WISSENSCHAFT - Zeitschrift für Physiotherapeuten

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Einleitung Im Rahmen des systematischen Reviews »Der Patient – eine große ›Unbekannte‹ im Therapieprozess« (pt 9_2008) wurde bereits der aktuelle Forschungsstand im Bereich Compliance und Adherence in der Physiotherapie dargestellt. Der Beitrag machte Folgendes deutlich: Erstens belegen zahlreiche Untersuchungen, dass viele Patienten ein im Rahmen der Therapie entwickeltes Übungsprogramm nur unzureichend umsetzen. Zum Zweiten kann aus der bisherigen Forschung abgeleitet werden, dass es kaum wissenschaftliche Erkenntnisse zur Wirksamkeit theoriegeleiteter Vorgehensweisen gibt. Genau das ist aber dringend erforderlich – eine grundlegende Theorie, um weitere Interventionsprogramme entwickeln und evaluieren zu können. Hier erscheint der Blick über den Tellerrand nützlich und angebracht. Aus der Gesundheitspsychologie sind einige Modelle des Gesundheitsverhaltens bekannt (Renneberg & Hammelstein 2006). Diese können grob in kontinuierliche (statische) Prädiktionsmodelle und dynamische Stadienmodelle un terteilt werden. Abbildung 1 zeigt eine übersichtliche Darstellung einiger Modelle mit der entsprechenden Zuordnung, wobei nicht alle derzeit bekannten Modelle aufgelistet sind. Es wurden vor allem die Ansätze berücksichtigt, für die empirische Überprüfungen im Bereich körperlicher Bewegung vorliegen. Im Rahmen dieses narrativen Reviews werden die beiden grundsätzlichen Perspektiven vorgestellt und zur Verdeutlichung beispielhaft einige Modelle skizziert. Dabei wird jeweils kurz auf die Forschungslage eingegangen und die Bedeutung der unterschiedlichen Mo - delle im Hinblick auf die Physiotherapie herausgearbeitet. Kontinuierliche Modelle Social Cognitive Theory (Bandura 2000) Theory of Planned Behavior (Aizen 1991) Health Belief Model (Rosenstock 1990) Protection Motivation Theory (Rogers 1985) aus dem Setting »Physiotherapie« Physiotherapie-Motivations- Modell (Göhner & Eid 2001) Stadienmodelle Stadienmodelle des Gesundheitsverhaltens gehen von der Annahme aus, dass sich Menschen auf dem Weg hin zu einer Verhaltensänderung in verschiedenen qualitativ unterschiedlichen Stadien befinden. Personen innerhalb eines Sta- Integrative Modelle HAPA-Modell (Schwarzer 2004) WISSENSCHAFT_NARRATIVER REVIEW Stadienmodelle Transtheoretisches Modell (Prochaska & DiClemente 1993) Berliner-Stadien-Modell (Fuchs 2001) Precaution Adoption Process Model (Weinstein1998) Abb. 1_Übersicht kontinuierliche Modelle – Stadienmodelle (eigene Darstellung) Health Action Process Approach – HAPA nicht-intentional Transtheoretisches Modell – TTM Präkontemplation Berliner-Stadien-Modell – BSM Präkontemplation Kontem - plation Kontem - plation Precaution Adoption Process Model – PAPM Entscheidungs- Un - Igno - findung bewusst rieren Negativ- Entscheidung Disposition Resumption intentional Präparation Präaktion Positiv-Entscheidung Aufnahme Implemen - tierung Aneignung aktional Aufrechterhaltung Habituation Fluktuation Aufrechterhaltung ⎫ ⎪ ⎬ ⎪ ⎭ ⎫ ⎪ ⎬ ⎪ ⎭ ⎫ ⎪ ⎬ ⎪ ⎭ motivational volitional-inaktiv volitional-aktiv Abb. 2_Übersicht über verschiedene Stadienmodelle (nach Lippke & Kaluschke 2007) diums ähneln sich hinsichtlich ihres Verhaltens, ihrer Gedanken und Gefühle und unterscheiden sich stark von denen, die sich in einem anderen befinden. Der Patient durchläuft die einzelnen Stadien in der entsprechenden Reihenfolge, bis er letztlich das gewünschte Zielverhalten ausübt. Dabei muss er in >>> pt_Zeitschrift für Physiotherapeuten_61 [2009] 1 7

WISSENSCHAFT_NARRATIVER REVIEW aller Regel mehrere Stadienwechsel vollziehen, die jeweils durch passende Interventionen ermöglicht werden. Abbildung 2 gibt einen Überblick über verschiedene aktuelle Stadienmodelle. Zur Verdeutlichung sei an dieser Stelle nochmals an den Beispielpatienten aus dem systematischen Review (pt 9_2008) erinnert. Dieser Patient sollte auf ärztlichen Rat hin Gewicht abbauen. Stadientheoretisch betrachtet kann er sich auf dem Weg zur Verhaltensänderung (hier: regelmäßige körperliche Aktivität) auf unterschiedlichen Stufen befinden. Angenommen er hat die gewünschte körperliche Aktivität noch nicht ausgeführt und auch noch nicht daran gedacht sich zu bewegen. In diesem Fall helfen dem Patienten bestimmte motivierende Maßnahmen. Der Patient kann sich aber auch schon im nächsten Stadium befinden. Dann hat er bereits fest die Absicht gefasst, sie jedoch aus irgendwelchen Gründen noch nicht umsetzen können. Er steckt in der Intentions-Verhaltens- Lücke fest. Hier werden keine weiteren motivierenden Maßnahmen mehr greifen. Vielmehr benötigt der Patient in dieser Phase eine Umsetzungsunterstützung. Vielleicht hat er aber auch ein Erfolgserlebnis verbuchen können und war tatsächlich einmal mit den Nordic- Walking-Stöcken unterwegs. Nun kann die weitere Aufrechterhaltung des Verhaltens zum Problem werden. Im güns - tigsten aller Fälle geht er tatsächlich regelmäßig seiner sportlichen Handlung nach. Dann sollte alles getan werden, um Rückfälle zu verhindern. Anhand dieses kurzen Beispiels werden die zentralen Annahmen der Stadientheorien nochmals deutlich, wobei sich die einzelnen Modelle hinsichtlich der Stadienanzahl unterscheiden. Grundsätzlich wird bei allen Modellen davon ausgegangen, dass je nach Stadium unterschiedliche Interventionen nötig sind, um der Person bei der Aneignung des gewünschten Verhaltens behilflich zu sein. Den Stadienmodellen wird jedoch oftmals vorgeworfen sogenannte Pseudo - stadien zu bilden, also einen kontinuierlichen Prozess durch künstliche Stadienbildung willkürlich zu unterteilen (Sutton 1996). Wenn dies zutreffen würde, dann wäre die Einteilung in der Tat nicht angebracht. Aktuelle Modelle müssen also im Besonderen das Kriterium der qualitativen Unterschiede zwischen den Stadien berücksichtigen und theoretisch evaluieren (Fuchs 2003). Weinstein et al. (1998) haben hierzu wichtige methodische Kriterien zusam mengefasst, die bei der empirischen Überprüfung der Stadienannahme zu berücksichtigen sind. Bei aller Kritik bieten die Stadientheorien einen großen Vorteil, der auch für die Physiotherapie von großem Interesse ist. Eine entsprechende Diagnostik kann die Zuweisung der Patienten in die einzelnen Stadien ermöglichen. Das erlaubt wiederum zugeschnittene, stadienspezifische Interventionen, die im Vergleich zu »one-size-fits-all-interventions« zielgerichtetere und vor allem ökonomischere Vorgehensweisen darstellen. Dies wäre besonders vor dem Hintergrund der begrenzten Behandlungszahlen interessant. Anhand des HAPA-Modells wird im weiteren Verlauf des Artikels ein Stadienmodell beispielhaft dargestellt. Zuvor erfolgt jedoch ein kurzer Ausblick auf die kontinuierlichen Mo - delle des Gesundheitsverhaltens. Kontinuierliche Prädiktionsmodelle Bei diesen Modellen basiert die Betrachtung und Vorhersage von Verhaltensweisen auf den Wirkungen unterschied- licher Prädiktoren. Die Modelle spezifizieren bestimmte kognitive und affek - tive Variablen als prädiktiv für ein Ge - sundheitsverhalten. Diese Prädiktoren und deren Beziehung untereinander können zu einem Modell zusammengefasst werden und somit direkt oder indirekt das Verhalten erklären. Die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Verhalten ist dann besonders hoch, wenn die Personen eine günstige Ausprägung dieser Prädiktoren aufweisen können. Ein beispielhafter Vertreter ist die »Theorie des geplanten Verhaltens«. Theorie des geplanten Verhaltens Die Theorie des geplanten Verhaltens (Theory of Planned Behavior TPB) von Ajzen (1991) geht von der Annahme aus, dass Verhaltensänderungen durch die persönlichen Einstellungen, die subjektive Norm und die wahrgenommene Verhaltenskompetenz beeinflusst werden. Unter der subjektiven Norm wird dabei der soziale Druck verstanden, ein bestimmtes Zielverhalten an den Tag zu legen oder zu unterlassen. Der Patient kann durch sein Umfeld bestärkt werden, therapiespezifische Übungen durchzuführen. Er könnte jedoch auch dem Druck seiner Mitmenschen nachgeben und sein Übungsprogramm zugunsten anderer Tätigkeiten, sei es nun das gemeinsame Mittagessen mit Kollegen oder der Kinobesuch mit dem Partner, unterlassen. Die Einstellungen beziehen sich auf eigene positive, aber auch negative Bewertungen des entsprechenden Verhaltens. Ob der Patient nun seine vom Therapeuten empfohlenen Übungsformen durchführt, hängt also maßgeblich von der persönlichen Bewertung ab. Beide Konstrukte haben Einfluss auf das Verhalten, wobei dieses durch die Intention vermittelt wird. Intentionen sind somit als Mediatoren zu >>> 8 pt_Zeitschrift für Physiotherapeuten_61 [2009] 1

Einleitung<br />

Im Rahmen des systematischen Reviews<br />

»Der Patient – eine große ›Unbekannte‹<br />

im Therapieprozess« (pt 9_2008) wurde<br />

bereits der aktuelle Forschungsstand im<br />

Bereich Compliance und Adherence in<br />

der Physiotherapie dargestellt. Der Beitrag<br />

machte Folgendes deutlich:<br />

Erstens belegen zahlreiche Untersuchungen,<br />

dass viele Patienten ein im Rahmen<br />

der Therapie entwickeltes Übungsprogramm<br />

nur unzureichend umsetzen.<br />

Zum Zweiten kann aus der bisherigen<br />

Forschung abgeleitet werden, dass es<br />

kaum wissenschaftliche Erkenntnisse zur<br />

Wirksamkeit theoriegeleiteter Vorgehensweisen<br />

gibt. Genau das ist aber dringend<br />

erforderlich – eine grundlegende Theorie,<br />

um weitere Interventionsprogramme entwickeln<br />

und evaluieren zu können. Hier<br />

erscheint der Blick über den Tellerrand<br />

nützlich und angebracht.<br />

Aus der Gesundheitspsychologie sind<br />

einige Modelle des Gesundheitsverhaltens<br />

bekannt (Renneberg & Hammelstein<br />

2006). Diese können grob in kontinuierliche<br />

(statische) Prädiktionsmodelle<br />

und dynamische Stadienmodelle<br />

un terteilt werden. Abbildung 1 zeigt<br />

eine übersichtliche Darstellung einiger<br />

Modelle mit der entsprechenden Zuordnung,<br />

wobei nicht alle derzeit bekannten<br />

Modelle aufgelistet sind. Es wurden vor<br />

allem die Ansätze berücksichtigt, <strong>für</strong> die<br />

empirische Überprüfungen im Bereich<br />

körperlicher Bewegung vorliegen.<br />

Im Rahmen dieses narrativen Reviews<br />

werden die beiden grundsätzlichen Perspektiven<br />

vorgestellt und zur Verdeutlichung<br />

beispielhaft einige Modelle skizziert.<br />

Dabei wird jeweils kurz auf die<br />

Forschungslage eingegangen und die<br />

Bedeutung der unterschiedlichen Mo -<br />

delle im Hinblick auf die Physiotherapie<br />

herausgearbeitet.<br />

Kontinuierliche Modelle<br />

Social Cognitive Theory<br />

(Bandura 2000)<br />

Theory of Planned Behavior<br />

(Aizen 1991)<br />

Health Belief Model<br />

(Rosenstock 1990)<br />

Protection Motivation Theory<br />

(Rogers 1985)<br />

aus dem Setting »Physiotherapie«<br />

Physiotherapie-Motivations-<br />

Modell (Göhner & Eid 2001)<br />

Stadienmodelle<br />

Stadienmodelle des Gesundheitsverhaltens<br />

gehen von der Annahme aus, dass<br />

sich Menschen auf dem Weg hin zu einer<br />

Verhaltensänderung in verschiedenen<br />

qualitativ unterschiedlichen Stadien<br />

befinden. Personen innerhalb eines Sta-<br />

Integrative Modelle<br />

HAPA-Modell<br />

(Schwarzer 2004)<br />

<strong>WISSENSCHAFT</strong>_NARRATIVER REVIEW<br />

Stadienmodelle<br />

Transtheoretisches Modell<br />

(Prochaska & DiClemente<br />

1993)<br />

Berliner-Stadien-Modell<br />

(Fuchs 2001)<br />

Precaution Adoption<br />

Process Model<br />

(Weinstein1998)<br />

Abb. 1_Übersicht kontinuierliche Modelle – Stadienmodelle (eigene Darstellung)<br />

Health Action Process<br />

Approach – HAPA<br />

nicht-intentional<br />

Transtheoretisches Modell – TTM<br />

Präkontemplation<br />

Berliner-Stadien-Modell – BSM<br />

Präkontemplation<br />

Kontem -<br />

plation<br />

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Precaution Adoption Process<br />

Model – PAPM<br />

Entscheidungs-<br />

Un - Igno - findung<br />

bewusst rieren Negativ-<br />

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Abb. 2_Übersicht über verschiedene Stadienmodelle (nach Lippke & Kaluschke 2007)<br />

diums ähneln sich hinsichtlich ihres Verhaltens,<br />

ihrer Gedanken und Gefühle<br />

und unterscheiden sich stark von denen,<br />

die sich in einem anderen befinden. Der<br />

Patient durchläuft die einzelnen Stadien<br />

in der entsprechenden Reihenfolge, bis<br />

er letztlich das gewünschte Zielverhalten<br />

ausübt. Dabei muss er in >>><br />

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