, statt der Heuchelei gedeutet werden kann:<br />

„Denn der kluge Mann spart sich für bessere Gelegenheiten auf“ (II, 28: 934).<br />

230


Don Quijote – für Theologen<br />

Eines steht fest: Angesichts der vielen „Predigten“ und religiösen Diskurse im<br />

Quijote ist die eingangs zitierte Bemerkung aus dem Prolog des ersten Teils eine<br />

deutliche Untertreibung, es sei denn, daß wir sie als einen Appell verstehen, jene<br />

nicht ernst zu nehmen, sondern als Teile eines „Ritterromans“ zu betrachten. Wie<br />

jeder gute Geschichtenerzähler lebte Cervantes im religiösen „Humus“ seiner Zeit,<br />

von dessen vielen Facetten er uns in seinem Werk ein literarisches Kaleidoskop bietet.<br />

Wie steht es aber mit seiner Erklärung, „die Grenze nie (zu) überschreiten, die<br />

uns die christliche Religion ... vorschreibt“ (II, 8: 744)? Ist Cervantes’ Feder dem<br />

„christlichen Beruf“ (II, 74: 1356) treu geblieben, den er ihr zugewiesen hat? – Alles<br />

in allem schon, denn die Lektüre des Quijote ruft in uns die besten und edelsten<br />

(auch religiösen) Gefühle wach (Leidenschaft für Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit<br />

wie für den Schutz der Bedrängten aller Art) – und Don Quijote selbst trägt<br />

zuweilen „christologische“ Züge, die in diesem zarten Dialog mit Sancho zum Vorschein<br />

kommen:<br />

„Aber unterdessen steig nur auf und folge mir nach, guter Sancho; Gott, der für alles in der<br />

Welt sorgt, wird uns auch nicht verlassen, da wir jetzt so ganz in seinem Dienste wandeln,<br />

wie wir es tun. Speist er doch die Mücken in der Luft, die Würmer auf der Erde und die<br />

Froschbrut im Wasser, und er läßt in seiner Barmherzigkeit seine Sonne aufgehen über Gute<br />

wie Böse und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (I, 18: 214f.).<br />

Aber Cervantes tut dies im Rahmen der paradoxen Verfaßtheit seiner Literatur,<br />

die oft beide Seiten der Medaille zur Sprache bringt und sich die (legitime) Freiheit<br />

nimmt, ironische Spitzen gegen manche Zustände in Kirche und Gesellschaft seiner<br />

Zeit zu streuen sowie Akzente im Sinn einer Laienreligiosität zu setzen, die, ohne<br />

das Ordensleben gering zu schätzen, von der allgemeinen Berufung eines Christenmenschen<br />

zur Heiligkeit ausgeht – „Wir können nicht alle Mönche werden, und<br />

Gott hat der Wege viele, um seine Auserwählten zum Himmel zu führen“ (II, 8:<br />

747) –, also ein wesentliches Postulat der Alumbrados, Erasmianer und Mystiker<br />

teilt.<br />

Ebenso behandelt Cervantes die religiösen Themen des Quijote im Rahmen eines<br />

Literaturkonzeptes, das vom kirchlichen Dirigismus in Glaubens- und Sittenfragen<br />

ausgeht und sich das löblichste Ziel vorgenommen hat, „das ein Schriftsteller sich<br />

setzen kann, nämlich ... zu gleicher Zeit zu belehren und zu belustigen“ (I, 47: 619).<br />

Das beste Urteil über die religiösen Diskurse im Quijote scheint mir daher immer<br />

noch das der drei klugen inquisitorischen Zensoren des zweiten Teils zu sein, die,<br />

weil sie Cervantes’ Absicht des Belehrens und Belustigens verstanden und um den<br />

Unterschied zwischen Literatur und Theologie oder Moralphilosophie wußten, im<br />

Quijote nichts fanden, was der christlichen Glaubens- und Sittenlehre wirklich<br />

widerspräche. So haben sie dieses Werk wärmstens empfohlen 16 .<br />

Aber ein solches Urteil beantwortet nicht die Frage nach der Religiosität von<br />

Cervantes selbst. Sofern man aus dem Quijote Schlüsse hierzu ziehen darf, so wäre<br />

231


Mariano Delgado<br />

diese weder im Erasmianismus noch in einem streng tridentinischen Volkskatholizismus<br />

zu vermuten, sondern in einer Seelenverwandtschaft mit der geistigen Weite<br />

der Mystiker, die um den paulinischen Überschuß der Gnade wußten und letztlich<br />

für alle hofften, daß bei Gott die Liebe über die Gerechtigkeit siegen wird. So finde<br />

ich Cervantes’ Religiosität am ehesten im folgenden Rat Don Quijotes an den Gouverneur<br />

Sancho ausgedrückt:<br />

„Mußt du einem Schuldigen sein Urteil sprechen ... erweise dich ihm ... mitleidig und<br />

gnädig, denn obwohl alle Eigenschaften Gottes gleich groß sind, so strahlt und leuchtet doch<br />

in unsern Augen seine Barmherzigkeit mehr als seine Gerechtigkeit“ (II, 42: 1058).<br />

Allein für diese „mystische“ Frohbotschaft lohnt es sich noch heute, daß Theologen<br />

im Cervantes-Jahr 2005 den Quijote lesen.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Die deutsche Version des Quijote wird nach folgender Übersetzung zitiert: Miguel de Cervantes<br />

Saavedra, Der scharfsinnige Ritter Don Quixote von der Mancha. Mit einem Essay von I. Turgenjew und<br />

einem Nachwort von A. Jolles. Mit Illustrationen von G. Doré. 3 Bde. mit laufender Seitenzählung<br />

(Frankfurt 1979). Bei den Zitaten im Haupttext wird in Klammern auf Teil, Kapitel und Seite dieser<br />

Ausgabe hingewiesen. Für die Originalversion kann folgende kritische Ausgabe herangezogen werden:<br />

Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha. Edición del Instituto Cervantes dirigida por F. Rico,<br />

con la colaboración de J. Forradellas. Estudio preliminar de F. Lázaro Carreter (Barcelona 1998).<br />

2 Teresa de Avila, Obras completas, hg. v. E. de la Madre de Dios u. O. Steggink (Madrid 91997) Vida 26,<br />

6: 142; dt. Ausgabe: Teresa von Avila, Das Buch meines Lebens. Gesammelte Werke, Bd. 1, hg. v. U.<br />

Dobhan u. E. Peeters (Freiburg 32004) 380.<br />

3 Ebd., Vida 33, 5: 179; dt. Ausgabe 488.<br />

4 Näheres dazu in: M. Delgado, Mystik in harten Zeiten. Zum historischen Kontext der Mystik von<br />

Teresa de Avila u. Juan de la Cruz., in: ZKG 111 (2000) 56–69.<br />

5 F. Caballero, Conquenses ilustres. Vol. II: Melchor Cano (Madrid 1871) 536–561, 542.<br />

6 Hier zit. nach S. Muñoz Iglesias, Lo religioso en el Quijote (Toledo 1989) 287.<br />

7 Vgl. vor allem A. Castro, El pensamiento de Cervantes (Barcelona 1980) 245, 248.<br />

8 Ebd. 245, 256.<br />

9 M. Bataillon, Erasmo y España. Etudios sobre la historia espiritual del siglo XVI (México 1986) 785.<br />

10 Ebd. 793.<br />

11 Vgl. S. 930 der in A. 1 zitierten spanischen Ausgabe.<br />

12 Vgl. Muñoz Iglesias (A. 6) 303–306.<br />

13 Ebd. 316.<br />

14 Castro (A. 7) 256–260.<br />

15 Vgl. Muñoz Iglesias (A. 6) 319–337.<br />

16 Vgl. die drei Gutachten in der krit. span. Ausgabe (A. 1) 609–612.<br />

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