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Wolfgang F. Ockenfels KLEINE KATHOLISCHE ... - Ordo Socialis

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alle Revolutionsversuche. Nicht die marxistische Revolution, sondern die sozialpolitische Reform<br />

hat die soziale Frage des 19. Jahrhunderts weitgehend gelöst. Diesen Lernprozess haben vor allem<br />

die Sozialdemokraten durchmachen müssen. Die marxistische Revolution ist auch nicht im 19.,<br />

sondern im 20. Jahrhundert erfolgt, und zwar nicht in einem Industriestaat, sondern in einem unterentwickelten<br />

Agrarland wie Russland. Die Revolution von 1917 war auch nicht der Aufstand<br />

proletarischer Massen, sondern ein Putsch meuternder Soldaten, angeführt durch Intellektuelle.<br />

Gültige Werterfahrungen<br />

Wäre es nicht nahe liegend, wenn die lateinamerikanische Kirche aus den geschichtlichen Erfahrungen,<br />

die Europa im Umgang mit ähnlichen Problemen gemacht hat, lernen könnte? Vielleicht<br />

ließen sich dann überflüssige Umwege, historische Versäumnisse und gewaltsame Umbrüche<br />

leichter vermeiden. Der Dritten Welt ist dauerhaft nicht durch Almosen und Darlehen zu helfen,<br />

die abhängig machen. Hilfreicher auch als das technische ist das ordungspolitische und sozialethische<br />

„know-how“, wie eine Gesellschaft rechtlich und ökonomisch auf die eigenen Beine kommt.<br />

Leider ist die Katholische Soziallehre in Lateinamerika noch weitgehend unbekannt, so dass eine<br />

theologische Bewegung mit revolutionärem Pathos in dieses Vakuum eindringen konnte. Von Seiten<br />

einer „Theologie der Befreiung“, die selber ihren marxistisch-europäischen Ursprung nicht<br />

verleugnen kann, wird der Katholischen Soziallehre eine einseitig „eurozentrische“ Ausrichtung<br />

vorgeworfen, sie tauge nichts für die Lösung der lateinamerikanischen Probleme.<br />

Dabei stellt die Katholische Soziallehre nicht viel mehr dar als das Kontinuum lehramtlicher Aussagen<br />

zu sozialen Fragen, die überall in der Welt auftauchen können. Sie ist im Kern nicht mehr<br />

als eine kondensierte soziale Werterfahrung der Kirche über nationale Grenzen hinaus, eine soziale<br />

Wertorientierung, die sich auf die Heilige Schrift beruft und der allgemein menschlichen Vernunft<br />

zugänglich ist. Diesen für alle Kulturen und Geschichtsepochen verpflichtend bleibenden Kern der<br />

Katholischen Soziallehre herauszufiltern, bedeutet keine leichte theologische Arbeit.<br />

Dass sich die sozialen Fragen wie die kirchlichen Antworten mit der Zeit geändert haben, ist nicht<br />

zu bestreiten. Die Katholische Soziallehre erweist sich nicht als ein geschlossenes Ganzes von<br />

gleich bleibender Gültigkeit, sondern als eine Lehrentwicklung, die auch Wandlungen, Akzentverlagerungen<br />

und Ergänzungen kennt. Änderungen hat es gegeben etwa in den Stellungnahmen zur<br />

Religions- und Pressefreiheit, zur Zins- und Eigentumsfrage und zum demokratischen Staatswesen.<br />

Päpstliche Dokumente zu sozialen Fragen dürfen nicht wie dogmatische Definitionen gelesen<br />

werden. Ihre konkreten Formulierungen sind nur in ihrem geschichtlichen Kontext zu erfassen,<br />

was jedoch keine bloße Relativierung bedeutet, da es möglich ist, aus der zeit- und geistesgeschichtlichen<br />

Einkleidung dieser Lehre den inneren gleich bleibenden Kern herauszuschälen.<br />

Entscheidend bei der Interpretation und Anwendung lehramtlicher Aussagen ist es, die Substanz,<br />

das Prinzip zu erkennen - und zu unterscheiden von dem jeweiligen historischen Kontext, dem<br />

geistesgeschichtlichen Kolorit. Es zeigt sich nämlich, dass sich das kirchliche Lehramt in sozialen<br />

Fragen meist zu ganz bestimmten Zeitproblemen äußert und sich auf den jeweiligen konkreten<br />

Entwicklungsstand bezieht. Das harte Urteil der Kirche gegen den Liberalismus im vorigen Jahrhundert<br />

bezog sich auf den damals noch vorherrschenden quasi dogmatischen Weltanschauungscharakter,<br />

von dem sich die heutigen liberalen Strömungen weitgehend distanzieren. Ein anderes<br />

Beispiel ist die Eigentumsfrage. Hier haben die Päpste im Lauf der Jahrhunderte verschiedenen<br />

Eigentumsformen den Vorzug gegeben. Als Prinzip hat sich das Recht auf privates Eigentum in<br />

sozialer Bindung durchgehalten.<br />

Übrigens: Wenn es nicht so etwas wie ein bleibendes, geschichts- und kulturübergreifendes Wahrheitskriterium<br />

gäbe, wäre es a priori sinnlos, der Kirche irgendein moralisches Versagen in der<br />

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