Zu den Aufgaben der deutschen Friedensbewegung beim ... - DSS
Zu den Aufgaben der deutschen Friedensbewegung beim ... - DSS Zu den Aufgaben der deutschen Friedensbewegung beim ... - DSS
D resdener Studiengemeinschaft SICHERHEITSPOLITIK e. V. (DSS) Frieden und Krieg an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend Beiträge zum zum 8. Dresdner Friedenssymposium am 12. Februar 2000 DSS-Arbeitspapiere Heft 53 – 2000
- Seite 2 und 3: Herausgeber: Dresdener Studiengemei
- Seite 4 und 5: Steffi Belke Begrüßung Liebe Frie
- Seite 6 und 7: Dazu - und zu den daraus resultiere
- Seite 8 und 9: und darunter nicht zuletzt auch die
- Seite 10 und 11: suchte, war Francis Fukuyama mit se
- Seite 12 und 13: Von ernstzunehmender Bedeutung sind
- Seite 14 und 15: gemacht hat - die Bereitschaft zu n
- Seite 16 und 17: wurden, welche der USA-Imperialismu
- Seite 18 und 19: Operationsplanes einschließlich en
- Seite 20 und 21: auf Hegel erklärt: „Ohne den Kri
- Seite 22 und 23: USA durchgesetzte - Fehlentscheidun
- Seite 24 und 25: schen Interventionen, bei denen es
- Seite 26 und 27: eabsichtigte Vorfall ist tragische
- Seite 28 und 29: Wehrpflicht auch auf Frauen ausdehn
- Seite 30 und 31: Bedrohliches tut. So blieben wir me
- Seite 32 und 33: auf diesem Politikfeld gab, zeigten
- Seite 34 und 35: Rechtsbestand bis zur Währung, wer
- Seite 36 und 37: nächste Akt, der den Konflikt mit
- Seite 38 und 39: Volker Bialas Der Gewalt widerstehe
- Seite 40 und 41: entstiegen sei und sogleich ohne l
- Seite 42 und 43: zwischen den Staaten, ist nur zu er
- Seite 44 und 45: das alte ius ad bellum, das von den
- Seite 46 und 47: deutsche Generalität diesen Einflu
- Seite 48 und 49: daß die Streitkräfte und die Rüs
- Seite 50 und 51: Ludendorff als Pate der NATO-Aggres
D res<strong>den</strong>er Studiengemeinschaft SICHERHEITSPOLITIK e. V. (<strong>DSS</strong>)<br />
Frie<strong>den</strong> und Krieg<br />
an <strong>der</strong> Schwelle zu<br />
einem neuen Jahrtausend<br />
Beiträge zum<br />
zum 8. Dresdner Frie<strong>den</strong>ssymposium<br />
am 12. Februar 2000<br />
<strong>DSS</strong>-Arbeitspapiere<br />
Heft 53 – 2000
Herausgeber: Dres<strong>den</strong>er Studiengemeinschaft SICHERHEITSPOLITIK e. V. ( <strong>DSS</strong> )<br />
Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong>: Prof. Dr. Rolf Lehmann Schneebergstraße 2 01277 Dres<strong>den</strong><br />
<strong>Zu</strong>m Achten Dresdner Frie<strong>den</strong>ssymposium hatten eingela<strong>den</strong>:<br />
die Sächsische Frie<strong>den</strong>sinitiative gemeinsam mit:<br />
DGB Kreis Dres<strong>den</strong>,<br />
Dres<strong>den</strong>er Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (<strong>DSS</strong>) e. V.,<br />
Gemeinschaft für Menschenrechte im Freistaat Sachsen e. V.,<br />
IPPNW, Ärzte in sozialer Verantwortung,<br />
Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V., Arbeitskreis Dres<strong>den</strong>.<br />
Redaktion: Prof. Dr. Siegfried Schönherr<br />
Druckvorbereitung und Vertrieb, V.i.S.d.P.: Dr. Joachim Klopfer<br />
Am Jägerpark 52, 01099 Dres<strong>den</strong>; Fon: 0351 8030122, Fax: 0351 8036401<br />
Beiträge im Rahmen <strong>der</strong> Schriftenreihe „<strong>DSS</strong>-Arbeitspapiere“ geben die Ansichten <strong>der</strong> Autoren wie<strong>der</strong>, mit <strong>den</strong>en<br />
sich Herausgeber und Redaktion nicht in jedem Fall i<strong>den</strong>tifizieren.<br />
Alle Rechte und Pflichten im Sinne des Urheberrechtsgesetzes liegen bei <strong>den</strong> Autoren! Nachdruck und jede an<strong>der</strong>e<br />
vom Gesetz nicht ausdrücklich zugelassene Verwertung bedürfen ihrer <strong>Zu</strong>stimmung; zugleich haften sie dafür, dass<br />
durch die vorliegende Veröffentlichung ihrer Ausarbeitung nicht Schutzrechte An<strong>der</strong>er verletzt wer<strong>den</strong>.<br />
Redaktionsschluss: 24. März 2000 Kostenbeitrag: 3,50 Euro<br />
Schriftenreihe „<strong>DSS</strong>-Arbeitspapiere“ ISSN 1436-6010
STEFFI BELKE Begrüßung<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
ERNST WOIT <strong>Zu</strong> <strong>den</strong> <strong>Aufgaben</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong><br />
Frie<strong>den</strong>sbewegung <strong>beim</strong> Übergang<br />
ins XXI. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
WOLFGANG SCHELER Frie<strong>den</strong>sbewußtsein im Wi<strong>der</strong>stand<br />
gegen Krieg und Militarisierung<br />
VOLKER BIALAS Der Gewalt wi<strong>der</strong>stehen -<br />
für eine Kultur des Frie<strong>den</strong>s<br />
LORENZ KNORR Primat des Militärischen<br />
contra Volkssouveränität<br />
VIKTOR MAXIMOW Das XXI. Jahrhun<strong>der</strong>t ohne<br />
Waffen und Kriege<br />
JAN SUMAVSKI Der Medienkrieg - definierter Bestandteil<br />
des heißen Krieges<br />
Erklärung zum Abschluß des Achten<br />
Dresdner Frie<strong>den</strong>ssymposiums 2000<br />
4<br />
5<br />
29<br />
38<br />
43<br />
57<br />
59<br />
63<br />
3
Steffi Belke<br />
Begrüßung<br />
Liebe Frie<strong>den</strong>sfreundinnen, liebe Frie<strong>den</strong>sfreunde, sehr geehrte Gäste. Im<br />
Namen <strong>der</strong> Veranstalter und Organisatoren möchte ich Sie ganz herzlich zum<br />
Achten Dresdner Frie<strong>den</strong>ssymposium hier im Gewerkschaftshaus in Dres<strong>den</strong><br />
begrüßen.<br />
Wir freuen uns beson<strong>der</strong>s, daß neben vielen Aktiven aus ganz Deutschland<br />
auch in diesem Jahr Freunde <strong>der</strong> Tschechischen Frie<strong>den</strong>sgesellschaft sowie<br />
Freunde aus Rußland an unserem Symposium teilnehmen können. Ihnen gilt<br />
unser beson<strong>der</strong>er Gruß.<br />
Es ist zu einer guten Tradition und zum Bedürfnis gewor<strong>den</strong>, Frie<strong>den</strong>sfreunde<br />
aus Deutschland, Interessenten und Gäste nach Dres<strong>den</strong> einzula<strong>den</strong>, um<br />
über brennende aktuelle und neu aufzuwerfende Fragen und Probleme <strong>der</strong><br />
Erhaltung und Sicherung des Frie<strong>den</strong>s in Europa und in <strong>der</strong> Welt zu diskutieren<br />
und Schlußfolgerungen für unsere Frie<strong>den</strong>sarbeit zu ziehen. Der 13. Februar,<br />
<strong>der</strong> Tag, an dem Dres<strong>den</strong> vor nunmehr 55 Jahren durch angloamerikanische<br />
Bomben in Schutt und Asche fiel und Tausende Menschen in<br />
<strong>der</strong> Flammenhölle <strong>der</strong> Brand- und Sprengbomben ihr Leben lassen mußten,<br />
ist uns immer wie<strong>der</strong> Anlaß und Mahnung, für eine frie<strong>den</strong>sför<strong>der</strong>nde Politik<br />
im <strong>Zu</strong>sammenleben <strong>der</strong> Völker einzutreten und diese von <strong>den</strong> Politikern<br />
einzufor<strong>der</strong>n.<br />
Die Hoffnung vieler Menschen auf eine Welt ohne Krieg, auf eine Welt ohne<br />
atomare Waffen, hat sich an <strong>der</strong> Schwelle zum neuen Jahrtausend nicht erfüllt.<br />
Der NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien, an dem sich die Bundesrepublik<br />
aktiv beteiligte, hat uns die bittere Wahrheit vor Augen geführt, daß<br />
<strong>der</strong> Krieg wie<strong>der</strong> als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele salonfähig gemacht<br />
wer<strong>den</strong> soll und Militäreinsätze - als alternativlos propagiert - durchgeführt<br />
wer<strong>den</strong>.<br />
Dem können wir nicht tatenlos zusehen. Will die Frie<strong>den</strong>sbewegung kriegsverhin<strong>der</strong>nd<br />
wirken, so muß sie sich selbst und die Öffentlichkeit über die<br />
Ursachen und <strong>den</strong> Charakter heutiger und künftiger Kriege aufklären. Sie<br />
muß in diesem Sinne nicht nur reagieren, son<strong>der</strong>n agieren. Die internationale<br />
Vernetzung <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung und ihrer Aktivitäten wird dabei von immer<br />
größerer Bedeutung. Das Dresdner Frie<strong>den</strong>ssymposium will dazu mit<br />
dem heutigen Thema Frie<strong>den</strong> und Krieg an <strong>der</strong> Schwelle zu einem neuen<br />
Jahrtausend einen konkreten Beitrag leisten.<br />
4
Ernst Woit<br />
<strong>Zu</strong> <strong>den</strong> <strong>Aufgaben</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung<br />
<strong>beim</strong> Übergang ins 21. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
Unter dem Gesichtspunkt ihres grundlegen<strong>den</strong> Zieles, dazu beizutragen, daß<br />
die menschliche Gesellschaft von <strong>der</strong> Geißel des Krieges befreit wird und dazu<br />
übergeht, die unvermeidlichen politischen Konflikte mit friedlichen Mitteln<br />
zu lösen, haben sich die <strong>Aufgaben</strong> auch <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung<br />
nicht verän<strong>der</strong>t. Ich kann deshalb nur bekräftigen, was dazu im Frie<strong>den</strong>s-<br />
Memorandum 1999 ausgeführt ist: „Eine Welt ohne Krieg und ohne Waffen<br />
ist und bleibt unser Ziel, ist und bleibt unsere For<strong>der</strong>ung, für die wir uns mit<br />
aller Kraft einsetzen.“<br />
Ausgehend davon betont das Frie<strong>den</strong>s-Memorandum 1999 die Notwendigkeit,<br />
„breite Kreise <strong>der</strong> Bevölkerung für Fragen von Krieg und Frie<strong>den</strong> zu<br />
sensibilisieren und sie in die Auseinan<strong>der</strong>setzung um Fragen von Rüstungsbegrenzung<br />
und drastische Einschränkung von Rüstungsproduktion hineinzuziehen.“<br />
Erklärtes Ziel dieser Auseinan<strong>der</strong>setzung ist es, „<strong>den</strong> Frie<strong>den</strong>swillen<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung in so hohem Maße zu stärken, daß je<strong>der</strong> Versuch von<br />
Kriegspolitik auf ernsthaften Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Menschen dieses Landes trifft.“ 1<br />
Allerdings gilt es, diese <strong>Aufgaben</strong> unter objektiven Bedingungen zu erfüllen,<br />
die sich - wie in <strong>den</strong> vergangenen zehn Jahren immer deutlicher gewor<strong>den</strong><br />
ist - tiefgreifend, qualitativ zu Ungunsten <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung verän<strong>der</strong>t<br />
haben. Nichts hat das deutlicher gemacht als <strong>der</strong> Aggressionskrieg <strong>der</strong> NATO<br />
gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. <strong>Zu</strong> Recht heißt es deshalb in <strong>den</strong> Anregungen<br />
des Bundesausschusses des Kasseler Frie<strong>den</strong>sratschlags für die<br />
Frie<strong>den</strong>sbewegung vom 5. Juni 1999: „Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien<br />
und die deutsche Beteiligung daran müssen Gegenstand einer fundierten wissenschaftlich-politischen<br />
Aufarbeitung durch die Frie<strong>den</strong>sbewegung bleiben.<br />
Dabei muß deutlich gemacht wer<strong>den</strong>, daß die Menschheit nur dann eine <strong>Zu</strong>kunft<br />
hat, wenn es ihr gelingt, aus <strong>der</strong> jahrhun<strong>der</strong>tealten Logik des Krieges<br />
heraus zu kommen und eine umfassende Logik des Frie<strong>den</strong>s und <strong>der</strong> Gewaltfreiheit<br />
zu etablieren.“ Das hat allerdings unter Bedingungen zu geschehen,<br />
die sich grundlegend - ja sogar epochal - von jenen unterschei<strong>den</strong>, unter <strong>den</strong>en<br />
unsere Frie<strong>den</strong>sbewegung einmal entstan<strong>den</strong> und erstarkt ist.<br />
1 Frie<strong>den</strong>sratschlag-Bundesausschuß (Hrsg.), Frie<strong>den</strong>s-Memorandum 1999, Kassel 1999, S. 47.<br />
5
Dazu - und zu <strong>den</strong> daraus resultieren<strong>den</strong> Konsequenzen für die Sicherung <strong>der</strong><br />
Wirksamkeit unseres Frie<strong>den</strong>sengagements unter <strong>den</strong> neuen Bedingungen -<br />
möchte ich einige Überlegungen anstellen.<br />
Konsequenzen eines Epoche-Wechsels<br />
Von einem Epoche-Wechsel ist dann zu sprechen, wenn sich zwischen <strong>den</strong><br />
agieren<strong>den</strong> gesellschaftlichen Hauptkräften ein qualitativ verän<strong>der</strong>tes ökonomisches<br />
und politisches Kräfteverhältnis herausgebildet hat, das nicht zuletzt<br />
auch zu qualitativen Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Krieg-Frie<strong>den</strong>-Problematik führt.<br />
Je<strong>der</strong> wirkliche Epoche-Wechsel zwingt die politisch Handeln<strong>den</strong> bei Strafe<br />
ihres Scheiterns dazu, ihre Strategie und Taktik, ausgehend von <strong>der</strong> Analyse<br />
<strong>der</strong> entstan<strong>den</strong>en Lage und beson<strong>der</strong>s des verän<strong>der</strong>ten Kräfteverhältnisses,<br />
neu zu bestimmen. Für die Frie<strong>den</strong>sbewegung heißt das insbeson<strong>der</strong>e, sich<br />
Klarheit darüber zu verschaffen, welche Kriege von welchen politischen<br />
Kräften drohen und welche Abrüstungs- und Frie<strong>den</strong>skonzepte dagegen zu<br />
entwickeln sind. Nur auf diesem Wege lassen sich Argumente und Aktionslosungen<br />
entwickeln, die die Massen mobilisieren können. 2<br />
Meines Erachtens haben wir es mit einem epochalen Einschnitt zu tun, <strong>der</strong><br />
gerade hinsichtlich <strong>der</strong> Krieg-Frie<strong>den</strong>-Problematik durchaus mit jenen Einschnitten<br />
von 1917/1918 und von 1945 zu vergleichen ist. Dabei ist zu beachten,<br />
daß sich die volle Tragweite <strong>der</strong>artiger qualitativer Verän<strong>der</strong>ungen in<br />
<strong>den</strong> Kampfbedingungen erst allmählich offenbart. Das ist nicht zuletzt deshalb<br />
<strong>der</strong> Fall, weil das gesellschaftliche Bewußtsein gesetzmäßig hinter <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Realität zurück bleibt. Menschen neigen dazu, gerade an politischen<br />
Einschätzungen, Wertungen und Orientierungen länger festzuhalten<br />
als die gesellschaftliche Realität Bestand hat, aus <strong>der</strong> sie einmal gewonnen<br />
wur<strong>den</strong>. Bezeichnen<strong>der</strong>weise sind es insbeson<strong>der</strong>e Kriege, die solche in <strong>der</strong><br />
gesellschaftlichen Realität gleichsam unter <strong>der</strong> Oberfläche <strong>der</strong> Erscheinungen<br />
eingetretenen Verän<strong>der</strong>ungen dann sehr deutlich zum Ausdruck bringen und<br />
damit die Menschen zu einem entsprechen<strong>den</strong> Um- und Weiter<strong>den</strong>ken zwingen.<br />
So offenbarte 1914 die nationalistische, ja chauvinistische I<strong>den</strong>tifikation <strong>der</strong><br />
führen<strong>den</strong> Parteien <strong>der</strong> II. Internationale mit <strong>der</strong> Kriegspolitik ihrer imperialistischen<br />
Regierungen, daß die auf <strong>den</strong> Internationalen Sozialistenkongressen<br />
von Stuttgart (1907), von Kopenhagen (1910) und von Basel (1912) gefaßten<br />
Beschlüsse zur Vereitelung <strong>der</strong> imperialistischen Kriegspläne im Geiste des<br />
2 Vgl. E. Woit, Gedanken zum Epochewechsel, in: V. Bialas, H.-J. Häßler, E. Woit (Hrsg.), Die<br />
Kultur des Frie<strong>den</strong>s. Weltordnungsstrukturen und Frie<strong>den</strong>sgestaltung, Würzburg 1999, S.11 ff.<br />
6
proletarischen Internationalismus für sie nicht mehr galten. Geführt von<br />
Funktionären, die ihren Frie<strong>den</strong> mit <strong>der</strong> imperialistischen Bourgeoisie inzwischen<br />
längst gemacht hatten, riefen die führen<strong>den</strong> Politiker <strong>der</strong> II. Internationale<br />
im Moment des Kriegsbeginns, zusammen mit <strong>der</strong> Bourgeoisie, zur Vaterlandsverteidigung<br />
anstatt zum Generalstreik gegen <strong>den</strong> Krieg auf. Ähnlich<br />
verhielt es sich mit <strong>den</strong> angesehensten Wissenschaftlern, Schriftstellern und<br />
Künstlern Europas, die zunächst nahezu ausnahmslos ihren Beitrag zur chauvinistischen<br />
Kriegshetze <strong>der</strong> Regieren<strong>den</strong> leisteten. Und das geschah, obwohl<br />
viele von ihnen sich vor dem Kriege auch schon als weltoffene Vertreter einer<br />
europäischen Kultur verstan<strong>den</strong> hatten.<br />
Die Folge war bekanntlich eine Neuorientierung nahezu aller politischen<br />
Kräfte im Kriegsverlauf, <strong>der</strong>en wichtigstes Ergebnis die Spaltung und Neustrukturierung<br />
<strong>der</strong> Arbeiterbewegung war. Insbeson<strong>der</strong>e die Oktoberrevolution<br />
1917 in Rußland, die ja vor allem eine Antikriegs-Revolution war, offenbarte<br />
die gesellschaftsverän<strong>der</strong>n<strong>den</strong> Potenzen <strong>der</strong> ursprünglichen Antikriegs-<br />
Strategie <strong>der</strong> II. Internationale, die die russischen Bolschewiki unter W. I. Lenin<br />
bewahrt und konsequent weiterentwickelt hatten. Mit <strong>der</strong> russischen Oktoberrevolution<br />
begann eine Epoche wahrhaft welthistorischer Verän<strong>der</strong>ungen,<br />
die - unabhängig vom Scheitern dieses Versuchs, eine nichtkapitalistische,<br />
sozialistische Gesellschaft zu verwirklichen - bis heute nachwirken. Das Dekret<br />
über <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong> dieser Revolution ist meiner Meinung nach für alle wirklich<br />
Frie<strong>den</strong> wollen<strong>den</strong> Menschen mit seinen grundsätzlichen For<strong>der</strong>ungen<br />
unverän<strong>der</strong>t aktuell. Allerdings erfor<strong>der</strong>t eine Bezugnahme darauf, auch die<br />
Frage zu beantworten, seit wann und warum sich die Außenpolitik <strong>der</strong> Sowjetunion<br />
nicht mehr von diesen For<strong>der</strong>ungen leiten ließ. Eric Hobsbawm<br />
nennt die russische Oktoberrevolution von 1917 zu Recht auch heute noch<br />
„eine Revolution, die eine globale Konstante <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>tgeschichte wurde“,<br />
sie war „für dieses Jahrhun<strong>der</strong>t ein ebenso zentrales Ereignis, wie es die<br />
Französische Revolution von 1789 für das 19. Jahrhun<strong>der</strong>t gewesen war.“ 3<br />
Ein für die Differenz zwischen augenscheinlichen und zunächst noch verborgenen<br />
gesellschaftlichen Verän<strong>der</strong>ungen grundlegendes Ereignis war und ist<br />
für mich die Unterzeichnung <strong>der</strong> KSZE-Schlußakte von Helsinki 1975. Ich<br />
verhehle nicht, daß ich darin zunächst - und noch sehr lange - die endgültige<br />
völkerrechtlich verbindliche Bestätigung <strong>der</strong> Ergebnisse des II. Weltkrieges<br />
und <strong>der</strong> danach eingetretenen gesellschaftlichen Verän<strong>der</strong>ungen in Europa<br />
gesehen habe. Das betraf ja vor allem die Anerkennung <strong>der</strong> europäischen<br />
Nachkriegsgrenzen durch alle europäischen Staaten, die USA und Kanada -<br />
3 E. Hobsbawm, Das Zeitalter <strong>der</strong> Extreme, München u. Wien 1995, S. 78 u.79.<br />
7
und darunter nicht zuletzt auch die Existenz zweier deutscher Staaten. Heute<br />
wissen wir, daß sich im KSZE-Prozeß vor allem die Auflösung <strong>der</strong> Sowjetunion<br />
und <strong>der</strong> von ihr geführten politisch-ökonomischen und militärischen<br />
Bündnissysteme vollzog, was nicht nur das Ende <strong>der</strong> Block-Konfrontation<br />
zur Folge hatte, son<strong>der</strong>n mit dem Sieg des NATO-Imperialismus auch die<br />
Infragestellung <strong>der</strong> nach dem II. Weltkrieg in Europa entstan<strong>den</strong>en Staatsgrenzen.<br />
Vergangenheit - aus heutiger Sicht<br />
Die Beurteilung einer neuen Situation muß mit <strong>der</strong> erneuten Beurteilung jener<br />
beginnen, aus <strong>der</strong> die neue entstan<strong>den</strong> ist. Was müssen wir an unserer Einschätzung<br />
<strong>der</strong> vergangenen Situation im Frie<strong>den</strong>skampf vor allem hinterfragen<br />
- und gegebenenfalls korrigieren?<br />
Ich möchte das einmal auf einige Fragen zuspitzen: Ist <strong>der</strong> Krieg, auf dessen<br />
Verhin<strong>der</strong>ung wir über Jahrzehnte all unsere Anstrengungen konzentriert hatten,<br />
- ein alles vernichten<strong>der</strong> Raketenkernwaffenkrieg - nicht objektiv <strong>der</strong> unwahrscheinlichste<br />
Krieg gewesen? Aber: War nicht gerade die Angst vor einem<br />
Atomkrieg für sehr viele Menschen gerade in Deutschland das Hauptmotiv<br />
für ihr Engagement in <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung? Warum haben wir so<br />
viele Kriege, die weit weg von uns stattfan<strong>den</strong>, einfach ignoriert o<strong>der</strong> - wie die<br />
sowjetische Intervention in Afghanistan - unter dem Gesichtspunkt einer<br />
geistigen Block-Disziplin regelrecht verdrängt. O<strong>der</strong> war es einfach unser eurozentrisches<br />
Denken und Fühlen, daß uns Kriege in an<strong>der</strong>en Regionen<br />
manchmal gar nicht wahrnehmen ließ? Welche Aufmerksamkeit hat etwa <strong>der</strong><br />
Golfkrieg I zwischen dem Irak und dem Iran (1980 - 1988 ) in unserem Frie<strong>den</strong>sengagement<br />
vor dem Golfkrieg II gefun<strong>den</strong>? O<strong>der</strong> die auch für unser<br />
heutiges Handeln noch grundsätzliche Frage: Was für ein Krieg war eigentlich<br />
<strong>der</strong> Kalte Krieg? Und - beinahe noch wichtiger: Was für ein Frie<strong>den</strong> war <strong>der</strong><br />
Frie<strong>den</strong> des Kalten Krieges? Was für ein Kräfteverhältnis lag ihm zugrunde<br />
und welche Freiräume für Kriege ließ er außerhalb <strong>der</strong> unmittelbaren Interessen<br />
<strong>der</strong> USA und <strong>der</strong> Sowjetunion?<br />
Da halte ich es schon für anregend, wenn <strong>der</strong> italienische Philosoph Umberto<br />
Eco 1997 schreibt: „Es ist heute eine intellektuelle Pflicht, die Unmöglichkeit<br />
des Krieges zu proklamieren. Auch wenn es keine alternative Lösung gibt. Allenfalls<br />
wäre daran zu erinnern, daß unser Jahrhun<strong>der</strong>t eine exzellente Alternative<br />
zum Krieg gekannt hat, nämlich <strong>den</strong> ‚Kalten Krieg‘. Sooft er auch Gelegenheit<br />
zu Greueln, Ungerechtigkeit, Intoleranz, lokalen Konflikten und diffusem<br />
Terror geboten hat - am Ende wird die Geschichte zugeben müssen,<br />
daß <strong>der</strong> Kalte Krieg eine sehr humane und relativ sanfte Lösung war, bei <strong>der</strong><br />
8
es schließlich sogar Sieger und Besiegte gab. Aber es steht <strong>der</strong> intellektuellen<br />
Funktion nicht zu, Kalte Kriege zu erklären.“ 4<br />
Nach dem Kalten Krieg - Ende des UNO-Systems?<br />
<strong>Zu</strong> unserem bisherigen Verständnis dessen, was nun aber die neue Situation,<br />
das neue Kräfteverhältnis, und die daraus resultieren<strong>den</strong> Möglichkeiten von<br />
Kriegen und Frie<strong>den</strong> betrifft, möchte ich nur eine Frage aufwerfen: Wer von<br />
uns hat es ab wann für möglich gehalten, daß die NATO ohne UNO-Mandat<br />
gegen Jugoslawien - also in Europa - einen <strong>der</strong>art verbrecherischen Krieg<br />
führt? Dahinter steht die größere Frage: War diese erstmalig so offene und<br />
zynische Mißachtung des laut UNO-Charta <strong>beim</strong> UN-Sicherheitsrat liegen<strong>den</strong><br />
Gewaltmonopols in <strong>den</strong> internationalen Beziehungen eine Ausnahme o<strong>der</strong><br />
ein Präze<strong>den</strong>zfall für künftige Normalität im Umgang <strong>der</strong> USA und <strong>der</strong><br />
NATO mit Staaten, die sich ihnen nicht unterordnen wollen? Ich fürchte, wir<br />
müssen uns auf letzteres einstellen.<br />
Dafür spricht erstens das nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages und<br />
des RGW eindeutig zu Gunsten <strong>der</strong> USA und <strong>der</strong> NATO verän<strong>der</strong>te wirtschaftliche,<br />
politische und militärische Kräfteverhältnis in <strong>der</strong> Welt. Das<br />
Kräfteverhältnis, das vor allem im Ergebnis des II. Weltkrieges, <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Revolutionen in Europa und Asien sowie des Untergangs des<br />
klassischen kapitalistischen Kolonialsystems entstan<strong>den</strong> war, besteht heute<br />
nicht mehr.<br />
Dafür spricht zweitens die Entschlossenheit des USA-Imperialismus, sich<br />
bei <strong>der</strong> Verfolgung seiner globalstrategischen Ziele noch weniger als schon<br />
in <strong>der</strong> Vergangenheit vom kodifizierten Völkerrecht hin<strong>der</strong>n zu lassen.<br />
Das heißt., die schon immer bestehende Differenz zwischen <strong>den</strong> vertraglich<br />
vereinbarten Normen des Völkerrechts und ihrer praktischen Einhaltung<br />
durch imperialistische Mächte wird größer.<br />
Dafür spricht schließlich drittens die Fähigkeit <strong>der</strong> USA und <strong>der</strong> NATO,<br />
über die ihnen verfügbaren Massenmedien <strong>der</strong>artige imperialistische Aggressionskriege<br />
für eine hinreichende Mehrheit ihrer Bürger und <strong>der</strong> Weltöffentlichkeit<br />
zumindest zeitweise überzeugend als notwendige und gerechte<br />
humanitäre Interventionen gegen sogenannte Schurkenstaaten erscheinen<br />
zu lassen und sie damit erst einmal politisch und moralisch zu<br />
rechtfertigen.<br />
Einer <strong>der</strong> ersten US-amerikanischen Strategen, <strong>der</strong> unmittelbar nach dem Ende<br />
des Kalten Krieges <strong>den</strong> Weltherrschaftsanspruch <strong>der</strong> USA zu begrün<strong>den</strong><br />
4 U. Eco, Vier moralische Schriften, München und Wien 1998, S. 34 f.<br />
9
suchte, war Francis Fukuyama mit seinem scheinphilosophischen Theorem<br />
vom Ende <strong>der</strong> Geschichte. Fukuyama, damals stellvertreten<strong>der</strong> Planungschef<br />
im US-State Department, publizierte Zielvorstellungen, die heute, nach dem<br />
Aggressionskrieg gegen Jugoslawien, als durchaus ernst zu nehmende Ankündigungen<br />
gewertet wer<strong>den</strong> müssen. So rechtfertigte er nicht nur nachträglich<br />
noch „die Bombardierung Dres<strong>den</strong>s und Hiroshimas ..., die man“, wie er zynisch<br />
formulierte, „früher als Völkermord bezeichnet hätte.“ Er stellte auch<br />
direkt die UN-Charta und das gesamte UNO-System wegen des darin festgeschriebenen<br />
Prinzips <strong>der</strong> souveränen Gleichheit aller Mitgliedstaaten in Frage<br />
und for<strong>der</strong>te, man müsse sich „mehr an <strong>der</strong> NATO orientieren als an <strong>der</strong><br />
UNO. Es ginge dann um einen Bund wirklich freier Staaten ... Ein solcher<br />
Bund wäre vermutlich viel eher zu einer militärischen Aktion fähig, um seine<br />
kollektive Sicherheit gegen Bedrohungen aus dem nichtdemokratischen Teil<br />
<strong>der</strong> Welt zu schützen.“ 5<br />
<strong>Zu</strong>gleich sind die USA nach Zbigniew Brzezinski heute „die einzige wirkliche<br />
Weltmacht“, ist insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> gesamte eurasische Kontinent „von amerikanischen<br />
Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät ...“ 6<br />
Tatsächlich hat gerade <strong>der</strong> Verlauf <strong>der</strong> NATO-Aggression gegen Jugoslawien<br />
gezeigt, wie schwach Rußland heute ist und wie relativ leicht es <strong>den</strong> Aggressoren<br />
fiel, dieses Rußland in ihre Politik einzubin<strong>den</strong>. Da ist dann die Tatsache,<br />
daß Rußland noch einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat - auch für<br />
die Erwartungen <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung - bestenfalls noch von taktischer Bedeutung.<br />
Ebenso schwierig dürfte es sein vorherzusagen, welche Positionen<br />
die asiatische Großmacht China in künftigen Situationen konkreter Frie<strong>den</strong>sgefährdung<br />
und bei militärischen Aggressionshandlungen <strong>der</strong> USA und <strong>der</strong><br />
NATO einnimmt.<br />
Auf diesem Hintergrund möchte ich jetzt einige Bemerkungen zum Krieg,<br />
<strong>den</strong> Rußland seit Monaten in Tschetschenien führt, machen. Es geht in diesem<br />
Krieg um wesentlich mehr als um die formal immer noch zur Russischen Fö<strong>der</strong>ation<br />
gehörende Republik Tschetschenien. Anfang dieses Jahres schrieb<br />
Brzezinski, daß Rußlands Krieg im Kaukasus „<strong>den</strong> <strong>Zu</strong>gang <strong>der</strong> westlichen<br />
Län<strong>der</strong> zu <strong>den</strong> Energieressourcen im Kaspischen Meer in Frage stellt.“ 7<br />
5 F. Fukuyama, Das Ende <strong>der</strong> Geschichte, München 1992, S. 378 f.<br />
6 Z. Brzezinski, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie <strong>der</strong> Vorherrschaft, Weinheim und<br />
Berlin 1997, S. 41.<br />
7 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.01.2000.<br />
10
Damit dürfte <strong>der</strong> Kern <strong>der</strong> gegenwärtig in dieser Region ausgetragenen Interessenkonflikte<br />
markiert sein. Bis 1991 war das Kaspische Meer ein zwischen<br />
<strong>der</strong> UdSSR und dem Iran aufgeteiltes Binnenmeer. Seitdem sind auf dem Territorium<br />
um das Kaspische Meer, das einst Teil <strong>der</strong> UdSSR war, acht selbständige<br />
Staaten entstan<strong>den</strong>: Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan,<br />
Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan. Auf dem Bo<strong>den</strong><br />
aller dieser Staaten gibt es reiche Erdöl- und Erdgasvorkommen bzw. Pipelines<br />
zur Beför<strong>der</strong>ung dieser Bo<strong>den</strong>schätze. Selbstverständlich haben diese<br />
Staaten ein Interesse an <strong>der</strong> gewinnbringen<strong>den</strong> Vermarktung dieser ihrer<br />
Schätze. Interesse an diesem inzwischen größten erkundeten Energiereservoir<br />
<strong>der</strong> Welt haben aber auch die mächtigsten kapitalistischen Erdölkonzerne, die<br />
dort schon etliche Milliar<strong>den</strong> Dollar investiert haben. Insofern ist es das gemeinsame<br />
Interesse <strong>der</strong> USA und <strong>der</strong> selbständigen neuen Staaten <strong>der</strong> Region<br />
um das Kaspische Meer, zunächst das russische Transportmonopol für Erdöl<br />
und Erdgas zu brechen und dann Rußland dauerhaft aus dem Nahen und<br />
Mittleren Osten zu verdrängen.<br />
Dagegen versucht sich Rußland zu wehren. Nach Brzezinski steht Rußland in<br />
dieser Auseinan<strong>der</strong>setzung „vor einem Dilemma: Es ist politisch zu schwach,<br />
um die Region völlig von <strong>der</strong> Außenwelt abzuriegeln, und zu arm, um das<br />
Gebiet allein zu erschließen.“ 8<br />
Aber auch die USA haben ihre Probleme: „Amerika ist geographisch zu weit<br />
entfernt, um in diesem Teil Eurasiens eine beherrschende Rolle zu spielen,<br />
aber es ist zu mächtig, um unbeteiligt zuzusehen.“ Hingegen seien die Türkei<br />
und <strong>der</strong> Iran „stark genug, um ihren Einfluß geltend zu machen ...“ 9<br />
Als in <strong>der</strong> Region gelegene islamische Mittelmächte sind die Türkei und <strong>der</strong><br />
Iran tatsächlich die für <strong>den</strong> <strong>Zu</strong>gang zu dieser Region sowie ihre Beherrschung<br />
und Ausbeutung entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> strategischen Schlüsselmächte. Brzezinski<br />
nennt es dann das primäre Interesse <strong>der</strong> USA, „dafür zu sorgen, daß keine<br />
einzelne Macht die Kontrolle über dieses Gebiet erhält“, son<strong>der</strong>n die von <strong>den</strong><br />
USA geführte „Weltgemeinschaft ungehin<strong>der</strong>ten finanziellen und wirtschaftlichen<br />
<strong>Zu</strong>gang zu ihr hat.“ 10<br />
Dabei setzen die USA auf die Stärkung des NATO-Staates Türkei und seines<br />
Einflusses auf die Kaukasusstaaten. 11<br />
8<br />
Z. Brzezinski, Die einzige Weltmacht, a.a.O., S. 206.<br />
9<br />
Ebenda, S. 215.<br />
10<br />
Ebenda. Vgl. auch: Ch. Neef, Griff nach dem Öl, in: Der Spiegel, Hamburg, 02/2000, S. 116 f.<br />
11 Vgl. ebenda, S. 217.<br />
11
Von ernstzunehmen<strong>der</strong> Bedeutung sind in diesem <strong>Zu</strong>sammenhang <strong>der</strong> 1996<br />
abgeschlossene Vertrag über militärisches <strong>Zu</strong>sammenwirken zwischen <strong>der</strong><br />
Türkei und Israel 12 sowie die im November 1999 während des OSZE-Gipfels<br />
in Istanbul abgeschlossenen Verträge zwischen <strong>der</strong> Türkei, Georgien und Aserbaidschan<br />
sowie <strong>der</strong> Türkei, Turkmenistan und Kasachstan über <strong>den</strong> Bau<br />
von Pipelines, die Erdöl und Erdgas aus <strong>den</strong> Län<strong>der</strong>n um das Kaspische Meer<br />
an die türkische Mittelmeerküste bringen sollen, ohne noch russisches Territorium<br />
zu berühren.<br />
Der nach immerhin sechsjährigen Verhandlungen auf dem OSZE-Gipfel in<br />
Istanbul vorgenommene Abschluß <strong>der</strong> Pipeline-Verträge veranlaßte <strong>den</strong> russischen<br />
Präsi<strong>den</strong>ten Jelzin, diesen Gipfel wutschnaubend zu verlassen, und<br />
führte dazu, daß Rußland wenige Tage später - gegen <strong>den</strong> wüten<strong>den</strong> Protest<br />
<strong>der</strong> USA - mit dem Iran vereinbarte, <strong>den</strong> Bau des Kernkraftwerkes Buschehr<br />
fortzusetzen. Es ist immerhin ein Projekt von 2 Milliar<strong>den</strong> Dollar und durchaus<br />
geeignet, dem Iran die Voraussetzungen für die Produktion von Kernwaffen<br />
zu verschaffen.<br />
Konsequenzen für die Frie<strong>den</strong>sbewegung<br />
Bereits aus dem bisher Skizzierten ergeben sich eine Reihe von Entwicklungsten<strong>den</strong>zen<br />
und Konsequenzen, mit <strong>den</strong>en sich die Frie<strong>den</strong>sbewegung bisher<br />
noch kaum auseinan<strong>der</strong>gesetzt hat. Einige seien hier hervorgehoben:<br />
Das in Kapitel VI <strong>der</strong> UNO-Charta völkerrechtlich verbindlich festgelegte<br />
Monopol des UN-Sicherheitsrates, über die Anwendung von militärischer<br />
Gewalt bei internationalen Streitigkeiten zu entschei<strong>den</strong>, wird durch<br />
die permanente Mißachtung dieses Monopols seitens <strong>der</strong> USA, Großbritanniens<br />
und <strong>der</strong> NATO de facto bereits weitgehend ignoriert. Ich erinnere<br />
hier nur daran, daß die nun schon seit Jahren ohne UN-Mandat erfolgende<br />
beinahe tägliche Bombardierung irakischen Territoriums durch USamerikanische<br />
und britische Flugzeuge inzwischen kaum noch eine Meldung<br />
in <strong>den</strong> Medien wert ist.<br />
Der völkerrechtlich entschei<strong>den</strong>de Hintergrund für die Mißachtung des<br />
Gewaltmonopols <strong>der</strong> UN ist die immer offenere Infragestellung <strong>der</strong> souveränen<br />
Gleichheit aller ihrer Mitglie<strong>der</strong>, laut Art. 2.1 <strong>der</strong> Charta <strong>der</strong> UN<br />
die Basis dieser Staatengemeinschaft, aus <strong>der</strong> auch das Verbot resultiert,<br />
sich in Angelegenheiten einzumischen, „die ihrem Wesen nach zur inneren<br />
<strong>Zu</strong>ständigkeit eines Staates gehören“ (Art 2.7). Allerdings gehört zur Diskussion<br />
<strong>der</strong> Problematik Gewaltmonopol <strong>der</strong> UN auch die Tatsache, daß<br />
12 Vgl. E. Woit, Panzer für die Türkei, in: Marxistische Blätter, Essen, Heft 37/1999, S.1.<br />
12
es bisher niemals zu <strong>der</strong> in Art. 46 und 47 <strong>der</strong> UN-Charta festgelegten<br />
Anwendung von Waffengewalt unter unmittelbarer Verantwortung des Sicherheitsrates<br />
und eines ihm unterstehen<strong>den</strong> Generalstabsausschusses gekommen<br />
ist. Als <strong>der</strong> damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali<br />
in seiner im Januar 1992 - also nach dem Golfkrieg II - vorgelegten Agenda<br />
für <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong> vorschlug, die Rolle des UN-Sicherheitsrates bei <strong>der</strong><br />
Kriegs-Prävention erheblich zu verstärken, zugleich aber dem UN-<br />
Generalsekretär „Truppen zur Frie<strong>den</strong>sdurchsetzung“ zu unterstellen, um<br />
nach entsprechendem Beschluß des Sicherheitsrates sofort handeln zu<br />
können, 13 verweigerten die USA und <strong>der</strong>en Verbündete nicht nur die Diskussion<br />
dieses Dokuments. Es fiel zugleich die Entscheidung, daß dieser<br />
UN-Generalsekretär als erster und bisher einziger keine zweite Amtszeit<br />
bekommen würde.<br />
Zahlreiche Staaten und ihre Grenzen, wie sie sich im Ergebnis des<br />
II. Weltkrieges und des Zerfalls des ursprünglichen kapitalistischen Kolonialsystems<br />
und im Rahmen <strong>der</strong> UNO konstituiert hatten, wer<strong>den</strong> heute<br />
von innen und außen in Frage gestellt und verän<strong>der</strong>t. Teilweise geschieht<br />
das ohne Anwendung von Waffengewalt (wie z.B. im Falle <strong>der</strong> CSSR),<br />
sehr häufig aber in Form von Kriegen.<br />
Immerhin sind im vergangenen Jahrzehnt nicht weniger als 23 neue Staaten<br />
entstan<strong>den</strong>, wodurch sich für 170 Millionen Menschen die Staatszugehörig-keit<br />
verän<strong>der</strong>t hat. 14<br />
Faktisch ist in diesem <strong>Zu</strong>sammenhang eine Neuaufteilung <strong>der</strong> Welt längst<br />
im Gange, wobei die USA bestrebt sind, eine ihrer Weltherrschaft adäquate<br />
Neue Weltordnung zu installieren. In Europa sind inzwischen mit dem<br />
Zerfall <strong>der</strong> Sowjetunion, <strong>der</strong> Tschechoslowakei und Jugoslawiens faktisch<br />
nicht nur die territorialen Resultate des II. Weltkrieges, son<strong>der</strong>n auch die<br />
des I. Weltkrieges bereits weitgehend korrigiert, woran insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong><br />
deutsche Imperialismus als Verlierer bei<strong>der</strong> Weltkriege ein spezifisches Interesse<br />
hatte und hat.<br />
Für die deutsche Frie<strong>den</strong>sbewegung ist dabei die Erkenntnis wichtig, daß<br />
<strong>der</strong> in Richtung Ost- und Südosteuropa zielende deutsche Revanchismus<br />
niemals aufgegeben wurde und - wie <strong>der</strong> Krieg gegen Jugoslawien deutlich<br />
13<br />
Vgl. B. Boutros-Ghali, Agenda für <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong>. Vorbeugende Diplomatie, Frie<strong>den</strong>sschaffung,<br />
Frie<strong>den</strong>ssicherung, New York 1992, S.29 ff.<br />
14<br />
Es handelt sich um folgende Staaten: Litauen, Estland, Lettland, Weißrußland, Ukraine, Kasachstan,<br />
Tschechien, Georgien, Armenien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Aserbaidschan,<br />
Bosnien-Herzegowina, Moldawien, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgistan, Mazedonien, Namibia,<br />
Eritrea, Tadschikistan, Palau. Vgl. Focus, München, Heft 43/1999, S. 382 f.<br />
13
gemacht hat - die Bereitschaft zu neuen Kriegen einschließt. 15 Nach wie<br />
vor gilt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1972,<br />
nach dem die Bundesrepublik Deutschland Anspruch auf die Grenzen von<br />
1937 erhebt. In einem Grundsatzartikel erklärte <strong>der</strong> damalige Bundesaußenminister<br />
Klaus Kinkel 1993: „Zwei <strong>Aufgaben</strong> gilt es parallel zu meistern.<br />
Im Innern müssen wir wie<strong>der</strong> zu einem Volk wer<strong>den</strong>, nach außen gilt<br />
es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind.“ 16 Wie<br />
groß dabei <strong>der</strong> Appetit ist, verdeutlicht die Tatsache, daß <strong>der</strong> Amtsvorgänger<br />
Kinkels als Außenminister, Genscher, nachdem er die Zerschlagung<br />
<strong>der</strong> Bundesrepublik Jugoslawien eingeleitet hatte, 1992 die norditalienischen<br />
Separatisten mit <strong>den</strong> Worten ermunterte, <strong>der</strong> nördliche Teil Italiens<br />
werde „entdecken, daß er mehr gemeinsame Interessen mit Süddeutschland<br />
als mit Süditalien hat.“ 17<br />
Die weitgehende Aufhebung des Gewaltmonopols <strong>der</strong> UNO, die unübersehbare<br />
Infragestellung <strong>der</strong> Grenzen und <strong>der</strong> Souveränität einzelner Staaten<br />
und <strong>der</strong> Erfolg bewaffneter Sezessionsbewegungen, wie <strong>der</strong> albanischen<br />
UCK in Jugoslawien, führen international zu einem Anwachsen von<br />
Sezessionsbestrebungen und Sezessionskriegen, wodurch zahlreiche in <strong>den</strong><br />
vergangenen 50 Jahren anerkannte Staaten und ihre Grenzen in Frage gestellt<br />
wer<strong>den</strong>. Das setzt beson<strong>der</strong>s dort ein überaus explosives Potential<br />
frei, wo die imperialistischen Kolonialmächte ihre ehemaligen Kolonien –<br />
sehr oft in <strong>der</strong> deutlichen Absicht zu teilen, um weiterhin herrschen zu<br />
15 Vgl. u.a. W. v. Gol<strong>den</strong>bach u. H.-R. Minow, Von Krieg zu Krieg. Die deutsche Außenpolitik<br />
und die ethnische Parzellierung Europas, 3. Aufl., Berlin 1999. Mit welcher strategischen Weitsicht<br />
die BRD auch die Expansion ihres Staatsgebietes plant, offenbart das 1993 eingeführte<br />
System <strong>der</strong> Postleitzahlen. Ein aufmerksamer Bürger, dem aufgefallen war, daß in <strong>den</strong> Regionen<br />
mit <strong>den</strong> Anfangszahlern 0, 1, 4 und 6 einige Zahlen fehlen und <strong>der</strong> sich daraufhin an das<br />
Postministerium wandte, erhielt von <strong>der</strong> Generaldirektion <strong>der</strong> Deutschen Bundespost ein<br />
Schreiben, in dem es u.a. hieß: „Der Rest ist für die <strong>Zu</strong>kunft reserviert, um das System numerisch<br />
elastisch zu halten, damit es möglichst lange Bestand haben kann. Wir sprechen in diesen<br />
Fällen von sogenannten Wachstumsreserven.“ Es handelt sich in allen Fällen, wo Postleitzahlen<br />
bisher freigehalten wer<strong>den</strong>, um Grenzbereiche, und zwar um Pommern, Schlesien und das<br />
Sudetenland im Osten sowie Eupen und Malmedy im Westen! Vgl. Neues Deutschland, Berlin,<br />
vom 24.11.1997, S. 2.<br />
16 K. Kinkel, Verantwortung, Realismus, <strong>Zu</strong>kunftssicherung. Deutsche Außenpolitik in einer sich<br />
neu ordnen<strong>den</strong> Welt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 03. 1993. Aufschlußreich ist,<br />
wie <strong>der</strong> gegenwärtige deutsche Außenminister diesen dritten Versuch definiert: „Die Vollendung<br />
<strong>der</strong> europäischen Integration bleibt ... die wichtigste Aufgabe <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Politik. ... Die Osterweiterung<br />
<strong>der</strong> EU ist ein notwendiger Bestandteil <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung.“ Vgl. J.<br />
Fischer, Außenpolitik im Wi<strong>der</strong>spruch, in: Die Zeit, Hamburg vom 03.02.2000, S.45.<br />
17 Nach G. Feldbauer, Barbarossa und die Lega Nord, in: Neues Deutschland, Berlin, vom<br />
14<br />
01./02.06.1996, S. 11.
können - mit Grenzen in die staatliche Unabhängigkeit entlassen haben,<br />
die mit dem Lineal quer durch die verschie<strong>den</strong>sten Ethnien gezogen wur<strong>den</strong>.<br />
Schließlich besteht eine Konsequenz dieser Entwicklungen darin, daß unsere<br />
unter <strong>den</strong> Bedingungen des Kalten Krieges und <strong>der</strong> nuklearen Blockkonfrontation<br />
entstan<strong>den</strong>e Frie<strong>den</strong>sbewegung selbst in eine Krise - ähnlich<br />
<strong>der</strong> von 1914 - geraten ist, die sie nur meistern kann, wenn sie sich kritisch<br />
und selbstkritisch mit <strong>den</strong> qualitativ und strategisch verän<strong>der</strong>ten Bedingungen<br />
des Frie<strong>den</strong>skampfes auseinan<strong>der</strong>setzt, d.h. zunächst einmal die<br />
entstan<strong>den</strong>e Lage gründlich analysiert und - ausgehend von diesen Analysen<br />
- neue adäquate Orientierungen ableitet, zeitgemäße Aktionslosungen<br />
entwickelt und sich auch für neue Kampfformen öffnet.<br />
Auch Frie<strong>den</strong>sbewegungen haben ihre Geschichte. Sie entstehen, haben<br />
ihre höchste Wirksamkeit und verlieren an Bedeutung, wenn sie nicht in<br />
<strong>der</strong> Lage sind, einer neuen strategischen Situation entsprechende neue Inhalte,<br />
Organisations- und Kampfformen zu entwickeln. Hinzu kommt das<br />
unvermeidliche Älterwer<strong>den</strong> <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> und Aktivisten und damit <strong>der</strong><br />
für jedes politische Engagement so wichtigen I<strong>den</strong>tifikationspersonen sowie<br />
die natürliche Scheu <strong>der</strong> jungen Leute, sich immer wie<strong>der</strong> zusammen<br />
mit Menschen zu versammeln, die ihre Omas und Opas sein könnten.<br />
Noch sind wir sicher nicht so weit, aber wir sollten keine Scheu haben, uns<br />
auch historisch zu sehen und zumindest versuchen, alles in unseren Kräften<br />
Stehende zu unternehmen, uns <strong>den</strong> neuen Problemen so zu stellen,<br />
daß eine Stafettenübergabe an die nächste Generation möglich wird.<br />
Inhaltliche Probleme, mit <strong>den</strong>en wir uns vor allem auseinan<strong>der</strong>setzen<br />
sollten<br />
<strong>Zu</strong>erst und vor allem gilt es wohl an <strong>der</strong> Erkenntnis festzuhalten und sie immer<br />
wie<strong>der</strong> zu vertiefen, daß es inzwischen einen globalen <strong>Zu</strong>sammenhang<br />
von Frie<strong>den</strong>, sozialer Sicherheit und Bewahrung <strong>der</strong> natürlichen Lebensgrundlagen<br />
<strong>der</strong> Menschheit gibt. Doch dieser <strong>Zu</strong>sammenhang muß immer<br />
wie<strong>der</strong> neu gedacht und - ausgehend von neuen Erkenntnissen und <strong>den</strong> aktuellen<br />
Erfahrungen - in das Bewußtsein von immer mehr Menschen gebracht<br />
wer<strong>den</strong>. Die Entwicklung <strong>der</strong> letzten zehn Jahre hat das objektiv nicht leichter<br />
gemacht.<br />
Ein erstes wichtiges Problem muß für uns die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem<br />
politischen und militärischen Charakter <strong>der</strong> Kriege sein, die jüngst stattfan<strong>den</strong>,<br />
gegenwärtig geführt und für die <strong>Zu</strong>kunft vorbereitet wer<strong>den</strong>. Beson<strong>der</strong>s<br />
wichtig ist für die deutsche Frie<strong>den</strong>sbewegung dabei die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit all jenen Kriegen, die erklärtermaßen für die neue Weltordnung geführt<br />
15
wur<strong>den</strong>, welche <strong>der</strong> USA-Imperialismus errichten will und zu <strong>der</strong> sich auch<br />
die herrschen<strong>den</strong> Kreise Deutschlands bekennen. Ich meine <strong>den</strong> Golfkrieg II<br />
und <strong>den</strong> NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Den ersten hat Deutschland gutgeheißen<br />
und auch maßgeblich bezahlt, im zweiten war es auch militärisch<br />
Kriegspartei.<br />
<strong>Zu</strong>r Beurteilung des politischen Charakters bei<strong>der</strong> Kriege halte ich die Beantwortung<br />
<strong>der</strong> Frage für entschei<strong>den</strong>d, welche tatsächliche Bedeutung die offiziellen<br />
Kriegsgründe (Beendigung <strong>der</strong> Aggression des Irak gegen Kuwait bzw.<br />
Verteidigung <strong>der</strong> Menschenrechte <strong>der</strong> albanischen Kosovaren) hatten und<br />
welches Gewicht demgegenüber das Streben <strong>der</strong> USA und ihrer NATO-<br />
Verbündeten zur Durchsetzung einer ihren spezifischen ökonomischen und<br />
geostrategischen Interessen entsprechen<strong>den</strong>, nicht mehr durch die UNO-<br />
Charta geregelten, neuen Weltordnung für <strong>den</strong> Übergang zum Krieg hatte.<br />
Es spricht sehr viel dafür, daß das Hauptziel bei<strong>der</strong> Kriege seitens <strong>der</strong> USA<br />
darin bestand, faktisch allen an<strong>der</strong>en Staaten vorzuführen, was ihnen passiert,<br />
wenn sie sich <strong>der</strong> nunmehr einzigen Weltmacht nicht unterordnen. Die geostrategische<br />
Zielsetzung des angeblich für die Menschenrechte <strong>der</strong> Kosovo-<br />
Albaner geführten Angriffskrieges <strong>der</strong> NATO gegen Jugoslawien markierte<br />
Robert E. Hunter, Chefberater <strong>der</strong> RAND Corporation auf dem Höhepunkt<br />
des Krieges, als er sich am 21. April 1999 in <strong>der</strong> Washington Post unter dem<br />
Thema Clinton-Doktrin dahingehend äußerte, <strong>der</strong> Kosovo sei „das Tor zu<br />
Bereichen intensiven westlichen Interesses: arabisch-israelischer Konflikt, Irak<br />
und Iran, Afghanistan, Kaspisches Meer und Transkaukasien. Stabilität in<br />
Südosteuropa muß ein Vorläufer für <strong>den</strong> Schutz westlicher Interessen und<br />
<strong>den</strong> Abbau von Bedrohungen von weiter ostwärts her sein.“ 18<br />
Die Herausgeber des Frie<strong>den</strong>sgutachten 1999 klassifizieren diese Vorgehensweise<br />
zu Recht als Übergang vom Völkerrecht zum Faustrecht und begrün<strong>den</strong><br />
das am Beispiel <strong>der</strong> NATO-Aggression gegen Jugoslawien folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
„Die bloße Einschüchterung hatte die beabsichtigte Wirkung verfehlt.<br />
Doch die Drohungen führten in eine Glaubwürdigkeitsfalle: Die NATO<br />
schritt von Ultimatum zu Ultimatum, bis sie ohne Gesichtsverlust nicht mehr<br />
an<strong>der</strong>s konnte, als zur Gewalt zu greifen. Die Unbe<strong>den</strong>klichkeit, mit <strong>der</strong> sich<br />
die Atlantische Allianz am 24. März 1999 über geltendes Völkerrecht hinwegsetzte,<br />
markiert eine Zäsur. Ihrem Bombenkrieg fehlen das Mandat des UN-<br />
18 Nach M. Weißbecker, Ohne Not kein Gebot, in: Neues Deutschland, Berlin, vom<br />
16<br />
30/31.10.1999, S. 12.
Sicherheitsrates und damit die völkerrechtliche Legitimation ... Der Luftkrieg<br />
<strong>der</strong> NATO erfüllt <strong>den</strong> Tatbestand des Völkerrechtsbruchs.“ 19<br />
Und zwar handelt es sich - was man nicht deutlich genug hervorheben kann -<br />
um einen vorsätzlichen Bruch des gelten<strong>den</strong> Völkerrechts mit dem Ziel, für<br />
sich von nun an gleichsam schon gewohnheitsrechtlich das Faustrecht gegenüber<br />
unbotmäßigen schwächeren Staaten zu exekutieren.<br />
Wie langfristig dieser Bruch des gelten<strong>den</strong> Völkerrechts auch in Deutschland<br />
planmäßig vorbereitet wurde, wird an folgen<strong>den</strong> Tatsachen deutlich: Mit seinem<br />
Urteil vom 12. Juli 1994 gab das Bundesverfassungsgericht Auslandseinsätzen<br />
dadurch einen “weiten juristischen Rahmen“, daß es die Militärpakte<br />
NATO und WEU kurzerhand zu „kollektiven Sicherheitssystemen“<br />
erklärte. In einer Studie <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Bundeswehr für Information und<br />
Kommunikation wird deshalb schon 1996 festgestellt: „Die Qualifizierung<br />
von NATO und WEU als Systeme kollektiver Sicherheit macht auch Bundeswehreinsätze<br />
ohne UNO-Mandat möglich ... <strong>Zu</strong> betrachten bliebe die<br />
Möglichkeit <strong>der</strong> Blockade des Sicherheitsrates durch das Veto eines Ständigen<br />
Mitglieds, etwa Rußlands o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Volksrepublik China. Doch zeigt die politische<br />
Praxis <strong>der</strong> NATO gerade gegenüber Rußland, wie sehr die Allianz um<br />
eine Einbindung Rußlands in politische Entscheidungen bemüht ist.“ 20<br />
Doch damit nicht genug: 1997 - also zwei Jahre vor <strong>der</strong> Aggression - stellte<br />
das Sozialwissenschaftliche Institut <strong>der</strong> Bundeswehr intensive Befragungen<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung an, um <strong>der</strong>en <strong>Zu</strong>stimmungspotential zu verteidigungspolitischen<br />
Richtungsentscheidungen zu ermitteln. Dabei betraf eine Frage direkt<br />
Militärische Kampfhandlungen im Auftrag und unter Kontrolle <strong>der</strong> Vereinten<br />
Nationen (UNO) o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>er internationaler Organisationen. 21 Am 16.<br />
Oktober 1998 beschloß <strong>der</strong> Deutsche Bundestag auf Antrag <strong>der</strong> Kohl-<br />
Regierung, die Bundeswehr dürfe an Luftbombardements <strong>der</strong> NATO gegen<br />
Jugoslawien auch ohne <strong>Zu</strong>stimmung des Sicherheitsrates <strong>der</strong> UNO mitwirken.<br />
Am 22. Februar 1999 schließlich stimmte <strong>der</strong> Deutsche Bundestag<br />
mehrheitlich dem Antrag <strong>der</strong> Schrö<strong>der</strong>-Regierung zu, daß <strong>der</strong> Einsatz deutscher<br />
Streitkräfte gegen Jugoslawien „in <strong>der</strong> politischen und strategischen<br />
Verantwortung <strong>der</strong> Allianz, das heißt, auf <strong>der</strong> Grundlage eines NATO-<br />
19<br />
B. Schoch, U. Ratsch, R. Mutz (Hrsg.), Frie<strong>den</strong>sgutachten 1999, Münster, Hamburg, London<br />
1999, S. 4.<br />
20<br />
S. B. Gareis, Deutschland und die kollektive Sicherheit, AIK-Texte, 01/1996, Strausberg 1996,<br />
S. 28.<br />
21<br />
Vgl. St. Spangeaber, Bundeswehr und öffentliche Meinung, SOWI-Arbeitspapier Nr.114,<br />
Strausberg, November 1998, S.18.<br />
17
Operationsplanes einschließlich entsprechen<strong>der</strong> NATO-Einsatzregeln und<br />
NATO-Führungsstrukturen“ erfolgen kann.<br />
Es gab also auch in Deutschland ein planmäßiges jahrelanges <strong>Zu</strong>sammenwirken<br />
hoher und höchster Gremien in Politik, Justiz und Militär zur Vorbereitung<br />
eines Angriffskrieges und damit einen eklatanten Bruchs des gelten<strong>den</strong><br />
Völkerrechts und des Grundgesetzes. Damit ordnete sich die herrschende<br />
Klasse Deutschlands willig jener Position <strong>der</strong> USA unter, die <strong>der</strong> Staatssekretär<br />
im US-Außenministerium, Thomas Pickering, am 10. Februar 1999 vor<br />
<strong>der</strong> US-Militärakademie in West Point in die Worte gefaßt hatte: „Wür<strong>den</strong> wir<br />
uns darauf beschränken, nur mit ausdrücklicher <strong>Zu</strong>stimmung des Sicherheitsrates<br />
zu handeln, räumten wir Rußland und China praktisch ein Vetorecht gegen<br />
alle NATO-Aktionen ein. Das ist inakzeptabel.“ 22<br />
Da die NATO mit ihrer Aggression in eine bestehende reale Bürgerkriegssituation<br />
eingegriffen hat, kann es für die Entwicklung realistischer Verfahren<br />
präventiver und friedlicher Konfliktlösung nicht wichtig genug genommen<br />
wer<strong>den</strong>, all jene von <strong>der</strong> OSZE in Jugoslawien vor <strong>der</strong> Intervention <strong>der</strong><br />
NATO unternommenen Versuche einer Deeskalierung und friedlichen Konfliktlösung<br />
genau zu dokumentieren, die durch die Kriegführung <strong>der</strong> NATO<br />
barsch unterbrochen wur<strong>den</strong>, ehe sie Erfolge zeitigen konnten.<br />
Daß es zum Krieg gegen Jugoslawien gekommen ist, führte <strong>der</strong> Vizepräsi<strong>den</strong>t<br />
<strong>der</strong> Parlamentarischen Versammlung <strong>der</strong> OSZE und CDU-Bundestagsabgeordnete<br />
Willy Wimmer darauf zurück, daß vor allem die USA und Großbritannien<br />
„kein Interesse am Erfolg <strong>der</strong> OSZE“ im Kosovo gehabt haben.<br />
<strong>Zu</strong>gleich betonte er, OSZE-Beobachter hätten eindeutig festgestellt, daß 1998<br />
„die jugoslawische Seite nach <strong>den</strong> Oktober-Vereinbarungen sich an diese<br />
auch gehalten hat. Und daß hingegen die UCK systematisch diese unterlaufen<br />
hat.“ 23<br />
Schließlich hat <strong>der</strong> Militärberater bei <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> OSZE-Vertretung in<br />
Wien, Brigadegeneral <strong>der</strong> Bundeswehr a.D. Heinz Loquai, präzise nachgewiesen,<br />
„daß durchaus Möglichkeiten für eine friedliche Lösung des Kosovo-<br />
Konfliktes bestan<strong>den</strong>“, weil die Belgra<strong>der</strong> Führung dazu nachweisbar bereit<br />
war, doch wäre es dazu „erfor<strong>der</strong>lich gewesen, auch die Kosovo-Albaner auf<br />
diesen Weg zu bringen o<strong>der</strong> zu zwingen.“ 24 Doch dazu waren, wie Loquai<br />
22 junge Welt, Berlin, vom 10.02.1999, S. 11.<br />
23 W. Wimmer, War <strong>der</strong> NATO-Angriff ein Fehler?, in: junge Welt, Berlin, vom 26.03.1999, S. 2.<br />
24 H. Loquai: Die OSZE-Mission im Kosovo - eine ungenutzte Frie<strong>den</strong>schance?, in: Blätter für<br />
deutsche und internationale Politik, Bonn, Nr. 09/1999, S. 1125.<br />
18
einschätzt, vor allem die USA nicht bereit, die nicht zuletzt in Hinblick auf<br />
<strong>den</strong> 50. Jahrestag <strong>der</strong> NATO eine schnelle und natürlich erfolgreiche kriegerische<br />
Lösung wollten. 25 Im übrigen hat nachträglich kein geringerer als Henry<br />
Kissinger genau dieses auf Krieg zielende Vorgehen <strong>der</strong> USA kritisiert, als er<br />
zu <strong>der</strong> Einschätzung kam: „In Rambouillet for<strong>der</strong>te die NATO das unbegrenzte<br />
Recht, ihre Truppen durch jugoslawisches Gebiet zu bewegen und die<br />
Provinzen eines souveränen Staates zu besetzen, noch ehe die ethnischen<br />
Säuberungen ein größeres Ausmaß erreicht hatten. Diese For<strong>der</strong>ungen garantierten<br />
ein Ergebnis, wie es blutiger nicht hätte sein können.“ 26<br />
Damit unmittelbar im <strong>Zu</strong>sammenhang steht das Problem <strong>der</strong> Analyse und<br />
Kritik <strong>der</strong> ideologischen Konstrukte zur Rechtfertigung von Kriegen in unserer<br />
Zeit. Das betrifft zunächst die grundsätzliche Einstellung zum Krieg überhaupt.<br />
So ist es wohl alles an<strong>der</strong>e als zufällig, daß zeitgleich mit <strong>der</strong> immer<br />
offeneren Orientierung <strong>der</strong> USA und <strong>der</strong> NATO auf Kriege zur Durchsetzung<br />
ihrer politischen und ökonomischen Interessen - neben <strong>der</strong> wachsen<strong>den</strong><br />
Zahl Gewalt und Kriege verherrlichen<strong>der</strong> Filme in nahezu allen Fernsehprogrammen<br />
- verstärkt theoretische Publikationen erscheinen, in <strong>den</strong>en die Ächtung<br />
des Krieges abgelehnt, ja <strong>der</strong> Krieg geradezu als ein Weg zur Entfaltung<br />
aller menschlichen Wesenskräfte verherrlicht wird. Das trifft natürlich auch<br />
verstärkt auf Deutschland zu, in dem sich in letzter Zeit die Stimmen deutlich<br />
vermehrt haben, die es normal fin<strong>den</strong>, endlich wie<strong>der</strong> Krieg führen zu können.<br />
Ich habe mich deshalb kürzlich mit diesem erneuten Kult des Krieges auseinan<strong>der</strong>gesetzt,<br />
wie er insbeson<strong>der</strong>e in Cora Stephans Buch Das Handwerk<br />
des Krieges getrieben wird, mit dem diese Journalistin jene <strong>den</strong> Krieg gleichsam<br />
zeitlos rechtfertigen<strong>den</strong> Theoreme publikumswirksam umsetzt, die <strong>der</strong><br />
israelische Militärhistoriker Martin van Creveld und <strong>der</strong> britische Militärhistoriker<br />
John Keegan in ihren Büchern über die Kultur bzw. die <strong>Zu</strong>kunft des<br />
Krieges formuliert haben. 27<br />
In diesem <strong>Zu</strong>sammenhang sei noch einmal auf F. Fukuyama verwiesen, <strong>der</strong> in<br />
seinem Buch Das Ende <strong>der</strong> Geschichte unter völlig ahistorischer Berufung<br />
25<br />
Ebenda.<br />
26<br />
H. Kissinger, Das amerikanische Jahrhun<strong>der</strong>t, in: Welt am Sonntag, Berlin, vom 09.01.2000,<br />
S.30.<br />
27<br />
Vgl. E. Woit, Der Mensch ist doch kein bellizistisches Wesen. Gegen einen neuen Kult des<br />
Krieges, in: Krieg im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t ? Neue Herausfor<strong>der</strong>ungen für die Frie<strong>den</strong>sbewegung,<br />
Beiträge zum 7. Dresdner Frie<strong>den</strong>ssymposium am 13. Februar 1999, Dres<strong>den</strong> 1999, S.48 ff.<br />
bzw. E. Woit, Der neue Kult des Krieges, in: PAX-Report, Berlin, Nr. 02/03. 03. 1999, S. 4 f.<br />
19
auf Hegel erklärt: „Ohne <strong>den</strong> Krieg und die Opfer, die er verlangt, wird die<br />
Menschheit ... verweichlicht und egozentrisch; die Gesellschaft versinkt in eigensüchtigem<br />
Hedonismus, und die Gemeinschaft wird letztlich zerfallen. Die<br />
Furcht vor dem Tod als Herrn und Meister jedes Menschen ist eine unvergleichliche<br />
Kraft. Sie kann <strong>den</strong> Menschen von seiner Eigensucht befreien und<br />
ihn daran erinnern, daß er kein isoliertes Atom ist, son<strong>der</strong>n einer Gemeinschaft<br />
angehört, die auf gemeinsamen Idealen basiert. Eine liberale Demokratie,<br />
die alle zwanzig Jahre einen kurzen, entschlossenen Krieg zur Verteidigung<br />
ihrer Freiheit und Unabhängigkeit führen könnte, wäre bei weitem gesün<strong>der</strong><br />
und zufrie<strong>den</strong>er als eine Demokratie, die in dauerhaftem Frie<strong>den</strong><br />
lebt.“ 28<br />
Die Frie<strong>den</strong>sbewegung muß diesem Trend viel stärker und systematischer als<br />
bisher schon mit <strong>der</strong> Verbreitung <strong>der</strong> Wahrheit über die im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
geführten Kriege und die in ihnen begangenen Kriegsverbrechen begegnen.<br />
Denn um <strong>den</strong> Krieg und die Instrumente zu seiner Führung aus dem Leben<br />
<strong>der</strong> menschlichen Gesellschaft entfernen zu können, muß ihnen zuvor all das<br />
an Ehre und Beweihräucherung genommen wer<strong>den</strong>, das die Kriegsinteressenten<br />
in Schulbüchern, Denkmälern und Ge<strong>den</strong>ktagen bisher entwickelt haben.<br />
Über welche - insbeson<strong>der</strong>e auch die jüngere Generation direkt ansprechen<strong>den</strong><br />
- Möglichkeiten wir dazu gerade in Deutschland verfügen, hat die Wan<strong>der</strong>ausstellung<br />
über die Kriegsverbrechen <strong>der</strong> Nazi-Wehrmacht in Osteuropa<br />
gezeigt. Diese Ausstellung und die im <strong>Zu</strong>sammenhang mit ihr erschienenen<br />
Dokumentationen 29 stellen - international betrachtet - einen bisher singulären<br />
historischen Tabubruch dar, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> traditionellen kritiklosen Ehrung <strong>der</strong><br />
Waffenträger des eigenen Landes Schluß macht, indem endlich auch ihre<br />
Kriegsverbrechen - und nicht mehr nur die des ehemaligen Feindes - eindeutig<br />
dokumentiert und thematisiert wer<strong>den</strong>.<br />
Das steht in Län<strong>der</strong>n wie <strong>den</strong> USA, Großbritannien, Frankreich, Japan, Belgien<br />
und <strong>den</strong> Nie<strong>der</strong>lan<strong>den</strong> bis heute noch aus. Dabei hat es gerade in <strong>den</strong><br />
Kriegen dieser imperialistischen Mächte gegen die antikoloniale Befreiungsbewegung<br />
historisch beispiellose Kriegsverbrechen gegeben, <strong>der</strong>en öffentliche<br />
Erörterung in diesen Staaten jedoch bisher tabu ist. 30 Eine Ausnahme bil<strong>den</strong><br />
28 F. Fukuyama, Das Ende <strong>der</strong> Geschichte, a.a.O., S. 434 f.<br />
29 Vgl. H. Heer, K. Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen <strong>der</strong> Wehrmacht 1941 -<br />
1944, Hamburg 1995; K. Naumann, Was bleibt von <strong>der</strong> Wehrgemeinschaft?, in: Blätter für<br />
deutsche und internationale Politik, Bonn 1997, Heft 12, S. 1488 ff.<br />
30 So erinnert Sabine Kebir daran, daß z. B. „die Kolonialmacht Frankreich 1946 einen Aufstand<br />
in Madagaskar mit <strong>der</strong> Abschlachtung von 250 000 Menschen nie<strong>der</strong>schlug“. Vgl. S. Kebir,<br />
20
die vom ehemaligen Justizminister <strong>der</strong> USA, Ramsey Clark, ins Leben gerufenen<br />
Tribunale zur Untersuchung <strong>der</strong> im Golfkrieg II und im NATO-Krieg<br />
gegen Jugoslawien von <strong>den</strong> USA begangenen Kriegsverbrechen, <strong>der</strong>en Dokumentationen<br />
bisher von <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung noch viel zu wenig genutzt<br />
wer<strong>den</strong>. 31<br />
Gerade angesichts dessen, daß die großen Massenmedien seit dem Ende <strong>der</strong><br />
Luftangriffe gegen Jugoslawien über die dort angerichteten Zerstörungen überhaupt<br />
nichts mehr berichten, gewinnt die von Wolfgang Richter ins Leben<br />
gerufene Initiative für ein Internationales Tribunal über <strong>den</strong> NATO-Krieg<br />
gegen Jugoslawien auch für die Frie<strong>den</strong>sbewegung enorme Bedeutung. Ist<br />
doch allein schon <strong>der</strong> dokumentarische Nachweis, daß die NATO-<br />
Luftstreitkräfte vorsätzlich und planmäßig vor allem zivile, nichtmilitärische<br />
Ziele bombardiert haben, geeignet, bei immer mehr Menschen eine prinzipielle<br />
Ablehnung <strong>der</strong>artiger - im Namen <strong>der</strong> Menschenrechte begangenen -<br />
Kriegsverbrechen hervorzurufen.<br />
Wir wer<strong>den</strong> <strong>den</strong> Einbruch, <strong>den</strong> die Verantwortlichen für diesen Krieg in das<br />
Denken und Fühlen sehr vieler Menschen erreicht haben, nur rückgängig machen<br />
können, wenn wir überzeugend nachweisen, daß die von <strong>der</strong> NATO gegen<br />
die Zivilbevölkerung Jugoslawiens begangenen Kriegsverbrechen keine<br />
Kollateralschä<strong>den</strong> waren, son<strong>der</strong>n das von <strong>den</strong> Politikern und Militärs <strong>der</strong><br />
NATO gewollte Ergebnis ihrer Waffenwirkung. Dem Wesen nach handelt es<br />
sich angesichts <strong>der</strong> angerichteten Zerstörungen um die gleiche, vorwiegend<br />
auf die Vernichtung <strong>der</strong> Lebensgrundlagen <strong>der</strong> Bevölkerung zielende, verbrecherische<br />
Luftkriegsführung, wie sie die USA bereits gegen das vietnamesische<br />
Volk angewandt haben. Wenn sie von ihren Protagonisten heute auch<br />
gern als angeblich sauberer High-Tech-War bzw. Low Intensity Warfare<br />
dargestellt wird, än<strong>der</strong>t das an ihrem dem Kriegsvölkerrecht Hohn sprechen<strong>den</strong><br />
verbrecherischen Wesen nicht das geringste. 32<br />
Nicht zuletzt die nach dem Kriege bekannt gewor<strong>den</strong>en Kritiken einzelner<br />
führen<strong>der</strong> Politiker und Militärs <strong>der</strong> NATO an dem, was sie nun - von <strong>den</strong><br />
Volksgemeinschaften o<strong>der</strong> offene Republik? in: Freitag, Berlin, Nr. 13, vom 26.03.1999, Literatur-Beilage,<br />
S. XIV.<br />
31 Vgl. R. Clark, Wüstensturm. US-Kriegsverbrechen am Golf, Göttingen 1993; R. Clark, Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit. Anklageschrift <strong>der</strong> Unabhängigen Untersuchungskommission<br />
zur Erforschung <strong>der</strong> Kriegsverbrechen <strong>der</strong> USA und <strong>der</strong> NATO gegen das Volk von Jugoslawien.<br />
Teil I, in: junge Welt, Berlin, vom 16. 08. 1999; R. Clark, Kriegführung gegen die Umwelt.<br />
Anklageschrift ...Teil II, in: junge Welt, Berlin, vom 17. 08. 1999.<br />
32 Vgl. E. Woit, Der ideologisch-psychologische Teil des NATO-Krieges, in: Marxistische Blät-<br />
ter, Essen, Heft 37/1999, S. 62.<br />
21
USA durchgesetzte - Fehlentscheidungen in <strong>der</strong> Kriegführung nennen, erlaubt<br />
einen Einblick in jenen Grad von Skrupellosigkeit und Abenteurertum, mit<br />
dem solche Exponenten des USA-Imperialismus wie Clinton und Albright<br />
Hand in Hand mit solchen aus <strong>der</strong> europäischen Sozialdemokratie kommen<strong>den</strong><br />
Exponenten des kapitalistischen Europa wie Solana und Blair o<strong>der</strong><br />
Schrö<strong>der</strong> und Scharping diesen Krieg inszeniert und geführt haben. Tatsächlich<br />
haben wir es mit einer bewußten und planmäßigen Mißachtung des humanitären<br />
Kriegsvölkerrechts durch die NATO zu tun. So erklärte <strong>der</strong> Südosteuropa-Korrespon<strong>den</strong>t<br />
<strong>der</strong> ARD, Detlev Kleinert, am 18. April 1999 in<br />
<strong>der</strong> Sendung Presseclub: „Ich habe nicht geglaubt, daß Milosevic sein Land in<br />
die Steinzeit zurückbomben lassen wird.“ Bundesverteidigungsminister<br />
Scharping schließlich verstieg sich zu einer - im II. Weltkrieg selbst von <strong>den</strong><br />
Hitlerfaschisten offiziell vermie<strong>den</strong>en - absoluten Infragestellung des gesamten<br />
seit <strong>der</strong> Haager Landkriegsordnung von 1907 vereinbarten humanitären<br />
Kriegsvölkerrechts, als er in einem Fernseh-Interview erklärte: „Wenn Sie es<br />
mit einer Diktatur zu tun haben, können Sie schlecht trennen zwischen sogenannter<br />
ziviler und sogenannter militärischer Infrastruktur.“ 33<br />
Dieses Bild rundet sich ab, wenn man weiß, daß die USA bis heute die Zentraldokumente<br />
des mo<strong>der</strong>nen Kriegsvölkerrechts, die bei<strong>den</strong> <strong>Zu</strong>satzprotokolle<br />
von 1977 zu <strong>den</strong> Genfer Abkommen von 1949, nicht ratifiziert haben. 34 Es<br />
handelt sich um die gleiche zynische Verletzung des humanitären Kriegsvölkerrechts,<br />
wenn Israels Regierung vor wenigen Tagen erst das Elektrizitätsnetz<br />
des Libanon bombardieren ließ und sich gleichzeitig einseitig von dem<br />
Südlibanon-Abkommen des Jahres 1996 lossagte, „welches gemäß kriegsrechtlichen<br />
Konventionen das Kampfgeschehen in Südlibanon für beide Seiten<br />
bin<strong>den</strong>d auf Uniformierte beschränkte, um die Zivilbevölkerung zu schonen.“<br />
35<br />
Immerhin hatte die betont moralisierende Rechtfertigung <strong>der</strong> NATO-<br />
Aggression gegen Jugoslawien als Krieg für die Menschenrechte unter <strong>den</strong><br />
Menschen unseres Landes erhebliche Verwirrung angerichtet. Man geht wohl<br />
nicht fehl, wenn man in dieser Argumentationslinie, die je<strong>den</strong> Gegner dieses<br />
Krieges als Verräter an <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong> Menschenrechte zu diffamieren suchte,<br />
das übelste und wirksamste aller seitens <strong>der</strong> NATO-Strategen eingesetzten<br />
33<br />
Nach Chronik eines angekündigten Krieges, ZDF vom 21. 09. 1999.<br />
34<br />
Nach G. Stuby, Der kategorische US-Imperativ, in: Ossietzky, Hannover, Heft 22/1999,<br />
S. 780.<br />
35<br />
Angriffe Israels auf Libanons Elektrizitätsnetz, in: Neue Zürcher Zeitung vom<br />
22<br />
09.02.2000, S. 1.
kriegsideologischen Konstrukte sieht. Hinzu kommt die Wirkung eines tief<br />
verinnerlichten totalitären Antikommunismus (Günter Gaus), <strong>der</strong> es vor allem<br />
in <strong>den</strong> alten Bundeslän<strong>der</strong>n möglich machte, mit <strong>der</strong> Verteufelung des jugoslawischen<br />
Präsi<strong>den</strong>ten Milosevic als Hitler von heute massenhaftes Einverständnis<br />
mit dem Aggressionskrieg zu erzeugen. Wie Wolfgang Gehrke<br />
einschätzte, wurde so im Deutschen Bundestag für diesen Krieg „die größtmögliche<br />
Koalition geschaffen“. 36<br />
Die Frie<strong>den</strong>sbewegung war auch in Deutschland darauf nicht vorbereitet. Sie<br />
hat sich - ebenso wie die <strong>deutschen</strong> Linken - bisher auch viel zu wenig mit <strong>der</strong><br />
Menschenrechtsproblematik auseinan<strong>der</strong>gesetzt und sie damit weitgehend jenen<br />
Kräften überlassen, die mit ihrer imperialistischen Politik alles an<strong>der</strong>e, nur<br />
nicht die Durchsetzung <strong>der</strong> internationalen Menschenrechtsstandards wollen.<br />
Es war Altbundeskanzler Helmut Schmidt, <strong>der</strong> im Dezember 1998 feststellte,<br />
„manche westlichen Politiker mißbrauchen <strong>den</strong> Begriff <strong>der</strong> ‚Menschenrechte‘<br />
gar als Instrument aggressiver außenpolitischer Pressionen.“ 37<br />
Einen <strong>der</strong>artigen Mißbrauch <strong>der</strong> Menschenrechte gibt es allerdings nicht erst<br />
in unserer Zeit. Der in Costa Rica lebende Theologe Franz Hinkelammert<br />
weist nachdrücklich darauf hin: „Die Kolonisierung <strong>der</strong> ganzen Welt wurde<br />
im Namen <strong>der</strong> Menschenrechte durchgeführt.“ Er for<strong>der</strong>t deshalb: „Wir müssen<br />
über die Menschenrechtsverletzungen sprechen, die im Namen <strong>der</strong><br />
Durchsetzung <strong>der</strong> Menschenrechte begangen wer<strong>den</strong> ... Die Menschenrechte<br />
müssen ihren angeblichen Beschützern gegenüber geschützt wer<strong>den</strong>.“ 38<br />
Es ist natürlich nicht so, daß alle Linken in Deutschland die Beschäftigung<br />
mit <strong>der</strong> Menschenrechtsproblematik versäumt haben. Ich möchte hier nur auf<br />
die grundlegen<strong>den</strong> Arbeiten dazu von Hermann Klenner verweisen. 39<br />
<strong>Zu</strong>gleich möchte ich bei dieser Gelegenheit doch darauf aufmerksam machen,<br />
daß U.- J. Heuer und G. Schirmer schon 1998 in einer prinzipiellen Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit <strong>der</strong> das geltende Völkerrecht zerstören<strong>den</strong> Wirkung <strong>der</strong><br />
von <strong>den</strong> USA und ihren Verbündeten angestrebten humanitären militäri-<br />
36 W. Gehrke, Nie wie<strong>der</strong> „Nie wie<strong>der</strong>“, in: Freitag, Berlin Nr. 31, vom 30.07.1999, S. 11.<br />
37 H. Schmidt, Rechte als Waffe, in: Die Zeit, Hamburg, Nr.52/1998, S.18.<br />
38 F. J. Hinkelammert, Die Umkehrung <strong>der</strong> Menschenrechte und die Möglichkeit ihrer Rückkehr,<br />
in: Wahrheit, Versöhnung und Neuanfang auch im Westen - o<strong>der</strong> nur im Sü<strong>den</strong> und Osten?,<br />
in: Junge Kirche, Bremen, Heft 04/1997, Beilage, S. 33 f.<br />
39 Vgl. u.a. H. Klenner, Marxismus und Menschenrechte, Berlin 1982; H. Klenner, Idealität und<br />
Realität von Menschenrechten, in: Gemeinschaft für Menschenrechte im Freistaat Sachsen<br />
(Hrsg.), Alle Menschenrechte für alle Menschen! Symposium anläßlich des 50. Jahrestages <strong>der</strong><br />
Verkündung <strong>der</strong> Allgemeinen Erklärung <strong>der</strong> Menschenrechte, GMS-Schriftenreihe, H. 07,<br />
Dres<strong>den</strong> 1999, S. 3 ff.<br />
23
schen Interventionen, bei <strong>den</strong>en es stets die Interventen sind, die die Gründe<br />
für solche Interventionen definieren, <strong>den</strong> Imperialismus nach dem Ende des<br />
Kalten Krieges als Menschenrechts-Imperialismus bezeichnet haben. 40 Die<br />
US-amerikanische Wissenschaftlerin Ellen Meiksins Wood nennt das unter<br />
dem Eindruck <strong>der</strong> NATO-Aggression gegen Jugoslawien eine Bezeichnung,<br />
die diesen Krieg treffend charakterisiert hat, bevor er stattfand. 41<br />
Von grundsätzlicher Bedeutung für die Einschätzung <strong>der</strong> Menschenrechtsproblematik<br />
im <strong>Zu</strong>sammenhang mit <strong>der</strong> Frage Krieg o<strong>der</strong> Frie<strong>den</strong> sind auch<br />
jene Positionen, die Volkmar Deile, damals Generalsekretär <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong><br />
Sektion von amnesty international, zum Golfkrieg II mit <strong>den</strong> Worten bezog:<br />
„Der 2. Golfkrieg ist zwar von alliierter Seite auch mit Menschenrechtsverletzungen<br />
begründet wor<strong>den</strong>. Faktisch aber sind die Menschenrechte<br />
mißbraucht wor<strong>den</strong> ... Der selektive und instrumentalisierende Mißbrauch <strong>der</strong><br />
Menschenrechte hat <strong>der</strong>en Achtungsanspruch schwer geschadet. ... Auch <strong>der</strong><br />
2. Golfkrieg lehrt: Menschenrechte sind nicht mit Krieg durchsetzbar. Menschenrechte<br />
haben eine natürliche Nähe zu ihrer gewaltfreien Realisierung.<br />
Die Menschheit muß lernen, Konflikte ohne Kriege zu lösen. Die UNO ist<br />
dazu das Instrument. Interventionen zugunsten bedrohter Menschen und<br />
Völker und für Opfer von Menschenrechtsverletzungen müssen mit Mitteln<br />
ausgeübt wer<strong>den</strong>, die dem angestrebten Ziel des Schutzes von Menschen<br />
nicht wi<strong>der</strong>sprechen. Es gilt, Instrumente und Durchsetzungsmechanismen<br />
zu entwickeln, mit <strong>den</strong>en ‚Einmischung‘ möglich ist, ohne die territoriale Integrität<br />
und Souveränität eines Staates militärisch zu verletzen.“ 42<br />
Die hier von Volkmar Deile bezogene Position deckt sich völlig mit <strong>der</strong>, die<br />
<strong>der</strong> Internationale Gerichtshof in Den Haag 1986 zu militärischen Interventionen<br />
<strong>der</strong> USA gegen Nicaragua mit <strong>den</strong> Worten bezog: „Die Vereinigten<br />
Staaten mögen ihre eigene Einschätzung hinsichtlich <strong>der</strong> Achtung <strong>der</strong> Menschenrechte<br />
in Nicaragua haben, jedoch kann die Anwendung von Gewalt<br />
keine geeignete Methode sein, die Achtung <strong>der</strong> Menschenrechte zu überwachen<br />
o<strong>der</strong> zu sichern. Hinsichtlich <strong>der</strong> ergriffenen Maßnahmen ist festzustellen,<br />
daß <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> Menschenrechte, ein strikt humanitäres Ziel, unvereinbar<br />
ist mit <strong>der</strong> Verminung von Häfen, <strong>der</strong> Zerstörung von Ölraffinerien,<br />
o<strong>der</strong> ... mit <strong>der</strong> Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung <strong>der</strong> Contras. Das<br />
40<br />
Vgl. U.-J-Heuer, G. Schirmer, Human Rights Imperialism. In: Monthly Review, New York,<br />
Vol. 49, Nr. 10 (March 1998), p. 5-16.<br />
41<br />
Vgl. E. M. Wood: Kosovo and the new Imperialism, in: Monthly Review, New York, Vol. 51,<br />
Nr. 02 June 1999, p. 5.<br />
42<br />
V. Deile, Frie<strong>den</strong> und Menschenrechte nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem<br />
zweiten Golfkrieg, in: Shalom, Schwerte, Ausg. 02/1992, S. 14 f.<br />
24
Gericht kommt zu dem Ergebnis, daß das Argument, das von <strong>der</strong> Wahrung<br />
<strong>der</strong> Menschenrechte in Nicaragua hergeleitet wird, keine juristische Rechtfertigung<br />
für das Verhalten <strong>der</strong> USA liefern könne.“ 43<br />
Greifen wir also in <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung die Menschenrechtsproblematik in<br />
diesem Sinne auf, und setzen wir uns offensiv mit <strong>der</strong>en Mißbrauch durch die<br />
NATO-Ideologen auseinan<strong>der</strong>!<br />
Ein weiteres wesentliches Moment <strong>der</strong> Irritation ergibt sich aus <strong>der</strong> fortschreiten<strong>den</strong><br />
Personalisierung von Politik. Diese, heute vor allem durch das Fernsehen<br />
produzierte, Personalisierung erzeugt eine auf Personen fixierte und<br />
mehr auf Sympathie bzw. Antipathie als auf Analyse beruhende emotionale<br />
Einstellung zu politischen Vorgängen und Ereignissen. Sie betrifft die I<strong>den</strong>tifikationsfiguren<br />
für die eigene Seite ebenso wie <strong>den</strong> Feind für die Gegenseite.<br />
Bei <strong>der</strong> Aggression gegen Jugoslawien spielte die Tatsache eine erhebliche<br />
Rolle, daß dieser erste NATO-Krieg in Europa von Politikern inszeniert wurde,<br />
die - nun in Regierungsverantwortung stehend - durchweg aus <strong>der</strong> Sozialistischen<br />
Internationale bzw. <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Grünen kommen und sich<br />
während <strong>der</strong> 80er Jahre im Kampf gegen <strong>den</strong> NATO-Doppelbe-schluß sowie<br />
für nukleare Abrüstung Ansehen und Popularität erworben hatten. Es war<br />
wohl gerade dieser Bonus als frühere Kriegsgegner, <strong>der</strong> es ihnen - vor allem in<br />
Deutschland - ermöglichte, nun die Mehrheit <strong>der</strong> Bevölkerung so von <strong>der</strong><br />
Notwendigkeit dieses Krieges zu überzeugen, daß die Kriegsgegner weitgehend<br />
macht- und wirkungslos blieben.<br />
Als Frie<strong>den</strong>sbewegung wer<strong>den</strong> wir uns noch länger gründlich damit auseinan<strong>der</strong>zusetzen<br />
haben und das um so mehr, da Politiker wie Joseph Fischer, Gerhard<br />
Schrö<strong>der</strong> und Rudolf Scharping seit diesem Krieg an Popularität in <strong>der</strong><br />
Gesamtbevölkerung eher noch gewonnen haben. 44<br />
Nicht weniger wirksam war die Personifizierung des Feindes. Die systematische<br />
Verteufelung des jugoslawischen Präsi<strong>den</strong>ten Milosevic als blutrünstigen<br />
Schlächter und Hitler von heute wurde - durchaus erfolgreich - auf die Spitze<br />
getrieben mit <strong>der</strong> größten regierungsamtlichen Lüge des Jahres 1999, „die<br />
NATO führt diesen Krieg nicht gegen das jugoslawische Volk, son<strong>der</strong>n allein<br />
gegen Milosevic“. So entblödete sich Bundeskanzler Schrö<strong>der</strong> nicht, dem chinesischen<br />
Ministerpräsi<strong>den</strong>ten Zhu Rongij nach <strong>der</strong> Bombardierung <strong>der</strong> chinesischen<br />
Botschaft in Belgrad eine persönliche Botschaft überreichen zu lassen,<br />
in <strong>der</strong> er wörtlich erklärte: „Der bedauerliche und selbstverständlich nicht<br />
43 Nach N. Paech, Die Moral <strong>der</strong> Legalität, in: Ossietzky, Hannover, Nr. 16/1999, S. 547.<br />
44 Vgl. u.a. Der Spiegel, Hamburg, Nr. 32/1999, S. 58 ff.<br />
25
eabsichtigte Vorfall ist tragische Folge einer menschenverachten<strong>den</strong> Politik<br />
<strong>der</strong> Belgra<strong>der</strong> Führung ... .“ 45<br />
Wir wer<strong>den</strong> nicht umhin können, uns noch intensiver und einfallsreicher mit<br />
<strong>der</strong>art hirnrissigen Behauptungen auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Dabei sollten wir uns<br />
auch jene Argumente genauer ansehen, mit <strong>den</strong>en Politiker wie Helmut<br />
Schmidt, Henning Voscherau, Manfred Dregger o<strong>der</strong> Peter Scholl-Latour, die<br />
eher dem konservativen Lager zuzurechnen sind, <strong>den</strong> NATO-Krieg öffentlich<br />
kritisiert haben.<br />
Aber Persönlichkeiten, mit <strong>den</strong>en sich viele Menschen i<strong>den</strong>tifizieren können,<br />
braucht auch die Frie<strong>den</strong>sbewegung. Und wenn sich in Deutschland Gerichte<br />
fin<strong>den</strong>, die Frie<strong>den</strong>saktivisten wie Elke Steven, Professor Wolf-Dieter Narr<br />
o<strong>der</strong> <strong>den</strong> Chemnitzer Stu<strong>den</strong>tenpfarrer Hans-Jochen Vogel mit hohen Geldstrafen<br />
belegen wollen, weil sie während des Krieges Soldaten <strong>der</strong> Bundeswehr<br />
aufgefor<strong>der</strong>t haben, die Mitwirkung an diesem völkerrechtswidrigen<br />
Krieg zu verweigern, o<strong>der</strong> Professor Siegwart-Horst Günter, <strong>der</strong> die toxische<br />
Wirkung <strong>der</strong> von <strong>den</strong> USA eingesetzten radioaktiven Munition nachgewiesen<br />
hat, in die Psychiatrie einweisen wollen, 46 dann müssen wir für diese unsere<br />
Mitstreiter all das an Solidarität entwickeln, wozu wir fähig sind.<br />
Vor allem aber müssen wir uns in <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung mit dem auseinan<strong>der</strong>setzen,<br />
was seit dem Aggressionskrieg <strong>der</strong> NATO gegen Jugoslawien in<br />
<strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Justiz gelaufen ist und läuft. Offenkundig zielt die Strafverfolgung<br />
<strong>der</strong> Unterzeichner des Aufrufs, nicht an einem Angriffskrieg mitzuwirken,<br />
darauf, diejenigen aufrechten Demokraten einzuschüchtern, die ihre im<br />
Grundgesetz verankerten Grundrechte und das in Artikel 26 GG festgeschriebene<br />
Verbot des Angriffskrieges ebenso wie dessen strafrechtliche Untersetzung<br />
in § 80 StGB wörtlich nehmen und verteidigen. Der Kriminalisierung<br />
von Gegnern des Angriffskrieges durch Teile <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Justiz entspricht<br />
die gleichzeitige Verhin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Strafverfolgung <strong>der</strong>jenigen, die in<br />
Deutschland mit ihrer politischen Entscheidung für <strong>den</strong> Aggressionskrieg <strong>der</strong><br />
NATO gegen Jugoslawien für <strong>den</strong> Bruch des Völkerrechts und des Grundgesetzes<br />
verantwortlich sind, was auf die faktische Legalisierung eines Verbrechens<br />
hinausläuft, das laut § 80 StGB mit lebenslanger Freiheitsstrafe o<strong>der</strong><br />
mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren zu bestrafen ist. Das ist z.B. <strong>der</strong><br />
Fall, wenn <strong>der</strong> Generalbundesanwalt die Strafanzeige von 41 Hamburger<br />
45<br />
Nach Presse- u. Informationsamt <strong>der</strong> Bundesregierung, Stichworte zur Sicherheitspolitik,<br />
Bonn, Nr. 05 (Mai 1999), S.37.<br />
46<br />
H. Ulrich, Was wäre <strong>der</strong> Staatsschutz ohne Psychiatrie? in: Leipzigs Neue, Leipzig, Nr. 17,<br />
26<br />
vom 20.08.1999, S. 7.
Rechtsanwälten gegen Bundeskanzler Schrö<strong>der</strong>, Bundesverteidigungsminister<br />
Scharping und an<strong>der</strong>e wegen <strong>der</strong>en Verantwortung für einen Angriffskrieg<br />
u. a. mit <strong>der</strong> Behauptung zurückweist, daß es am Tatbestandsmerkmal eines<br />
Angriffskrieges fehle und im übrigen habe „sich die Auslegung des § 80 StGB<br />
nicht nur an dessen Wortlaut, insbeson<strong>der</strong>e nicht allein am militärisch verstan<strong>den</strong>en<br />
Begriff des Angriffskrieges auszurichten“.<br />
Wenn wir die Frage beantworten wollen, warum es angesichts <strong>der</strong> NATO-<br />
Aggression gegen Jugoslawien kein größeres Frie<strong>den</strong>sengagement gab, können<br />
wir sicher auch an <strong>der</strong> einfachen Tatsache nicht vorbeigehen, daß jene<br />
Mitmenschen, die <strong>den</strong> II. Weltkrieg selbst noch bewußt erlebt haben, inzwischen<br />
- schon aus biologischen Grün<strong>den</strong> - nur noch eine Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> erwachsenen<br />
Bevölkerung sind. Die jüngeren Generationen aber haben angesichts<br />
<strong>der</strong> heutigen weltpolitischen Situation - und vor allem <strong>der</strong> Unwahrscheinlichkeit,<br />
selbst von einem Krieg bedroht zu sein - mehrheitlich eine relativ<br />
unbedarfte Einstellung zu Krieg und Frie<strong>den</strong>. Die jetzt wahrscheinlichen<br />
Kriege wer<strong>den</strong> weit weg geführt und führen angesichts <strong>der</strong> haushohen militärtechnischen<br />
Überlegenheit <strong>der</strong> eigenen Streitkräfte - bisher je<strong>den</strong>falls - zu so<br />
wenig eigenen Opfern, daß das sehr viele unserer Mitmenschen einfach kalt<br />
läßt. Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek hat diese Erscheinung kürzlich treffend<br />
als die Gleichgültigkeit des Ungefährdeten bezeichnet. 47 Karl Bredthauer<br />
kritisiert die massenhafte Existenz „lebensgefährlich guter Gewissen“. 48<br />
<strong>Zu</strong>gleich ist jedoch die Zahl <strong>der</strong> Kriegsdienstverweigerer unverän<strong>der</strong>t hoch<br />
bzw. hat sich nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien noch erhöht. Ebenso<br />
war es z.B. eine Tatsache, daß mehr als die Hälfte jener 10.000, die in<br />
Dres<strong>den</strong> am 16. April 1999 - einem Freitagabend - bei strömendem Regen<br />
gegen die NATO-Aggression demonstriert haben, junge Menschen waren.<br />
Ich <strong>den</strong>ke deshalb, daß wir uns mit dieser Erscheinung in <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung<br />
noch sehr gründlich beschäftigen müssen, dabei voreilige und pauschale<br />
Urteile vermei<strong>den</strong> sollten, um schließlich über Diskussionen nicht so sehr über<br />
die Jugend von heute, son<strong>der</strong>n mit ihr einen besseren <strong>Zu</strong>gang zum Denken<br />
und Fühlen jener Mitmenschen zu fin<strong>den</strong>, die künftige Kriege nicht führen,<br />
son<strong>der</strong>n verhin<strong>der</strong>n sollen. In unserem Kampf gegen die Vorbereitung<br />
neuer Kriegsabenteuer bleibt die personelle Seite, z. B. in Gestalt <strong>der</strong> Kriegsdienstverweigerung,<br />
sicher wichtig. Prinzipiell sollten wir <strong>den</strong>en entgegentreten,<br />
die aus ihrem feministischen Fundamentalismus heraus glauben, nun die<br />
47 Nach PAX-Report, Berlin, Nr. 09, September 1999, S. 13.<br />
48 K. D. Bredthauer, Lebensgefährlich gute Gewissen, in: Blätter für deutsche und internationale<br />
Politik, Bonn 1999, Nr. 08, S. 903 ff.<br />
27
Wehrpflicht auch auf Frauen ausdehnen zu müssen. Statt dessen sollten wir<br />
prinzipiell für die Abschaffung <strong>der</strong> Wehrpflicht, die Beschränkung des Auftrages<br />
<strong>der</strong> Bundeswehr auf Landesverteidigung und eine dementsprechende<br />
Reduzierung ihrer personellen und waffentechnischen Stärke eintreten.<br />
Angesichts <strong>der</strong> gegenwärtigen strategischen Orientierung <strong>der</strong> NATO auf<br />
weltweite militärische Interventionen nach dem Muster von Golfkrieg II und<br />
Krieg gegen Jugoslawien kommt <strong>der</strong> mit dem Faktor Militärtechnik verbun<strong>den</strong>en<br />
Kostenentwicklung absolute Priorität zu. Um welche Größenordnungen<br />
es dabei geht, wurde z.B. auf dem von <strong>der</strong> Welt am Sonntag Anfang Juli<br />
1999 veranstalteten 10. Forum Bundeswehr & Gesellschaft ziemlich offen besprochen.<br />
Bundeswehrminister Scharping for<strong>der</strong>te dort z.B. für künftige Einsätze<br />
nachdrücklich <strong>den</strong> forcierten Ausbau europäischer Transport- und Aufklärungskapazitäten,<br />
die Verbesserung <strong>der</strong> Führungs- und Informationssysteme<br />
und <strong>den</strong> erheblichen Ausbau <strong>der</strong> europäischen Rüstungsindustrie. Aufschlußreich<br />
war, wie Scharping dabei vor 180 führen<strong>den</strong> Vertretern aus Politik,<br />
Militär, Wirtschaft und Medien die Rüstungsaufwendungen <strong>der</strong> USA zum<br />
Maßstab auch für die europäischen NATO-Staaten erklärte: „Die Amerikaner,<br />
die etwa drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben,<br />
wen<strong>den</strong> pro Soldat 270 000 Dollar im Jahr für Investitionen auf. Die<br />
Europäer, die 1,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts, also deutlich weniger<br />
für Verteidigung ausgeben, geben pro Soldat an Investitionen etwa 90 000<br />
Dollar im Jahr her. Wenn diese Entwicklung noch einige Jahre anhält, dann<br />
können wir alle schönen Ziele <strong>der</strong> Gleichberechtigung im Bündnis schlicht in<br />
<strong>den</strong> Schornstein <strong>der</strong> Illusionen schreiben. Denn dann öffnet sich eine Lücke,<br />
die von niemandem mehr geschlossen wird.“ 49<br />
Die Frie<strong>den</strong>sbewegung ist also gut beraten, wenn sie nicht müde wird, gerade<br />
diesen Rüstungskurs immer wie<strong>der</strong> öffentlich zu thematisieren, und zwar einschließlich<br />
<strong>der</strong>er, die daran profitieren, - bis hin zum Nachweis, wieviel mehr<br />
Arbeitsplätze geschaffen wer<strong>den</strong> könnten, wenn die Milliar<strong>den</strong>beträge nicht in<br />
die Rüstung, son<strong>der</strong>n z.B. in die Sanierung unserer Umwelt o<strong>der</strong> in <strong>den</strong> sozialen<br />
Wohnungsbau fließen wür<strong>den</strong>.<br />
Autor: Prof. Dr. Dr. Ernst Woit, Dres<strong>den</strong>er Studiengemeinschaft<br />
SICHERHEITSPOLITIK e.V.<br />
49 Bundeswehr & Gesellschaft, Beilage zur Welt am Sonntag, Berlin, vom 11.07.1999, S. 1.<br />
28
Wolfgang Scheler<br />
Frie<strong>den</strong>sbewußtsein im Wi<strong>der</strong>stand gegen Krieg und<br />
Militarisierung<br />
Beim vorangegangenen Dresdner Frie<strong>den</strong>ssymposium hatten wir in <strong>den</strong> Mittelpunkt<br />
gestellt, daß wir in <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung unseren Blick wie<strong>der</strong> mehr<br />
auf bevorstehende Kriege richten sollten. Wir machten uns klar, daß die Kriege<br />
des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts schon vorbereitet wer<strong>den</strong>, geostrategisch und rüstungstechnisch,<br />
militärisch und mental. Aber weil das weitgehend unbemerkt<br />
vor sich geht und es <strong>den</strong> meisten Menschen verborgen bleibt, stellten wir uns<br />
die Aufgabe, es ans Licht zu ziehen und uns selbst, so wie die Öffentlichkeit,<br />
darüber aufzuklären. Es schien uns notwendig, die Menschen, die sich arglos<br />
im ungefährdeten Frie<strong>den</strong> glauben, rechtzeitig zu warnen, damit sie sich gegen<br />
die ihnen zugemutete Ungeheuerlichkeit wehren können. Wir debattierten<br />
darüber, wie die Formen des Wi<strong>der</strong>standes dem verän<strong>der</strong>ten Charakter künftiger<br />
Kriege gerecht wer<strong>den</strong> können.<br />
Sechs Wochen später war Krieg und Deutschland zum erstenmal nach einer<br />
langen Periode des Nichtkrieges wie<strong>der</strong> dabei. Urplötzlich stürzte die Frie<strong>den</strong>sbewegung,<br />
die in <strong>der</strong> Nachkriegszeit in unterschiedlichen Konstellationen<br />
dafür gewirkt hat, daß Deutschland nie wie<strong>der</strong> Krieg führt, in eine noch nicht<br />
erlebte Situation. Deutschlands Wie<strong>der</strong>eintritt in die Kriegsgeschichte bedeutet<br />
nicht nur einen Umbruch in <strong>der</strong> Sicherheitslage, er verän<strong>der</strong>t auch gravierend<br />
die Lage <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung. Wir stehen vor <strong>der</strong> Aufgabe, uns klar zu<br />
machen, was sich für uns än<strong>der</strong>t, welche neuen Bedingungen und Erfor<strong>der</strong>nisse,<br />
aber auch welche neuen Möglichkeiten, sich für unser Wirken ergeben.<br />
Die Menschen, an die wir uns in <strong>den</strong> letzten Jahren wendeten, lebten schon<br />
seit zwei o<strong>der</strong> drei Generationen im Frie<strong>den</strong>. Der Krieg war für die meisten<br />
ferne Vergangenheit o<strong>der</strong> ein vages Abstraktum gewor<strong>den</strong>. Wer nicht älter als<br />
60 ist, hat ihn nie bewußt erfahren. Seit dem Ende <strong>der</strong> gefährlichen Blockkonfrontation<br />
hatte die Kriegsgefahr ihre Konturen verloren. Deutschland schien<br />
sicher vor Krieg. Selbst wir in <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung richteten unsere Anstrengungen<br />
mehr auf die Machbarkeit des Frie<strong>den</strong>s und auf das Wahrnehmen<br />
<strong>der</strong> Chancen für Abrüstung und Entmilitarisierung als auf die Abwendung<br />
eines unmittelbar drohen<strong>den</strong> Krieges.<br />
Vom Krieg fühlten sich die Menschen am wenigsten bedroht, sehr viel mehr<br />
von Gefährdungen ihrer sozialen Existenz. Sie hatten an<strong>der</strong>e Sorgen als die<br />
um Frie<strong>den</strong> Besorgten und hörten nicht hin, wenn wir ihnen vermitteln wollten,<br />
was sich in <strong>der</strong> bundes<strong>deutschen</strong> Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
29
Bedrohliches tut. So blieben wir meistens unter uns. Unsere Kassandrarufe<br />
konnte die Öffentlichkeit gar nicht wahrnehmen, <strong>den</strong>n nur was in <strong>den</strong> Medien<br />
ist dringt ins öffentliche Bewußtsein. Die einflußreichen Medien - ganz zu<br />
schweigen vom beherrschen<strong>den</strong> Massenmedium Fernsehen - nahmen aber<br />
keine Notiz von dem, was wir, die Ergebnisse von Frie<strong>den</strong>sforschern aufnehmend,<br />
in <strong>den</strong> zahllosen Frie<strong>den</strong>sgruppen taten und dachten. Und ihre<br />
sträfliche Ignoranz logen die Meinungsmacher um in <strong>den</strong> Schlaf <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung.<br />
Wieviele <strong>der</strong> Dresdner Bürger beispielsweise kennen <strong>den</strong>n die Sächsische<br />
Frie<strong>den</strong>sinitiative, und wer, außer <strong>den</strong> hun<strong>der</strong>t Teilnehmern, erfuhr je, was wir<br />
auf unseren Frie<strong>den</strong>ssymposien mitzuteilen hatten? Wir, die wir drin sind in<br />
<strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung, wissen aus unserem langjährigen <strong>Zu</strong>sammenwirken<br />
und unserer selbst entwickelten Kommunikation, wieviele Frie<strong>den</strong>sgruppen,<br />
Initiativen, Trägerkreise, Vereinigungen und Kampagnen es in <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
gibt und wieviele Menschen sich in ihnen gegen Kriegsrüstung und militärische<br />
Gewalt tatkräftig engagieren. Vor allem aber kennen wir das Frie<strong>den</strong>s<strong>den</strong>ken<br />
in seiner heutigen Ausprägung, die Konzepte für eine alternative<br />
Sicherheitspolitik <strong>der</strong> Abrüstung und zivilen Konfliktaustragung. Wir wissen,<br />
daß eine vielfältige und beweiskräftige geistige Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem<br />
Militarismus und <strong>der</strong> Kriegsideologie in ihren heutigen Erscheinungsformen<br />
geführt wird. Aber wer weiß es außer uns, wenn nahezu die gesamte Presse<br />
und die öffentlich-rechtlichen Medien ihrer Informationspflicht nicht nachkommen<br />
und das nach wie vor vitale Frie<strong>den</strong>s<strong>den</strong>ken totschweigen?<br />
„Reißen wir die Menschen aus dem Schlaf <strong>der</strong> Vernunft, <strong>der</strong> Ungeheuer gebiert!<br />
Wir wissen doch, was Krieg ist. Malen wir sie an die Wand, die Schrecken<br />
künftiger Kriege, damit wir ihnen entgehen!“ Das war meine Auffor<strong>der</strong>ung<br />
am Schluß unseres Siebenten Frie<strong>den</strong>ssymposiums im Vorkriegsmonat<br />
des Jahres 1999. Sie dramatisierte nichts. Das Dramatische war in <strong>der</strong> Situation<br />
begründet: Der Aktivierungsbefehl für <strong>den</strong> NATO-Angriff war gegeben,<br />
bestätigt vom neu gewählten Bundestag. General Klaus Naumann, Vorsitzen<strong>der</strong><br />
des Militärausschusses <strong>der</strong> NATO, hatte gerade erst hier in Dres<strong>den</strong> an<br />
<strong>der</strong> Offizierschule des Heeres Klartext geredet über die Diplomatie mit gewaltsamen<br />
Mitteln. Unwi<strong>der</strong>sprochen durfte General a.D. Kielmannsegg im<br />
Deutschlandfunk for<strong>der</strong>n, die NATO solle nicht ihre Politik <strong>der</strong> Nadelstiche<br />
fortsetzen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Kosovo-Konflikt sei nur lösbar mit massiven Luftangriffen<br />
und Bo<strong>den</strong>truppen. Das konnte je<strong>der</strong> hören, <strong>der</strong> es hören wollte. Und<br />
je<strong>der</strong> konnte wissen: Das ist die Gewöhnung <strong>der</strong> Öffentlichkeit an Krieg. Das<br />
ist die Rückkehr des gewöhnlichen Militarismus.<br />
30
Aber wie immer schon: Erst als <strong>der</strong> Krieg entfesselt war, wurde er ernst genommen.<br />
Schlagartig verän<strong>der</strong>te sich auch die geistige Situation. Das Krieg-<br />
Frie<strong>den</strong>-Thema, zuvor fast vollständig aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt,<br />
besetzte sofort <strong>den</strong> ersten Platz im Meinungsstrom und Medieninteresse.<br />
Deutschland im Krieg - die Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache erregte<br />
die Gemüter. Krieg war nicht mehr bloß geschichtliche Erinnerung, theoretische<br />
Erwägung o<strong>der</strong> fernes Geschehen irgendwo in <strong>der</strong> weiten Welt. Es blitzte<br />
auf, daß da etwas geschah, was persönlich berührt und das gesellschaftliche<br />
Leben aus <strong>den</strong> gewohnten Bahnen wirft. Scharf polarisierten sich das politische<br />
Denken und die öffentliche Meinung. Lautstark auf <strong>der</strong> einen Seite das<br />
Kriegsgeschrei und die Rechtfertigungsmythen <strong>der</strong> höheren Moral und <strong>der</strong><br />
Menschenrechte, kraß gezeichnet das Feindbild, das <strong>den</strong> Rechtsbruch vernebelt<br />
und dem kriegerischen Mor<strong>den</strong> die Weihe <strong>der</strong> Verteidigung menschlicher<br />
Werte verlieh. Spontaner Protest und demonstratives Aufbegehren aus <strong>den</strong><br />
verschie<strong>den</strong>sten Kreisen <strong>der</strong> Gesellschaft auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite.<br />
Wir erlebten hier in <strong>der</strong> Stadt und ihrem Umkreis einen neuen Aufbruch von<br />
Frauen und Männern, Jungen und Alten in <strong>der</strong> Antikriegsbewegung. Sie gingen<br />
auf die Suche nach Gleichgesinnten, und sie drängten zur gemeinsamen<br />
Aktion. Sie riefen nach kompetenten Ansprechpartnern aus <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung,<br />
entdeckten uns und verlangten Aufklärung über die Hintergründe<br />
des Krieges, wollten Argumente für die Begründung <strong>der</strong> eigenen wi<strong>der</strong>ständigen<br />
Position und wollten wissen, wie <strong>der</strong> Protest öffentlich gemacht wer<strong>den</strong><br />
kann. Es mußte sofort gehandelt wer<strong>den</strong>, aber die organisatorischen Möglichkeiten<br />
<strong>der</strong> kleinen Dresdner Frie<strong>den</strong>sgruppen waren dem nicht gewachsen.<br />
Einem Aufruf <strong>der</strong> PDS folgten Zehntausend zu einem beeindrucken<strong>den</strong><br />
Schweigemarsch, <strong>der</strong> von <strong>den</strong> Medien nicht übergangen wer<strong>den</strong> konnte. Um<br />
die Kräfte zu bündeln, bildete sich ein Aktionskreis aus Menschen verschie<strong>den</strong>er<br />
Milieus und Anschauungen. Trotz vorhan<strong>den</strong>er Berührungsängste und<br />
Be<strong>den</strong>ken parteipolitischer Vereinnahmung konnte er eine gemeinsame Demonstration<br />
zuwege bringen und Kontakte knüpfen, die es ermöglichten, in<br />
einer ganzen Reihe weiterer Aktionen, Kundgebungen und Veranstaltungen<br />
<strong>der</strong> Stimme von Kriegsgegnern Gehör zu verschaffen.<br />
Auf einmal war das Thema Krieg-Frie<strong>den</strong> in <strong>den</strong> Mittelpunkt des Interesses<br />
getreten, und es gab großen Andrang zu <strong>den</strong> Veranstaltungen. Aufmerksame<br />
<strong>Zu</strong>hörer fragten jetzt die Kenntnisse ab, die zuvor kaum über <strong>den</strong> engen<br />
Kreis <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sinitiative und an<strong>der</strong>er Frie<strong>den</strong>sgruppen hinaus gedrungen<br />
waren. Es erwies sich, daß es bei uns - wie an<strong>der</strong>swo - nicht vergebens war,<br />
daß auch in Zeiten <strong>der</strong> Flaute in kleinen Zirkeln die frie<strong>den</strong>s- und sicherheitspolitischen<br />
Themen tiefgehend erörtert und weiter gedacht wor<strong>den</strong> waren.<br />
Weil es einen Schatz an sofort abrufbarem Wissen und reflektierter Erfahrung<br />
31
auf diesem Politikfeld gab, zeigten sich die lokalen Frie<strong>den</strong>sgruppen <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
gewachsen, das Geschehen eigenständig zu beurteilen und das<br />
Informationsbedürfnis <strong>der</strong> Kriegsgegner in Wort und Schrift zu befriedigen.<br />
Der NATO-Krieg mit deutscher Beteiligung hat die geistige Situation nicht<br />
nur akut, son<strong>der</strong>n nachhaltig verän<strong>der</strong>t. Kriegsbefürworter wie Kriegsgegner<br />
wer<strong>den</strong> sich klar darüber, welche neue Ausgangslage <strong>der</strong> Krieg für die Verfolgung<br />
ihrer Interessen geschaffen hat. Nach dem anfänglich massiven medialen<br />
Trommelfeuer <strong>der</strong> Rechtfertigungsideologie sind mehr und mehr auch kritische<br />
und nach<strong>den</strong>kliche Stimmen zu hören. Der Glaube an die Wahrhaftigkeit<br />
<strong>der</strong> Kriegsberichterstattung und an das vorgestanzte Freund-Feind-Bild<br />
wird durch die Nachkriegserfahrungen erschüttert. Für die erhobenen Vorwürfe<br />
des Völkermords, des massenweisen Abschlachtens an die Adresse <strong>der</strong><br />
einen Kriegspartei wer<strong>den</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit keine Beweise geliefert. Mit ihrem<br />
ethnischen Haß und ihrem exzessiven Verhalten unter <strong>der</strong> Oberaufsicht<br />
ihrer Schutzmacht stößt sich die an<strong>der</strong>e Kriegspartei selbst von dem Podest,<br />
auf das die interessierte westliche Wertegemeinschaft sie als Opfer und<br />
Kämpfer für die Menschenrechte gestellt hatte.<br />
Inzwischen ist eine ganze Reihe von Büchern und Schriften erschienen, die<br />
sich mit <strong>den</strong> wahren Ursachen und Hintergrün<strong>den</strong> des NATO-Krieges, mit<br />
dem von <strong>der</strong> NATO begangenen Bruch des Frie<strong>den</strong>svölkerrechts wie des<br />
Kriegsvölkerrechts und mit seinen Folgen für die sicherheitspolitische Entwicklung,<br />
befassen. Sie zerstören nicht nur die Kriegslegen<strong>den</strong>, son<strong>der</strong>n analysieren,<br />
welche Gefahren für <strong>den</strong> europäischen und <strong>den</strong> Weltfrie<strong>den</strong> entstehen,<br />
wenn die Politik, die mit diesem Krieg in Gang gesetzt wor<strong>den</strong> ist, nicht<br />
gestoppt wird. In einem Buch mit dem beziehungsreichen Titel Vor dem<br />
Krieg ist nach dem Krieg heißt es dazu: „Die Lehre aus dem NATO-Krieg<br />
gegen Jugoslawien besteht für alle Staaten, die einmal in Konflikt mit <strong>der</strong><br />
NATO geraten könnten, darin, daß man sich nur durch Aufrüstung gegen<br />
unerwünschte NATO-Militäraktionen wappnen kann.“ 1 So ist es: Der erste<br />
Krieg <strong>der</strong> Neuen NATO wird, wenn <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand gegen diese unverantwortliche<br />
Politik des Westens sich nicht durchsetzt, tatsächlich das Fanal zu<br />
einem neuen Wettrüsten.<br />
Die Versuche aber, sich durch Gegen-Rüstung zu wappnen und die militärische<br />
Überlegenheit <strong>der</strong> einzigen globalen Supermacht zu kompensieren, führen<br />
auf <strong>den</strong> Weg, <strong>der</strong> schon einmal in <strong>der</strong> Sackgasse militärischer Abschreckung<br />
und Selbstabschreckung endete und aus <strong>der</strong> es nur einen Ausweg gibt,<br />
1 U. Cremer, Der erste Krieg <strong>der</strong> neuen NATO, in: U. Cremer, D. S. Lutz (Hrsg.), Nach dem<br />
32<br />
Krieg ist vor dem Krieg, Hamburg 1999, S. 75.
nämlich die Umkehr. Wir sollten daran erinnern, daß am Ende dieser Sackgasse<br />
<strong>der</strong> atomare Abgrund lauerte. Allzu weit haben wir uns seitdem noch<br />
nicht von diesem Endpunkt menschlichen Daseins entfernen können. Die<br />
Overkill-Kapazität, also die Fähigkeit, alles menschliche Leben auf dem Erdball<br />
auszulöschen, ist nach wie vor vorhan<strong>den</strong>. Die neue NATO-Strategie, die<br />
einen neuen Rüstungsschub - sowohl innerhalb <strong>der</strong> Allianz wie bei ihren geopolitischen<br />
Gegenspielern - auslöst, gibt das Kommando zu einer erneuten<br />
Kehrtwende. Wir bewegen uns nicht mehr auf dem vor einem Jahrzehnt eingeschlagenen<br />
Weg heraus aus <strong>der</strong> Sackgasse, son<strong>der</strong>n wir laufen weiter hinein<br />
und wie<strong>der</strong> auf <strong>den</strong> Abgrund zu.<br />
Auf diese Weise steuern wir geradewegs in einen neuen Kalten Krieg. Dieser<br />
wird ein militarisierter Konflikt, diesmal nicht <strong>der</strong> bipolare zweier Gesellschaftssysteme,<br />
son<strong>der</strong>n ein multipolarer zwischen mehreren Weltzentren um<br />
ihre regionale und globale Großmachtposition sein, ausgelöst und vorangetrieben<br />
durch die Entscheidung <strong>der</strong> NATO-Staaten, Sicherheitspolitik militärisch<br />
zu definieren und Außenpolitik mit Waffen und Soldaten zu betreiben.<br />
Die getroffene Wahl hat <strong>den</strong> Balkan-Konflikt erzeugt und <strong>den</strong> Krieg gegen<br />
Jugoslawien, und wie <strong>der</strong> Fluch <strong>der</strong> bösen Tat, die fortan Böses muß gebären,<br />
folgte <strong>der</strong> Tschetschenienkrieg. Vor kurzem überraschte Die Zeit mit <strong>der</strong><br />
Schlagzeile: Willkommen im Kalten Krieg. Der Autor des Artikels wirft ein<br />
grelles Licht auf die sicherheitspolitische Situation und ihre Grundten<strong>den</strong>zen,<br />
wenn er schreibt: „Der neue Kalte Krieg - Tschetschenien ist nur die Spitze<br />
des Eisbergs - bringt das alte multipolare System <strong>der</strong> früheren Großmachtkonflikte<br />
zurück ... Der Tschetschenienkrieg ist nicht zuletzt Moskaus Antwort<br />
auf Washingtons Strategie seit Mitte <strong>der</strong> neunziger Jahre. Sie war darauf<br />
angelegt, Rußlands Südflanke nach Art des Kalten Krieges zu umgreifen und<br />
die Routen für die russischen Pipelines zu destabilisieren.“ 2<br />
Vom Ost-West-Konflikt, schreibt er weiter, werde sich die neue geostrategische<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung wesentlich unterschei<strong>den</strong>: „Rußland wird künftig<br />
nur noch einer von vier Hauptakteuren sein und ist von diesen am schlechtesten<br />
für das 21. Jahrhun<strong>der</strong>t gerüstet. Hinter Amerika wer<strong>den</strong> China und die<br />
Europäische Union zu Weltmächten aufsteigen.“ Zwar sei die Europäische<br />
Union als Weltmacht eine Vorstellung, die noch Fantasie verlange. „Dennoch:<br />
Europas Institutionen und staatliche Insignien, vom gemeinsamen<br />
2 Ch. Schmidt-Häuer, Willkommen in Kalten Krieg, in: Die Zeit, Hamburg, vom 02.12.1999,<br />
S. 10.<br />
33
Rechtsbestand bis zur Währung, wer<strong>den</strong> <strong>der</strong> kommen<strong>den</strong> Großmacht auf<br />
Dauer Statur verleihen.“ 3<br />
Es erhellen sich sogleich die tieferen <strong>Zu</strong>sammenhänge gegenwärtigen Geschehens<br />
in <strong>der</strong> europäischen Sicherheitspolitik und bei <strong>der</strong> Rekonstruktion<br />
<strong>der</strong> Streitkräfte, wenn <strong>der</strong> Autor anschließend genauer erklärt, was das sicherheitspolitisch<br />
zu bedeuten hat: „Die Amerikaner, die <strong>den</strong> Abstieg Rußlands<br />
und <strong>den</strong> Aufstieg Chinas zu kontrollieren versuchen, haben schon begonnen,<br />
die Europäer in dieses Schema einzubeziehen. Die wachsen<strong>den</strong> Spannungen<br />
um die europäische Verteidigungsinitiative, Washingtons plötzliche Warnungen<br />
vor Alleingängen, belegen das. Angesichts <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten geostrategischen<br />
Ausgangslage zu Beginn des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts wird es <strong>den</strong> Europäern<br />
nicht erspart bleiben, eine eigene, von <strong>der</strong> NATO separate Sicherheitsi<strong>den</strong>tität<br />
zu entwickeln.“ 4 Rüstungswettlauf und Konkurrenz um militärische Fähigkeiten<br />
und ihre eigenständige Anwendung leben also auch innerhalb <strong>der</strong> Atlantischen<br />
Allianz auf und verstärken <strong>den</strong> Militarisierungsdrang in Europa.<br />
In die gleiche Richtung <strong>den</strong>ken und drängen auch Militärstrategen in<br />
Deutschland. In einem Vortrag über die Erfahrungen aus dem Kosovo-<br />
Einsatz, überschrieben mit dem Titel Der nächste Konflikt wird kommen betont<br />
General a.D. Klaus Naumann, wichtiger noch als die Konsequenzen für<br />
die NATO seien die Konsequenzen für Europa: „Wir müssen Än<strong>der</strong>ungen<br />
im Streitkräftedispositiv <strong>der</strong> europäischen NATO-Nationen herbeiführen.<br />
Der Unterschied zwischen <strong>der</strong> militärischen Leistungsfähigkeit <strong>der</strong> europäischen<br />
NATO-Staaten und <strong>der</strong> <strong>der</strong> USA ist im Kosovo-Konflikt in einer<br />
Deutlichkeit zu Tage getreten, die dem politischen Verantwortlichen in Europa<br />
wohl endgültig gezeigt haben muß, daß es um weit mehr geht als um Diskrepanzen<br />
in <strong>der</strong> militärischen Leistungsfähigkeit. Es geht um die eigenständige<br />
Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit <strong>der</strong> Europäischen Union.“<br />
Und damit klar ist, wofür die Europäische Union diese eigenständige militärische<br />
Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit braucht, setzt er<br />
dem hinzu, „die Europäische Union muß endlich auch begreifen, daß sie eine<br />
globale Macht ist und nicht nur im Hinterhof agieren kann.“ 5<br />
Es ist nicht zu überhören, deutsches Großmachtstreben meldet im neuen<br />
Gewand seine Ansprüche an, diesmal nicht gegen Frankreich und England,<br />
son<strong>der</strong>n mit ihnen und in konkurrieren<strong>der</strong> Partnerschaft mit <strong>den</strong> USA. Wenn<br />
3 Ebenda.<br />
4 Ebenda.<br />
5 K. Naumann, Der nächste Konflikt wird kommen. Erfahrungen aus dem Kosovo-Einsatz, in:<br />
34<br />
Europäische Sicherheit, Heft. 11/1999, S. 13.
die Ambitionen, nach einer Weltmachtrolle für die Europäische Union zu<br />
greifen, sich realisieren, dann wird die Hoffnung auf ein Europa <strong>der</strong> Einheit<br />
und des Frie<strong>den</strong>s begraben. Damit stellt sich <strong>der</strong> Teil Europas, <strong>der</strong> die<br />
NATO- und die EU-Staaten umfaßt, dem an<strong>der</strong>en Teil Europas als Militärmacht<br />
gegenüber. Das hatten wir schon, bloß daß diesmal die Konfrontationslinie<br />
weiter im Osten verläuft. Eine solche Großmacht mit dem Schwergewicht<br />
Deutschland begibt sich, das muß man sich klar vor Augen halten, in<br />
militärische Rivalität zuerst und vor allem zu <strong>der</strong>, wenn auch absteigen<strong>den</strong>,<br />
Globalmacht in ihrer Nachbarschaft, zu Rußland. Das ist eine äußerst beunruhigende<br />
Perspektive für Sicherheit und Frie<strong>den</strong> in Europa, wenn man die<br />
Geschichte des Jahrhun<strong>der</strong>ts, das wir gerade hinter uns gelassen haben, nicht<br />
schon vergessen hat.<br />
Wie tief die Politik <strong>der</strong> Atlantischen Allianz schon wie<strong>der</strong> <strong>den</strong> Verhaltensmustern<br />
des Kalten Krieges verfallen ist, hat sich bereits im Krieg gegen Jugoslawien<br />
gezeigt. Rücksichtslos setzte <strong>der</strong> Westen sich über die Interessen Rußlands<br />
hinweg, verletzte die Rechte Rußlands und Chinas als ständige Mitglie<strong>der</strong><br />
des Sicherheitsrates, provozierte Rußland zum Einfrieren <strong>der</strong> Kooperation<br />
mit <strong>der</strong> NATO und zur demonstrativen Warnung des russischen Präsi<strong>den</strong>ten,<br />
daß Rußland eine Atommacht ist. Die USA verstiegen sich sogar zu einem<br />
Raketenangriff auf die Botschaft <strong>der</strong> Weltmacht China, und US-General<br />
Clark befahl, dem Handstreich russischer Schutztruppen im Kosovo, mit dem<br />
Rußland sich dem Versuch wi<strong>der</strong>setzte, in eine Randposition gedrängt zu<br />
wer<strong>den</strong>, bewaffnet entgegen zu treten. Daß <strong>der</strong> britische General Jackson mit<br />
Rückendeckung seiner Regierung <strong>den</strong> Befehl verweigerte und das mit <strong>den</strong><br />
Worten begründete, er werde für Clark nicht <strong>den</strong> dritten Weltkrieg auslösen,<br />
macht deutlich, welche gefährlichen Spannungen und kritischen Situationen<br />
<strong>der</strong> Rückgriff auf Metho<strong>den</strong> des Kalten Krieges erzeugt.<br />
Als einflußreicher Protagonist <strong>der</strong> neuen NATO-Strategie bewertet General<br />
a.D. Klaus Naumann, vor und während des Krieges gegen Jugoslawien<br />
noch Vorsitzen<strong>der</strong> des Militärausschusses <strong>der</strong> NATO, die Tatsache, daß <strong>der</strong><br />
Westen <strong>der</strong> Russischen Fö<strong>der</strong>ation das ihr laut UN-Charta zustehende Recht<br />
verwehrt hat, über militärische Maßnahmen gegen Völkerrechtssubjekte nach<br />
dem Konsensprinzip mit zu entschei<strong>den</strong>, als ein positives Ergebnis des Kosovo-Konfliktes.<br />
„Wir haben ihnen gezeigt, daß sie keine Chance haben, Interventionen<br />
<strong>der</strong> NATO durch ein Veto Rußlands zu behin<strong>der</strong>n. Und ich<br />
hoffe, Moskau hat das verstan<strong>den</strong>.“ 6 Die antirussische Spitze <strong>der</strong> Selbstermächtigung<br />
<strong>der</strong> NATO zu militärischen Interventionen ist unverkennbar. Der<br />
6 Ebenda.<br />
35
nächste Akt, <strong>der</strong> <strong>den</strong> Konflikt mit Rußland verschärft und uns tiefer in einen<br />
Kalten Krieg stößt, wird die zweite Phase <strong>der</strong> Ostexpansion <strong>der</strong> NATO sein,<br />
mit <strong>der</strong> sich das westliche Militärbündnis direkt an die Grenzen <strong>der</strong> Russischen<br />
Fö<strong>der</strong>ation vorschiebt.<br />
Man kann angesichts dieser bedrohlichen Aussichten Dieter S. Lutz, wissenschaftlicher<br />
Direktor des Instituts für Frie<strong>den</strong>sforschung und Sicherheitspolitik<br />
an <strong>der</strong> Universität Hamburg, nur zustimmen, wenn er schreibt: „ Gemessen<br />
an <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>tchance des Epochenbruchs von 1989/90 ist die Fortführung<br />
<strong>der</strong> NATO ein grundlegen<strong>der</strong> Fehler. Diese Feststellung muß um so<br />
mehr für die Ausweitung <strong>der</strong> NATO nach Osten gelten. Militärbündnisse wie<br />
NATO o<strong>der</strong> WEU umschließen - mit o<strong>der</strong> ohne Osterweiterung - immer nur<br />
einen Teil des europäischen Kontinents. Sie führen die Spaltung Europas in<br />
sichere und unsichere, stabile und instabile Zonen fort. Konflikte außerhalb<br />
ihrer Grenzen können sie nicht präventiv bearbeiten, wie das Beispiel des<br />
vormaligen Jugoslawien zeigt. Sie haben an<strong>der</strong>s als ein System kollektiver Sicherheit<br />
nicht die Mittel und Mechanismen hierfür.“ Aber nicht nur das, sie<br />
för<strong>der</strong>n geradezu ein politisches und militärisches Verhalten, wie wir es aus<br />
dem Kalten Krieg kennen, <strong>den</strong>n, wie Dieter S. Lutz weiter schreibt, „sind Militärbündnisse<br />
selbst ein latenter Faktor für Isolierungs- o<strong>der</strong> gar Bedrohungswahrnehmungen<br />
<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Mitgliedschaft ausgeschlossenen Staaten.<br />
Gegen-Bündnisse, Rüstungseskalationen und Abschreckungs<strong>den</strong>ken können<br />
die Folge sein. Und wie die Realität zeigt: immer wie<strong>der</strong> Krieg.“ 7<br />
Die richtigen Erkenntnisse sind also durchaus vorhan<strong>den</strong> und wer<strong>den</strong> von<br />
renommierten Instituten und Persönlichkeiten öffentlich vertreten. Wi<strong>der</strong>stand<br />
gegen die eingeschlagene verhängnisvolle Entwicklung in <strong>der</strong> Lebensfrage<br />
von Frie<strong>den</strong> und Sicherheit formiert sich zuerst geistig und muß im<br />
Ringen um Einfluß auf die öffentliche Meinung ausgefochten wer<strong>den</strong>. Wir<br />
sollten die Kraft <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung nicht so sehr daran messen, wieviele<br />
Menschen sie auf die Straße bringt, wieviele sich an Ostermärschen und an<strong>der</strong>en<br />
Aktionen beteiligen. Die Frie<strong>den</strong>sbewegung ist in erster Linie Träger einer<br />
geistigen Strömung. Sie ist existent, indem sie einen Platz besetzt im gesellschaftlichen<br />
Bewußtsein. Die Bewegung für <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong> ist gebun<strong>den</strong> an die<br />
Präsenz von Frie<strong>den</strong>sbewußtsein. Dieses muß in <strong>den</strong> Köpfen sein als Bedürfnis<br />
und als ein Komplex von Werten, Wissen und Wollen. Je mehr Köpfe es<br />
erfaßt, je mehr es die Meinung von vielen prägt, um so stärker ist die Frie<strong>den</strong>skraft,<br />
die Einfluß auf Politik auszuüben vermag. Nur über ihren Einfluß<br />
auf die Politik kann sie etwas ausrichten für <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong>.<br />
7 D. S. Lutz, Frie<strong>den</strong>sdienst als Son<strong>der</strong>weg, in: Freitag, Berlin, vom 17.10.1999, S. 12.<br />
36
Das Frie<strong>den</strong>s<strong>den</strong>ken muß <strong>den</strong> Platz zurückgewinnen, <strong>den</strong> es in <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Meinung schon einmal eingenommen hatte. Es muß gegen die ideologische<br />
Rechtfertigung von völkerrechtswidrigen Militärinterventionen das<br />
Recht einfor<strong>der</strong>n, das auf seiner Seite ist und verteidigt wer<strong>den</strong> muß. Was uns<br />
auf diesem Weg voranbringen kann, ist schon in <strong>der</strong> Geburtsstunde <strong>der</strong> Vereinten<br />
Nationen als geschichtliche Lehre aus dem II. Weltkrieg gezogen wor<strong>den</strong><br />
und hat in <strong>der</strong> Klarheit des Gedankens bis heute volle Gültigkeit behalten.<br />
In seiner Eröffnungsrede zu <strong>den</strong> Nürnberger Prozessen sagte <strong>der</strong> amerikanische<br />
Chefankläger Robert H. Jackson: „Die allergeringste Folge <strong>der</strong> Verträge,<br />
die <strong>den</strong> Angriffskrieg für ungesetzlich erklären, ist, jedem, <strong>der</strong> <strong>den</strong>noch einen<br />
solchen Krieg anstiftet o<strong>der</strong> entfesselt, jeglichen Schutz zu nehmen, <strong>den</strong> das<br />
Gesetz je gab, und die Kriegstreiber einem Urteilsspruch nach <strong>den</strong> allgemein<br />
anerkannten Grundregeln des Strafrechts zu überantworten. ... Aber <strong>der</strong> letzte<br />
Schritt, periodisch wie<strong>der</strong>kehrende Kriege zu verhüten, die bei internationaler<br />
Gesetzlosigkeit unvermeidlich sind, ist, die Staatsmänner vor dem Gesetz verantwortlich<br />
zu machen. Und lassen Sie es mich deutlich aussprechen: Dieses<br />
Gesetz wird hier zunächst auf deutsche Angreifer angewandt, es schließt aber<br />
ein und muß, wenn es von Nutzen sein soll, <strong>den</strong> Angriff je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Nation<br />
verdammen, nicht ausgenommen die, die jetzt hier zu Gericht sitzen.“ 8 Genau<br />
dahin müssen wir kommen.<br />
Autor: Prof. Dr. Wolfgang Scheler, Dres<strong>den</strong>er Studiengemeinschaft<br />
SICHERHEITSPOLITIK e.V.<br />
Der Beitrag wurde schriftlich eingereicht.<br />
8 R. H. Jackson, Eröffnungsrede vor dem Nürnberger Tribunal am 20. November 1945, in: Der<br />
Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof,<br />
Nürnberg, 14. November 1945 - 01. Oktober 1946. Veröffentlicht in Nürnberg, Deutschland<br />
1947, Bd. 2, S. 173 u. 182.<br />
37
Volker Bialas<br />
Der Gewalt wi<strong>der</strong>stehen - für eine Kultur des Frie<strong>den</strong>s<br />
<strong>Zu</strong> <strong>den</strong> erweiterten <strong>Aufgaben</strong> <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung<br />
Sicherheit - eine an<strong>der</strong>e Form von Gewaltandrohung<br />
Die Münchner Tagung für Sicherheitspolitik Anfang Februar 2000 signalisiert<br />
die Einleitung einer neuen Runde von Militarisierung und Hochrüstung in<br />
Europa. Denn nun wird die nächste Stufe <strong>der</strong> NATO-Osterweiterung vorbereitet,<br />
und zudem sollen von <strong>der</strong> EU eigene Interventionstruppen (ESDI)<br />
aufgestellt wer<strong>den</strong>. Dazu hat <strong>der</strong> neue NATO-Generalsekretär George Robertson<br />
lakonisch angemerkt, die „teuren Wehrdienstarmeen“ müßten abgebaut<br />
wer<strong>den</strong> und es sei nun „klüger zu investieren, um unsere Schlagkraft zu<br />
stärken.“ 1 Diese militärische Art <strong>der</strong> I<strong>den</strong>titätsstiftung deutet Robertson dann<br />
in Art <strong>der</strong> NATO-Logik mit <strong>der</strong> Bildung eines neuen Euphemismus, einer<br />
neuen Sprachverbiegung, indem er noch hinzufügt: „Die Kollektiv-<br />
Verteidigung bleibt ein bestechendes Konzept. Die neuen Mitglie<strong>der</strong> schätzen<br />
die Stabilität, welche die NATO garantiert. Und schließlich erfor<strong>der</strong>t jede<br />
Diplomatie eine glaubwürdige Militärmacht. Wir strahlen eine Kultur <strong>der</strong> Sicherheit<br />
aus.“ 2<br />
Sicherheit klingt gut. Im Zeitalter <strong>der</strong> inszenierten Verunsicherungen und <strong>der</strong><br />
berechtigten Lebensängste klingt Sicherheit ganz positiv und beruhigt<br />
sogleich je<strong>den</strong> Argwohn. Und doch müssen wir nach <strong>den</strong> Erfahrungen des<br />
Jugoslawien-Krieges fragen: Gegen wen soll <strong>den</strong>n eines Tages die militärische<br />
Sicherheit ausgestrahlt wer<strong>den</strong>? Diese Art von Sicherheit steht doch unvermin<strong>der</strong>t<br />
in <strong>der</strong> unheilvollen Tradition einer Kultur <strong>der</strong> Gewalt. Sie soll uns<br />
doch seit einigen Jahren mit <strong>der</strong> Behauptung nahegebracht wer<strong>den</strong>, wir hätten<br />
weltweite Interessen zu verfolgen, jedoch nicht etwa bei Lösung <strong>der</strong> großen<br />
Menschheitsprobleme, son<strong>der</strong>n bei <strong>der</strong> Sicherung des wirtschaftlichen Reichtums<br />
des Nor<strong>den</strong>s auf Kosten <strong>der</strong> armen Län<strong>der</strong>.<br />
Gewalt und nicht Sicherheit ist das Signum des Militärischen gegenüber dem<br />
Zivilen, d.h. gegenüber einer <strong>der</strong> Gewaltanwendung sich wi<strong>der</strong>setzen<strong>den</strong> zivilen<br />
Gesellschaft. In diesem Sinne ist auch die Einladung zum Achten Dresdner<br />
Frie<strong>den</strong>ssymposium zu verstehen, wenn es heißt, Frie<strong>den</strong>sarbeit müsse<br />
1 SZ-Interview, in: Süddeutsche Zeitung vom 07.02.2000, S. 11.<br />
2 SZ-Interview, a.a.O.<br />
38
kriegsverhin<strong>der</strong>nd wirken, vorbeugend, was die Aufdeckung <strong>der</strong> Kriegsursachen<br />
betrifft, und aufklärerisch, was die Information <strong>der</strong> Öffentlichkeit betrifft.<br />
Wenn wir <strong>den</strong> Begriff des Krieges präzisieren müssen, dann ist <strong>der</strong> Begriff<br />
<strong>der</strong> Gewalt in die Erörterung unbedingt mit einzubeziehen. Gewalt gilt es<br />
zu entschleiern, und - was die konkrete Frie<strong>den</strong>sarbeit in ihrer Glaubwürdigkeit<br />
und Außenwirkung anbelangt – es sind auch positive Gegenkonzepte zu<br />
entwickeln, um das Gewalt<strong>den</strong>ken schließlich zu überwin<strong>den</strong>.<br />
<strong>Zu</strong>r Frage <strong>der</strong> verursachen<strong>den</strong> Gewalt<br />
In dem vereinfachten Geschichtsbild, wie es seit <strong>den</strong> 80er Jahren von <strong>den</strong><br />
westlichen Verbündeten propagiert wird, ist Geschichte als ein Kampf zwischen<br />
dem Guten und dem Bösen dargestellt. Dabei ist das Gute die westliche<br />
Wertegemeinschaft, die - mit <strong>der</strong> Fahne <strong>der</strong> individuellen Menschenrechte<br />
voran - für die Freiheit des Marktes und des uneingeschränkten Konsums<br />
gewissermaßen im Gleichschritt marschiert. Dem Bösen wer<strong>den</strong> alle davon<br />
grundsätzlich abweichen<strong>den</strong> Konzepte zugeordnet. <strong>Zu</strong>r Zeit des Kalten Krieges<br />
war das die zentrale Planwirtschaft und nun, nachdem die Globalisierung<br />
von Finanzkapital, Produktionsabläufen und Marktgeschehen in Gang gekommen<br />
ist, wird die regulierte soziale Marktwirtschaft hintertrieben. Als ein<br />
beson<strong>der</strong>es schwerwiegendes Sakrileg wird noch immer die Verfolgung eines<br />
eigenen politischen Weges, bei dem etwa auch von einem umfassen<strong>der</strong>en<br />
Verständnis <strong>der</strong> Menschenrechte - im Sinne ihres sozialen und entwicklungsspezifischen<br />
Gehalts - Gebrauch gemacht wird, betrachtet und entsprechend<br />
geahndet.<br />
Abweichungen vom westlich-kapitalistischen Weg wer<strong>den</strong> also traditionell<br />
sanktioniert, bestraft - und sei es mit militärischer Gewalt. Diese Gewalt wird<br />
seit <strong>den</strong> Zeiten des Kalten Krieges durch Propaganda und Einstimmung <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeit auf Kriegseinsätze ritualisiert in <strong>der</strong> Gewöhnung. Die sprachlichen<br />
Euphemismen sollen sie als rechtmäßig erscheinen lassen, so daß die im<br />
Zeitalter <strong>der</strong> Massenvernichtungsmittel wie<strong>der</strong>belebte Mumie gerechter Krieg<br />
wie<strong>der</strong> das Denken <strong>der</strong> Menschen beherrschen und vernebeln soll. Und, wie<br />
gehabt, ist dann jede davon abweichende Gewaltausübung, wie die Gewalt<br />
Jugoslawiens im Kampf gegen die Sezession <strong>der</strong> Teilrepubliken, eine regelwidrige<br />
Gewalt.<br />
Im Verständnis des Pazifismus ist Gewalt grundsätzlich abzulehnen. Gewalt<br />
ist hier nicht teilbar und läßt sich nicht rechtfertigen. Gewiß, dann kommt<br />
von <strong>den</strong> Gewaltbefürwortern das berüchtigte Beispiel von Herrn H. aus dem<br />
Reich des Bösen, so als ob Herr H. ohne jede Vorgeschichte direkt <strong>der</strong> Hölle<br />
39
entstiegen sei und sogleich ohne längere Vorbereitung <strong>den</strong> II. Weltkrieg entfesselt<br />
habe.<br />
Derartige Vorgeschichten müssen auch <strong>den</strong> Pazifismus näher beschäftigen.<br />
Er muß deutlicher als bisher wahrnehmen, daß die Gewalt des Krieges nicht<br />
die einzige Form <strong>der</strong> Gewalt ist, welche die Völker ausrottet und versklavt.<br />
Die primäre Gewalt ist die strukturelle o<strong>der</strong> institutionalisierte Ungerechtigkeit<br />
als die verursachende Gewalt, in <strong>der</strong> die verelendeten Menschen auch<br />
ohne militärische Gewalt <strong>der</strong> Vernichtung preisgegeben sind.<br />
In diesem <strong>Zu</strong>sammenhang ist beson<strong>der</strong>s auf Erfahrungen und theoretische<br />
Konstrukte <strong>der</strong> Befreiungstheologie aufmerksam zu machen. So hat <strong>der</strong> lateinamerikanische<br />
Befreiungstheologe Jon Sobrino, die Ausplün<strong>der</strong>ung Afrikas<br />
und Lateinamerikas vor Augen, daran erinnert, daß diese Menschen für<br />
<strong>den</strong> reichen Nor<strong>den</strong> gleichsam in-existent sind, weil sie für <strong>den</strong> ökonomischen<br />
Produktionsapparat nicht existieren. Er nennt das <strong>den</strong> Fundamentalismus<br />
des Kapitals.“ 3 Gewalt überwin<strong>den</strong> heißt letztlich, die verursachende<br />
Gewalt überwin<strong>den</strong>. In dieser Konsequenz sind sich Befreiungstheologie und<br />
<strong>der</strong> radikale Pazifismus einig.<br />
Die Verwischung von zwischenstaatlicher und innerstaatlicher<br />
Gewalt<br />
In <strong>den</strong> seit 1990 in Europa wahrnehmbaren, scheinbar gegeneinan<strong>der</strong> laufen<strong>den</strong><br />
großräumigen Prozessen von ökonomischer und politischer Integration<br />
auf <strong>der</strong> einen und von Kleinstaatenbildung in <strong>der</strong> Sezession ehemaliger Bundesstaaten<br />
auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite dominiert zweifellos <strong>der</strong> von <strong>den</strong> Konzernen<br />
bestimmte und von <strong>den</strong> westeuropäischen Regierungen politisch umgesetzte<br />
Integrationsprozeß. Frühere Außenpolitik, verstan<strong>den</strong> als zwischenstaatliche<br />
Politik von mehr o<strong>der</strong> weniger souveränen Staaten, verwandelt sich immer<br />
mehr in europäische o<strong>der</strong> - allgemein gesagt - regionale Innenpolitik. Jugoslawien<br />
war ein militärischer Präze<strong>den</strong>zfall <strong>der</strong> Einmischung, wenn auch noch<br />
unter <strong>der</strong> Führung <strong>der</strong> Vereinigten Staaten, in die inneren Angelegenheiten<br />
3 J. Sobrino, Die Gewalt <strong>der</strong> Ungerechtigkeit, in: concilium. Int. Zeitschrift für Theologie,<br />
33(1997), H. 4, S. 477-485. <strong>Zu</strong>m Verständnis <strong>der</strong> Position von Sobrino ist von beson<strong>der</strong>em Interesse:<br />
O. König, G. Larcher (Hrsg.), Theologie <strong>der</strong> gekreuzigten Völker. J. Sobrino im Gespräch,<br />
Graz 1992.<br />
40
eines europäischen Mitgliedsstaates <strong>der</strong> UNO. Österreich könnte <strong>der</strong> politische<br />
Präze<strong>den</strong>zfall sein. 4<br />
In dieser Entwicklung, <strong>den</strong> Staaten ihre letzte Souveränität zu nehmen, liegt<br />
auch für die Gewaltfrage eine gefährliche Ten<strong>den</strong>z. Militärische Aufrüstung<br />
und Ausrüstung betrifft nun nicht mehr nur potentielle Kriegseinsätze im<br />
Außenbereich von Staaten und Staatengruppen, son<strong>der</strong>n auch <strong>den</strong> möglichen<br />
Feind im Innern.<br />
Diese Verwischung <strong>der</strong> Grenze zwischen Außen und Innen wird auf militärischem<br />
Gebiet begünstigt durch die Entwicklung neuer Waffen, von sogenanntem<br />
nichttödlichem Kriegsgerät. Sie sind seit Beginn <strong>der</strong> 90er Jahre in <strong>der</strong><br />
etwas seltsam anmuten<strong>den</strong> <strong>Zu</strong>sammenarbeit des US-Verteidigungs- und Justizministeriums<br />
mit amerikanischen Science-fiction-Autoren, wie Chris und<br />
Janet Morris, und dem Futurologen Alvin Toffler entwickelt wor<strong>den</strong>. 5 Die<br />
eine fiktive Schreckenswelt beschreibende Phantasie geschäftiger Sciencefiction-Autoren<br />
und ihre in Buch und Film gekochten Elaborate sind also<br />
hinsichtlich ihrer Ideologie und in <strong>den</strong> vorgeführten Szenarios für die Umsetzung<br />
in eine menschenverachtende militärische Strategie in <strong>der</strong> realen Welt<br />
nicht zu unterschätzen.<br />
<strong>Zu</strong> dem Kriegsgerät gehören kriegsrelevante Waffen, wie z.B. Graphitfaserbomben,<br />
die von <strong>der</strong> NATO im Jugoslawienkrieg gegen die Stromversorgung<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung eingesetzt wur<strong>den</strong>. Ebenso sind Waffen einbezogen, die<br />
nach <strong>der</strong> Haager Landkriegsordnung für Kriegseinsätze verboten sind. Das<br />
sind nicht-tödliche Waffen, sogenannte Soft-kill-Waffen wie Wuchtgeschosse,<br />
Blendschockgranaten und einschläfernde Chemikalien, die <strong>den</strong> Gegner<br />
kampfunfähig machen, ihn je<strong>den</strong>falls nicht sofort töten. Die Nie<strong>der</strong>schlagung<br />
einer Rebellion in einem Land, aber auch die Auflösung einer Großdemonstration,<br />
würde sich dann <strong>der</strong>selben Kriegsmittel bedienen, wie sie bei <strong>der</strong> Eroberung<br />
eines frem<strong>den</strong> Gebietes angewandt wer<strong>den</strong>.<br />
Für die Frie<strong>den</strong>sarbeit bedeutet das: Gegen militärische Gewalt und Rüstung<br />
sich einsetzen muß daher auch heißen, sich gegen alle Aktivitäten von Politikern<br />
und Militärs zu wen<strong>den</strong>, durch die die Grenze zwischen Armee und Polizei<br />
aufgehoben wird. An<strong>der</strong>s gesagt, muß auch <strong>der</strong> Begriff des Frie<strong>den</strong>s umfassen<strong>der</strong><br />
verstan<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>: Der Frie<strong>den</strong> im politischen Außenbereich, also<br />
4 Die Wachsamkeit gegenüber <strong>den</strong> rechten Entwicklungen in Österreich ist damit keineswegs in<br />
Frage gestellt, jedoch ist sie auch gegenüber <strong>den</strong> übereifrigen Reaktionen von EU-Staaten und<br />
ihren Motiven geboten.<br />
5 St. Wright, Krieg light gegen Zivilisten, in: Le Monde diplomatique, Januar 2000.<br />
41
zwischen <strong>den</strong> Staaten, ist nur zu erreichen, wenn die Konflikte im politischen<br />
Innen- und Nahbereich gelöst wer<strong>den</strong>. Dieser <strong>Zu</strong>sammenhang zwischen Außen<br />
und Innen, zwischen dem Großen und dem eher Kleinen, leitet zum letzten<br />
zu erörtern<strong>den</strong> Punkt dieser Bemerkungen über, zur Kultur des Frie<strong>den</strong>s.<br />
Für eine Kultur des Frie<strong>den</strong>s<br />
Über die traditionellen Formen des Protestes und des Wi<strong>der</strong>standes gegen<br />
Krieg und militärische Rüstung hinaus müssen in <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sarbeit auch positive<br />
Konzepte entwickelt wer<strong>den</strong>, um resignative Stimmungen in <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>sbewegung<br />
zu überwin<strong>den</strong> und verstärkt auf die jüngeren Generationen<br />
zugehen zu können. Ein <strong>der</strong>artiges Programm liegt als Kultur des Frie<strong>den</strong>s<br />
seit einigen Jahren vor und wurde <strong>der</strong> internationalen Öffentlichkeit von <strong>der</strong><br />
UNESCO, <strong>der</strong> Unterorganisation für Kultur, Wissenschaft und Bildung <strong>der</strong><br />
UNO, für die Jahre 1996 - 2001 präsentiert. 6<br />
Auf <strong>den</strong> wesentlichen Punkt gebracht, stellt die Kultur des Frie<strong>den</strong>s ein positives<br />
Gegenkonzept zur traditionellen Kultur <strong>der</strong> Gewalt dar. Sie verfolgt keinen<br />
abstrakten Pazifismus, son<strong>der</strong>n bedeutet konkrete gesellschaftliche Praxis<br />
unter <strong>der</strong> Prämisse <strong>der</strong> Humanität entsprechend dem Heinemann-Wort: Der<br />
Frie<strong>den</strong> ist <strong>der</strong> Ernstfall. Ihre leiten<strong>den</strong> Prinzipien sind soziale Gerechtigkeit,<br />
aktive Toleranz und Partizipation, d.h. in <strong>der</strong> Kultur des Frie<strong>den</strong>s geht es<br />
letztlich um die Verwirklichung aller Menschenrechte und damit um die Überwindung<br />
<strong>der</strong> ursächlichen, strukturellen Gewalt.<br />
Ihre Faszination gewinnt diese Konzeption vor allem auch dadurch, daß sie<br />
<strong>den</strong> gesellschaftlichen Mikrobereich des Alltäglichen mit <strong>den</strong> großen Problemen<br />
im gesellschaftlichen Makrobereich, <strong>den</strong> großen Problemlagen, verbindet.<br />
Beeindruckend ist sie auch deswegen, weil sich das Große im Kleinen wi<strong>der</strong>spiegelt<br />
und in an<strong>der</strong>er Form wie<strong>der</strong>findet. <strong>Zu</strong>dem muß im Alltäglichen<br />
entwickelt und eingeübt wer<strong>den</strong>, was erst die Welt im Großen zum Positiven<br />
zu verän<strong>der</strong>n hilft: soziales Engagement und partnerschaftliches Verhalten,<br />
gewaltfreies Handeln bei <strong>der</strong> Lösung von Konflikten und eine das Naturverhältnis<br />
des Menschen miteinbeziehende Ethik, <strong>der</strong>en Prüfstein für eine<br />
Glaubwürdigkeit auch unser eigenes Tun und Denken sein muß.<br />
Autor: Prof. Dr. Volker Bialas, Wissenschafts- und Philosophiehistoriker,<br />
München.<br />
6 Nunmehr wurde das Jahr 2000 als Jahr <strong>der</strong> Kultur des Frie<strong>den</strong>s proklamiert.<br />
42
Lorenz Knorr<br />
Primat des Militärischen contra Volkssouveränität<br />
Der High-Tech-Krieg <strong>der</strong> NATO gegen Jugoslawien zeigte zum wie<strong>der</strong>holten<br />
Male - und zwar dramatischer als bei vorausgegangenen nichtkriegerischen<br />
Fällen -, daß <strong>der</strong> vielgerühmte Primat <strong>der</strong> Politik bzw. die Dominanz von gewählten<br />
Regierungen vor <strong>der</strong> Generalität tiefgreifend verän<strong>der</strong>t ist. Diese<br />
Transformation unter <strong>den</strong> neuen Bedingungen <strong>der</strong> elektronischen und medialen<br />
Entwicklung berührt eine Grundfrage <strong>der</strong> Demokratie und <strong>der</strong> Volkssouveränität.<br />
Es geht um die prinzipielle Frage, ob die vom Volk gewählten Regierungen<br />
- bei aller Problematik von Wahlversprechen und praktischer Politik<br />
- instrumentalisierte Organe von Krieg und Militarisierung sind o<strong>der</strong> nicht.<br />
Die NATO ignorierte mit ihrer Aggression 1999 nicht nur das Völkerrecht.<br />
Dominierende Politik o<strong>der</strong> Dienstleistung für Krieg?<br />
Bekanntlich weist die klassische Kriegstheorie von Clausewitz dem Krieg -<br />
und damit <strong>den</strong> Streitkräften - instrumentalen Charakter zu. Die absolute Dominanz<br />
<strong>der</strong> Politik sei geboten. Der Zweck ist die Politik, das Mittel sind<br />
Krieg und Streitkräfte. 1 Dagegen wies <strong>der</strong> preußisch-deutsche General und<br />
Nazikriegspromoter Lu<strong>den</strong>dorff <strong>der</strong> Politik eine dienende Rolle zu als Magd<br />
des Krieges. Dieser sei höchste Selbstentfaltung eines Volkes, deshalb wären<br />
auf ihn alle verfügbaren personellen und materiellen Potenzen zu konzentrieren.<br />
Der Feldherr sollte zugleich Staatslenker sein. Die innere Geschlossenheit<br />
des Volkes als Garant des Sieges dulde keinen innenpolitischen Wi<strong>der</strong>stand.<br />
2 Die NS-Diktatur realisierte dieses Konzept weitgehend.<br />
Clausewitz entwickelte seine stringente Kriegswissenschaft als Reflexion militärischer<br />
Praxis in <strong>der</strong> napoleonischen Zeit. Die Wirtschaft war damals noch<br />
kein wesentlicher politischer Faktor; die Industrialisierung befand sich noch<br />
im Frühstadium. Wie alle preußischen Heeresreformer dachte und wirkte<br />
Clausewitz als Kind <strong>der</strong> Aufklärung und <strong>der</strong> Klassik. Er erkannte <strong>den</strong> Krieg<br />
als historische und gesellschaftliche Erscheinung, die <strong>den</strong> jeweils wirken<strong>den</strong><br />
Bedingungen folgt. Die Politik erkannte Clausewitz - <strong>der</strong> idealistischen Philosophie<br />
folgend - als die des Staates, nicht als die <strong>der</strong> jeweils herrschen<strong>den</strong><br />
Klasse. Sie sollte historisch Notwendiges durchsetzen. Jedoch wirkte damals<br />
1 Vgl. C. v. Clausewitz, Vom Kriege, Berlin 1957.<br />
2 Vgl. E. Lu<strong>den</strong>dorff, Der totale Krieg, München 1935.<br />
43
das alte ius ad bellum, das von <strong>den</strong> Monarchen beanspruchte Recht auf<br />
Krieg. 3<br />
Lu<strong>den</strong>dorff präsentierte - eingeschränkt - die Kriegserfahrungen des um die<br />
Jahrhun<strong>der</strong>twende und danach im Kaiserreich dominieren<strong>den</strong> Generalstabs.<br />
Damals erreichte die konzentrierte kapitalistische Produktion eine hohe technische<br />
Stufe. Die Verflechtung von Ökonomie und Politik nahm zu. 4 Das<br />
Bündnis von Krone, Altar und Finanzkapital orientierte sich zu Lasten <strong>der</strong><br />
Völker auf aggressive Expansion. 5 Lu<strong>den</strong>dorff verkörperte <strong>den</strong> Drang des<br />
<strong>deutschen</strong> Imperialismus, wirtschaftliche und politische Streitfragen durch<br />
Krieg zu entschei<strong>den</strong>. Das Schwert als Schiedsrichter galt als Maxime. Überschätzung<br />
eigener Möglichkeiten und Unterbewertung <strong>der</strong> des Gegners blieben<br />
deutsche Beson<strong>der</strong>heit. Den Zeitgeist beeinflußte maßgeblich <strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>s-<br />
und Demokratiegegner F. Nietzsche. Dessen Herrenmenschen- und<br />
Übermenschen-Phantasien wirkten ebenso auf die Militärpolitik wie <strong>der</strong> historische<br />
Rückschritt von <strong>der</strong> Erkenntnis zum Mythos und zum Instinkt. 6<br />
Höchste technische Rationalität und politischer Irrationalismus lösten abenteuerliches<br />
Verhalten in <strong>der</strong> internationalen Arena mit riskanten Folgen aus.<br />
Die Aufholjagd des zurückgebliebenen Deutschland setzte primär auf eine<br />
schlagkräftige Armee und auf Rüstungspotenz.<br />
Die katastrophalen Ergebnisse dieses Strategieverständnisses zeigten sich<br />
1918 und 1945. Nach <strong>der</strong> totalen Kapitulation des faschistischen Deutschland<br />
schien Lu<strong>den</strong>dorffs totale Kriegslehre mit dem Primat des Militärischen absolut<br />
passe´ .Aber es schien nur so.<br />
Ignorierte Verpflichtung zum Frie<strong>den</strong> und zum Recht<br />
Die geschichtlichen Lehren und die Schrecken des II. Weltkrieges mit einmaligen<br />
Verbrechen wirkten bei manchen nicht einmal in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> nuklearen<br />
Blockkonfrontation. Die BRD war das einzige Land in Europa, das die Ergebnisse<br />
des II. Weltkrieges mit einer Politik <strong>der</strong> (militärischen) Stärke zu<br />
revidieren trachtete. 7 Die Infragestellung <strong>der</strong> Nachkriegsgrenzen und die auf<br />
neue militärische Macht gestützte Expansionsbereitschaft prägte eine Politik,<br />
3 Vgl. E. Engelberg und O. Korfes, Einleitung zu C. v. Clausewitz, a.a.O.<br />
4 Vgl. R. Hilferding, Das Finanzkapital, Berlin 1910.<br />
5 Vgl. F. Fischer, Griff nach <strong>der</strong> Weltmacht, Düsseldorf 1961.<br />
6 Vgl. G. Lukacs, Die Zerstörung <strong>der</strong> Vernunft, Berlin 1953; MES, Bru<strong>der</strong> Nietzsche?, Düsseldorf 1988.<br />
<strong>Zu</strong> Lu<strong>den</strong>dorff: D. Senghaas, Abschreckung und Frie<strong>den</strong>, Frankfurt a.M. 1969, 1. Abschnitt.<br />
7 Vgl. G. Heinemann, Verfehlte Deutschland-Politik, Frankfurt a.M. 1966; S. Thomas, Der Weg in die<br />
44<br />
NATO, Frankfurt a.M. 1978.
die das atomare Vernichtungsrisiko in Kauf nahm. In <strong>der</strong> NATO, die die<br />
BRD einbin<strong>den</strong> und bändigen sollte, wirkten die herrschen<strong>den</strong> Kräfte als<br />
Scharfmacher. Hitlergenerale und weitere Kriegsverbrecher bestimmten die<br />
revanchistische Politik maßgeblich mit. 8<br />
Der Kalte Krieg war keinesfalls ein humanes Ereignis. Das Auftürmen von<br />
Vernichtungspotentialen behin<strong>der</strong>te nicht nur <strong>den</strong> Wie<strong>der</strong>aufbau und erfor<strong>der</strong>liche<br />
soziale Leistungen. Das Gleichgewicht des Schreckens trieb die parasitäre<br />
Rüstungsspirale und erzeugte existentielle Angst. Die Disziplinierung<br />
innerhalb <strong>der</strong> Blöcke hemmte die individuelle und kollektive Selbstentfaltung.<br />
Erst durch <strong>den</strong> Entspannungsprozeß, dessen Gipfelpunkt die KSZE 1975 mit<br />
<strong>der</strong> Schlußakte von Helsinki war, konnte intersystemare Verständigung und<br />
Kooperation eingeleitet wer<strong>den</strong>, wenn auch mit ambivalenten Wirkungen. 9<br />
Nach <strong>der</strong> Epochenwende und <strong>der</strong> skrupellosen Einverleibung <strong>der</strong> DDR<br />
durchbrachen die Bonner Spitzenmilitärs mit General Naumann als Initiator<br />
sowohl <strong>den</strong> Primat <strong>der</strong> Politik als auch völker- und verfassungsrechtliche<br />
Schranken. Mit dem sogenannten Stoltenbergpapier zur Neustrukturierung<br />
<strong>der</strong> Bundeswehr (1991) sollten deutsche Streitkräfte fortan im offenen Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zum grundgesetzlich fixierten Verteidigungsauftrag an Militäreinsätzen<br />
out of area teilnehmen und auch in eigener Regie deutsche Interessen weltweit<br />
durchsetzen. Diese provozierende Ignoranz von UNO-Charta und Grundgesetz<br />
erinnerte an das total diskreditierte Konzept Lu<strong>den</strong>dorffs. Es scheiterte<br />
zunächst am Veto des damaligen Ministers Genscher. 1992 akzeptierte das<br />
Kohl/Kinkel-Kabinett im Schnellverfahren die rechtswidrigen politischen<br />
Vorgaben <strong>der</strong> Bonner Spitzengeneralität. Die sogenannten Verteidigungspolitischen<br />
Richtlinien normierten wirtschaftliche und internationale Festlegungen<br />
von Militärs. Diese erklärten sich nun zuständig für alle eventuellen Risiken,<br />
samt <strong>der</strong>en Bewältigung, auch mit kriegerischen Mitteln. Die Bundesregierung<br />
gab ureigenes Terrain <strong>der</strong> Politik preis, obwohl die Generalität eine<br />
Maßregelung verdient hätte. 10<br />
Sieht man von <strong>der</strong> Existenz <strong>der</strong> DDR ab, so erreichte in Deutschland - traditionell<br />
bedingt - die Generalität einen größeren Einfluß auf die Politik, als dies<br />
in Staaten mit langer demokratischer Vergangenheit <strong>der</strong> Fall ist. Erhält die<br />
8<br />
Vgl. L. Knorr, Rechtsextremismus in <strong>der</strong> Bundeswehr, Frankfurt a.M. 1998; <strong>der</strong>s., NATO-Geschichte,<br />
Strategie, Atomkriegsplanung, Frankfurt a.M. 1985, bes. Kap. 2.<br />
9<br />
Vgl. D. Horowitz, Kalter Krieg, Berlin 1969; J. F. Dulles, Krieg o<strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>, Stuttgart 1950. <strong>Zu</strong>r<br />
KSZE: A. P. Schitikow, Europäische Sicherheit und <strong>Zu</strong>sammenarbeit, Moskau 1978. Europa-Archiv,<br />
KSZE, Beiträge und Dokumente, Bonn 1976.<br />
10<br />
Hektographierter Text des BMdV, 26.11.1992; L; Knorr, Rechtsextremismus ... a.a.O., S. 186 ff.;<br />
E. Schmähling, Kein Feind, kein Ehr, Köln 1994, S. 75 ff.<br />
45
deutsche Generalität diesen Einfluß nicht legal, dann arbeitet sie - wie nicht<br />
nur das Beispiel Seeckts in <strong>der</strong> Weimarer Republik zeigt - auch mit illegalen<br />
Metho<strong>den</strong>, um ihre revanchistischen Ziele <strong>der</strong> Realisierung näher zu bringen.<br />
11<br />
Es liegt keinesfalls allein an <strong>der</strong> ungebrochenen personellen Kontinuität im<br />
militärischen Bereich 12 sowie an <strong>der</strong> stets angepaßten expansionistischen Strategieplanung<br />
vom Kaiserlichen Generalstab über die Weimarer Zeit und die<br />
NS-Diktatur bis zur Bundeswehrführung, daß <strong>der</strong> Lu<strong>den</strong>dorffsche Primat des<br />
Militärischen weitergeführt und jeweils aktualisiert wer<strong>den</strong> konnte. Zweifellos<br />
ist <strong>der</strong> subjektive Faktor bedeutend. 13 Es sind jedoch primär die gleichen Besitzverhältnisse<br />
seit <strong>der</strong> Monarchie, die eine stärkere Gewichtung des militärischen<br />
Faktors zu Lasten ziviler Praktiken erheischen und verwirklichen.<br />
Selbst wenn Teile des Finanzkapitals ihre Expansionsziele langfristig sicherer<br />
mit nichtkriegerischen Mitteln zu realisieren trachten, bleibt als Hauptten<strong>den</strong>z<br />
das Bestreben, potentielle Wi<strong>der</strong>stände <strong>beim</strong> Kampf um neue Absatzmärkte,<br />
Rohstoffe, strategisch wichtige Einflußzonen und Kapitalanlagesphären mit<br />
militärischer Gewalt zu liquidieren. Um bei <strong>der</strong> Neuaufteilung <strong>der</strong> Welt eine<br />
entsprechend profitable Beute zu erreichen, stärkt man das eigene Rüstungspotential<br />
und die militärische Expansionsplanung auch gegen völkerrechtliche<br />
Gebote, die als Ergebnisse leidvoller Erfahrungen mit zwei Weltkriegen und<br />
Faschismus entstan<strong>den</strong>. 14 Da existiert eher eine Interesseni<strong>den</strong>tität <strong>der</strong> Großbanken<br />
und <strong>der</strong> Großwirtschaft mit <strong>der</strong> Generalität als mit Politikern, die<br />
trotz aller Meinungsmanipulation ihre Legitimierung immer noch durch <strong>den</strong><br />
Souverän, das Volk, beziehen. Es dominiert die Ten<strong>den</strong>z, auf <strong>der</strong> Basis<br />
höchstkonzentrierter finanzkapitalistischer Macht, <strong>den</strong> Primat <strong>der</strong> Politik zu<br />
reduzieren - obwohl er öffentlich gefeiert wird - und <strong>den</strong> militärischen Faktor<br />
ungleich stärker zu gewichten. Damit erhält die Generalität eine - verfassungswidrige<br />
- maßgebliche Rolle bei <strong>der</strong> Strategieplanung im Interesse <strong>der</strong><br />
privilegierten Min<strong>der</strong>heit, die selbst mit <strong>der</strong> proklamierten Volkssouveränität<br />
kollidiert. Das ist Ausdruck verän<strong>der</strong>ter Machtverhältnisse.<br />
11 Vgl. K. D. Bracher, Die Auflösung <strong>der</strong> Weimarer Republik, Stuttgart 1955, IX. Kap.<br />
12 1945 faßte <strong>der</strong> US-Generalstab ca. 200 (hochbelastete) Hitler-Generale zur Auswertung des<br />
II. Weltkrieges zusammen, womit zugleich Vorarbeiten für die Bundeswehr im alten Geist erfolgten.<br />
Vgl. L. Bezymenski, Generale ohne Maske, Berlin 1963, S. 407 ff. Es gab also 1945<br />
keine Unterbrechung, son<strong>der</strong>n Kontinuität.<br />
13 Vgl. G. W. Plechanow, Die Rolle <strong>der</strong> Persönlichkeit in <strong>der</strong> Geschichte, Frankfurt a.M. 1976.<br />
14 Z.B. UNO-Charta, Potsdamer Abkommen und Grundgesetz <strong>der</strong> BRD.<br />
46
Machtkartell gegen Frie<strong>den</strong>, Demokratie und Volkssouveränität<br />
Die eingangs referierte prinzipielle Diskrepanz zwischen Clausewitz und Lu<strong>den</strong>dorff<br />
läßt also <strong>den</strong> dritten wesentlichen Machtfaktor außer acht, das akkumulierte<br />
Finanzkapital. Bei Clausewitz konnte das nicht an<strong>der</strong>s sein, weil es<br />
zu seiner Zeit die konzentrierte ökonomische Macht als wesentlichen Faktor<br />
noch nicht gab. Bei Lu<strong>den</strong>dorff hatte die Umsetzung wirtschaftlicher Macht<br />
in politischen Einfluß bereits einen hohen Rang erreicht. <strong>Zu</strong> fragen ist, ob angesichts<br />
einer strukturellen Verän<strong>der</strong>ung in <strong>den</strong> USA als Vormacht <strong>der</strong><br />
NATO die Rolle von Frie<strong>den</strong>, Demokratie und Volkssouveränität erheblich<br />
reduziert wurde - mit riskanten politischen Wirkungen.<br />
Alle Untersuchungen über <strong>den</strong> Militärisch-industriellen Komplex (MIK) <strong>der</strong><br />
USA und <strong>der</strong> BRD belegen eine enge Interessenverflechtung von Rüstungswirtschaft,<br />
Generalität und jenen Teilen des Staatsapparates, die mit <strong>der</strong> Militarisierung<br />
von Gesellschaft und internationalen Beziehungen befaßt sind. 15<br />
Die Rolle <strong>der</strong> Medienkonzerne sowie die Indienstnahme beachtlicher Teile<br />
<strong>der</strong> Wissenschaft thematisierten viele Forscher. Unzureichend untersucht und<br />
offengelegt ist dagegen <strong>der</strong> unkontrollierte Einfluß <strong>der</strong> Geheimdienste auf die<br />
Verschärfung <strong>der</strong> das Rüstungsgeschäft för<strong>der</strong>n<strong>den</strong> Konfrontation o<strong>der</strong> das<br />
Schüren von Kriegen. 16<br />
Prüfen wir die Potenz <strong>der</strong> Politik im Rahmen des MIK, so ist zu konstatieren,<br />
daß an<strong>der</strong>e Machtinstitutionen dominieren, auch wenn ein Kooperationsverhältnis<br />
zwischen Rüstungskonzernen, Generalität, Geheimdiensten und beson<strong>der</strong>en<br />
Staatsorganen besteht. Der US-Wissenschaftler J. K. Galbraith stellte<br />
zum MIK fest: “Die militärische Macht hat die Vorschriften unserer Verfassung<br />
umgedreht: sie hat <strong>der</strong> Öffentlichkeit und dem Kongreß Gewalt entzogen<br />
und sie dem Pentagon übertragen“. Vor <strong>der</strong> Politik rangieren vor allem<br />
die Rüstungskonzerne: “Das Problem heißt unkontrollierte Herrschaft und<br />
Macht. Und weil ihre Herrschaft nicht kontrolliert wird, spiegelt sie auch<br />
nicht die nationalen Belange wi<strong>der</strong>, nicht das, was für die Vereinigten Staaten<br />
wirklich am besten ist, son<strong>der</strong>n was Luftwaffe, Heer, Marine, was General<br />
Dynamics, North American Rockwell, Grumman Aircraft, Repräsentanten<br />
des Außenministeriums, Nachrichtendienste, Medell Rivers und Richard Russell<br />
gerade für das Beste halten“. Und weiter Galbraith, so „... stellen wir fest,<br />
15<br />
K. Engelhardt, K.-H. Heise, Der militärisch-industrielle Komplex, Köln 1974; F. Schmid, Der Militär-<br />
Industrie-Komplex <strong>der</strong> BRD, Frankfurt a.M. 1972.<br />
16<br />
Vgl. A. Charisius, J. Ma<strong>der</strong>, Nicht länger geheim, Berlin 1980; H. Höhne, Der Krieg im Dunkeln, Mün-<br />
chen 1985.<br />
47
daß die Streitkräfte und die Rüstungskonzerne über die Dinge entschei<strong>den</strong><br />
und <strong>den</strong> Kongreß und die Öffentlichkeit danach unterrichten.“ 17<br />
Es dauerte lange, bis die erste Warnung des US-Präsi<strong>den</strong>ten D. Eisenhower,<br />
selbst Fünf-Sterne-General, von 1961 von <strong>der</strong> Wissenschaft aufgegriffen<br />
wurde. In seiner Abschiedsrede erklärte <strong>der</strong> Präsi<strong>den</strong>t: „... müssen wir beson<strong>der</strong>s<br />
vor einem - gewollten o<strong>der</strong> ungewollten - übermäßigen Einfluß des Militärisch-industriellen<br />
Komplexes auf <strong>der</strong> Hut sein. Die Möglichkeit eines unheilvollen<br />
Ansteigens falsch plazierter Macht existiert und wird auch in <strong>Zu</strong>kunft<br />
existieren.“ 18 Die Gewichtsverlagerung zu <strong>den</strong> demokratisch nicht legitimierten<br />
Machtinhabern ist deutlich. Abhelfende Reaktionen blieben aus.<br />
Der ehemalige Präsi<strong>den</strong>tenberater R. E. Lapp belegt in seinem Buch Kultur<br />
auf Waffen gebaut, daß <strong>der</strong> MIK wie ein Krebsgeschwür in <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
<strong>der</strong> USA wuchert und daß viele Parlamentarier in Gebieten mit voluminösen<br />
Rüstungskonzernen von diesen völlig abhängig sind. 19 Die Fülle sicherheitspolitischer<br />
Fehlentscheidungen des MIK präsentiert auch <strong>der</strong> Ex-<br />
Präsi<strong>den</strong>tenberater R. J. Barnet in seinem Buch Der amerikanische Rüstungswahn.<br />
Auch er zeigt <strong>den</strong> parasitären Charakter des MIK <strong>der</strong> USA. 20<br />
Ein parasitäres Machtkartell ist auch in <strong>der</strong> BRD wirksam<br />
Der Einfluß des MIK <strong>der</strong> NATO-Staaten, vor allem <strong>der</strong> <strong>der</strong> USA, ist auch<br />
nach <strong>der</strong> Epochenwende von 1990 keineswegs geschrumpft, obwohl er ein<br />
Produkt des Kalten Krieges war. Dies zeigt, daß <strong>der</strong> MIK die Feinde, die er<br />
zur Rechtfertigung seiner unkontrollierten Macht und seiner laufen<strong>den</strong> Rüstungseskalation<br />
braucht, stets neu hervorbringt. Wenn <strong>der</strong> bisherige Feind<br />
verschwindet, muß ein neuer her, ob er Feind sein will o<strong>der</strong> nicht. 21<br />
Auf deutschem Bo<strong>den</strong> zeigten sich Vorläufer des MIK bereits im I. Weltkrieg;<br />
deutlicher noch im faschistischen Deutschland. Aber erst 1970 initiierte <strong>der</strong><br />
damalige Bundesminister H. Schmidt <strong>den</strong> Arbeitskreis Rüstungswirtschaft,<br />
<strong>der</strong> sich auf <strong>der</strong> Basis einer hochentwickelten Produktivkraftentfaltung, finanzkapitalistischer<br />
Konzentration und enger <strong>Zu</strong>sammenarbeit <strong>der</strong> beteiligten<br />
17 J. K .Galbraith, Wie man Generale bändigt, Hamburg 1970, S. 33; 41; 85.<br />
18<br />
Zitiert nach R. E. Lapp, Kultur auf Waffen gebaut, Hamburg 1969, S. 17; R. J. Barnet, Der amerikanische<br />
Rüstungswahn, Hamburg 1971, S. 12.<br />
19<br />
Wie Fußnote 20. Im Vorwort schil<strong>der</strong>t R. Jungk Wesentliches zum Entstehen des MIK <strong>der</strong><br />
USA.<br />
20<br />
Vgl. R. J. Barnet, a.a.O.<br />
21<br />
Vgl. HSFK, Feindbil<strong>der</strong>, Frankfurt a.M. 1975; D. Senghaas, a.a.O., S.78 ff.<br />
48
Kräfte schnell zum einflußreichen MIK <strong>der</strong> BRD herausbildete. 22 Schon vorher<br />
agierten Ex-Hitlergenerale o<strong>der</strong> frühzeitig pensionierte hohe Militärs <strong>der</strong><br />
Bundeswehr - mit gleicher diskreditierter Vergangenheit - als Produktionsberater<br />
von Rüstungskonzernen bzw. als Verbindungsleute zur Bundeswehrführung<br />
und zum Beschaffungsamt. Ihr gemeinsames Interesse an Hochrüstung<br />
ergab sich aus dem revanchistischen Bestreben, zur Durchsetzung wirtschaftlicher<br />
und politischer Expansionsziele über eine starke Armee zu verfügen.<br />
Weil ein befriedetes Europa eine neue deutsche Hochrüstung nicht benötigt<br />
hätte, heizte man die Spannungen zwischen USA und UdSSR an. 23 Von US-<br />
Rüstungsimporten und Lizenzproduktionen wollte man unabhängig wer<strong>den</strong><br />
und eine eigene Rüstungsforschung und -produktion aufbauen. Der Öffentlichkeit<br />
vermittelte man ein schreckliches Feindbild, um rapid steigende Militärkosten<br />
und eine schlagkräftige Armee gegen alle Wi<strong>der</strong>stände und gegen alle<br />
geschichtlichen Lektionen durchpeitschen zu können. Allen Bestrebungen<br />
für einen gesicherten Frie<strong>den</strong> wurde entgegengewirkt. 24<br />
Obwohl längst nicht so voluminös wie <strong>der</strong> MIK <strong>der</strong> USA, drängte dieses parasitäre<br />
Machtkartell in <strong>der</strong> BRD intensiv auf die Militarisierung von Gesellschaft<br />
und internationalen Beziehungen sowie auf das Minimieren o<strong>der</strong> Ausschalten<br />
frie<strong>den</strong>spolitischer und demokratisch-emanzipatorischer Kräfte.<br />
Dem sozialen Fortschritt setzte man sozialstrukturelle und mentale Barrieren<br />
entgegen. 25 Die Stärkung des militärischen Faktors zu Lasten politisch-ziviler<br />
Potenzen blieb das Ziel, bis letztendlich 1992 mit <strong>den</strong> Verteidigungspolitischen<br />
Richtlinien <strong>der</strong> Primat des Militärischen vor <strong>der</strong> Politik demonstriert<br />
war. Die aufschlußreiche Selbstkastrierung <strong>der</strong> vom Volk gewählten Gremien<br />
korrespondierte mit <strong>der</strong> Machtexpansion des MIK. Die an Lu<strong>den</strong>dorff orientierten<br />
Traditionalisten in <strong>der</strong> Bundeswehr erreichten schon vorher einen<br />
Durchbruch, als sie <strong>den</strong> rechtlich gebotenen Staatsbürger in Uniform sabotiert<br />
und die Orientierung auf die alte deutsche Militärtradition durchgesetzt<br />
hatten. 26<br />
22<br />
Vgl. F. Schmid, a.a.O., S. 143 ff.<br />
23<br />
Vgl. U. Albrecht, Die Wie<strong>der</strong>aufrüstung <strong>der</strong> BRD, Köln 1980; G. Heinemann, o.a.O.; P. Sethe,<br />
Zwischen Bonn und Moskau, Frankfurt a.M., 1950.<br />
24<br />
Vgl. G. Kade, Die Bedrohungslüge, Köln 1979; H. W. Kahn, Die Russen kommen - nicht! München<br />
1969.<br />
25<br />
<strong>Zu</strong>r Kriminalisierung von Frie<strong>den</strong>sstreitern vgl. H. Hannover, Die Republik vor Gericht, 2 Bde., Berlin<br />
1998 und 1999.<br />
26<br />
Vgl. W. v. Bredow, Der Primat des militärischen Denkens, Köln 1969; Heye, In Sorge um die<br />
Bundeswehr, München 1964; J. Knab, Falsche Glorie, Berlin 1995.<br />
49
Lu<strong>den</strong>dorff als Pate <strong>der</strong> NATO-Aggression gegen Jugoslawien?<br />
Der völkerrechtswidrige Krieg <strong>der</strong> NATO gegen Jugoslawien zeigte eher das<br />
ihm zugrunde liegende Lu<strong>den</strong>dorffsche Konzept als das des Clausewitz. Der<br />
Deutsche Bundestag gab am 16.10.1998 auf Betreiben von konservativen<br />
Kräften und <strong>der</strong> Generalität einen Blankoscheck für einen Krieg gegen Jugoslawien.<br />
Zwei Tage später drängte <strong>der</strong> MIK <strong>der</strong> USA auf die Aktivierungsor<strong>der</strong>,<br />
d.h. auf <strong>den</strong> Beginn tatsächlicher Kriegsvorbereitungen. Es war <strong>der</strong> Tag,<br />
an dem das Holbrooke-Milosevic-Abkommen zu einer Beruhigung im Kosovo<br />
führte und die OSZE-Vertreter ihre erfolgreiche Vermittlungsarbeit begannen.<br />
Nachdem die NATO-Regierungen <strong>den</strong> Startschuß für <strong>den</strong> Krieg gegeben hatten,<br />
lag die Macht bei <strong>der</strong> Generalität. Der NATO-Oberbefehlshaber Clark<br />
entschied generell nicht nur über militärische Fragen, son<strong>der</strong>n auch über primär<br />
politische. Er stützte sich vor allem auf die computerproduzierten Vorgaben<br />
des NATO-Militär-Ausschusses unter Vorsitz des <strong>deutschen</strong> Generals<br />
Naumann, auf <strong>den</strong>selben, <strong>der</strong> 1992 in <strong>der</strong> BRD <strong>den</strong> Primat des Militärischen<br />
demonstrierte. Ausschlaggebend für die folgende Strategie war das output <strong>der</strong><br />
Computer, <strong>der</strong>en input General Naumann veranlaßte.<br />
Nur <strong>der</strong> MIK <strong>der</strong> USA übte Einfluß auf das input Naumanns aus. Wie schon<br />
<strong>beim</strong> Golfkrieg 1991 diente die Aggression auch zur Erprobung neuester Zerstörungsmittel<br />
und brachte zusätzliche Erfahrungen für die Entwicklung gesteigerter<br />
Vernichtungspotenz, die man verharmlosend Waffen nennt. Im Interesse<br />
des MIK <strong>der</strong> USA liegt es, in weiteren Staaten neue Absatzmärkte für<br />
Tötungsgerät zu fin<strong>den</strong>. Dabei interessiert nicht, daß manche Käufer von US-<br />
Rüstungsgütern diese gegen Feinde einsetzen, die für soziale Gerechtigkeit<br />
und für die Achtung <strong>der</strong> Menschenrechte wirken, wie das Beispiel Türkei<br />
zeigt.<br />
Während in <strong>der</strong> früheren Eskalationsstrategie <strong>der</strong> NATO bewußt Pausen für<br />
eventuelle. politische Verhandlungen eingeplant waren, um je nach Lage das<br />
Vernichtungswerk im gegenseitigen Interesse zu been<strong>den</strong>, sieht die neue<br />
Eskalations-Strategie <strong>der</strong> NATO prinzipiell keine Verhandlungspausen vor. 27 .<br />
Die NATO-Computer sind auf Sieg programmiert. Der politische Irrationalismus<br />
zeigte sich schon darin, daß <strong>der</strong> Bombenüberfall auf Jugoslawien zunächst<br />
auf drei Tage konzipiert war. Dann würde das Milosevic-System zusammenbrechen.<br />
Die Umstellung auf eine längere Dauer des Krieges enthielt<br />
27 Vgl. H. Kahn, Eskalation. Die Politik mit <strong>der</strong> Vernichtungsspirale, Berlin 1965; J. Link, Der diskrete<br />
50<br />
Krieg <strong>der</strong> Profis, FR-Dokumentation, 18.06.1999.
keine Antworten auf die <strong>Zu</strong>kunft des Balkan, die dabei involviert war. Nur die<br />
Liquidierung des Staates, <strong>der</strong> nicht NATO-Mitglied wer<strong>den</strong> und <strong>der</strong> seine<br />
Wirtschaft nicht total privatisieren wollte, war als input vorgegeben. Für dieses<br />
Ziel plante man alle Mittel ein.<br />
Der Einwand, daß die NATO-Generalität von <strong>der</strong> US-Politik abhängig war,<br />
wenn schon nicht von <strong>den</strong> europäischen NATO-Regierungen, läßt außer<br />
acht, daß die US-Politik generell <strong>den</strong> Vorgaben und Interessen des MIK <strong>der</strong><br />
USA folgt. Der Nationale Sicherheits-Rat <strong>der</strong> USA gibt dem Präsi<strong>den</strong>ten die<br />
strategischen Richtlinien <strong>der</strong> Außenpolitik allgemein vor. Im NSR gibt jedoch<br />
die große Mehrheit <strong>der</strong> MIK-Repräsentanten <strong>den</strong> Ton an.<br />
Diese Kräfte gaben auch die neuen Ziele <strong>der</strong> NATO zum 50. Jahrestag vor:<br />
Entgrenzung <strong>der</strong> geographischen Kompetenz, Selbstmandatierung ohne<br />
UNO-Auftrag, Befreiung vom Verteidigungsauftrag. Dazu US-Kriegsminister<br />
Cohen auf <strong>der</strong> NATO-Rats-Tagung September 1999 in Toronto: „Die politische<br />
Führung <strong>der</strong> NATO muß mehr Kompetenzen an die militärische Führung<br />
übertragen, was eine Konsequenz des Krieges gegen Jugoslawien ist.“ 28<br />
Dieser Krieg war also kein Ausnahmefall, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Präze<strong>den</strong>zfall, das<br />
Muster für künftige militärische Interventionen <strong>der</strong> NATO. In wessen Interesse?<br />
Um das langfristige Ziel <strong>der</strong> NATO zu erreichen, mußte <strong>der</strong> Feind permanent<br />
in <strong>Zu</strong>gzwang gebracht wer<strong>den</strong>. Da er auf <strong>der</strong> hohen Stufe des elektronisierten<br />
Krieges nicht mithalten konnte - was vorauszusehen war -, vermochte er nur<br />
auf dem Bo<strong>den</strong> mit gesteigerter Brutalität zu reagieren. Diese durch die<br />
NATO verschärfte Barbarei diente ihr zur Rechtfertigung eigener Barbarei.<br />
Etwas an<strong>der</strong>s war es nicht, was die westliche Werte-Gemeinschaft gegen unbeteiligte<br />
Zivilisten bot.<br />
In das NATO-Computer-Programm, das nach Durchspielen von x Varianten<br />
seine praktizierte Form erhielt, durften keine frem<strong>den</strong> Programme eingemischt<br />
wer<strong>den</strong>, etwa mit politischem o<strong>der</strong> gar mit ethischem Inhalt. 29 Auch<br />
insofern hatte die Politik kein Mitspracherecht, als die politisch höchst brisante<br />
Bombardierung rein ziviler Ziele Belgrads o<strong>der</strong> die Zerstörung von Chemiewerken<br />
mit hochgradiger und langwirken<strong>der</strong> Umweltschädigung erfolgte.<br />
Massenmord an Frauen und Kin<strong>der</strong>n, die fernab vom Konfliktgebiet und unbeteiligt<br />
an Kämpfen lebten, erkannten die Militärs als eigene Kompetenz.<br />
Erst als die Existenz <strong>der</strong> NATO riskiert wurde, weil einige Regierungen die<br />
28 Vgl. Bulletin <strong>der</strong> Bundesregierung, 03.05.1999; 50. Jahrestag <strong>der</strong> NATO; in UZ, Essen, 01.10.1999.<br />
29 J. Link, a.a.O.<br />
51
Mitverantwortung an <strong>den</strong> Kriegsverbrechen ablehnten, lenkten die Militärs<br />
<strong>der</strong> NATO ein. Das galt auch, als Rußland, Finnland und die UNO zur Lösung<br />
<strong>der</strong> aufgestauten Probleme in Verhandlungen mit Milosevic einbezogen<br />
wer<strong>den</strong> mußten. Es zeigte sich, die NATO kann Kriege führen, zum Frie<strong>den</strong><br />
taugt sie nicht. Dazu sind an<strong>der</strong>e Kräfte erfor<strong>der</strong>lich.<br />
Tatsächlich verkam die Politik zum Instrument des Krieges, als sie offenkundige<br />
Kriegsverbrechen mit Lügen und Irreführungen <strong>der</strong> Öffentlichkeit rechtfertigte.<br />
Die Minister Scharping und Fischer ließen sich für Krieg, Verbrechen<br />
und Bagatellisierungen von <strong>den</strong> Militärs instrumentalisieren. Die neue Art <strong>der</strong><br />
Auschwitzlüge eskalierte zum Höhepunkt <strong>der</strong> eingeleiteten totalen Desorientierung<br />
<strong>der</strong> Menschen. Auch die sachlich unmögliche Gleichsetzung von Milosevic<br />
und Hitler lag auf dieser Ebene. 30 Der fatale Eindruck wurde zu erwecken<br />
versucht, als sei die Mitwirkung deutscher Soldaten an diesem völkerrechtswidrigen<br />
Krieg und an offenkundigen Kriegsverbrechen eine Art Wie<strong>der</strong>gutmachung<br />
faschistischer Verbrechen, womit ein Schlußstrich unter die<br />
deutsche Geschichte möglich würde. 31<br />
Die Frage, ob mit einem seinem Wesen nach gegen die Humanität gerichteten<br />
Krieg die Menschenrechte zu schützen seien und ob man Völkerrecht contra<br />
Menschenrechte ausspielen darf, ist in unserem <strong>Zu</strong>sammenhang nicht zu diskutieren.<br />
Dieser Krieg war nicht die Fortsetzung <strong>der</strong> Moral mit an<strong>der</strong>en Mitteln,<br />
wie manche zu suggerieren versuchen. 32 Der Friede degenerierte zur<br />
Vor- und Nachkriegszeit, <strong>den</strong> Son<strong>der</strong>interessen <strong>der</strong> MIK entsprechend. <strong>Zu</strong><br />
fragen bleibt, was es politisch bedeutet, wenn Lu<strong>den</strong>dorffs Theorem vom<br />
Krieg in <strong>der</strong> NATO zu dominieren beginnt bzw. bereits begann. In Lu<strong>den</strong>dorffs<br />
Konzept sind nicht nur <strong>der</strong> Friede und die Wahrheit die Opfer, son<strong>der</strong>n<br />
auch die bürgerliche Demokratie und die Volkssouveränität.<br />
Produziert das High-Tech-Zeitalter neuen Militarismus?<br />
Krieg und Militarismus produzieren im High-Tech-Zeitalter neue Erscheinungsformen.<br />
Ihr Wesen bleibt <strong>den</strong>noch unverän<strong>der</strong>t. Der instrumentale<br />
Charakter von Krieg und Militarismus zur Absicherung <strong>der</strong> sogenannten<br />
Marktwirtschaft, die nunmehr <strong>der</strong>eguliert und globalisiert ist, bleibt im Prinzip<br />
30 Vgl. P. Gingold, U. San<strong>der</strong>, Die neue Auschwitz-Lüge, Frankfurt a.M. 1999.<br />
31 Diese Aussage des Kanzlers zum 3. Überfall deutscher Soldaten auf Serbien in diesem Jahrhun<strong>der</strong>t verrät<br />
ein Geschichtsbewußtsein und eine politische Moral, die <strong>den</strong> qualitativen Abstieg <strong>der</strong> SPD-Führung<br />
seit W. Brandt belegt.<br />
32 So <strong>der</strong> Soziologe U. Beck. Vgl. J. Habermas, in: Die Zeit vom 29.04.1999. Antworten dazu von<br />
R. Merkel, in: Die Zeit vom 12. 05.1999 und E. Altvater, FR-Dokumentation vom 08.07.1999.<br />
52
erhalten. Gleichwohl erheischen die verän<strong>der</strong>ten Formen von Krieg und Militarismus<br />
angemessene wirkungsvolle Antworten bzw. Gegenstrategien.<br />
Zwar rüstet man quantitativ ab; qualitativ wird jedoch mit gesteigerten Kosten<br />
aufgerüstet. 33 Die Rüstungsspirale - einst <strong>der</strong> militärischen Konfrontation<br />
zwischen NATO und Warschauer-Vertrags-Organisationen als Verursacher<br />
spiegelsymmetrisch zugeschrieben - bringt nun mo<strong>der</strong>nes Vernichtungsgerät<br />
mit höchst präziser Wirkung hervor. Mehr als bisher vergeudet man wertvolle<br />
menschliche und materielle Energie für parasitäre Zwecke. Die High-Tech-<br />
Rüstung erfor<strong>der</strong>t zudem einen ungleich höheren Forschungsaufwand, <strong>der</strong><br />
nur durch seine duale Verwendung in seinem unproduktiven Charakter gemil<strong>der</strong>t<br />
wird.<br />
Was die <strong>der</strong>egulierte und globalisierte Wirtschaft bereits vollzog, nämlich die<br />
Politik <strong>der</strong> Regierungen samt vernünftigen Regelungen des <strong>Zu</strong>sammenlebens<br />
von Menschen und Völkern auszuhebeln, vollzieht sich nun auch durch die<br />
Militarisierung von Gesellschaft und zwischenstaatlichen Beziehungen unter<br />
maßgeblicher Aktivität <strong>der</strong> Militärs. Wie die Global-Players setzen die Generalität<br />
und ihre Stäbe ihre Son<strong>der</strong>interessen für die politischen und das <strong>Zu</strong>sammenleben<br />
regulieren<strong>den</strong> Maßstäbe vor das Frie<strong>den</strong> gebietende Völkerrecht<br />
und die UNO-Charta. Beim Krieg gegen Jugoslawien ignorierte man<br />
sogar die Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 bzw. die ergänzen<strong>den</strong><br />
Genfer Protokolle. Das Recht des Stärkeren triumphiert über die gebotene<br />
Stärke des Rechts. Neue Abenteuerlichkeit tritt an die Stelle <strong>der</strong> politischen<br />
Vernunft. Eine Art historisches roll back ist wirksam - falls die an<br />
Frie<strong>den</strong> und Abrüstung orientierten Kräfte das verlorene Terrain nicht zurückgewinnen.<br />
Alles, was 1945 aus <strong>den</strong> leidvollen Erfahrungen von zwei<br />
Weltkriegen und Faschismus in politische und rechtliche Regeln umgesetzt<br />
wurde, stellen nun Großwirtschaft und Generalität auf <strong>den</strong> Kopf - oft unterstützt<br />
von abhängig gewor<strong>den</strong>en Politikern.<br />
Die Verdinglichung des Menschen, d.h. seine Enthumanisierung, steht vor einem<br />
neuen Höhepunkt. Es sind die fremdbestimmten und mißbrauchten<br />
Menschen selbst, die ihre Selbstbestimmung in einer frie<strong>den</strong>sorientierten Basisdemokratie<br />
erobern müssen.<br />
Früher benötigten die Kriegsherren große Heere, das sogenannte Kanonenfutter,<br />
um ihre expansiven Ziele zu realisieren. Millionen Menschen krepierten<br />
auf <strong>den</strong> Schlachtfel<strong>der</strong>n. Im Krieg gegen Jugoslawien agierten relativ wenige<br />
33 Vgl. U. Cremer, D. S. Lutz, Nach dem Krieg - ist vor dem Krieg, Hamburg 1999; T. Pflüger, Die neue<br />
Bundeswehr, Köln 1997.<br />
53
fliegende Vernichtungsexperten in Uniform, die - offenbar skrupellos, zu erkennen<br />
an vielen Interviews - primär zivile Ziele bombardierten. Eine relativ<br />
kleine Zahl von Helfern auf <strong>den</strong> Flugplätzen unterstützte sie. Sie verwendeten<br />
für ihr Tötungswerk das, was Rüstungsarbeiter schufen.<br />
Wäre hier ein wichtiger Ansatzpunkt? Wenn kein Vernichtungsgerät produziert<br />
wird, kann man es nicht gegen an<strong>der</strong>e Menschen einsetzen. Inwieweit<br />
die vielen Beschäftigten <strong>der</strong> Rüstungsbetriebe, gleich ob IngenieurInnen o<strong>der</strong><br />
ArbeiterInnen, dazu gebracht wer<strong>den</strong> können, durch Konversion reine Frie<strong>den</strong>sproduktion<br />
durchzusetzen, hängt von <strong>den</strong> jeweiligen Bedingungen ab, ist<br />
aber auch eine Sache <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Gewerkschaften. Das irreführende Argument,<br />
daß Abrüstung und Konversion Arbeitsplätze gefährde, ist längst<br />
schlüssig wi<strong>der</strong>legt. 34<br />
Für eventuelle Bo<strong>den</strong>kriege ist das AirLand-Battle-Konzept des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
längst Vergangenheit. Eine heute viel exaktere Aufklärung mittels Weltraum-Satelliten<br />
minimiert <strong>den</strong> Faktor Zeit. Die Kriegsherren erhalten zeitgenaue<br />
Bil<strong>der</strong> vom Kriegsverlauf und treffen viel schneller als vor Jahren ihre<br />
Entscheidungen für das weitere Vernichtungswerk. Geplant ist bereits <strong>der</strong><br />
computergerüstete Soldat, <strong>der</strong> in direkter Verbindung mit seinen höheren<br />
Vorgesetzten steht und sofort auf neue Befehle reagieren kann. Das Deep-<br />
Battle-Konzept <strong>der</strong> Bundeswehr ist zwar an die verän<strong>der</strong>ten Bedingungen,<br />
d.h. an militärische Interventionen mit Krisenreaktionskräften (KRK) angepaßt.<br />
Gleichwohl bleibt es hinter <strong>den</strong> Planungen und Entwicklungen <strong>der</strong> US-<br />
Kräfte weit zurück, was kein Anlaß sein sollte, die USA rüstungstechnologisch<br />
und militärstrategisch einholen zu wollen. Gefragt sind humane Alternativen<br />
und zivile Konfliktregelung. 35<br />
Konform zu sekun<strong>den</strong>schnellen Bewegungen von Spekulationskapital, das<br />
ganze Regionen in Krisen stürzt ohne Rücksicht auf Menschen und soziale<br />
Bindungen, bewegt <strong>der</strong> High-Tech-Krieg seine ferngesteuerten und zielsuchen<strong>den</strong><br />
zerstörerischen Instrumente von Kontinent zu Kontinent. Vom<br />
Schaltpult bedienende white-collar-killer sollen <strong>den</strong> traditionellen Soldaten<br />
ablösen. Im Plan ist die globale Kontrolle <strong>der</strong> Völker mittels Militarisierung<br />
des Kosmos - im Interesse <strong>der</strong> privilegierten Min<strong>der</strong>heit. 36<br />
34 Vgl. W. Fabian, Vorschläge zur Abrüstung, Düsseldorf 1980; J. Huffschmid, Von <strong>der</strong> Kriegs- zur Frie-<br />
<strong>den</strong>sproduktion, Köln 1980.<br />
35 Also kein neues Wettrüsten zwischen WEU und USA!<br />
36 Vgl. P. Lock, FR-Dokumentation, vom 20.04.1999.<br />
54
Die computergeschulten Vernichtungsexperten wer<strong>den</strong>, soweit dies die Ellenbogengesellschaft<br />
noch nicht ausreichend vermittelt, zur absoluten Rücksichtslosigkeit<br />
gegenüber <strong>den</strong> zu Schurkenstaaten erklärten Kräften gebracht,<br />
gegen jene, die, eigenen Interessen folgend, das Diktat <strong>der</strong> NATO nicht akzeptieren.<br />
High-Tech-Gewalt und High-Tech-Militarismus richten sich auch<br />
gegen Menschen und Sozialgruppen, die für Frie<strong>den</strong> und Emanzipation demonstrieren<br />
o<strong>der</strong> gar streiken. Die Ankündigung des CDU-Politikers Schäuble,<br />
mehrfach wie<strong>der</strong>holt, die Bundeswehr auch im Inneren einzusetzen, weist<br />
in diese Richtung. 37<br />
Welche Funktion übt im High-Tech-Zeitalter das Volk aus, <strong>der</strong> Souverän <strong>der</strong><br />
Demokratie, wenn im Krieg kein Kanonenfutter erfor<strong>der</strong>lich ist und in <strong>den</strong> liquidierten<br />
Schurkenstaaten nur eine begrenzte Zahl von Arbeitssklaven benötigt<br />
wird? Im Produktionsprozeß sind große Teile des Volkes durch die elektronisierten<br />
Abläufe längst überflüssig. Die US-<strong>Zu</strong>kunftsforscher Kahn<br />
und Wiener fan<strong>den</strong> bereits 1967 in ihrem futurologischen Werk Ihr werdet es<br />
erleben. Voraussagen <strong>der</strong> Wissenschaft bis zum Jahr 2000 einige Antworten:<br />
„So könnten z.B. politische und intellektuelle Eliten empfängnisverhütende<br />
Mittel in die Massennahrungsmittel geben, <strong>der</strong>en Wirkung nur durch<br />
Gegenpillen aufgehoben wer<strong>den</strong> könnte, die allein <strong>den</strong> Eliten zur Verfügung<br />
stün<strong>den</strong> ... Die Bevölkerung könnte beschränkt wer<strong>den</strong>, da sie keine nützliche<br />
Funktion zu erfüllen hat.“ 38<br />
Diese <strong>Zu</strong>kunftsprognose führen<strong>der</strong> Futurologen läßt die totale Enthumanisierung<br />
erkennen, falls die Gegenkräfte nicht wirkungsvoll eingreifen und <strong>den</strong><br />
Prozeß umkehren.<br />
Wer aufgibt, hat schon verloren. Deshalb - eingreifen!<br />
Die Dominanz von Wirtschaft und Militär betrifft, wie bereits angemerkt,<br />
nicht nur Regierungen und Parlamente. Diese Problematik reicht über Militarisierung<br />
und ferne Kriege hinaus. Volkssouveränität o<strong>der</strong> Obrigkeitsstaat,<br />
Selbstentfaltung o<strong>der</strong> Fremdbestimmung, demokratische Emanzipation o<strong>der</strong><br />
Entmündigung durch eine privilegierte Min<strong>der</strong>heit, das alles hängt mit unserer<br />
Fragestellung zusammen.<br />
Das sogenannte Informationszeitalter, das durch neue technische Entwicklungen<br />
möglich sein könnte, ist durch die auf Profit, Sensation und Quotensteigerung<br />
ausgerichtete Medienlandschaft schon längst zu einem Zeitalter <strong>der</strong><br />
37 Vgl. W. Schäuble, Und <strong>der</strong> <strong>Zu</strong>kunft zugewandt, Berlin 1994, S. 30.<br />
38 H. Kahn, A. Wiener, Ihr werdet es erleben, München 1967, S. 345.<br />
55
Ablenkung vom Wesentlichen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Manipulation degeneriert - von wenigen<br />
Ausnahmen abgesehen. Die sogenannte Berichterstattung über <strong>den</strong><br />
NATO-Krieg 1999 war teils fahrlässige, teils vorsätzliche Irreführung <strong>der</strong> Öffentlichkeit.<br />
Längst spricht man vom Informations-Imperialismus. 39<br />
Gewiß läßt sich das Internet nützen, um Aufrufe zu plazieren und Informationen,<br />
die in <strong>den</strong> alten Medien kaum unterzubringen sind. Die Vernetzung <strong>der</strong><br />
Frie<strong>den</strong>sinitiativen ist eine bereits wahrgenommene Aufgabe. Um jedoch <strong>den</strong><br />
Rang zurückzugewinnen, <strong>den</strong> die gesellschaftlichen Kräfte innerstaatlich und<br />
international bereits erreichten, ist die Arbeit mit konventionellen Metho<strong>den</strong><br />
immer noch wichtig, unermüdlich aufklären und politisch mobilisieren. Das<br />
heiß auch, das eigene Wissen ständig zu erweitern.<br />
Wenn militärische Gewalt nach innen und außen zurückgedrängt wer<strong>den</strong> soll,<br />
muß man sich vergegenwärtigen, daß sie aus institutioneller bzw. aus struktureller<br />
Gewalt erwächst. Beide verstärken sich dann gegenseitig. Strukturelle<br />
Gewalt 40 ist <strong>der</strong> Nährbo<strong>den</strong>, <strong>der</strong> auszutrocknen ist. Eine Kultur des Frie<strong>den</strong>s,<br />
wie sie von <strong>der</strong> UNESCO vorgeschlagen ist, bedarf <strong>der</strong> planmäßigen und gezielten<br />
Durchsetzung. 41 Die permanente und zunehmende Bedrohung durch<br />
die Anwendung des Lu<strong>den</strong>dorffscher Konzepts wäre ständig bekannt zu machen,<br />
ebenso die realen Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktregelung. Für letztere<br />
sollten die Frie<strong>den</strong>skräfte Vorschläge ausarbeiten, unterbreiten und einfor<strong>der</strong>n.<br />
Neben kurzfristig notwendigen Aktionen bleibt eine langfristig angelegte<br />
Aufklärungsarbeit und Aktionsplanung geboten. Denn es sind progressive<br />
Verän<strong>der</strong>ungen im gesellschaftlichen Bewußtsein, die Transformationen in<br />
<strong>der</strong> Zivilgesellschaft, in <strong>der</strong> Sozialstruktur und letztendlich in <strong>den</strong> Machtverhältnissen<br />
realisieren. Es ist ein weiter Weg zur kriegs- und ausbeutungsfreien<br />
Gesellschaft <strong>der</strong> Freien und Gleichen. Aber dieses Ziel bleibt.<br />
Autor: Lorenz Knorr, Publizist, Frankfurt a.M.<br />
39 Der finnische Präsi<strong>den</strong>t U. Kekkonen warnte Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre vom US-Informations-<br />
Imperialismus, <strong>der</strong> alle Län<strong>der</strong> mit US-spezifischen Interpretationen von Ereignissen überschwemme.<br />
40 Vgl. J. Galtung, Strukturelle Gewalt, Hamburg 1975.<br />
41 Vgl. W. R. Vogt u.a., Kultur des Frie<strong>den</strong>s, Darmstadt 1997.<br />
56
Viktor Maximow<br />
Das XXI. Jahrhun<strong>der</strong>t ohne Waffen und Kriege<br />
Erklärung des Präsi<strong>den</strong>ten des Fonds zur Hilfe für russische Veteranen<br />
des II. Weltkrieges und von Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Gesellschaft zur<br />
Hilfe für Kriegsveteranen in Rußland e.V.<br />
Das XX. Jahrhun<strong>der</strong>t wird in die Weltgeschichte durch eine noch nie dagewesene<br />
Anzahl von Kriegen eingehen, in <strong>den</strong>en über hun<strong>der</strong>t Millionen Menschen<br />
ihr Leben verloren, unzählige Kriegsversehrte, Witwen und Waisen,<br />
viel menschliches Leid und erlittene Qualen zurückblieben. Unsere gemarterte<br />
Erde ist von radioaktiven Abfällen, von nicht entsorgten Massenvernichtungswaffen<br />
und Minen verseucht. Dem Erdball droht eine biologische Katastrophe.<br />
Kriege sind ohne Waffeneinsatz nicht möglich. Mit dem Geld aus <strong>der</strong> Herstellung<br />
von Waffen und <strong>der</strong>en Verkauf wer<strong>den</strong> politische Strukturen <strong>der</strong><br />
Macht aufgebaut, wobei die Interessen vieler Politiker, Industrieller und Militärs<br />
übereinstimmen.<br />
Die Aufrüstung des XXI. Jahrhun<strong>der</strong>ts wird vorbereitet. Eine Politik <strong>der</strong> militärischen<br />
Aufrüstung bereichert einige wenige, führt aber zur Verarmung von<br />
Menschenmassen und Steuerzahlern, mit <strong>der</strong>en Geld Waffen entwickelt und<br />
Kriege geführt wer<strong>den</strong>, wobei diese selbst zu Gefangenen bzw. zu Opfern <strong>der</strong>er<br />
wer<strong>den</strong>, die sich als Politiker an <strong>der</strong> Macht befin<strong>den</strong>.<br />
Die Anhäufung von Massenvernichtungswaffen, z.B. in Rußland, bedroht die<br />
Sicherheit <strong>der</strong> Menschen schon deshalb, weil diese Regierung so gut wie keine<br />
Mittel besitzt, um Voraussetzungen für <strong>der</strong>en Lagerung und Vernichtung zu<br />
schaffen. Generäle berichten von ultramo<strong>der</strong>nen Raketen, die für Kampfeinsätze<br />
bereitgestellt sind.<br />
Die Welt ist mit Waffen übersättigt. Solange letztere existieren, wird es auch<br />
Kriege geben, und es wird Menschen geben, die versuchen, mit Waffengewalt<br />
Kriege auszutragen.<br />
Jeglicher Krieg ist ein Verbrechen an <strong>der</strong> Menschheit. Die Politiker beginnen<br />
Kriege, ziehen die Völker in diese hinein, so daß diese ungewollt zu Teilnehmern<br />
an Vergehen wer<strong>den</strong>, wie es mit dem <strong>deutschen</strong> Volk im II. Weltkrieg,<br />
mit dem russischen Volk in lokalen Kriegen in Afghanistan, in Tschetschenien<br />
geschah. Es ist nicht zu erklären, warum die Organisatoren und Befehlshaber<br />
letzterer bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt straffrei ausgingen.<br />
57
Die Völker sind durch Kriege erschöpft und möchten in Frie<strong>den</strong> und Eintracht<br />
unter <strong>der</strong> Respektierung von Menschenrechten leben, hoffnungsvoll in<br />
die <strong>Zu</strong>kunft blicken. Wir Veteranen des II. Weltkrieges waren bei Kriegsschluß<br />
überzeugt, daß dies <strong>der</strong> letzte Krieg im Leben <strong>der</strong> Menschen gewesen<br />
sei. Aber unsere Hoffnungen gingen nicht in Erfüllung. Die Kriege dauern an<br />
und nehmen Menschen in vielen Län<strong>der</strong>n das Leben, ohne daß ein Ende abzusehen<br />
ist. Die Zeit ist dafür reif, daß die Völker um das Recht auf ein Leben<br />
ohne Kriege kämpfen, sich dabei aber bewußt sind, daß ihnen Kräfte vieler<br />
Politiker und <strong>der</strong> Rüstungsindustrie entgegenwirken.<br />
Wir wen<strong>den</strong> uns an Kriegsveteranen, an die Verbände von Kriegsveteranen<br />
aller Län<strong>der</strong>, an alle Menschen guten Willens, unabhängig von ihren politischen<br />
o<strong>der</strong> religiösen Glaubensanschauungen, an die Regierungen und Repräsentanten<br />
von Staaten, an die Organisationen <strong>der</strong> Vereinten Nationen, eine<br />
internationale Konferenz unter Schirmherrschaft <strong>der</strong> UNO einzuberufen und<br />
ein Programm zu folgendem Thema zu erarbeiten:<br />
58<br />
Das XXI. Jahrhun<strong>der</strong>t - ein Jahrhun<strong>der</strong>t ohne Kriege und Waffen!<br />
In ihm sollten vorrangig folgende Probleme behandelt wer<strong>den</strong>:<br />
Verbot <strong>der</strong> Produktion jeglicher Art von Waffen und Übergang zu <strong>der</strong>en<br />
Liquidierung.<br />
Vervollkommnung des Aufbaus internationaler vereinigter frie<strong>den</strong>sschaffen<strong>der</strong><br />
Kräfte und Kontrolleinrichtungen für das Einhalten gefaßter Beschlüsse<br />
und Vermeidung militärischer Konflikte.<br />
Autor: Viktor Maximow, Präsi<strong>den</strong>t des Fonds zur Hilfe russischer Veteranen<br />
des II. Weltkrieges, Jekaterinburg.
Jan Sumavski<br />
Der Medienkrieg - definitiver Bestandteil des<br />
heißen Krieges<br />
Man sagt, in jedem Kriege stirbt zuerst die Wahrheit. Meiner Meinung nach<br />
gilt das nicht mehr. War das überhaupt jemals gültig ? In dem Augenblick, in<br />
dem <strong>der</strong> Krieg heiß ausbricht, ist die Wahrheit schon tot. Große Schuld daran<br />
haben die Massenmedien. Wenn schon nicht von Anfang an, so spielen sie<br />
jedoch von dem Moment an eine wichtige Rolle, an dem sich die Probleme<br />
verschärfen, wenn wir also beginnen, von einem kalten Krieg zu sprechen.<br />
Im <strong>Zu</strong>sammenhang mit <strong>den</strong> zwischenstaatlichen und internationalen Problemen<br />
gilt das um so mehr. Die Rolle <strong>der</strong> Massenmedien ist heute schon so<br />
groß, daß man allgemein von einem Medienkrieg o<strong>der</strong> von einem Informationskrieg<br />
sprechen kann. Deswegen behaupte ich, daß die Wahrheit schon in<br />
diesem kalten Krieg stirbt. In seinem heißen Stadium wird sie von <strong>den</strong> Massenmedien<br />
nur noch geschändet.<br />
Der kalte Medienkrieg<br />
Bei je<strong>der</strong> Weltkrise stellt sich immer die Frage, ob die Politik eines je<strong>den</strong> Staates<br />
<strong>der</strong> Wirklichkeit gerecht wird o<strong>der</strong> ob sie nur eigene nationale o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Interessen wi<strong>der</strong>spiegelt. <strong>Zu</strong>r Rechtmäßigkeit <strong>der</strong> Politik muß man nicht beweisen,<br />
daß mehrere Staaten o<strong>der</strong> eine Staatengruppe dieselbe Politik ausüben.<br />
Die Einigkeit o<strong>der</strong> die <strong>Zu</strong>stimmung ist jeweils durch fragliche Mittel erreicht<br />
wor<strong>den</strong>, zum Beispiel <strong>beim</strong> Ja im Falle des NATO-Angriffs auf Jugoslawien.<br />
Die tschechische Regierung bekam angeblich nur eine Stunde und<br />
Gerhard Schrö<strong>der</strong> nur fünfzehn Minuten Zeit.<br />
Nach <strong>der</strong> Entscheidung zum Krieg wird die Gewalt genutzt, beson<strong>der</strong>s die<br />
Militärmacht. Die Politiker suchen alle Möglichkeiten, sie zu rechtfertigen.<br />
<strong>Zu</strong>r Überzeugung <strong>der</strong> Öffentlichkeit ist die Medienunterstützung unerläßlich,<br />
beson<strong>der</strong>s dann, wenn man ihre positive Stellung erwarten kann. Im Fall Kosovo<br />
drohte <strong>den</strong> NATO-Län<strong>der</strong>n keine Gefahr, und <strong>der</strong> Krieg sollte sogar<br />
auch wie<strong>der</strong> von deutschem Bo<strong>den</strong> ausgehen.<br />
Je<strong>der</strong> Krieg braucht einen Feind. Wenn das Feindbild für die Öffentlichkeit<br />
nicht genügend klar ist, muß man es verschärfen. Man schafft ein Ungeheuer,<br />
das aus moralischen Grün<strong>den</strong> vernichtet wer<strong>den</strong> muß. Bereits <strong>der</strong> Golfkrieg<br />
wurde als ein Kampf des Guten gegen das Böse dargestellt. Um <strong>den</strong> Krieg<br />
gegen Jugoslawien zu rechtfertigen, wurde Irak durch <strong>den</strong> serbischen Teil Jugoslawiens<br />
ersetzt und Hussein durch Milosevic.<br />
59
Die Medienkampagne wurde aber schon vor dem Bosnienkrieg gestartet. Die<br />
westlichen Massenmedien brachten zahllose ungeprüfte Nachrichten über die<br />
serbischen Greueltaten in Umlauf. Im Fernsehen wur<strong>den</strong> sie mit schockieren<strong>den</strong>,<br />
natürlich auch ungeprüften Videomaterialien illustriert. Ja, die Serben<br />
haben - lei<strong>der</strong> - in Bosnien viele Verbrechen begangen, aber sie waren nicht<br />
die einzigen. Ebenso benahmen sich die Kroaten und die Muslime. Am<br />
14. Januar d.J. verurteilte z.B. das internationale Gericht in Den Haag fünf<br />
kroatische Teilnehmer an dem Massenmord in Ahmici, wo 116 Menschen in<br />
<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>gebrannten Gemeinde ermordet wur<strong>den</strong>. Für solche Verbrechen<br />
waren damals die großen Medien aber nicht zugänglich.<br />
Die Erfahrungen aus Bosnien nutzten die westlichen Massenmedien in <strong>der</strong><br />
Kosovo-Kampagne aus. Sie wurde bestimmt von <strong>den</strong> mit <strong>den</strong> Albanern sympathisieren<strong>den</strong><br />
Journalisten. In Kosovo arbeitende Berichterstatter lieferten einseitig<br />
wirkende Materialien und nährten <strong>den</strong> Haß gegen die jugoslawische Polizei<br />
und Armee. Diese waren lei<strong>der</strong> auch nicht unschuldig. Aber von Schuld<br />
<strong>der</strong> albanischen Extremisten und <strong>der</strong> UCK wollten die Westpolitiker nichts<br />
hören. Die Tschechische Republik bildete keine Ausnahme. Die meisten Politiker<br />
mit dem Präsi<strong>den</strong>ten-Humanisten Vaclav Havel in <strong>der</strong> ersten Reihe und<br />
fast alle Journalisten unterstützten bedingungslos <strong>den</strong> Krieg. Die Tschechische<br />
Republik sei doch neues Mitglied <strong>der</strong> NATO, und in <strong>der</strong> ersten Prüfung<br />
könne man nicht enttäuschen. Jede Kritik, und auch nur eine an<strong>der</strong>e Meinung,<br />
wur<strong>den</strong> deswegen scharf abgelehnt und als schädlich, sogar als landesverräterisch,<br />
bezeichnet. In <strong>den</strong> Massenmedien war dafür keine einzige Zeile<br />
Platz o<strong>der</strong> Minute Zeit.<br />
Der heiße Medienkrieg<br />
Mit <strong>den</strong> ersten abgefeuerten Raketen öffnete die NATO gleichzeitig auch <strong>den</strong><br />
heißen Medienkrieg. Der militärische Angriff beginnt immer mit <strong>der</strong> Vernichtung<br />
<strong>der</strong> feindlichen Verteidigung. Der Medienkrieg <strong>der</strong> NATO begann also<br />
mit <strong>der</strong> Zerstörung <strong>der</strong> jugoslawischen Informationsstruktur. Jamie Shea, <strong>der</strong><br />
NATO-Sprecher, erklärte am 12. April, die NATO werde nur die Rundfunk-<br />
und Fernseheinrichtungen vernichten, die einen Bestandteil <strong>der</strong> militärischen<br />
Objekte bil<strong>den</strong>. Schon neun Tage später, am 23. April, bombardierte die<br />
NATO das Fernsehgebäude in Belgrad. Auf Veranlassung <strong>der</strong> BRD wurde<br />
das Übernehmen <strong>der</strong> jugoslawischen Fernsehnachrichten für <strong>den</strong> Satellit<br />
EUTELSAT mit <strong>der</strong> Begründung gestoppt, daß diese nur Propagandazwecken<br />
diene.<br />
Es gibt keinen Zweifel daran, daß die Informationen von jugoslawischer Seite<br />
kontrolliert und manipuliert wur<strong>den</strong>. Wie war es aber mit <strong>den</strong> Meldungen des<br />
NATO-Informationsprogramms, welches sofort in serbischer Sprache und in<br />
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kyrillischer Schrift ausgestrahlt wurde? Die Nachrichten dieses Programms<br />
wur<strong>den</strong> dann für die erweiterten Programme in serbischer und albanischer<br />
Sprache und von an<strong>der</strong>en Stationen wie Deutsche Welle, Die Stimme Amerikas,<br />
BBC, Radio Free Europe und Radio France Internationale übernommen.<br />
Als einzige Informationsquelle dienten die tagtäglichen Pressekonferenzen<br />
von Jamie Shea und sein simples Freund-Feind-Schema. Die<br />
Kriegsberichterstatter verwandelten sich in Agitatoren, <strong>der</strong>en Nachrichten<br />
nicht überprüft waren.<br />
Das einzige Ziel des Informationskrieges war, <strong>den</strong> Krieg zu legitimieren und<br />
beson<strong>der</strong>s die die zivile Bevölkerung nicht schonen<strong>den</strong> Luftangriffe. Das<br />
Hauptmotto war: Die internationale demokratische Öffentlichkeit kann <strong>der</strong><br />
humanitären Tragödie in Kosovo nicht mehr weiter zusehen. Die Weltöffentlichkeit<br />
wurde jetzt manipuliert. Nach <strong>der</strong> Beschuldigung <strong>der</strong> jugoslawischen<br />
Regierung für <strong>den</strong> Verhandlungsmißerfolg in Rambouillet gab es schockierende<br />
Informationen über <strong>den</strong> serbischen Genozid gegen die Albaner, bestialische<br />
Verbrechen, Völkermord, Konzentrationslager, Hun<strong>der</strong>te von Massengräbern<br />
und an<strong>der</strong>es mehr. NATO-Generalsekretär Solana erklärte: “Wir<br />
führen keinen Krieg gegen Jugoslawien!“ Außenminister Fischer wie<strong>der</strong>holte<br />
das. Er untersagte Journalisten sogar das Wort Kriegsflüchtlinge und for<strong>der</strong>te<br />
von ihnen Ausdrücke wie Vertriebene bzw. Deportationen.<br />
<strong>Zu</strong>gleich wur<strong>den</strong> neue euphemistische Termini massiv in Umlauf gebracht<br />
wie NATO-Kampagne und humanitäre Intervention. Vaclav Havel erfand<br />
sogar einen genialen Superbegriff, die humanitäre Bombardierung. Kurz und<br />
gut, die NATO-Führung bildete ein Pool-System. Die sorgfältig ausgewählten<br />
Journalisten bekamen die sorgfältig vorbereiteten Informationen. <strong>Zu</strong>dem<br />
wur<strong>den</strong> alle üblichen Informationsmöglichkeiten und Informationen blockiert.<br />
Anstatt objektive Informationen zu bekommen, wurde die Weltöffentlichkeit<br />
so <strong>der</strong> heftigen militärpolitischen Propaganda ausgeliefert. Die Informationen<br />
waren nicht nur einseitig, sie waren oft falsch und lügnerisch. Jamie Shea<br />
mußte schon während des Krieges einige Male seine Informationen berichtigen<br />
o<strong>der</strong> sie sogar dementieren. Am 6. Januar d.J. brachte die Frankfurter<br />
Rundschau die Nachricht, daß die Bombardierung des Personenzuges im April<br />
durch die NATO mittels verfälschtem Videomaterial als ein unglücklicher<br />
<strong>Zu</strong>fall gerechtfertigt wer<strong>den</strong> sollte.<br />
Schlußbemerkung<br />
Die Entwicklung <strong>der</strong> Beziehung zwischen <strong>der</strong> Politik und <strong>den</strong> Massenmedien<br />
erreichte während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien seinen Höhepunkt.<br />
Der Medienkrieg wurde ein definitiver Bestandteil des heißen Krieges. Die<br />
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Massenmedien wur<strong>den</strong> die vierte Waffengattung neben <strong>den</strong> Landstreitkräften,<br />
<strong>den</strong> Luftstreitkräften und <strong>der</strong> Kriegsmarine.<br />
Durch die gegenwärtige Globalisierung und die Zentralisation <strong>der</strong> Massenmedien<br />
in <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong> einer machthaben<strong>den</strong>, entschei<strong>den</strong><strong>den</strong>, engen, supranationalen<br />
Schicht entsteht eine große Gefahr für die Demokratie und <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong><br />
in <strong>der</strong> ganzen Welt.<br />
Autor: PhDr. Jan Sumavski, Tschechische Frie<strong>den</strong>sgesellschaft, Prag.<br />
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