Normal ist, wenn man auszieht... - Familien besonderer Kinder
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„<strong>Normal</strong> <strong>ist</strong>, <strong>wenn</strong> <strong>man</strong> <strong>auszieht</strong>...“ –<br />
Möglichkeiten der Begleitung des Ablöseprozesses aus<br />
dem Elternhaus<br />
Diplomarbeit im Fach Erziehungswissenschaft<br />
vorgelegt für die Diplomprüfung<br />
von<br />
Jörg Strigl<br />
aus<br />
Neuss<br />
Angefertigt bei Prof. Dr. Walter Dreher<br />
an der Universität zu Köln<br />
Heilpädagogische Fakultät<br />
Erziehungswissenschaftliche Fakultät<br />
Philosophische Fakultät<br />
Abgabetermin: 13.10.2003<br />
1
0 Problemaufriss 5<br />
0.1 Das Thema Ablösebegleitung in Wohneinrichtungen 5<br />
0.2 Aufbau der Arbeit 7<br />
1 Die systemisch-ökologische Perspektive in der Heilpädagogik 9<br />
1.1 Die Bedeutung systemischen Denkens für die Heilpädagogik 9<br />
1.2 Das ökosystemische Modell nach BRONFENBRENNER – eine<br />
Einführung 12<br />
1.2.1 Die Ebene der Mikrosysteme 13<br />
1.2.2 Die Ebene der Meso- und Exosysteme 15<br />
1.2.3 Makro- und Chronosystem 15<br />
1.3 Exkurs: Behinderung aus öko-systemischer Sicht 16<br />
2 Zentrale Aspekte zum Handlungsverständnis der professionellen<br />
Begleiter in Wohneinrichtung 19<br />
2.1 Leitbilder der Heilpädagogik 19<br />
2.1.1 <strong>Normal</strong>isierung 19<br />
2.1.2 Autonomie und Selbstbestimmung 21<br />
2.1.3 Empowerment 24<br />
2.2 Der Ass<strong>ist</strong>enzbegriff: Eine Folge der Leitbilder 25<br />
2.3 Jur<strong>ist</strong>ische Rahmenbedingungen 27<br />
2.3.1 Allgemeines 29<br />
2.3.2 Das Betreuungsrecht 31<br />
2
2.4 Beratung und Gesprächsführung als Aufgabe in<br />
Wohneinrichtungen 33<br />
2.5 Exkurs: Unterstützungsmöglichkeiten aus dem Bereich der<br />
Erwachsenenbildung 35<br />
3 Der lange Weg bis zum Auszug aus dem Elternhaus 37<br />
3.1 Zum Verständnis der Elternschaft eines behinderten Kindes 37<br />
3.2 Die Phase der Ablösung – Der Übergang vom Elternhaus in eine<br />
Einrichtung 41<br />
3.2.1 Reifung als natürlicher Prozess 41<br />
3.2.2 Der Prozess der Ablösung beginnt schon bei der Geburt 44<br />
3.2.3 Die Bedeutung einer „erfolgreichen“ Trauerarbeit 48<br />
3.2.4 Der Auszug als normative Krise 50<br />
3.3 Fachleute und Eltern – Kooperation statt Konkurrenz 53<br />
4 Möglichkeiten der Begleitung von Ablöseprozessen im Rahmen von<br />
Wohneinrichtungen 56<br />
4.1 Zur Bedeutung des Wohnens für den Menschen 56<br />
4.2 Bedingungsfeld „Brühler Wohnhaus für Menschen mit<br />
Körperbehinderung“ 58<br />
4.2.1 H<strong>ist</strong>orie und Konzeption 58<br />
4.2.2 Bewohner und Personal 60<br />
4.3 Vorüberlegungen zum Konzept einer Ablösebegleitung 61<br />
4.3.1 Methodische Aspekte eines Konzepts 61<br />
4.3.2 Inhaltliche Aspekte 62<br />
3
4.4 Konzeptvorschlag zum Bereich „Ablösebegleitung“ 63<br />
4.4.1 Vorbereitung der Mitarbeiter bzw. Angebote der Institution 64<br />
4.4.2 Begleitung vor / während der Auszugsphase 65<br />
4.4.3 Weitere Angebote an den Bewohner 66<br />
4.4.4 Die Begleitung der Eltern 66<br />
5 Ausblick: Ablösen heißt auch Ankommen... 67<br />
6 Literatur 70<br />
4
0 Problemaufriss<br />
0.1 Das Thema Ablösebegleitung in Wohneinrichtungen<br />
Das Interesse am Themenkomplex „Ablösebegleitung in Wohneinrichtungen“ entstand<br />
aus der Praxis, aus der eigenen Arbeit in einem Wohnhaus für Menschen mit Körperund<br />
Mehrfachbehinderungen. Im Rahmen einer Staatsexamensarbeit für das Lehramt<br />
der Sonderpädagogik begann ich mich mit „Ablöseprozessen“ von <strong>Familien</strong> mit einem<br />
Kind mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung auseinander zusetzen (Universität zu Köln 2001). Diese<br />
Diplomarbeit stellt sozusagen eine Fortsetzung dar. Der Fokus dieser Arbeit liegt dabei<br />
diesmal nicht auf den allgemeinen Abläufen und Zusammenhängen des Ablöseprozesses,<br />
sondern nimmt seinen Ausgangspunkt im Blickwinkel eines professionellen Mitarbeiters<br />
einer Wohneinrichtung. Sie <strong>ist</strong> als Unterstützung für Mitarbeiter in Wohneinrichtungen<br />
konzipiert, daher sind die Inhalte stark mitarbeiterzentriert. Denn:<br />
Damit die Ablösung gelingt, stellen sich aber auch für die Institutionen und die dort Beschäftigten<br />
Aufgaben. Sie müssen über die besonderen Erschwernisse der Ablösung<br />
informiert sein und wissen, dass es kein Zeichen für <strong>man</strong>gelnde Akzeptanz des behinderten<br />
Menschen durch die Eltern <strong>ist</strong>, <strong>wenn</strong> sie diesen nicht verlassen wollen, im Gegenteil.<br />
(KLAUSS 1999, 230)<br />
Ziel <strong>ist</strong> die Entwicklung eines Konzeptes zur Ablösebegleitung, da dies aus meinen<br />
Alltagserfahrungen, aber auch aus Gesprächen mit Eltern und Kollegen als sinnvoll<br />
erscheint. In dieser Arbeit wird dabei weitgehend die konkrete Phase des Auszugs aus<br />
dem Elternhaus betrachtet werden. Das zu entwickelnde Konzept bezieht sich also auf<br />
einen relativ eng begrenzten Zeitraum und betrachtet nur einen Ausschnitt des Ablöseprozesses,<br />
die sogenannte „äußere Ablösung“. Es kann davon ausgegangen werden,<br />
dass verschiedene Facetten der Ablösethematik bereits durch die Erziehung im Elternhaus,<br />
aber auch in der Schule oder Feldern der Behindertenhilfe, welche einer Wohneinrichtung<br />
vorangestellt sind, thematisiert wurden (<strong>wenn</strong> auch in unterschiedlichem<br />
Umfang). Die psychische Ablösung <strong>ist</strong> eine Phase, welche verstärkt in der Pubertät,<br />
also im Jugendalter, stattfindet. Daher wird zum Beispiel die Schule für Ge<strong>ist</strong>igbehinderte<br />
ihre Schüler bei der Entwicklung von entscheidenden Handlungskompetenzen<br />
und einer eigenen Identität qua ihres gesellschaftlichen Auftrags („Selbstverwirklichung<br />
in sozialer Integration“; MINISTERIUM FÜR SCHULE UND WEITERBILDUNG 1996,<br />
25) unterstützen. Besonders in der Werkstufe wird das Thema „Wohnen außerhalb der<br />
Familie“ eine Rolle spielen (vgl. FORNEFELD 2000, 107). Sie <strong>ist</strong> eine wichtige Schnittstelle<br />
beim Übergang in das Erwachsenenleben. KLAUSS stellt dabei fest, dass sich<br />
5
viele Schulen dessen bewusst sind und dementsprechend persönlichkeitsbildende<br />
Themen in den Unterricht aufnehmen (vgl. KLAUSS 1999, 182 ff).<br />
<strong>Normal</strong> <strong>ist</strong>, <strong>wenn</strong> <strong>man</strong> <strong>auszieht</strong>!? Gilt dies auch für Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung?<br />
Folgt <strong>man</strong> NIRJE (z.B.1994) und dem <strong>Normal</strong>isierungsprinzip, so <strong>ist</strong> diese Frage<br />
eindeutig mit „ja“ zu beantworten. Eng mit dem Thema „Auszug aus dem Elternhaus“<br />
<strong>ist</strong> die Ablösungsthematik verbunden. So unterscheiden GUSKI/ LANGLOTZ-<br />
BRUNNER zwischen einer inneren und einen äußeren Ablösung. Die innere Ablösung<br />
bezieht sich auf familieninterne, psychodynamische Prozesse. Sie gilt als emotionale<br />
Loslösung aus dem Schonraum Familie (ZAUNER 1976 zit. nach GUSKI/ LANGLOTZ-<br />
BRUNNER 1991, 38) und <strong>ist</strong> eine Bedingung, damit eine erfolgreiche äußere Ablösung<br />
(das Verlassen des Elternhauses) stattfinden kann. Theoretisch beginnt der Ablöseprozess<br />
schon ab der Geburt, vollzieht sich in vielen kleinen Einzelschritten, um dann<br />
verstärkt im Jugendalter (mit Beginn der Pubertät) bis zum jungen Erwachsenenalter<br />
vollzogen zu werden (vgl. ebd.). Schließlich stellt ein Auszug aus dem Elternhaus einen<br />
vorläufigen Endpunkt im Ablöseprozess dar, obwohl dieser mit dem Auszug in der<br />
Regel noch nicht beendet <strong>ist</strong> (vgl. PAPASTEFANOU 1997, 130). Ablösung vom Elternhaus<br />
bedeutet somit me<strong>ist</strong> nicht eine Auflösung der Eltern-Kind-Beziehung, sondern<br />
eine Umgestaltung (vgl. ebd., 32). Dies gilt für Menschen mit und ohne Behinderung<br />
gleichermaßen. Allerdings können verschiedene Einflussfaktoren den Ablauf dieses<br />
Prozesses bei Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung erschweren und belasten. Der<br />
Wechsel vom System „Elternhaus“ in das System „Wohneinrichtung“ <strong>ist</strong> für alle Beteiligten<br />
(Eltern, Kind und auch Mitarbeiter) verbunden Ängsten, Problemen, aber auch<br />
Chancen. Es erscheint also sinnvoll, dass Möglichkeiten angeboten werden, die Ablösung<br />
und den Auszug von professioneller Seite unterstützend zu begleiten. Immer wieder<br />
sind in der Praxis von Mitarbeitern Sätze zu hören wie „Die haben sich ja nur noch<br />
nicht richtig abgelöst“ oder Eltern äußern Befürchtungen, die Mitarbeiter wollten ihnen<br />
die <strong>Kinder</strong> „wegnehmen“ oder bisher Gele<strong>ist</strong>etes nicht anerkennen. Wie kommt es zu<br />
solchen Sichtweisen und gegenseitigen Missverständnissen? Der Blick in verschiedene<br />
Konzepte und Leitbilder unterschiedlicher Einrichtungen legt den Schluss nahe,<br />
dass das Thema Ablösung und Auszug bisher wenig Aufmerksamkeit seitens der Einrichtungen<br />
erfahren hat. Wenn überhaupt, so gibt es Ablaufschemata, was wann von<br />
wem zu erledigen <strong>ist</strong>. Doch gerade in Einrichtungen der Behindertenhilfe arbeitet ein<br />
„buntes Gemisch“ unterschiedlichster Berufsgruppen mit und ohne spezifischer Berufsausbildung<br />
(vgl. SCHILLER 1994, 8; u. auch KLAUSS 1999, 242). Es erscheint mir<br />
im Sinne von Qualitätsentwicklung daher sinnvoll, für die wichtige Phase der Ablösung<br />
und des Auszugs geeignete Konzepte bereit zu halten, um den Mitarbeitern einer Einrichtung<br />
Orientierungs- und Verständnishilfen zu bieten. Dies kann als notwendige Ba-<br />
6
sis einer guten Zusammenarbeit von Eltern, Bewohnern und Mitarbeitern gesehen<br />
werden.<br />
Zudem kommen mit dem neuen Instrument des „Individuellen Hilfeplanverfahrens“ veränderte<br />
Aufgaben auf Einrichtungen der Behindertenhilfe zu. Mit Wirkung zum<br />
01.08.2003 können Menschen mit einer Behinderung zu einer Einrichtung ihrer Wahl<br />
gehen und sich ihren Bedürfnissen entsprechend einen „Individuellen Hilfeplan“ erstellen<br />
lassen. Dieser wird als eine Grundlage für Le<strong>ist</strong>ungsentscheidungen zur Eingliederungshilfe<br />
(zunächst konzentriert auf Hilfen zum Wohnen) dienen (vgl.<br />
LANDSCHAFTSVERBAND RHEINLAND 2003). Diese Hilfepläne können meiner Meinung<br />
nach gleichzeitig auch als Grundlage dienen, um individuelle Bedürfnisse von<br />
Unterstützungsmaßnahmen des Betroffenen und seiner Familie im Rahmen des Auszugs<br />
festzustellen.<br />
0.2 Aufbau der Arbeit<br />
Als zentraler Aspekt dieser Arbeit gilt die Frage, welches „Grundwissen“ über den Ablöseprozess<br />
brauchen Mitarbeiter in Wohneinrichtungen, um Schwierigkeiten in der<br />
Phase des Auszugs und der Eingewöhnung in ein neues Lebensumfeld seitens aller<br />
Beteiligten zu verstehen? Ziel <strong>ist</strong> es, auf der Basis dieses Wissens ein Konzept zur<br />
Ablösebegleitung zu entwickeln. Die Inhalte der einzelnen Kapitel sind als Bausteine zu<br />
verstehen, welche später in das Konzept einfließen<br />
Wie bereits erwähnt, arbeitet in Einrichtungen der Behindertenhilfe me<strong>ist</strong> eine sehr<br />
heterogene Belegschaft. Um dieser Realität gerecht zu werden und allen Mitarbeitern<br />
einen grundlegenden Wissenshintergrund zu ermöglichen, werden zunächst theoretische<br />
Grundlagen erarbeitet, welche als eine Basis der Arbeit mit Menschen mit Behinderung<br />
und ihren <strong>Familien</strong> gesehen werden können. Das ökologische Modell nach<br />
BRONFENBRENNER beschäftigt sich mit Systemen und ihren Wechselwirkungen mit<br />
der Umwelt. Dieses Modell kann helfen, (zwischen-) menschliche Entwicklungsprozesse<br />
in einem übergeordneten Rahmen zu sehen und sie mit diesem Hintergrund besser<br />
zu verstehen (Kapitel 1). Es dient als theoretischer Überbau der gesamten Arbeit und<br />
des Konzeptes. Ergebnis dieser Sichtweise wird ein „Perspektivenwechsel“ sein in dem<br />
Sinne, dass nicht nur der Bewohner im Zentrum einer Ablösebegleitung steht, sondern<br />
sein gesamtes Lebensumfeld mitbedacht werden muss.<br />
Kapitel 2 lenkt den Blick auf den Mitarbeiter selbst. Welche wissenschaftlichen Leitbilder<br />
der Heilpädagogik prägen die Arbeit mit Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung? Wie<br />
7
verändert sich dadurch das eigene Handlungsverständnis als professioneller Begleiter?<br />
Ablösebegleitung enthält einen großen Anteil an Kommunikation. Welche Bedeutung<br />
haben daher Beratung und Gesprächsführung als heilpädagogische Kompetenz? Des<br />
weiteren <strong>ist</strong> der Alltag in Einrichtungen geprägt von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.<br />
Aufgrund dessen werden kurz jur<strong>ist</strong>ische Rahmenbedingungen erläutert, sofern<br />
sie für die Thematik und das Konzept der Ablösebegleitung relevant sind.<br />
Im weiteren Verlauf betrachtet Kapitel 3 die Familie und ihren Weg bis zum Auszug aus<br />
dem Elternhaus. Im begrenzten Rahmen dieser Arbeit kann dabei nur ein Überblick<br />
über die wichtigsten Aspekte des Ablöseprozesses gegeben werden kann. Entscheidend<br />
<strong>ist</strong> auch, dass hier von einem Personenkreis ausgegangen wird, welcher das<br />
junge Erwachsenenalter bereits erreicht hat und im Rahmen eines vergleichbaren Alters<br />
zu Menschen ohne Behinderung aus dem Elternhaus <strong>auszieht</strong>. Auf die besondere<br />
Problematik eines Auszugs von <strong>Kinder</strong>n oder Jugendlichen mit einer Behinderung wird<br />
nicht eingegangen. Weiteren Überblick zur Ablösethematik in früheren Lebensphasen<br />
und damit zusammenhängenden Aspekten (z.B. Entwicklungsaufgaben des Jugendalters,<br />
Erwachsen werden) geben unter anderen FEHLHABER 1987, HEIMLICH/<br />
ROTHER 1995, HURRELMANN 1999, LEMPP 1987 & 1997, OERTER/ MONTADA<br />
1998, PAPASTEFANOU 1997 und WALTER 1985. Des weiteren erfolgt in dieser Arbeit<br />
die Darstellung von möglichen Konflikten und Lösungsansätzen in der Zusammenarbeit<br />
von Fachleuten und Eltern, da dieser Aspekt in einer Konzeption zur Ablösebegleitung<br />
zentral <strong>ist</strong>.<br />
Darauf aufbauend erfolgt in Kapitel 4 die Entwicklung eines Konzeptes zur Ablösebegleitung<br />
in Wohneinrichtungen. Dabei wird zunächst die Bedeutung des Wohnens für<br />
den Menschen erläutert. Anschließend stelle ich das Bedingungsfeld dar, aus dem die<br />
Arbeit entstand und auf welches es wesentlich bezogen <strong>ist</strong>. Eigene Beobachtungen<br />
und Erfahrungen aus der Praxis, sowie Konsequenzen aus den theoretischen Ausführungen<br />
werden ergänzt durch Erkenntnisse aus Gesprächen mit Eltern und Bewohnern.<br />
Abschließend findet in Kapitel 5 eine Bewertung der Ergebnisse und des Konzeptes<br />
statt und gibt einen Ausblick auf möglicherweise weiterführende Aspekte.<br />
Der besseren Lesbarkeit halber verwende ich in dieser Arbeit zume<strong>ist</strong> die männliche<br />
Schreibweise.<br />
Zudem wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff „Mensch, Kind etc. mit (ge<strong>ist</strong>iger)<br />
Behinderung“ verwendet. Damit wird eine allgemeine Kategoriebezeichnung (wie<br />
Mensch) der Kennzeichnung einer besonderen Lebenslagenproblematik vorangestellt.<br />
Unzulänglichkeiten des Begriffs werden dabei in Kauf genommen, da es sich trotz al-<br />
8
lem um einen gängigen Begriff in der Fachliteratur handelt (vgl. auch FORNEFELD<br />
2000, 50).<br />
Da der Ablöseprozess nicht nur beim Personenkreis „Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung“,<br />
sondern auch bei Menschen mit anderen „Behinderungsformen“ teilweise erschwert<br />
<strong>ist</strong> (wie ich es aus meiner Berufserfahrung und Gesprächen mit körper- und<br />
mehrfachbehinderten Menschen und deren Eltern feststellen konnte), werde ich auf<br />
eine besondere Hervorhebung des Aspekts „ge<strong>ist</strong>ige Behinderung“ nur bei Bedarf eingehen,<br />
ansonsten aber allgemein von „Menschen mit Behinderung“ sprechen.<br />
Der Begriff „Kind“ wird im Zusammenhang dieser Arbeit in Bezug auf die Stellung des<br />
Menschen mit Behinderung im <strong>Familien</strong>system verwendet.<br />
Zitate sind durch Schriftgröße 10 und kursive Schreibweise kenntlich gemacht, Hervorhebungen<br />
im Original werden fett geschrieben.<br />
1 Die systemisch-ökologische Perspektive in der Heilpäda-<br />
gogik<br />
1.1 Die Bedeutung systemischen Denkens für die Heilpädagogik<br />
Es gibt nicht die Wirklichkeit, und es gibt nicht die richtige Methode, sondern es gibt<br />
das Bemühen, die komplexe Realität aus verschiedenen Perspektiven zu erfassen.<br />
(PETZOLD 1993 zit. nach HÄHNER 1999, 132.)<br />
In der Heilpädagogik haben seit den 1980er Jahren verstärkt systemtheoretische Sichtweisen<br />
Einzug gehalten. Dazu gehören sowohl Konzepte wie die „Allgemeine dynamische<br />
Systemtheorie“ zu der auch MATURANAs und VARELAs Ansatz (1987) zählt, als<br />
auch der „sozialökologische Syste<strong>man</strong>satz“ von BRONFENBRENNER (1981). Eine<br />
gute Übersicht zur Systemtheorie in der Heilpädagogik bietet ECKERT (1998) 1 .<br />
Mit einer systemischen Betrachtung des Menschen und seiner Umwelt, werden monokausale,<br />
lineare und einseitige, sowie vermeintlich objektive Erklärungsansätze für die<br />
Heilpädagogik unbrauchbar. SPECK (1998) hat in seinem Standardwerk „System Heilpädagogik“<br />
die Bedeutung und Auswirkungen eines (öko-)systemtheoretischen Ansatzes<br />
für die Heilpädagogik herausgearbeitet:<br />
1 ECKERT, A.: Perspektivenerweiterung in der Heilpädagogik. Zur Praxisrelevanz systemtheoretischer<br />
Gedanken in heilpädagogischen Arbeitsfeldern. In: Vierteljahresschrift f. Heilpädagogik u. ihre Nachbargebiete<br />
67 (1998) 2, S. 165-177.<br />
9
Eine systemtheoretische Sicht der Heilpädagogik entspricht einem von der hochdifferenzierten<br />
und vernetzten Wirklichkeit her bedingten Erfordernis, das Aufeinandereinwirken<br />
der verschiedenen Teile in bedeutsamen Zusammenhängen zu sehen, und<br />
damit sinnvolle Kommunikation und Kooperation zu ermöglichen. (SPECK 1998, 100)<br />
Somit führt das Denken in Kontexten unter Berücksichtigung von Wechselwirkungen<br />
mit anderen Ebenen und Beziehungen zu entscheidenden Auswirkungen auf pädagogisches<br />
und andragogisches 2 Handeln.<br />
So sehr auch beim Reden vom ‚behinderten’ Menschen dieser in den Vordergrund der<br />
Reflexion tritt, so wird die ‚Behinderung’ nicht einfach ‚bei ihm’ vorgefunden. Die entsprechenden<br />
Bedingungsfelder (i.S.v. Lebensbedingungen; Anm. d.Verf.) und die sozialen<br />
Bezüge sind nicht abtrennbar. Erziehung (Beratung, Unterstützung; Anm. d.<br />
Verf.) erstreckt sich daher nicht einfach auf die einzelnen zu Erziehenden (zu Beratenden,<br />
zu Unterstützenden; Anm. d. Verf.), sondern auch auf die sozialen Gruppen, denen<br />
sie angehören oder zu denen sie in Kontakt treten, insgesamt also auf ein Interaktionsfeld.<br />
(SPECK 1998, 325)<br />
Anhand der zentralen Begriffe „System“ und „Umwelt“ wird im Folgenden der systemtheoretische<br />
Grundgedanke erläutert, welcher dieser Arbeit zugrunde liegt. Dabei werde<br />
ich zunächst dem Ansatz MATURANAs und VARELAs nach ECKERT darstellen,<br />
um dann in Kapitel 1.2 näher auf den Ansatz BRONFENBRENNERs einzugehen.<br />
Jedes System (wobei es sich dabei sowohl um Individuen als auch um soziale Gruppen<br />
oder Institutionen handeln kann) stellt eine Einheit dar mit einer eigenen Organisationsform<br />
und eigenen Bedürfnissen. Dadurch lässt sich ein System von seiner Umwelt<br />
unterscheiden. Gleichzeitig steht jedes System mit seiner Umwelt (zu der wiederum<br />
andere Systeme gehören) im wechselseitigen Austausch. Dies wird beschrieben als<br />
operationale Geschlossenheit bei gleichzeitiger Offenheit mit eigener Struktur nach<br />
außen hin (vgl. SPECK 1998, 108). Systeme sind autonom, dass heißt, sie folgen ihren<br />
eigenen Gesetzmäßigkeiten (vgl. MATURANA/ VARELA 1987, 54ff). Gleichzeitig können<br />
durch Anstöße von außen („Perturbation“ genannt) Anregungen zur Veränderung<br />
gegeben werden. Das System versucht von außen kommende Informationen aus der<br />
Umwelt (i.S.v. Perturbationen) in einem Prozess des Zueinanderpassens mit der systemeigenen<br />
Struktur zu verbinden. Diesen Prozess bezeichnen MATURANA/ VARELA<br />
(1987) als „strukturelle Koppelung“ (vgl. ECKERT 1998, 168; MATURANA/ VARELA<br />
1987, 85ff).<br />
‚Ziel’ allen Handelns eines Systems (sei es nun ein Mensch oder eine Institution) <strong>ist</strong> es,<br />
das eigene Gleichgewicht und die Funktionsfähigkeit zu erhalten oder wieder herzustellen.<br />
Direkte Fremdeinwirkungen oder Fremdbestimmungen (mit dem Ziel vorhersagbarer<br />
Auswirkungen), zum Beispiel durch pädagogische Maßnahmen oder gutge-<br />
2 Andragogik bezieht sich im Gegensatz zur Pädagogik auf die Arbeit mit Erwachsenen. Da sich diese<br />
Arbeit ebenfalls auf eine Ablösebegleitung von erwachsenen Menschen mit Behinderung bezieht, werde<br />
ich diesen Begriff verwenden, <strong>wenn</strong> es um konkrete Angebote an den erwachsenen Personenkreis geht.<br />
10
meinte Ratschläge, sind nicht möglich (vgl. ECKERT 1998, 168). Der Mensch bleibt<br />
auch während erzieherischer Maßnahmen der Akteur seiner eigenen Entwicklung<br />
(SPECK 1989, 167 zit. nach SACK 1999, 197).<br />
In Bezug auf dieser Arbeit könnte dies bedeuten: Ein Wohnheim <strong>ist</strong> durch bestimmte<br />
Merkmale (wie z.B. anerkannte Einrichtung der Behindertenhilfe, Bewohner leben dort<br />
mit Hilfe von Personal etc.) als ‚Organisation’ gehörend zur Klasse der Wohnheime zu<br />
erkennen. Die ‚Struktur’ (d.h. z.B. die Art der Einrichtung, Konzeption, Art des Personals<br />
und der Bewohner) <strong>ist</strong> dabei von Wohnheim zu Wohnheim verschieden. Gleichzeitig<br />
steht das Wohnheim als eigenständiges System ständig mit seiner Umwelt und anderen<br />
Systemen in Kontakt und Austausch. Anregungen (Perturbationen), wie zum<br />
Beispiel neue Gesetze, Personal- oder Bewohnerwechsel, können beim System wiederum<br />
Strukturveränderungen auslösen, die von Wohnheim zu Wohnheim unterschiedlich<br />
sein können. Gleiches ließe sich auch auf jeden einzelnen Menschen übertragen.<br />
ECKERT (1998) fasst die Bedeutung systemischen Denkens für die eigene Arbeit wie<br />
folgt zusammen: Systemisches Denken<br />
• Entspricht dem Versuch, [der] komplexen Lebenswirklichkeit durch ein Denken<br />
in Zusammenhängen gerecht zu werden<br />
• Bedeutet, Vielfältigkeiten verstehen zu lernen und Wechselwirkungen unterschiedlichster<br />
Handlungen in Gedanken einzubeziehen<br />
• Meint mehrperspektivische Sichtweisen einem einseitigen, häufig durch ‚Fachwissen’<br />
eng begrenzten Denken gegenüberzustellen<br />
• Heißt, in der Begleitung eines behinderten Menschen seine individuellen Bedürfnisse<br />
und Möglichkeiten sowie den Kontext seines konkreten Lebensumfeldes,<br />
seiner aktuellen Lebenssituation zu berücksichtigen. (ECKERT 1998, 166f)<br />
Im Folgenden wird auf den Ansatz BRONFENBRENNERs genauer eingegangen, da<br />
dieser als praxisrelevant anzusehen <strong>ist</strong> (vgl. z.B. SEIFERT 1997a, SPECK 1998). In<br />
diesem Modell wird in übersichtlicher Form das Zusammenspiel unterschiedlicher Systemebenen<br />
dargestellt (vgl. auch ECKERT 1998, 167). Somit wird hier die Unterscheidung<br />
zwischen System und Umwelt nochmals differenziert, hinsichtlich verschiedener<br />
Subsysteme. Der ökologisch-heilpädagogische Ansatz als Folge daraus will ein Auseinanderklaffen<br />
von Fachlichkeit und Lebensweltlichkeit im heilpädagogischen Erkennen<br />
und Handeln (SPECK 2001, 43) überwinden. Dieser Ansatz wird somit als theoretische<br />
Grundlage der gesamten vorliegenden Arbeit dienen, um das tripolare Beziehungsgeflecht<br />
zwischen Eltern, Kind und professionellen Begleitern besser verstehen<br />
zu können und Handlungsmöglichkeiten daraus abzuleiten.<br />
11
1.2 Das ökosystemische Modell nach BRONFENBRENNER – eine Einführung<br />
Unter „Ökologie“ lässt sich nach SPECK (2001) in weitem Sinne die Lehre vom Zusammenwirken<br />
alles Lebendigen verstehen. (SPECK 2001, 43) Die ökologische Sichtweise<br />
<strong>ist</strong> dadurch geprägt, dass sie die Umwelt als einen Satz ineinander geschachtelter<br />
Strukturen und Systeme versteht. Jeder Mensch als individuelles System steht in<br />
Wechselwirkung mit seiner Umwelt und <strong>ist</strong> auch immer Teil größerer (Öko-) Systeme<br />
(vgl. ebd.). Zu unterscheiden <strong>ist</strong> hierbei zwischen der potentiellen (SEIFERT 1997,<br />
183) Umwelt, dass heißt derjenigen, in der sich das Individuum „objektiv“ befindet und<br />
der rezipierten (ebd.), das heißt diejenige, welche das Individuum wahrnimmt und die<br />
für sein Handeln bedeutsam <strong>ist</strong>. Es wird davon ausgegangen, dass die ständig bestehenden<br />
Wechselwirkungen zwischen diesen Systemebenen die Entwicklung einer Person<br />
entscheidend beeinflussen (vgl. hierzu BRONFENBRENNER 1981, 23f). Das Modell<br />
BRONFENBRENNERs findet auch in der Arbeit mit Menschen mit einer Behinderung<br />
und ihren <strong>Familien</strong> verstärkt Beachtung. Eine<br />
ganzheitliche Sicht auf den Lebenszusammenhang der Familie, mit dem Ziel Verhaltensweisen<br />
zu verstehen, Bedürfnisse zu erkennen und Ansätze zu wirksamer Unterstützung<br />
im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe zu finden (SEIFERT 2001, 249)<br />
kann als Qualitätsmerkmal nicht nur für die Kooperation mit den Eltern, sondern für die<br />
gesamte Arbeit im Bereich der Behindertenhilfe gesehen werden. Diese Sichtweise<br />
kann zum Verständnis von Teamauseinandersetzungen genauso angewendet werden,<br />
wie bei dem Versuch, ein bestimmtes Verhalten eines Bewohners aufgrund seines<br />
Lebenskontextes zu erklären. Interaktion und Kommunikation erhalten erhöhte Bedeutung<br />
(Speck 2001, 44). Angebote sollten sich an einer „ökosystemischen Landkarte“<br />
nach KÄSER (1993) orientieren, um Bedürfnisse und Einflüsse besser erkennen zu<br />
können. Auf einer solchen ‚Landkarte’ ließen sich sowohl unveränderliche Systemaspekte<br />
(wie „benötigt einen Rollstuhl“) und Knotenpunkte, als auch vielfältige Vernetzungen<br />
und Interdependenzen verdeutlichen (vgl. auch SPECK 2001). Damit ließen<br />
sich sowohl Bedürfnisse als auch vorhandene Ressourcen gemeinsam feststellen und<br />
der Prozess des Sicheinlebens in Wechselwirkung mit anderen Menschen und Faktoren<br />
gestalten. Alle Angebote können dabei nur als Anregungen mit dem Ziel der Hilfe<br />
zur Selbsthilfe sein. Das ökologische System, also der konkrete Lebensraum und seine<br />
Gestaltung rücken dabei in den Vordergrund der Betrachtung, nicht die vermeintliche<br />
Behinderung (vgl. auch SACK 1999, 197). Menschliche (Weiter-) Entwicklung kann<br />
nach BRONFENBRENNER als Ergebnis der Wechselwirkungen von System und Umwelt<br />
beschrieben werden. Mit den Worten von BRONFENBRENNER:<br />
12
Die Ökologie der menschlichen Entwicklung befaßt sich mit der fortschreitenden gegenseitigen<br />
Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den<br />
wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche. Dieser Prozeß wird<br />
fortlaufend von den Beziehungen dieser Lebensbereiche untereinander und von den<br />
größeren Kontexten beeinflußt, in die sie eingebettet sind. (BRONFENBRENNER<br />
1981, 37)<br />
BRONFENBRENNER beschrieb zunächst vier, sich gegenseitig beeinflussende Systemebenen<br />
als Struktur einer ökologisch verstandenen Umwelt (Mikro-, Meso-, Exound<br />
Makrosystem). Diese vier Ebenen erweiterte er später um eine fünfte, welche den<br />
Zeitaspekt berücksichtigt (Chronosystem). Nach SEIFERT (1997) bezeichnet<br />
BRONFENBRENNER sein Modell als<br />
theoretisches Schema zur systematischen Beschreibung und Analyse sozialer Kontexte,<br />
der Verbindungen zwischen ihnen und der Vorgänge, durch die diese Strukturen<br />
den Gang der Entwicklung direkt oder indirekt beeinflussen können. (SEIFERT 1997,<br />
197)<br />
Im Folgenden werden die Ebenen einzeln dargestellt und jeweils zur Verdeutlichung<br />
mit Beispielen erläutert 3 .<br />
1.2.1 Die Ebene der Mikrosysteme<br />
Der Begriff Mikrosystem stellt im BRONFENBRENNERschen Modell die niedrigste<br />
Systemebene der Umwelt dar und <strong>ist</strong> wie folgt definiert:<br />
Ein Mikrosystem <strong>ist</strong> ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen<br />
Beziehungen, das die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen<br />
Lebensbereich mit seinen eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen<br />
erlebt.<br />
Ein Lebensbereich <strong>ist</strong> ein Ort, an dem Menschen leicht direkte Interaktion mit andern<br />
aufnehmen können. Tätigkeit (oder Aktivität), Rolle und zwischenmenschliche Beziehung<br />
sind die Elemente (oder Bausteine) des Mikrosystems. (BRONFENBRENNER<br />
1981, 38)<br />
Beziehungen in beide Richtungen, sog. „Dyaden“ (als kleinste Beziehungseinheit zwischen<br />
zwei Systemen; erweiterbar auf Triaden, Tetraden usw.) sind der Grundbaustein<br />
des Mikrosystems und bilden den Kontext für Entwicklung (vgl. ebd., 71). Außerdem<br />
betont die Verwendung des Wortes „erleben“, wie in Kapitel 1.2 erläutert, die Bedeutung<br />
der „rezipierten“ als subjektiv wahrgenommener Umwelt, neben der „objektiven“<br />
Umwelt (vgl. auch BRONFENBRENNER 1981, 38). „Familie“ und „Wohngruppe“ können<br />
als unmittelbares Umfeld, in der eine Person lebt, im Sinne eines Mikrosystems<br />
3 Dabei werde ich auf die an den an BRONFENBRENNER orientierten Übertragungen von PETZOLD<br />
(2001) und SEIFERT (1997) auf die Systeme „Familie bzw. „Wohnbereich“ zurück greifen. (genaue Lit.-<br />
Angabe s. Literaturverzeichnis)<br />
13
interpretiert werden. Die dazu gehörenden personellen, physischen und materiellen<br />
Bedingungen können sein: Belastbarkeit, Größe der Familie oder Wohngruppe, Wohnverhältnisse<br />
(vgl. auch PETZOLD 2001; SEIFERT 1997a, 185f). Die Feststellung von<br />
STEINGLASS, dass <strong>Familien</strong>systeme im Laufe des familialen Lebenszyklus nach zwei<br />
Prinzipien funktionieren, nämlich der Morphostase (Streben nach Aufrechterhaltung<br />
von Stabilität) und der Morphogenese (Veränderung bzw. Wachstum der Familie)<br />
(STEINGLASS 1987 zit. nach PAPASTEFANOU 1997, 91), kann auf alle anderen Systeme<br />
übertragen werden und stellt einen wichtigen Aspekt dar. Das Mikrosystem beinhaltet<br />
Subsysteme. Für Familie wären dies zum Beispiel die Subsysteme Elternbehindertes<br />
Kind, behindertes Kind- Geschw<strong>ist</strong>er; für eine Wohngruppe Bewohner-<br />
Betreuer, Bewohner-Mitbewohner, Betreuer-Betreuer usw. Die Subsysteme stehen in<br />
wechselseitiger Interaktion, welche nicht isoliert vom Gesamtsystem gesehen werden<br />
kann. Hier spielen die im voran gegangenen Kapitel erläuterten Systemeigenschaften<br />
eine Rolle:<br />
In der Interaktion zwischen Individuen (verstanden als System nach MATURANA/<br />
VARELA; Anm. d. Verf.) spielen anlage- und erfahrungsbedingte Persönlichkeitsmerkmale<br />
und die subjektive Wahrnehmung der Situation eine Rolle (SEIFERT 1997a, 186)<br />
Hierdurch werden Verlauf und Qualität der Interaktion wesentlich mitbestimmt. Sogenanntes<br />
„auffälliges Verhalten“ kann beispielsweise als Ergebnis sozialer Interaktion<br />
verstanden werden, welches durch Interaktion hervorgerufen wird und auch wieder<br />
veränderbar <strong>ist</strong> (vgl. a.a.O., 188). Konflikte beispielsweise im Subsystem Eltern-<br />
Betreuer können zur Belastung des Bewohners führen, der sozusagen „dazwischen“<br />
steht und mit entsprechendem Verhalten nach Lösungen sucht.<br />
Wechselt eine Person aus seinem bisherigen Lebensbereich in einen anderen (z.B.<br />
durch einen Auszug aus dem Elternhaus), findet ein sogenannter „ökologischer Übergang“<br />
statt:<br />
Ein ökologischer Übergang findet statt, <strong>wenn</strong> eine Person ihre Position in der ökologisch<br />
verstandenen Umwelt durch einen Wechsel ihrer Rolle, ihres Lebensbereiches<br />
oder beider verändert. (BRONFENBRENNER<br />
1981, 43)<br />
Solche Übergänge finden das ganze Leben lang auf allen Systemebenen statt und sind<br />
der Anstoß zu einem neuen Entwicklungsprozess (vgl. ebd.). Damit wird der ursprüngliche<br />
Lebensbereich um weitere Mikrosysteme erweitert. Neue Rollen, verstanden als<br />
ein Satz von Verhaltensweisen und Erwartungen, die mit einer Stellung in der Gesellschaft<br />
assoziiert werden (BRONFENBRENNER 1981, 41) kommen hinzu. So wird zum<br />
Beispiel aus dem „Kind der Familie“ zusätzlich „der Bewohner der Wohngruppe“. Es<br />
folgt ein Prozeß gegenseitiger Anpassung zwischen Organismus und Umgebung.<br />
(BRONFENBRENNER 1981, 43)<br />
14
1.2.2 Die Ebene der Meso- und Exosysteme<br />
Mit der Mesosystemebene steigt die Komplexität der Umwelt:<br />
Ein Mesosystem umfaßt die Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an<br />
denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt <strong>ist</strong>.[...]Ein Mesosystem <strong>ist</strong> somit ein<br />
System von mehreren Mikrosystemen. (BRONFENBRENNER 1981, 41)<br />
Dies könnten bezogen auf diese Arbeit die Beziehungen zwischen dem Bewohner und<br />
seinem Elternhaus, seiner Wohngruppe und der Werkstatt sein. Gleichzeitig stellen die<br />
Wechselwirkungen zwischen Betreuern und den Eltern oder zwischen Wohnhaus und<br />
Werkstatt ebenfalls Mesosysteme dar (vgl. SEIFERT 1997a, 195) und beeinflussen die<br />
Entwicklung des Menschen mit Behinderung. Herrscht Kooperation zwischen Eltern<br />
und Mitarbeitern der Einrichtung, wird dies andere Auswirkungen auf den Bewohner<br />
haben, als <strong>wenn</strong> zwischen beiden Mikrosystemen Konkurrenzdenken besteht (vgl.<br />
auch Kap 3.3 dieser Arbeit).<br />
Während die jeweils fokussierte Person auf der Mesosystemebene direkten handelnden<br />
Einfluss nimmt, <strong>ist</strong> sie an der Exosystemebene nicht aktiv beteiligt. Dennoch bestehen<br />
relevante Einwirkungen:<br />
Unter Exosystem verstehen wir einen Lebensbereich oder mehrere Lebensbereiche,<br />
an denen die sich entwickelnde Person nicht selbst beteiligt <strong>ist</strong>, in denen aber Ereignisse<br />
stattfinden, die beeinflussen, was in ihrem Lebensbereich geschieht, oder die<br />
davon beeinflußt werden. (BRONFENBRENNER 1981, 42)<br />
Dies könnten beispielsweise für einen Bewohner die Teamebenen von Gruppenmitarbeitern<br />
und Hausleitung sein, in denen Absprachen getroffen werden, Vorschriften mitgeteilt<br />
werden oder Ähnliches, sofern hier keine Mitsprache von Bewohnern möglich<br />
<strong>ist</strong>.<br />
Mikro-, Meso- und Exosystem sind wiederum in zwei übergeordnete Systemebenen<br />
eingebettet.<br />
1.2.3 Makro- und Chronosystem<br />
Der Begriff des Makrosystems bezieht sich auf die grundsätzlich formale und inhaltliche<br />
Ähnlichkeit der Systeme niedrigerer Ordnung (Mikro-, Meso- und Exo-), die in der<br />
Subkultur oder der ganzen Kultur bestehen oder bestehen könnten, einschließlich der<br />
15
ihnen zugrunde liegenden Weltanschauungen und Ideologien. (BRONFENBRENNER<br />
1981, 42)<br />
SEIFERT (1997a) stellt fest, dass BRONFENBRENNERs Definition hier sehr allgemein<br />
gehalten <strong>ist</strong>. Seine Beschreibung zielt auf das gesamte Gesellschaftssystem, in welche<br />
die oben beschriebenen Teilsysteme eingebettet sind. Ökonomische, kulturelle, technologische,<br />
rechtliche und politische Bedingungen einer Gesellschaft spielen hier eine<br />
Rolle. Bezogen auf das Thema dieser Arbeit ließe sich konkretisieren: ethische Positionen<br />
einer Gesellschaft bezüglich „Behinderung“, gesellschaftliche Rollenmuster zu<br />
„Elternschaft eines behinderten Kindes“, sozialrechtliche Bestimmungen, welche zum<br />
Beispiel Auswirkungen auf die Wohnmöglichkeiten von (schwer-) behinderten Menschen<br />
haben, Ausbildungsstandards des Personals, Barrierefreiheit des Lebensraumes<br />
und vieles mehr (vgl. SEIFERT 1997a, 196f). Die Rahmenbedingungen für <strong>Normal</strong>isierung<br />
und Lebensqualität, Mitbestimmung und Teilhabe werden hier geschaffen.<br />
Hinzu kommt die Ebene des Chronosystems, mit der BRONFENBRENNER ergänzend<br />
die Zeitdimension einführte. Diese <strong>ist</strong> für das Verständnis von Entwicklungsprozessen<br />
(wie z.B. Ablösung aus dem Elternhaus oder Einzug und Eingewöhnung in eine Wohneinrichtung)<br />
unabdingbar. Nach PETZOLD wird mit dieser Ebene nun auch die Entwicklung<br />
familiärer Zusammenhänge in Abhängigkeit vom Alter beschreibbar (vgl.<br />
PETZOLD 2001).<br />
Aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt sich der theoretische Bezugsrahmen<br />
für diese Arbeit. Ein Konzept zur Ablösebegleitung in Anlehnung an eine systemischökologische<br />
Perspektive sollte sowohl Mitarbeiter, als auch Eltern und den neuen Bewohner,<br />
sowie die bereits vorhandenen weiteren Strukturen berücksichtigen. Dabei<br />
geht es nicht um die einzelnen Personengruppen, sondern um die Mesosysteme, die<br />
sie bilden und ihre Einbettung in das Makrosystem unserer Gesellschaft. Mit einem<br />
Auszug aus dem Elternhaus in eine Wohneinrichtung ergibt sich die Notwendigkeit,<br />
zwei Mikrosysteme miteinander in ein Gleichgewicht zu bringen. In diesem Sinne gilt<br />
es, das Modell BRONFENBRENNERs in den weiteren Ausführungen im Hinterkopf zu<br />
behalten.<br />
1.3 Exkurs: Behinderung aus öko-systemischer Sicht<br />
Folgende Ausführungen sollen die Auswirkungen einer systemisch-ökologischen Perspektive<br />
auf das Phänomen „Behinderung“ aufzeigen. Das Verständnis von „Behinderung“<br />
<strong>ist</strong> kultur- und beziehungsabhängig und wirkt ebenso auf das Leben der als behindert<br />
wahrgenommenen Menschen, wie die soziale Umwelt mit ihren Norm- und<br />
16
Sanktionssystemen (vgl. SPECK 1997a, 62; sowie die Ausführungen aus Kap. 1.2).<br />
Mit der Veränderung dieser Sichtweisen wiederum können sich auch Rollen und Chancen<br />
der betroffenen Menschen verändern. Somit <strong>ist</strong> es Aufgabe der Ge<strong>ist</strong>igbehindertenpädagogik,<br />
die Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung zum Subjekt ihres Denkens<br />
und Handelns (FORNEFELD 2000, 162) zu machen. Dazu <strong>ist</strong> es nötig, ihre Lebensräume<br />
und -ansprüche zu „normalisieren“, ihnen Möglichkeiten zur Selbstbestimmung<br />
zu geben und ihnen die Ass<strong>ist</strong>enz zu gewähren, welche sie zur Bewältigung ihres Lebens<br />
benötigen (vgl. FORNEFELD 2000, 162).<br />
Die Heil- und Sonderpädagogik verabschiedet sich von der einseitigen medizinischdefektologischen<br />
Sichtweise von „Ge<strong>ist</strong>iger Behinderung“, was nicht bedeutet, dass die<br />
medizinische Perspektive bedeutungslos wird. Vielmehr wird als Folge der systemischen<br />
Sichtweise versucht, Behinderung als ein Zusammenwirken verschiedener, den<br />
Menschen mit (ge<strong>ist</strong>iger) Behinderung umgebenden und beeinflussenden, Faktoren zu<br />
beschreiben. Damit nähert die Pädagogik sich der Komplexität des Phänomens „Behinderung“<br />
an. So erklärt beispielsweise SPECK, dass sich der Behinderungsbegriff<br />
aus verschiedenen Teilbegriffen zusammensetzt: einer organischen Schädigung (Zentralnervensystem),<br />
individuellen Persönlichkeitsfaktoren und aus sozialen Bedingungen<br />
und Einwirkungen. (SPECK 1997a, 40) Das Wechselspiel dieser Aspekte ergibt das,<br />
was als „Ge<strong>ist</strong>ige Behinderung“ bezeichnet wird (vgl. ebd.). Als beispielhaft kann hier<br />
das Verständnis der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dargelegt in der ICF 4 , gelten.<br />
Die WHO versucht hiermit eine gemeinsame standardisierte Sprache zur internationalen<br />
und interdisziplinären Kommunikation zur Verfügung zu stellen (vgl.<br />
FORNEFELD 2000, 47).<br />
Unter ‚Behinderung’ versteht die WHO die negative Wechselwirkung zwischen einer<br />
Person mit einem Gesundheitsproblem (ICD) und ihren Kontextfaktoren auf ihre Funktionsfähigkeit<br />
(insbesondere die Teilhabe an einem oder mehreren Lebensbereichen).<br />
(SCHUNTERMANN 2001, 23)<br />
Die ICF <strong>ist</strong> die Nachfolgerin der ICIDH 5 , wodurch das bisherige bio-psycho-soziale Modell<br />
deutlich erweitert wurde und die Lebenswirklichkeit der Betroffenen stärker berücksichtigt<br />
wird. Durch Berücksichtigung des Lebenshintergrundes und der Kontextfaktoren<br />
(wie physikalische Umweltfaktoren und soziale/ personenbezogene Faktoren) stehen<br />
nicht mehr ihre „Defizite“ im Vordergrund, sondern ihre individuellen Möglichkeiten,<br />
sowie ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Der Fokus richtet sich also stärker<br />
auf die sozialen Konsequenzen einer organischen Schädigung (vgl. SCHUNTERMANN<br />
2001, 23; FORNEFELD 2000, 47ff). Sozialpolitisch wirksam wurde diese Veränderung<br />
4 International Classification of Functioning, Disability and Health, verabschiedet im Mai 2001.<br />
5 International Classification of Impairment, Disability and Handicap von 1980.<br />
17
durch eine Veränderung der Maßnahmen zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter<br />
Menschen (geregelt im neunten Sozialgesetzbuch [SGB IX]). Es gilt die Lebenswirklichkeit<br />
des Menschen mit Behinderung zu betrachten und vorhandene Hemmnisse<br />
abzubauen (gesellschaftlich, physikalisch und sozial), damit Teilhabe und Selbstbestimmung<br />
möglich wird. Konkret auf diese Arbeit bezogen hieße dies (z.B. mit dem<br />
Individuellen Hilfeplan) zu schauen, welche Faktoren beeinflussen den Ablöseprozess<br />
im Einzelnen und wo sind möglicherweise unterstützende Angebote nötig?<br />
18
2 Zentrale Aspekte zum Handlungsverständnis der profes-<br />
sionellen Begleiter in Wohneinrichtung<br />
2.1 Leitbilder der Heilpädagogik<br />
In der Heilpädagogik allgemein, hier in der Ge<strong>ist</strong>igbehindertenpädagogik wird seit geraumer<br />
Zeit von einem Perspektivenwechsel gesprochen (z.B. bei FORNEFELD 2000,<br />
47), welcher in den Leitgedanken <strong>Normal</strong>isierung, Selbstbestimmung, Empowerment<br />
und Integration zum Ausdruck kommt. Dies hat Auswirkungen auf das Handlungsverständnis<br />
von Mitarbeitern in Institutionen der Behindertenhilfe. In den folgenden Unterkapiteln<br />
werden diese Leitbilder kurz erläutert, um anschließend die Auswirkungen auf<br />
die professionelle Unterstützung von Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung darzustellen.<br />
2.1.1 <strong>Normal</strong>isierung<br />
Die Grundlage für den Perspektivenwechsel bildet seit den 1960er Jahren das sogenannte<br />
<strong>Normal</strong>isierungsprinzip. Dieses Prinzip (zurück gehend auf BANK-MIKKELSEN<br />
1959; NIRJE 1969; WOLFENSBERGER 1972) kann als umfassendes normatives Orientierungsprinzip<br />
für die soziale und pädagogische Gestaltung hu<strong>man</strong>er Lebensbedingungen<br />
für Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung bezeichnet werden (vgl. SPECK<br />
1997a, 162). Dabei geht es um die Gestaltung von Lebensbedingungen, wie sie in der<br />
jeweiligen Kultur, in welcher der Mensch mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung lebt, als „normal“ für<br />
die nichtbehinderten Mitglieder gelten.<br />
Das <strong>Normal</strong>isierungsprinzip bedeutet, dass <strong>man</strong> richtig handelt, <strong>wenn</strong> <strong>man</strong> für alle<br />
Menschen mit ge<strong>ist</strong>igen oder anderen Beeinträchtigungen oder Behinderungen Lebensmuster<br />
und alltägliche Lebensbedingungen schafft, welche den gewohnten Verhältnissen<br />
und Lebensumständen ihrer Gemeinschaft oder ihrer Kultur entsprechen<br />
oder ihnen so nah wie möglich kommen. (NIRJE zit. nach SPIEGEL 1999, 78)<br />
In Bezug auf den Zeitpunkt des Auszugs von Zuhause bedeutet dies zum Beispiel,<br />
dass junge Erwachsene mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung etwa im gleichen Alter ausziehen,<br />
wie dies bei Menschen ohne Behinderung (also ca. im Alter von 20-30 Jahren) der Fall<br />
<strong>ist</strong> (vgl. auch SEIFERT 1998, 164). Dazu findet sich bei PAPASTEFANOU (1997, 82f)<br />
allerdings der Hinweis, dass sich der Zeitpunkt des Auszugs junger Erwachsener ohne<br />
Behinderung nach hinten verschiebt, was teilweise auf sozio-ökonomische Faktoren<br />
zurückzuführen <strong>ist</strong> (s. auch schon bei WILLI 1987). Dennoch gehört das Verlassen des<br />
19
Elternhauses zur normalen Erfahrung im Ablauf des Lebenszyklus“ (NIRJE 1994 zit.<br />
nach SPIEGEL 1999, 79).<br />
Letztendlich <strong>ist</strong> das Ziel des <strong>Normal</strong>isierungsprinzips neben der Hu<strong>man</strong>isierung der<br />
Lebensbedingungen von Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung die Integration dieses<br />
Personenkreises in unsere Gesellschaft. Integration kann auf verschiedenen Ebenen<br />
stattfinden: räumlich, funktional, sozial, personal, gesellschaftlich und organisatorisch<br />
(vgl. SEIFERT 1997a, 27). So ließe sich beispielhaft die „personale Integration“ erläutern.<br />
Dazu schreibt SEIFERT:<br />
Das Privatleben wird, durch dem Lebensalter entsprechende persönliche Beziehungen<br />
zu nahestehenden Menschen, als emotional befriedigend erlebt. Im Erwachsenenalter<br />
beinhaltet dies ein möglichst selbstbestimmtes Leben außerhalb des Elternhauses.<br />
(SEIFERT 1997a, 28)<br />
Andere Aspekte der Integration beziehen sich auf die Rahmenbedingungen innerhalb<br />
einer Gesellschaft, wie zum Beispiel barrierefreie Stadtgestaltung, dass Wohneinrichtungen<br />
für Menschen mit Behinderung sich in „normalen“ Wohngebieten befinden oder<br />
rechtliche Maßgaben, die ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben von<br />
Menschen mit Behinderung ermöglichen sollen.<br />
WOLFENSBERGER erweiterte 1972 das <strong>Normal</strong>isierungsprinzip und definierte es als<br />
Aufwertung des sozialen Image (vgl. THIMM 1988 zit. nach SPIEGEL 1999, 80). Für<br />
ihn <strong>ist</strong> <strong>Normal</strong>isierung mit physischer und sozialer Integration gleich zu setzen, mit der<br />
Bedeutung einer schrittweisen Einführung in normale Lebenszusammenhänge und –<br />
bedingungen (vgl. SPECK 1997a, 163). In diesem Kontext ergänzt er das Prinzip um<br />
den Aspekt des „sozialen Ansehens“, was bedeutet, dass eine angesehene Rolle den<br />
Zugang in viele Lebensbereiche ermöglicht, was wiederum zu einer Kompetenzerweiterung<br />
führt. Dabei geht es aber nicht darum, Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung<br />
„normal“ zu machen 6 , sondern Menschen mit (ge<strong>ist</strong>iger) Behinderung ein „kulturell geachtetes<br />
Leben“ (d.h., einen anerkannten Platz in der Gesellschaft haben) zu ermöglichen<br />
und Hilfen so zu gestalten, dass sie Verselbstständigung anstatt Abhängigkeit<br />
fördern (vgl. SPIEGEL 1999, 76f; SPECK 1997a, 163f; SEIFERT 1997a, 38f;<br />
FORNEFELD 2000, 136f).<br />
KLAUSS (1995) und auch andere bemerken, dass zwar zur Zeit eine „<strong>Normal</strong>isierung<br />
des Lebenslaufes“ gefördert werde, allerdings größtenteils noch in einem geschlossenen<br />
System von Sondereinrichtungen. Das Ziel der Integration wird durch die Nutzung<br />
dieser Institutionen nur bedingt erreicht. Lebenswege von Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung<br />
ähneln zwar denen von Menschen ohne Behinderung, bleiben aber beson-<br />
6 Zum <strong>Normal</strong>isierungsprinzip und seinen Missverständnissen sei auf den gleichnamigen Artikel von<br />
NIRJE & PERRIN in HAHN u.a. (Hrsg.): WISTA Experten-Hearing 1993. Reutlingen 1994 verwiesen.<br />
20
ders. Mit der <strong>Normal</strong>isierung des Lebenslaufes eröffnet sich den <strong>Familien</strong> die Möglichkeit,<br />
eine Lebensplanung gemäß dem Leben von <strong>Familien</strong> ohne behindertes Mitglied<br />
zu gestalten: nach der Schule erfolgt der Eintritt in das Arbeitsleben und zugleich bietet<br />
sich die Gelegenheit, einen Auszug aus dem Elternhaus in dieser Lebensphase in Betracht<br />
zu ziehen. Dies entspricht auch meiner Feststellung aus Gesprächen mit Betroffenen,<br />
dass immer mehr Eltern eines behinderten Kindes auch eine „<strong>Normal</strong>isierung“<br />
ihrer eigenen Lebensplanung in Betracht ziehen und nicht lebenslang ihre Tochter/<br />
ihren Sohn mit einer Behinderung zuhause versorgen wollen.<br />
2.1.2 Autonomie und Selbstbestimmung<br />
Jedes Menschenkind wird in einem Zustand völliger Abhängigkeit geboren. Mit fortschreitender<br />
Erziehung und Bildung löst es sich allmählich von seinen sozialen Stützen<br />
und Trägern und wird zunehmend selbständig. (SPECK 1997a, 63)<br />
Das im vorangegangenen Abschnitt thematisierte <strong>Normal</strong>isierungsprinzip befasst sich<br />
im Prinzip mit den äußeren Lebensumständen, der Stellung einer Person innerhalb<br />
einer Gesellschaft, seinen Lebensbedingungen inklusive einem altersgemäßen Lebensablauf.<br />
Selbstbestimmung und Autonomie hingegen beleuchten den Aspekt der<br />
Beziehung und der Interaktion des einzelnen Menschen (ob mit oder ohne Behinderung)<br />
zu anderen Personen, Institutionen und der Gesellschaft (vgl. auch HÄHNER<br />
1999, 129).<br />
Der Mensch entwickelt sich von anfänglicher großer Fremdbestimmung hin zu größtmöglicher<br />
Selbstbestimmung. Die Entwicklung des Menschen verläuft dabei von der<br />
anfänglichen totalen Symbiose mit der Mutter hin zu immer mehr „D<strong>ist</strong>anz“ (vgl.<br />
HÄHNER 1999, 124) Anders ausgedrückt: Menschliche Entwicklung <strong>ist</strong> auf Zuwachs<br />
an Autonomie angelegt, auch die Entwicklung von Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung!<br />
(HAHN 1994, 81). KANT betrachtet das Streben nach Autonomie als von Anfang<br />
an vorhandenen Anspruch des Menschen und als Grundvoraussetzung der Persönlichkeitsbildung<br />
(vgl. SPECK 1997b, 88). Diesen Anspruch auf Autonomie scheint ein<br />
Teil der Gesellschaft jedoch nicht allen Menschen zuzusprechen. Besonders Menschen<br />
mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung sind hiervon betroffen. Dies reicht von der Aberkennung<br />
des „Person-Seins“, über Infantilisierung (Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung<br />
als „ewige <strong>Kinder</strong>“, die „nie erwachsen werden“), bis hin zu Einschätzungen als unmündig,<br />
unselbständig oder nicht-verantwortungsfähig (vgl. u.a. FORNEFELD 2000,<br />
150). SPECK zeigt auf, wohin es führen kann, <strong>wenn</strong> derartige Sichtweisen vorliegen,<br />
indem er erklärt:<br />
21
Der ge<strong>ist</strong>ig behinderte Mensch <strong>ist</strong> auch Person, d.h. Eigeninstanz für Werten und Handeln.<br />
Er <strong>ist</strong> Selbst und erfährt sich damit auch in Abgehobenheit von seiner Umwelt als<br />
„autonomes System“. Als Person erlebt er eigene Bedürfnisse, kann er seine Beeinträchtigung<br />
erkennen und bewerten, auf Einstellungen und Handlungen der anderen<br />
von seinem Selbstkonzept her antworten. Das Selbst konstituiert sich in der sozialen<br />
Interaktion. (...) Es wird gefährdet, (...), <strong>wenn</strong> die anderen sich nicht auf ihn, seine Bedürfnisse,<br />
seine Subjektivität und damit auf seine Autonomie (SPECK 1985, 1991) einstellen<br />
und einrichten. (SPECK 1997a, 62)<br />
Autonomie gehört also wesenhaft zum freien Menschen als „autopoietisches System“<br />
(d.h., sich selbst schaffend; nach MATURANA/ VARELA 1987, 55f; vgl. auch Kap. 1).<br />
Als autopoietische Einheit <strong>ist</strong> der Mensch auf Selbstorganisation angelegt. Daraus<br />
folgt, dass er Autonomie benötigt, um das je Eigene auszuprägen (SPECK 1997a, 74).<br />
Selbstbestimmung wird somit zum Mittel oder Prinzip, die eigene Autonomie zu leben.<br />
Selbstbestimmung (als Entscheidungsprozess) <strong>ist</strong> in diesem Zusammenhang nicht mit<br />
Selbstständigkeit (als Fähigkeit, Dinge physisch ausführen zu können) gleich zu setzen.<br />
Dies bedeutet, dass Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung zu Selbstbestimmung<br />
fähig sind, selbst dann, <strong>wenn</strong> sie Hilfen in Anspruch nehmen (müssen). Hierbei kommt<br />
zum Tragen, was HAHN als ein Mehr an sozialer Abhängigkeit bezeichnet (HAHN<br />
1981, 1994, 1997). Wie schon zu Anfang dieses Kapitels erwähnt, werden alle Menschen<br />
zunächst in einem Zustand der Abhängigkeit geboren. Zum Menschen gehört<br />
aber wesenhaft das Recht auf Selbstbestimmung, was ihn dazu veranlasst, von Anbeginn<br />
nach größtmöglicher Freiheit zu streben, da dies seinem Leben Sinnhaftigkeit<br />
verleiht und ihm Wohlbefinden vermittelt. Selbstbestimmung dient so im Wesentlichen<br />
der Bedürfnisbefriedigung (vgl. HAHN 1994, 81f). Da jeder Mensch aber in einem sozialen<br />
System lebt, kann er diese Bedürfnisse auch nur innerhalb dieses Systems befriedigen.<br />
Dazu muss er sich immer wieder in fremde Abhängigkeiten begeben (d.h.<br />
Fremdbestimmung zulassen). HAHN fasst diese Zusammenhänge zwischen Selbstbestimmung,<br />
Wohlbefinden und Abhängigkeit folgendermaßen zusammen:<br />
Zustände menschlichen Wohlbefindens gründen auf ein Ausgewogensein – im Sinne<br />
einer oszillierenden Balance – zwischen größtmöglicher verantwortbarer Unabhängigkeit<br />
und bedürfnisbezogener Abhängigkeit. Als realisierte Unabhängigkeit im oben genannten<br />
Sinne <strong>ist</strong> Selbstbestimmung eine unabdingbare Voraussetzung für menschliches<br />
Wohlbefinden. (HAHN 1994, 86)<br />
Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung können aufgrund ihrer in <strong>man</strong>chen Bereichen<br />
verzögerten Entwicklung einer größeren Abhängigkeit (an unterstützenden Hilfen) unterliegen,<br />
welche die Gefahr mit sich bringt, ungewollt mehr Fremdbestimmung zu erleben,<br />
als nötig. Sie sind in dem Maße zu Selbstbestimmung fähig, in dem ihnen die<br />
Kompetenzen dazu zugetraut und vermittelt werden. Ursache für <strong>man</strong>gelnde Selbstbestimmung<br />
<strong>ist</strong> also das „Mehr an sozialer Abhängigkeit“ und nicht die ge<strong>ist</strong>ige Behinderung<br />
an sich. Überbehütung und Infantilisierung können dazu führen, dass die Abhän-<br />
22
gigkeit erhalten und sogar verstärkt wird. Dies wiederum kann sich später negativ auf<br />
den Ablöseprozess auswirken. Hier wird deutlich, wie sehr Selbstbestimmung bei Menschen<br />
mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung von den gegebenen Rahmenbedingungen ihrer Umwelt<br />
(Erziehung, Sichtweisen, Art der Hilfen etc.) abhängig <strong>ist</strong> (vgl. HAHN 1994, 89;<br />
sowie Kapitel 1.2). SPECK betrachtet die Leitbegriffe Autonomie und Selbstbestimmung<br />
als wichtig für die Pädagogik im Zusammenhang mit dem Erwachsenwerden und<br />
Erwachsensein bei Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung: denn dieses <strong>ist</strong> schlechthin<br />
definiert als Anwendenkönnen persönlicher Kompetenz im Rahmen transpersonaler,<br />
sozial verbindender Normen und Werte (SPECK 1997a, 75).<br />
Die Dauer des Weges zu einem weitreichend selbstbestimmten Leben sieht KLAUSS<br />
mindestens bis zum Erwachsenwerden. Für ihn <strong>ist</strong> dieser Weg mit der Ablösung vom<br />
Elternhaus und der Gründung einer „eigenen Ex<strong>ist</strong>enz“ verbunden (vgl. KLAUSS 1997,<br />
37). Allerdings bemerkt er auch hierbei die Schwierigkeit für Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger<br />
Behinderung, welche sich aus der Abhängigkeit von zwei oft konkurrierenden Personengruppen<br />
ergibt: Eltern und professionelle Helfer (KLAUSS 1997, 37; s. auch Kap.<br />
3.3). Für ihn <strong>ist</strong> daher Autonomie eine Frage der individuellen Kompetenzen, der Interaktion<br />
(Unterstützung/ Zulassen) und struktureller Bedingungen (Zugänglichkeit von<br />
Ressourcen, gesellschaftliche Erlaubnisse etc.) (KLAUSS 1997, 38). Daraus ergibt<br />
sich, dass Selbstbestimmung bzw. der Umgang damit gelernt werden muss (eigentlich<br />
unabhängig von einer Behinderung), um später auch selbstbestimmt außerhalb des<br />
Elternhauses leben zu können. Nach SEIFERT erfordert der Leitgedanke der Selbstbestimmung<br />
in diesem Zusammenhang eine Veränderung der gegenwärtigen Versorgungsstrukturen,<br />
als auch eine Neugestaltung der Rolle der Betreuer (SEIFERT 1998,<br />
156; vgl. auch Kap. 2.2 dieser Arbeit).<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Selbstbestimmung eine Grundeigenschaft<br />
des Menschen <strong>ist</strong>, die jedem Menschen inne wohnt und zwar jeweils auf der Ebene,<br />
auf der er Handlungskompetenz besitzt oder entfalten kann. Dabei kommt es weniger<br />
auf den Grad der Behinderung als auf seine Lebensbedingungen an, die ihm Raum für<br />
eigene Entscheidungen bieten oder vorenthalten. ( SEIFERT 1998, 157) Dabei bedeutet<br />
Selbstbestimmung Entscheidungsfreiheit im Rahmen allgemeingültiger Regeln und<br />
unter Berücksichtigung der Freiheit der anderen.<br />
Unter diesem Aspekt <strong>ist</strong> auch das Empowerment-Konzept zu verstehen, welches im<br />
nächsten Kapitel näher betrachtet werden soll.<br />
23
2.1.3 Empowerment<br />
Das Konzept des „Empowerment“ (zu Deutsch: Selbstbemächtigung) stammt aus dem<br />
amerikanischen Sprachraum und wurde dort vornehmlich im Bereich der Sozialarbeit<br />
und Selbsthilfeinitiativen (z.B. Independent–Living-Bewegung) entwickelt.<br />
THEUNISSEN und PLAUTE beschreiben Empowerment als<br />
grundlegende Überlegung zur Persönlichkeitsentfaltung, Selbstbestimmung und Rechte<br />
– Perspektive ge<strong>ist</strong>ig behinderter Menschen, um Überlegungen zur pädagogischen<br />
Begegnung sowie um Prämissen zur Gestaltung von autonomie-fördernden und –<br />
sichernden Lebensräumen. (THEUNISSEN/ PLAUTE 1995, 8)<br />
Wie schon im Kapitel zuvor erwähnt, muss Selbstbestimmung vorbereitet und erlernt<br />
werden, was WILKEN auch als gesellschaftlichen Auftrag an die Pädagogik (erweiterbar<br />
auch auf den Bereich der Andragogik) versteht. In Bezug auf ROTH we<strong>ist</strong> sie darauf<br />
hin, dass Selbstbestimmung als globaler Befähigungsprozess im Laufe der persönlichen<br />
Entwicklung vom Individuum selbst gele<strong>ist</strong>et werden [muss] (WILKEN 1997, 44)<br />
und die Erziehung nur als Hilfe dienen kann und darf. Dies gelingt der Pädagogik umso<br />
besser, je mehr sie dafür Sorge trägt, dass<br />
Freiheit zur Selbstbestimmung am besten von klein auf vorbereitet wird, in dem jeder<br />
Bereich, den ein Kind selbst zu verantworten in der Lage <strong>ist</strong>, ... in seine Selbstverantwortung<br />
gegeben wird. Einübung in die Selbstbestimmung <strong>ist</strong> Voraussetzung für die<br />
Ermächtigung zur Selbstbestimmung. Jedes kleine Kind, das „etwas tun will“, jeder<br />
Jugendliche, der sich selbst wagt, setzen auf Produktivkräfte, die sie in sich selbst spüren.<br />
So <strong>ist</strong> Entwicklung (...) produktive Selbstgestaltung und die Erziehung muß darin<br />
ihr Ziel sehen, daß sie ihre Aufgabe in die Selbsterziehungs- und Selbstgestaltungskräfte<br />
des Individuums übergehen lässt. (ROTH 1971 zit. nach WILKEN 1997, 43)<br />
Das Neue am Empowermentgedanken <strong>ist</strong>, dass er den Menschen mit (ge<strong>ist</strong>iger) Behinderung<br />
als Experten in eigener Sache (THEUNISSEN/ PLAUTE 1995, 11) versteht,<br />
der seine Angelegenheiten selbst in die Hand nimmt und sich dabei seiner eigenen<br />
Fähigkeiten bewusst wird, eigene Kräfte entwickelt und soziale Ressourcen nutzt. Damit<br />
wird die selbstbestimmte Bewältigung und Gestaltung des eigenen Lebens zur<br />
Leitperspektive dieses Ansatzes. Behinderte Menschen und ihre Angehörigen werden<br />
somit nicht mehr nur zu Empfängern von Fürsorge, Almosen, Ratschlägen und Hilfen,<br />
sondern gestalten diese wesentlich mit (vgl. THEUNISSEN/ PLAUTE 1995, 11f;<br />
THEUNISSEN 1997,.1). Professionelle Helfer werden hierbei nicht abgeschafft (wie es<br />
diesem Konzept oft unterstellt wird), aber ihnen kommt eine neue Rolle zu, in der sie<br />
den behinderten Menschen bei seiner Selbstbemächtigung unterstützen und ihn bei<br />
der Beschaffung von Ressourcen [...] unterstützen, die eine Lebensform in Selbstorganisation<br />
ermöglichen. (KEUPP 1990 zit. nach THEUNISSEN/ PLAUTE 1995, 13)<br />
24
Das Empowerment–Konzept betrachtet den Menschen mit seinen Bedürfnissen in seiner<br />
Lebenswelt und bezieht sich damit auf eine system-ökologische Sichtweise.<br />
THEUNISSEN und PLAUTE betonen, dass es für das Gelingen der „Selbstbemächtigung“<br />
wichtig <strong>ist</strong>, dass Vertrauen in die individuellen Ressourcen und Fähigkeiten des<br />
Menschen mit (ge<strong>ist</strong>iger) Behinderung besteht, eben dass er trotz seiner Behinderung<br />
auf der jeweiligen Stufe seiner Entwicklung kompetent <strong>ist</strong> (vgl. THEUNISSEN/ PLAUTE<br />
1995, 13). Hierin liegt auch eine Prüfung des Konzeptes hinsichtlich der Anwendbarkeit<br />
bei Menschen mit sog. schwerer ge<strong>ist</strong>iger Behinderung. Mehrere Autoren sehen eine<br />
Gefahr in der Überforderung, welche ebenso negative Auswirkungen wie eine Überbehütung<br />
hätte. THEUNISSEN und PLAUTE sehen die Notwendigkeit, dass dieses Konzept<br />
einer Modifikation für diesen Personenkreis bedarf und weisen darauf hin, dass<br />
eine Veränderung der Rahmenbedingungen und Hilfen zur Umsetzung wesentlich beitragen<br />
würde (vgl. THEUNISSEN/ PLAUTE 1995, 21). Zudem bemerken sie, dass<br />
Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung nicht von allein Selbstbemächtigung entwickeln,<br />
sondern dieses erst geweckt werden muss. Dies beinhaltet eine Identitätsarbeit, welche<br />
Interesse entdecken lässt, Bedürfnisse verdeutlicht und einen Sinn für die Realität<br />
in Bezug auf die Eigeneinschätzung vermittelt. Empowerment setzt also vielfältige<br />
Kernaspekte voraus (z.B. soziales Lernen, Kommunikation etc.), welche ebenso geschaffen<br />
und gefördert werden müssen (vgl. ebd.).<br />
Das Empowerment–Konzept hat auch hinsichtlich des Ablöseprozesses eine bedeutende<br />
Rolle. Die Befähigung, eigene Wünsche, Ressourcen und Kräfte zu entdecken<br />
<strong>ist</strong> eine Voraussetzung, um den Wunsch nach Ablösung entstehen lassen zu können.<br />
Gleichzeitig beinhaltet die systemische Sichtweise, die gesamte Familie mit einzubeziehen<br />
und auch sie bei der „Selbstbemächtigung“ zu unterstützen (vgl. hierzu auch die<br />
Ausführungen von SEIFERT 2001; ECKERT 2002, 107ff). Vorschläge dazu finden sich<br />
unter anderem auch bei THEUNISSEN und PLAUTE (vgl. THEUNISSEN/ PLAUTE<br />
1995, 38f).<br />
2.2 Der Ass<strong>ist</strong>enzbegriff: Eine Folge der Leitbilder<br />
Empowerment geht von dem Grundgedanken aus, daß professionelle Helfer nicht ‚<br />
für’ ihre Adressaten zu handeln oder zu sorgen hätten, sondern daß es ihre Aufgabe<br />
sei, Betroffene bei der Bewältigung eigener Angelegenheiten fachlich zu unterstützen<br />
sowie konsultativ zu begleiten. Notwendig <strong>ist</strong> hierzu eine veränderte professionelle<br />
Haltung (...). (THEUNISSEN 1997, 1)<br />
25
Diese veränderte Haltung drückt sich im Wandel des Verständnisses vom Betreuer<br />
zum Begleiter aus. Die Einführung eines Ass<strong>ist</strong>enzbegriffs, orientiert an den vorangegangenen<br />
Ausführungen, erfordert eine Neubewertung der eigenen Aufgaben und<br />
Kompetenzen, womit auch eine „<strong>Normal</strong>isierung“ der Kommunikationsstrukturen nötig<br />
wird (vgl. SACK 1999, 117; HÄHNER 1999, 128). Der betroffene Mensch selbst bestimmt<br />
im Ass<strong>ist</strong>enzmodell, welche Hilfen er benötigt. Eine der wichtigsten Voraussetzungen<br />
bildet dabei der dialogische (beziehungsweise trialogische) Austausch in der<br />
Arbeit mit den Betroffenen. Dabei lässt sich die Bedeutung des Dialogs mit HÄHNER<br />
wie folgt beschreiben: Dialog bedeutet offen zu sein, Positionen und Einstellungen zu<br />
verdeutlichen, sich gegeneinander abzugrenzen oder einen Konsens zu suchen.<br />
(HÄHNER 1999, 132). Ziel <strong>ist</strong> es, die Bedürfnisse herauszufinden, wobei alle Ausrucksmöglichkeiten<br />
auszuschöpfen sind (mit besonderem Blick auf den Personenkreis<br />
der Menschen mit schwerer Behinderung). Damit wird der „Ass<strong>ist</strong>ent“ vom „allwissenden“<br />
Betreuer zum Dolmetscher der Bedürfnisse mit entsprechend notwendigen Kompetenzen:<br />
Zuhören, Interpretieren, Entschlüsseln nonverbaler Willensäußerungen,<br />
sowie die Bereitschaft und Fähigkeit zur Förderung eines individuellen Lebensstils des<br />
Menschen mit Behinderung. (NIEHOFF 1999, 53) Das bisherige Verständnis vom<br />
„Fach<strong>man</strong>n“ (oftmals unbewusst) ausgestattet mit großer Macht und alleiniger Kompetenz<br />
(sowohl gegenüber dem Menschen mit Behinderung als auch seinen Eltern) wird<br />
in Frage gestellt. Es gilt, sich als Teil der Interaktion wahrzunehmen und darin stattfindende<br />
Wechselwirkungen und deren Folgen zu verstehen. Ein Selbstverständnis als<br />
Begleiter erfordert von professionellen Helfern auch, Entscheidungsfreiheit zu gewähren<br />
und (Lebens-) Risiken zu zulassen, damit eigene Erfahrungen gemacht werden<br />
können. Dies führt in der Arbeit mit Menschen mit einer ge<strong>ist</strong>igen Behinderung zu einer<br />
verantwortungsvollen Gratwanderung zwischen soviel Selbstbestimmung wie möglich<br />
und soviel Unterstützung wie nötig, mit dem Ziel, sich immer weiter zurück zu nehmen.<br />
Die eigene Fachlichkeit und die Reflexion der angewendeten Methoden bleibt somit ein<br />
wichtiger Aspekt in der Begleitung.<br />
Dieser Umstellungsprozess löst dabei sicherlich auch Verunsicherung bei professionellen<br />
Helfern, aber auch Eltern aus. Dabei muss betont werden, dass es nicht um eine<br />
Laissez-faire-Haltung geht, sondern um verantwortungsvolles und reflektiertes „zur<br />
Seite stehen“. Ass<strong>ist</strong>enz setzt somit voraus, dass klare Rollenverteilungen und „Arbeitsaufträge“<br />
zwischen allen Beteiligten getroffen werden. Begleiten bedeutet als Folge<br />
daraus unter anderem Beraten und Anbieten von Wahlmöglichkeiten. Dabei muss<br />
klar sein, dass diese Veränderung des Handlungsselbstverständnisses innerhalb der<br />
eigenen Praxis Zeit braucht und eine intensive Auseinandersetzung mit den dahinterstehenden<br />
Einstellungen erfordert. Ebenso gilt es Überforderungen des Menschen mit<br />
26
Behinderung zu vermeiden beziehungsweise entsprechende Signale wahrzunehmen.<br />
Die hier vorgestellten Ausführungen können dabei nur einen „Anriss“ der Thematik in<br />
Hinblick auf das Hauptthema der Arbeit darstellen. Zur weiteren Vertiefung sei auf die<br />
Veröffentlichung von HÄHNER/ NIEHOFF/ SACK & WALTHER 1999 7 verwiesen.<br />
Wenn in den folgenden Ausführungen von „Betreuern“ die Rede <strong>ist</strong>, so gilt es, diesen<br />
Begriff im Sinne eines Synonyms für Ass<strong>ist</strong>ent oder Begleiter zu verstehen 8 .<br />
Die neue Sichtweise soll im Konzept der Ablösebegleitung berücksichtigt werden, um<br />
den individuellen Bedürfnissen des Menschen mit Behinderung und seiner Familie gerecht<br />
werden zu können. Psychosoziale Krisen im Ablöseprozess können in diesem<br />
Zusammenhang als individuelle Bewältigungsversuche im Spannungsfeld zwischen<br />
individuellen Bedürfnissen des Einzelnen und den „Erwartungen“ anderer Menschen<br />
(Eltern, Mitarbeiter) gesehen werden. Der systemische Gedanke, dass jeder Mensch<br />
seine Wahrnehmung der Umwelt hat, impliziert, dass er auch seinen persönlichen Lösungsweg<br />
innerhalb einer eigenen Zeitperspektive und aufgrund seiner Lebenserfahrung<br />
finden muss (vgl. auch THEUNISSEN 2000, 111ff). Ein Konzept kann nach diesem<br />
Handlungsverständnis nicht allgemeine „Lösungen“ anbieten, sondern seine Aufgabe<br />
besteht darin,<br />
einen Prozess anzuregen und zu unterstützen, indem Betroffene innerhalb sozialer<br />
Systeme bestimmte persönliche , organisatorische und gemeinschaftliche Ressourcen<br />
entdecken können, die sie befähigen, größere Kontrolle über ihr eigenes Leben (...)<br />
auszuüben und ihre Ziele zu erreichen. (STARK 1996 zit. nach THEUNISSEN 2000,<br />
109)<br />
Zu den heilpädagogischen Leitideen kommen sozialpolitische Rahmenbedingungen<br />
hinzu, die im Alltag einer Wohneinrichtung ebenso eine Rolle spielen und daher im<br />
Folgenden ausgeführt werden.<br />
2.3 Jur<strong>ist</strong>ische Rahmenbedingungen<br />
Einen wesentlichen Aspekt der Ablösung von Menschen mit Behinderung und einem<br />
Auszug in eine Wohneinrichtung stellt die Tatsache dar, dass damit der Wechsel von<br />
einem privaten in einen institutionellen Lebensraum vollzogen wird. Dieser Lebensraum<br />
„Institution“ <strong>ist</strong> durch eine Vielzahl von Gesetzen geregelt (Bundessozialhilfegesetz,<br />
Heimgesetz, Sozialgesetzbuch IX u.a.), welche Einfluss auf das Handeln innerhalb<br />
der Einrichtung nehmen. Die Vorschriften sichern und stärken die Rechte von<br />
7<br />
Vom Betreuer zum Begleiter. Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung. Marburg<br />
1999.<br />
8<br />
Er <strong>ist</strong> des weiteren abzugrenzen vom „gesetzlichen Betreuer“, auf welchen in Kapitel 2.3.2 näher eingegangen<br />
wird. Sollte dieser gemeint sein, so wird dies explizit erwähnt.<br />
27
Menschen mit Behinderung gegenüber einer Institution. Sie dienen auch der Darstellung<br />
des Handlungsauftrags von Wohneinrichtungen und der Qualitätssicherung. Dazu<br />
kommt der wichtige Komplex des Betreuungsrechts, sowie selbstverständlich das<br />
Grundgesetz. Der Alltag zeigt, dass hier immer wieder Erklärungs- und Diskussionsbedarf<br />
besteht, der im Interesse einer guten Zusammenarbeit zwischen Eltern und Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeitern ernst genommen werden sollte (SEIFERT 2001, 256).<br />
CRÄMER stellt fest, dass der Anspruch auf Selbstständigkeit sich unter anderem auch<br />
in der Wahrnehmung des Hausrechts, sowie aller mit dem Wohnen und Leben verbundener<br />
Rechte (CRÄMER 1990, 171) äußert.<br />
Deswegen <strong>ist</strong> es wichtig, dass alle Beteiligten diese Rechte kennen. Es <strong>ist</strong> meines Erachtens<br />
eine zentrale Aufgabe der Einrichtungen im Rahmen des Empowerment-<br />
Prozesses, ihre Bewohner auch über ihre Rechte aufzuklären 9 und sie gleichzeitig bei<br />
der Vertretung dieser Rechte gegenüber anderen zu bestärken und zu unterstützen,<br />
sofern dies gewünscht wird. Dies kann <strong>man</strong>chmal auch zu schwierigen Situationen im<br />
Alltag zwischen Betreuern und Eltern führen und diesen die Ablösung ihres Kindes<br />
sehr drastisch vor Augen führen. SEIFERT äußert den Eindruck, dass das Recht auf<br />
Selbstbestimmung für Menschen mit (ge<strong>ist</strong>iger) Behinderung überwiegend im Kreis der<br />
Fachleute erörtert wurde und Eltern das Gefühl vermittelt bekommen könnten, ihre<br />
<strong>Kinder</strong> falsch erzogen zu haben (vgl. SEIFERT 2001, 256). Auch aus der Selbstbestimmungsdiskussion<br />
folgende Gesetzesänderungen gelangen nicht immer bis zu den<br />
Eltern. Es erfordert daher sowohl fachliches Wissen über die Rechte des Bewohners,<br />
als auch Sensibilität und Verständnis bei der Vermittlung dieser Rechte gegenüber<br />
Eltern, damit es nicht zu Missverständnissen kommt und auch den Eltern Empowerment<br />
ermöglicht wird (vgl. auch SEIFERT 2001). Ein Beispiel aus meiner Praxiserfahrung<br />
soll das Dilemma des Interessenskonflikts von Mitarbeitern zwischen den Wünschen<br />
eines Bewohners und denen der Eltern exemplarisch verdeutlichen:<br />
Eine nach langer, schwerer Krankheit wieder genesene Bewohnerin möchte mit ihrem<br />
Lebensgefährten bei schönem Wetter und in Rücksprache mit den Mitarbeitern zusammen<br />
Ausflüge in die nähere Umgebung unternehmen oder mit ihrem E-Rollstuhl<br />
alleine von der Werkstatt Nachhause fahren. Sie hat mehrfach bewiesen, dass sie dazu<br />
in der Lage <strong>ist</strong> und hat immer ein Handy dabei. Aus Sorge, dies könnte für ihre<br />
Tochter eine zu große körperliche Belastung und Gefahr darstellen, verbietet die Mutter<br />
dies jedoch. Die Tochter widersetzt sich dem Willen ihrer Mutter, worauf es zum<br />
9 Zur Information von Menschen mit (ge<strong>ist</strong>iger) Behinderung über ihre Rechte und das Betreuungsrecht<br />
im Besonderen sei auf folgende zwei Quellen verwiesen: VON LOOZ, C: Selbstbestimmte Lebensführung<br />
und Betreuung – ein Widerspruch? In: Selbstbestimmung. Kongressbeiträge. Hrsg. von der Lebenshilfe<br />
f.M.m.g.B. e.V.. Marburg 1997 und BIFOS E.V. (Hrsg.): Wörterbuch für leichte Sprache. 3.überarb.<br />
Aufl. Kassel 2001.<br />
28
Streit kommt. In einem von der Bewohnerin angeregten Vermittlungsgespräch mit Unterstützung<br />
einer Mitarbeiterin <strong>ist</strong> die Mutter zu keinen Kompromissen bereit und beendet<br />
das Gespräch mit der Aussage „Ich bin die Betreuerin, deswegen darf ich das<br />
bestimmen. Das ich dazu kein Recht habe <strong>ist</strong> mir egal, schließlich habe ich mir schon<br />
genug Sorgen machen müssen!“ Hieraus wird die Ambivalenz solcher Situationen<br />
meines Erachtens sehr deutlich. Es zeigt sich, dass sowohl „Fachwissen“ als auch<br />
„diplomatisches Geschick“ zentrale Bedeutung in der alltäglichen Arbeit haben, um zu<br />
einer für alle befriedigenden Lösung zu kommen.<br />
Im Folgenden werden nun zunächst allgemeine sozialrechtliche Rahmenbedingungen<br />
dargestellt. Im Anschluss daran folgt eine kurze Einführung in die Problematik des<br />
Betreuungsrechts.<br />
2.3.1 Allgemeines<br />
Im Gesamtsystem der Eingliederungshilfen kann der Bereich Wohnen als Le<strong>ist</strong>ung zur<br />
sozialen Rehabilitation gesehen werden. Das Recht auf Maßnahmen zur Rehabilitation<br />
und Teilhabe ergibt sich aus dem Sozialgesetzbuch (SGB) I und wird im SGB IX konkretisiert<br />
(vgl. § 10 SGB I; SGB IX; CLOERKES 2001, 37; ELLGER-RÜTTGARDT<br />
2001, 88ff; TRENK-HINTERBERGER 2002, 102).<br />
Dieser Anspruch auf Hilfe hat das Ziel, die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu<br />
bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern, um dem Behinderten<br />
einen seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gemeinschaft,<br />
[...], zu sichern. (BUNDESMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND<br />
SOZIALORDNUNG 1998, zit. nach ELLGER-RÜTTGARDT 2001, 88)<br />
Seit dem 01. August 2003 wird als Grundlage zur Le<strong>ist</strong>ungsentscheidung eingeschränkt<br />
auf den Bereich „Hilfen zum Wohnen“ ein neues Instrument verwendet, das<br />
sogenannte „Individuelle Hilfeplanverfahren des Landschaftsverbandes Rheinland“<br />
(IHP). Hiermit soll die inhaltliche Begründung der beantragten Le<strong>ist</strong>ungen geliefert<br />
werden, als Ergänzung zur medizinischen Diagnose und dem Sozialhilfegrundantrag.<br />
Gleichzeitig ersetzt dieses Manual die bisherigen „Entwicklungsberichte“ bei Bewohnern<br />
stationärer Einrichtungen. (vgl. Landschaftsverband 2003) Die wichtigsten Aspekte<br />
und die Bedeutung für den Alltag in Wohneinrichtungen können hier nur kurz skizziert<br />
werden. Eine umfassende Information findet sich auf der Internetseite des Landschaftsverbandes<br />
Rheinland (LVR).<br />
Das IHP findet in dieser Arbeit Erwähnung, weil der Aspekt der Beratung vor einem<br />
etwaigen Auszug stärker als bisher in Einrichtungen verlegt wird. Viele der gesammel-<br />
29
ten Informationen bieten Anknüpfungspunkte zur Unterstützung und Begleitung des<br />
Auszugs. Allerdings bin ich der Meinung, dass die Fragebögen durch andere Methoden<br />
zur Beantwortung erweitert werden müssen, damit tatsächlich jeder Betroffene seine<br />
Wünsche herausfinden und formulieren kann (z.B. auch Menschen mit schwerer Behinderung).<br />
Dieser Aspekt wird im Handbuch nur am Rande erwähnt.<br />
In dem neuen Verfahren zeigt sich, dass sich auch in der Verwaltung ein „Perspektivenwechsel“<br />
vollzieht: Der Mensch mit Behinderung soll als Experte seiner Lebenssituation<br />
ganz wesentlich über die fachlichen Hilfen bestimmen, die ihm die Teilhabe am<br />
gesellschaftlichen Leben ermöglichen. (HANDBUCH ZUM IHP DES LVR 2003, 5) Dazu<br />
soll er von den Fachleuten Informationen über die Möglichkeiten bekommen, damit<br />
er tatsächlich eine Auswahl treffen kann. Diese sollen durch den Dialog über seine<br />
Wünsche, Ressourcen und Fähigkeiten die Beratung angemessen gestalten können.<br />
Es geht um „Verhandeln statt Behandeln“, ein gleichberechtigtes Planen des Unterstützungsbedarfs<br />
als Grundhaltung einer Zusammenarbeit zwischen professionellen<br />
Helfern und Betroffenen (vgl. HANDBUCH ZUM IHP DES LVR 2003, 9). Auch zeigt<br />
sich hier ein gewünschter Wandel des Selbstverständnisses von Mitarbeitern, wie er<br />
schon in Kapitel 2.2 angesprochen wurde: der Betreuer soll zum Begleiter werden.<br />
Darüber hinaus bleibt allerdings abzuwarten, ob das Individuelle Hilfeplanverfahren in<br />
der Praxis nur einer Kostenreduzierung dient oder tatsächlich zu einer Verbesserung<br />
der Unterstützung eines Lebens „so wie ich es will“ führen wird.<br />
Konkretisiert werden die Aufgaben von Einrichtungen zudem im Heimgesetz. 10 Es will<br />
sowohl die Bewohner schützen, als auch die Rechtsstellung und die Qualität der<br />
Betreuung und Pflege verbessern. Anforderungen an den Betrieb eines Heimes ergeben<br />
sich dabei aus Paragraph 11, wobei hier besonders auf die Sätze 1 und 2 aufmerksam<br />
gemacht werden soll. Träger und Leitung haben insbesondere die Aufgabe:<br />
1. Die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner<br />
vor Beeinträchtigung [zu]schützen,<br />
2. die Selbstständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohnerinnen<br />
und Bewohner [zu] wahren und fördern, insbesondere bei behinderten<br />
Menschen die sozialpädagogische Betreuung und heilpädagogische Förderung (...)<br />
[zu]gewährle<strong>ist</strong>en. ( Heimgesetz § 11, 2001)<br />
Dies kann unter anderem durch Beratungs- und (Erwachsenen-) Bildungsangebote<br />
geschehen, wobei Mitwirkungsmöglichkeiten der Bewohner eine wichtige Rolle spielen.<br />
Dazu <strong>ist</strong> es zudem nötig, den Mitarbeitern Möglichkeiten zu Weiterbildung zu geben.<br />
Beides stellt einen weiteren Hintergrund dieser Arbeit dar.<br />
10 In Bezug auf Bewohnerrechte im Heim allgemein sei auf die überarbeitete Broschüre des Bundesmin<strong>ist</strong>eriums<br />
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2003): „Ihre Rechte als Heimbewohnerinnen und<br />
Heimbewohner“ hingewiesen.<br />
30
Im Folgenden wird nun das Betreuungsrecht explizit erläutert werden, da es sich hierbei<br />
um einen relevanten und zu thematisierenden Bereich während des Ablöseprozesses<br />
handelt.<br />
2.3.2 Das Betreuungsrecht<br />
Bis zur Volljährigkeit ihres Kindes übernehmen die Eltern im Rahmen ihres Sorgerechts<br />
die Unterstützung ihres behinderten Kindes bei rechtsverbindlichen Entscheidungen.<br />
Mit dem Erreichen der Volljährigkeit jedoch muss die rechtliche Vertretung<br />
durch die Einrichtung einer sogenannten „Betreuung“ abgesichert werden. Dies gilt<br />
unabhängig davon, ob diese Aufgabe durch die Eltern beziehungsweise andere Verwandte<br />
oder anderen Personen übernommen wird (vgl. HELLMANN 1995, 223). Im<br />
Rahmen eines Auszugs aus dem Elternhaus kann das Thema „Betreuung“ je nach<br />
Alter des einziehenden Bewohners (oder der Eltern) und weiteren Begleitumständen<br />
bedeutend werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei zunächst darauf hingewiesen,<br />
dass das Rechtsinstitut der „Betreuung“ nichts mit der Übernahme von pflegerischen<br />
und ähnlichen Dienstle<strong>ist</strong>ungen oder dem Ersetzen von sozialen Kontakten zu<br />
tun hat (vgl. RAACK/ THAR, 60). Vielmehr geht es darum, unter bestimmten Voraussetzungen<br />
einem volljährigen Menschen einen gesetzlichen Vertreter zu seiner Unterstützung<br />
zur Seite zu stellen. Die Voraussetzungen nach § 1896 BGB sind:<br />
1. Vorliegen einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, ge<strong>ist</strong>igen oder<br />
seelischen Behinderung<br />
2. sofern diese dazu führt, dass der Betroffene seine eigenen Angelegenheiten<br />
teilweise oder ganz nicht selbst erledigen kann<br />
3. und diese nicht durch einen Bevollmächtigten oder gesetzlichen Vertreter besorgt<br />
werden kann.<br />
Dabei werden die Wünsche des Betreuten bei der Auswahl seines Betreuers vorrangig<br />
berücksichtigt. Des weiteren sollen Eltern und sonstige Verwandte oder andere nahestehende<br />
Personen bei der Betreuerbestellung besonders berücksichtig werden (§<br />
1897 BGB). Mitarbeiter einer Einrichtung, in welcher der zu betreuende Mensch lebt,<br />
dürfen nicht zum Betreuer bestellt werden. Das Ziel der Betreuung lautet, dem betreuten<br />
Menschen ein selbstbestimmtes Leben unter Achtung seiner Grundrechte zu ermöglichen<br />
(RAACK/ THAR 2001, 25; vgl. auch § 1901 BGB, Satz 2). Dabei geht es<br />
darum, verbliebene Fähigkeiten des Betreuten zu berücksichtigen (Ressourcenorientierung)<br />
und stärker als früher auf seine individuellen Bedürfnisse einzugehen (vgl.<br />
TRENK-HINTERBERGER 2002, 258). Das Betreuungsrecht trat 1992 in Kraft und löste<br />
das alte Vormundschaftsrecht ab. Dieses schränkte die Persönlichkeitsrechte des<br />
31
Betreuten massiv ein, da der Wille des Vormunds über dem des sogenannten „Mündels“<br />
stand. Die Einrichtung einer Betreuung <strong>ist</strong> keine Entrechtung<br />
(JUSTIZMINISTERIUM NRW 2001, 8) und darf nur für die Aufgabenkreise erfolgen, in<br />
denen eine Betreuung erforderlich <strong>ist</strong> (TRENK-HINTERBERGER 2002, 259). Damit<br />
wird den Prinzipien der Selbstbestimmung und der Autonomie im Erwachsenenalter<br />
auch eine rechtliche Absicherung des Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung zur Seite<br />
gestellt. In der Praxis kann es vorkommen, dass Eltern ihrem Sohn/ ihrer Tochter eine<br />
solche Verantwortungsübernahme und weitreichende Selbstbestimmung nicht zutrauen,<br />
insbesondere, <strong>wenn</strong> eine schwerere Behinderung vorliegt (vgl. SEIFERT 2001,<br />
254). SEIFERT führt weiter aus, dass auch Eltern, welche die neuen Leitideen unterstützen<br />
und in ihr eigenes Handeln miteinbeziehen, die Realisierung eines Lebens<br />
nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen in Teilbereichen mit Ernst zu nehmenden<br />
Risiken verbunden sehen (vgl. SEIFERT 2001, 256). In diesem Sinne <strong>ist</strong> es wichtig,<br />
dass Eltern und Mitarbeiter einer Einrichtung zusammen arbeiten und auch Informationen<br />
und/oder Einschätzungen aus ihrer jeweiligen Perspektive austauschen (vgl.<br />
auch RAACK/ THAR 2001, 58; SEIFERT 2001, 256 ff). Oftmals erweitern sich gerade<br />
durch andere und neue Anforderungen innerhalb des Alltags einer Einrichtung die<br />
Kompetenzen des Betreuten (womit nicht ausgeschlossen werden soll, dass dies nicht<br />
auch im Elternhaus geschehen kann). Durch den Gruppenalltag werden Menschen mit<br />
einer ge<strong>ist</strong>igen Behinderung jedoch oftmals gefordert, selbstbewusster und selbstständiger<br />
zu werden, dies ergibt sich nicht zuletzt auch durch den gesetzlich gestellten Auftrag<br />
an Wohnheime (vgl. Kapitel 2.4.2). Letztlich hat der Betreuer ebenso wie jede<br />
heilpädagogische Unterstützung das Ziel, sich so weit als möglich „überflüssig“ zu machen,<br />
sofern dies möglich <strong>ist</strong> (vgl. hierzu § 1901, Satz 4 & 5,; sowie RAACK/ THAR<br />
2001, 61ff). Die Beschreibung der Unterstützung zum Wohl und gemäß dem Willen des<br />
betreuten Menschen (§1901 BGB) ermöglicht einen weiten Spielraum, da dies eine<br />
weit gefasste Formulierung darstellt. HELLMANN <strong>ist</strong> dabei der Meinung, dass dies<br />
auch bedeutet, die Wünsche des Betreuten im Rahmen der Zumutbarkeit bis zur erheblichen<br />
Selbstgefährdung auch zu befolgen (HELLMANN 1995, 226). Er führt weiter<br />
aus, dass Freiheit immer auch das Eingehen von (Lebens-) Risiken bedeutet, welche<br />
nichtbehinderte Menschen tagtäglich eingehen (a.a.O., 228). Menschen mit einer ge<strong>ist</strong>igen<br />
Behinderung können durch die (oft emotional begründete) Angst ihrer Eltern oder<br />
auch der Furcht vor Haftungsrisiken seitens der Mitarbeiter von „präventiver“ Einschränkung<br />
bedroht sein. Hier gilt es meiner Meinung nach, gemeinsam Mut zum „überlegten<br />
Risiko“ zu entwickeln und die Wahrnehmung der Selbstbestimmungsrechte<br />
als Teil des Empowerment und der Ablösung zu unterstützen. Im Rahmen dieses Prozesses<br />
(doch nicht nur dort) <strong>ist</strong> Diskussionsbereitschaft und Gesprächsführungskom-<br />
32
petenz ein wichtiger Aspekt der Arbeit in Einrichtungen, um sowohl Eltern als auch den<br />
Bewohner mit (ge<strong>ist</strong>iger) Behinderung beraten zu können.<br />
2.4 Beratung und Gesprächsführung als Aufgabe in Wohneinrichtungen<br />
Loslösung bedarf einer echten Entscheidung und einer Neuorientierung. Das erfordert<br />
Gespräche mit den Eltern darüber, daß sie sich das Loslassen ihres Kindes zugestehen<br />
können und – <strong>wenn</strong> möglich – Gespräche mit dem Behinderten, wie er sich seine<br />
Zukunft vorstellt, und wie sich sein Verhältnis zu den Eltern in Zukunft gestaltet.<br />
(KLAUSS 1988, 118)<br />
Hinzu kommt die Beobachtung von HENNICKE und BRADL, dass in <strong>Familien</strong> mit einem<br />
behinderten Kind Pubertät und Erwachsenwerden als einer der wichtigsten Auslöser<br />
von <strong>Familien</strong>krisen (im Sinne von psychischen Krisen) gesehen werden können<br />
(vgl. ALBRECHT und PRÜSER 1999, 371). Dabei sind Gespräche und Beratung Alltag<br />
in Einrichtungen. Es gibt Teamgespräche zur Planung und Reflexion des eigenen<br />
Handelns, problemzentrierte Gespräche mit Bewohnern, Eltern oder Kollegen, Moderationsgespräche<br />
zwischen Eltern und Betreuern oder Bewohner und Eltern. Die Komplexität<br />
der Anforderungen nimmt dabei zu, so dass KLAUSS (1998 11 ) feststellt, dass<br />
Gesprächsführung inzwischen eine notwendige sonderpädagogische Basiskompetenz<br />
<strong>ist</strong>, zu der entsprechendes Grundwissen gehört (vgl. KLAUSS 1998, 262ff) Dabei sind<br />
„normale“ Gespräche von einer Beratung zu unterscheiden. Beratung kann alltagssprachlich<br />
demnach verstanden werden als heterogene Handlungsformen,<br />
die sich als personenzentrierte Dienstle<strong>ist</strong>ungen oder als Weitergabe von problembezogenem<br />
Fachwissen an Institutionen oder Betriebseinheiten vollziehen. (KLEBER<br />
2001, 3)<br />
Im heilpädagogischen Alltag geht es dabei inzwischen oft nicht mehr um eine klientenzentrierte<br />
Beratung, sondern im Sinne der Ass<strong>ist</strong>enz um partnerschaftliche Planung<br />
von Unterstützungsangeboten oder das Verhandeln zwischen gegensätzlichen Positionen<br />
oder Interessen (vgl. KLAUSS 1998, 262). Professionelle Beratung versucht des<br />
weiteren<br />
beim Klienten einen aktiven Lernprozess in Gang zu bringen, der es ihm ermöglicht,<br />
eine neue Kompetenzeben für erfolgreichere und zufrieden stellendere Auseinandersetzung<br />
mit seinen Problemen und Schwierigkeiten zu gewinnen. (MUTZECK 2002,<br />
13)<br />
Dies entspricht wiederum dem Empowerment-Gedanken. Gesprächsführung sollte<br />
zudem unter Berücksichtigung einer systemischen Perspektive erfolgen, was bedeutet,<br />
11 Der Artikel bietet sich auch zur Vertiefung an: KLAUSS, T.: Gesprächsführung als sonderpädagogische<br />
Kompetenz. In: Ge<strong>ist</strong>ige Behinderung 37 (1998) 3, S. 262-286.<br />
33
dass der gesamte Systemhintergrund beachtet werden und die Interaktion in der Beratung<br />
horizontal verlaufen sollte:<br />
Horizontale Beratung meint Symmetrie, ‚Sich Beraten’, gemeinsames Handeln, partnerschaftliche<br />
Kooperation. Pädagogische Beratung <strong>ist</strong> aufgrund pädagogischer Leitideen<br />
einem horizontalen Beratungsmuster verpflichtet.<br />
(KLEBER 1983, zit. nach KLEBER 2001, 3)<br />
Als wesentliche Kommunikationskompetenzen können dabei die Beratervariablen nach<br />
ROGERS betrachtet werden:<br />
1. Akzeptanz des anderen, das bedeutet dem anderen bedingungslos Achtung<br />
und Respekt entgegen zu bringen<br />
2. Empathie, das bedeutet zu versuchen sich in den anderen mit seinen Gefühlen<br />
und Sichtweisen aufgrund seiner Erfahrung hinein zu versetzten<br />
3. und dabei „echt“ zu bleiben, das bedeutet Übereinstimmung zwischen verbalen<br />
Äußerungen und Äußerungen auf anderen Ebenen (wie z.B. Körpersprache) in<br />
Einklang zu bringen. (vgl. KLAUSS 1998, 262; MUTZECK 2002, 97)<br />
Darüber hinaus sollte versucht werden, „Allparteilichkeit“ herzustellen. Dies bedeutet:<br />
Im Gegensatz zu der nicht Stellung beziehenden ‚Überparteilichkeit’ beinhaltet dieses<br />
Prinzip, daß die echten Anliegen jedes <strong>Familien</strong>mitglieds zur Geltung kommen: Jeder<br />
hat gute Gründe für das, was er (nicht) tut.<br />
(KLAUSS 1993a, 312)<br />
Dies entspricht ebenfalls dem systemischen Ansatz, dass Handlungen eines jeden<br />
Systems aus seiner Sicht immer als sinnvoll anzusehen sind. Ich muss also zunächst<br />
den „Grund“, der hinter einer Handlung oder Aussage steht, verstehen, um lösungsorientiert<br />
beraten zu können. Dazu <strong>ist</strong> es sinnvoll emotionale Inhalte zu „spiegeln“, um sie<br />
so nochmals zu verdeutlichen beziehungsweise „wahrnehmbar“ zu machen. Hierbei<br />
kann eine „Analyse“ des Gesagten mit Hilfe des „Nachrichtenquadrats“ von SCHULZ<br />
VON THUN sinnvoll sein. Dieser geht davon aus, dass eine Aussage immer vier inhaltliche<br />
Aspekte enthält:<br />
1. Sachinhalt, das heißt, „objektiver“ Inhalt der Nachricht<br />
2. Selbstoffenbarung, das was ich von mir kundgebe (z.B. emotionale Inhalte)<br />
3. Beziehung, womit die Stellung der Kommunikationspartner zueinander gemeint<br />
<strong>ist</strong><br />
4. Appell, das wozu der Sprecher den anderen veranlassen möchte.<br />
Diese Aspekte sind immer feststellbar, <strong>wenn</strong> auch in unterschiedlicher Ausprägung.<br />
Hinzu kommt, dass Botschaften ausdrücklich formuliert oder indirekt enthalten sein<br />
können. Für eine Reflektion von Gesprächssituationen <strong>ist</strong> weiterhin die Einteilung in<br />
kongruente beziehungsweise inkongruente Nachrichten unter Einbezug nonverbaler<br />
Anteile zu beachten. Damit <strong>ist</strong> im Prinzip der ROGERsche Aspekt der Echtheit angesprochen.<br />
Eine Nachricht <strong>ist</strong> dann kongruent, <strong>wenn</strong> die vier Aspekte einer Äußerung<br />
34
dasselbe meinen. Dementsprechend wäre eine inkongruente Äußerung zum Beispiel<br />
der Satz „Sie sind tolle Eltern“ (Sachinhalt) mit einem ironischen Unterton (Selbstoffenbarung/<br />
Beziehung) (vgl. RETTER 2002, 272ff). Mit Hilfe der angesprochenen Grundaspekte<br />
der Gesprächsführung wird der Grundstein für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit<br />
aller Beteiligten und zur Vermeidung von Missverständnissen gelegt. Damit<br />
Gespräche effektiv verlaufen können, <strong>ist</strong> jedoch die Beachtung weiterer Faktoren wichtig.<br />
Dabei geht es vor allem um die Gestaltung von Rahmenbedingungen. Gespräche<br />
„zwischen Tür und Angel“ dienen der Kontaktpflege, für problembezogene Gespräche<br />
sind sie jedoch ungeeignet. Wichtig <strong>ist</strong> ebenfalls, eine Sprache zu verwenden, die der<br />
andere versteht. Dies bedeutet, mit einem Fach<strong>man</strong>n anders zu reden als mit Eltern<br />
oder einem Bewohner, nämlich jeweils auf „ihrer“ Sprachebene. Jeder Gesprächsanlass<br />
erfordert zudem einen eigenen (Zeit-) Rahmen mit entsprechenden methodischen<br />
Aspekten, um zum Beispiel den Bedürfnissen von Menschen mit (schwerer) Behinderung<br />
oder den jeweiligen Themen gerecht werden zu können. Hier <strong>ist</strong> als spezielle Methode<br />
besonders ein Ansatz hervor zu heben: Der Peer-Support/ das Peer-Counseling<br />
als Selbsthilfeansätze im Sinne von Betroffene beraten/unterstützen Betroffene. Diese<br />
Methode <strong>ist</strong> meines Erachtens besonders sinnvoll für die Arbeit des Heimbeirats. Es<br />
bedarf jedoch zur Ausübung einer derartigen Beratung gewisser Grundvoraussetzungen<br />
des Beraters und einer gezielten Ausbildung zum Peer-Counselor (z.B. VAN<br />
KANN/ DOOSE 1999). Nichtsdestotrotz enthält diese Methode viele Elemente, welche<br />
nach kurzer Einführung auch von nicht-ausgebildeten Menschen mit Behinderung angewendet<br />
werden können. Daher wird dieses Element im Konzept Eingang finden.<br />
Weitere Unterstützungsmöglichkeiten des Ablöse- und Entwicklungsprozesses bietet<br />
der Bereich der Erwachsenenbildung. Daher werden im folgenden Exkurs kurz grundlegende<br />
Aspekte zu diesem Thema dargestellt.<br />
2.5 Exkurs: Unterstützungsmöglichkeiten aus dem Bereich der Erwachsenenbildung<br />
Diese Arbeit nennt als eine Zielgruppe den einziehenden erwachsenen Menschen mit<br />
Behinderung. Des Weiteren wurden die zentralen Gedanken ausgeführt, dass eine<br />
Begleitung in einer Wohneinrichtung unter den Aspekten der Ass<strong>ist</strong>enz und der Beratung<br />
stattfinden sollte. Ziel <strong>ist</strong> die Erlangung größtmöglicher Selbstbestimmung und<br />
Empowerment. Der Wohnraum eines Menschen <strong>ist</strong> zunächst ein Lebensraum, ein Ort<br />
der Entspannung, der Selbstverwirklichung und ähnliches. Dies bedeutet nicht, dass<br />
er nicht auch ein Lernort sein kann. So enthält zum Beispiel der Auszug aus dem El-<br />
35
ternhaus die Anforderung, sich einen neuen Lebensraum mit seinen eigenen Anforderungen<br />
anzueignen. Dazu kann das Erlernen neuer Kompetenzen und Fähigkeiten<br />
nötig sein. Eine Durchstrukturierung des Alltags aus rein erzieherischen Überlegungen<br />
<strong>ist</strong> meiner Meinung nach jedoch konträr zum Gedanken der <strong>Normal</strong>isierung (vgl. auch<br />
SACK 1999, 193). In der Praxis sollen Hilfeplanungen zusammen mit dem Bewohner<br />
erfolgen (vgl. Kap. 2.3.1). Unterstützungsangebote in einer Wohneinrichtung mit dem<br />
Ziel einer (Weiter-) Bildung sollten sich somit meines Erachtens nach an Prinzipien der<br />
Erwachsenenbildung orientieren. Diese <strong>ist</strong> egalitär, beruht auf Freiwilligkeit, vertraglicher<br />
Basis und inhaltlicher und zeitlicher Begrenzung (NIEHOFF 2000, 310). Für den<br />
Betreuer in einer Einrichtung bedeutet dies, den Menschen mit Behinderung Ernst zu<br />
nehmen und gut zu zuhören, um so dessen (Lern-)Bedürfnisse zu erfahren. Diese Orientierung<br />
entspricht auch dem systemischen Gedanken, dass jeder Mensch aktiver<br />
Gestalter seiner Entwicklung <strong>ist</strong>.<br />
Um Entscheidungen treffen zu können, muss der Mensch Wahlmöglichkeiten haben<br />
und Informationen zu diesen bekommen, damit er sie treffen kann. Bildung zu vermitteln<br />
<strong>ist</strong> zunächst primär Aufgabe der Schule. Allerdings hört Lernen nicht mit dem Verlassen<br />
der Schule auf. Die Erfordernis weiter zu lernen ergibt sich auch aus der Tatsache,<br />
dass sich unsere Gesellschaft und unsere Lebensbedingungen stetig im Wandel<br />
befinden. Ständig neue Anforderungen erfordern somit auch die Möglichkeit der Weiterbildung.<br />
Erwachsenenbildung hat in Bezug auf Menschen mit Behinderung die Aufgabe<br />
sie fortzubilden und Hilfestellung zur Selbstbestimmung und Lebensgestaltung zu<br />
geben (FORNEFELD 2000, 119) und beinhaltet ein<br />
umfassendes Angebot, das sich auf all die Lebensbereiche zu erstrecken hat, die für<br />
den Einzelnen in seiner sozialen Situation ex<strong>ist</strong>entiell bedeutsam sind (SPECK 1999,<br />
338) [...] Sie gibt Hilfen zur Identitätsentwicklung (Persönlichkeitsbildung), zur Ausbildung<br />
von Beziehungen zur Umwelt und zur Partizipation und Integration. (ebd.;<br />
Hervorhebungen im Original)<br />
Leider <strong>ist</strong> die Möglichkeit an Maßnahmen der Erwachsenenbildung teilzunehmen zur<br />
Zeit nicht für alle Menschen mit (schwerer) ge<strong>ist</strong>iger Behinderung selbstverständlich.<br />
Dies liegt auch an der Tatsache, dass es nicht genügend Erwachsenenbildungsstätten<br />
für diesen Personenkreis gibt. Somit muss dieser Bereich bis auf weiteres Teil möglicher<br />
Angebote einer Wohneinrichtung sein, auch <strong>wenn</strong> dies dem <strong>Normal</strong>isierungsprinzip<br />
widerspricht (vgl. auch THEUNISSEN 2001, 372). Ein praxisrelevanter Ansatz <strong>ist</strong><br />
zum Beispiel die „SIVUS-Methode“ zur Förderung der individuellen und sozialen Entwicklung<br />
bei Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung (WALUJO/ MALMSTRÖM 1979)<br />
Des weiteren sei explizit auf die Methode der „Persönlichen Zukunftsplanung“ (s. z.B.<br />
bei VAN KAN/ DOOSE 2000) verwiesen:<br />
36
Persönliche Zukunftsplanung <strong>ist</strong> ein methodischer Ansatz, um mit Menschen mit und<br />
ohne Behinderung gemeinsam über ihre Zukunft nachzudenken, sich Ziele zu setzen<br />
und diese gemeinsam mit anderen konkret abzuarbeiten. (VAN KAN/ DOOSE 2000,<br />
74f)<br />
Auf diesem Ansatz basiert auch die Veröffentlichung „So möchte ich wohnen“ von<br />
GÖBEL (1998; leider vergriffen). Ebenso kann das „Individuelle Hilfeplanverfahren“ mit<br />
Hilfe dieser Methode durchgeführt werden. Aspekte dieser Ansätze 12 fließen daher in<br />
das zu entwickelnde Konzept zur Ablösebegleitung mit ein<br />
3 Der lange Weg bis zum Auszug aus dem Elternhaus<br />
In den vorangegangenen Kapiteln wurden Theorien der sogenannten Metaebene, sowie<br />
Handlungsleitgedanken und gesellschaftliche Rahmenbedingungen behandelt.<br />
Diese Erläuterungen dienen sozusagen als Hintergrund, um auf deren Basis Möglichkeiten<br />
der Begleitung der Ablösung vom Elternhaus in eine Wohneinrichtung zu entwickeln.<br />
In diesem Kapitel folgt nun eine Darstellung bedeutsamer, den Ablöseprozess<br />
und die Auszugsproblematik betreffender Aspekte. Es erscheint schon an dieser Stelle<br />
wichtig darauf hinzuweisen, dass diese Prozesse nicht zwangsläufig in jeder Familie<br />
gleich ablaufen, sondern, entsprechend dem systemischen Verständnis, jede diesen<br />
Prozess nach den eigenen Möglichkeiten be- und verarbeitet. Kooperation, Empowerment<br />
und <strong>Normal</strong>isierung sind hierbei Aspekte, welche sich nicht nur auf die Arbeit mit<br />
Menschen mit Behinderung beziehen, sondern auch in Bezug auf die Zusammenarbeit<br />
von Eltern und Fachleuten bedeutsam sind. Zunächst werde ich allgemeine Aspekte<br />
der Elternschaft eines behinderten Kindes darstellen, um dann speziell auf den Themenkreis<br />
Ablösung einzugehen. Abschließend wird das Spannungsfeld „Zusammenarbeit<br />
von Fachleuten und Eltern“ beleuchtet.<br />
3.1 Zum Verständnis der Elternschaft eines behinderten Kindes<br />
Die diesen Abschnitt begleitende Frage lautet, wie sich die Elternschaft bei einem Kind<br />
mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung möglicherweise von einer „normalen“ Elternschaft unterscheidet.<br />
Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf den Auswirkungen für den Ablösepro-<br />
12 Die Seitenzahl dieser Arbeit <strong>ist</strong> begrenzt. Daher kann an dieser Stelle nur kurz auf die oben angeführten<br />
Methoden verwiesen werden. Zur weiteren Vertiefung sei auf die gut zusammenfassenden Veröffentlichungen<br />
der genannten Autoren verwiesen (s. Literaturverzeichnis).<br />
37
zess, auch hinsichtlich der Frage, wie sie (die Eltern) sich selbst verstehen und die<br />
Zukunft ihrer Familie sehen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Arbeit und die Begleitung<br />
des Loslösungsprozesses in Wohneinrichtungen. Durch den Einzug werden Mitarbeiter<br />
Teil des Ablöseprozesses. Je nachdem wie die Behinderung des Kindes verarbeitet<br />
wurde und im weiteren Entscheidungen für einen Auszug getroffen wurden<br />
wird die Zusammenarbeit beeinflusst.<br />
Grundsätzlich lässt sich die Geburt eines Kindes (hier im Besonderen: eines Kindes mit<br />
ge<strong>ist</strong>iger Behinderung) als „kritisches Lebensereignis“ im Leben der Eltern begreifen.<br />
Dabei soll kritisches Lebensereignis verstanden werden als Eingriff in das zu einem<br />
gegebenen Zeitpunkt aufgebaute Passungsgefüge zwischen Person und Umwelt.<br />
(FILIPP 1981, 9) Es beinhaltet die Veränderung in den üblichen Aktivitäten einer Person<br />
und eine Rollenveränderung (vgl. HULTSCH/ CORNELIUS 1981, 74). Mit der Geburt<br />
eines Kindes mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung werden die Eltern „gezwungen“ eine neue<br />
Rolle als sogenannte „Behinderteneltern“ (nach MEADOW/ MEADOW 1971, vgl. in<br />
CLOERKES 2001, 242) anzunehmen. Dabei werden sie in der Regel mit dieser Rolle<br />
konfrontiert, ohne sie frei gewählt zu haben (s. dazu auch BÖRNER 1997, 70). Die<br />
Eltern sind geprägt von der Gesellschaft in der sie leben, mit all den Vorurteilen und<br />
(vornehmlich negativen?) Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung. Gefühlsmäßige<br />
Reaktionen der Eltern stehen in Wechselwirkung mit den Einstellungen in<br />
der Gesellschaft. (CLOERKES 2001, 238) Eine Neuorientierung wird erforderlich:<br />
Die Akzeptierung eines behinderten Kindes bedeutet eine grundlegende Veränderung<br />
des eigenen Lebensplanes der Eltern, des erhofften Lebensweges des Kindes und die<br />
Veränderung der Wertvorstellungen darüber, was ein Leben sinnvoll und lebenswert<br />
macht. (KLAUSS 1988, 116)<br />
In der Fachliteratur werden <strong>Familien</strong> mit behinderten <strong>Kinder</strong>n zum Beispiel als „Sonderfamilien“<br />
oder „behinderte <strong>Familien</strong>“ bezeichnet und die Elternschaft oft als „traditionslos“<br />
oder „lebenslang“ charakterisiert (vgl. CLOERKES 2001, 235; KLAUSS 1993a,<br />
49ff). Für den späteren Ablöseprozess <strong>ist</strong> unter anderem aber die Art und Weise, wie<br />
das Kind angenommen und dessen Behinderung verarbeitet wurde, von großer Bedeutung.<br />
Die Geburt eines behinderten Kindes bringt zunächst das System der Familie in<br />
ein Ungleichgewicht, welches ausbalanciert werden muss. Aus systemischer Sicht<br />
stellt dies eine „Störung“ des Systems dar. Das Mikrosystem ‚Familie’ wird um neue<br />
Subsysteme/ Beziehungen erweitert. Die Sichtweise, dass dies ausschließlich negative<br />
Folgen für das Selbstverständnis der Familie, ihr Leben und ihre Kompetenzen habe,<br />
greift jedoch zu kurz. Zwar kann es vorübergehend zu Desorganisationserscheinungen<br />
kommen, allerdings entstehen aus der Bewältigung und dem Umgang mit der Behinderung<br />
des Kindes me<strong>ist</strong> auch neue Kompetenzen (z.B. Organisationsfähigkeiten, neue<br />
38
Werteorientierungen etc.) BRADL beschreibt aus systemischer Sicht die Situation von<br />
<strong>Familien</strong> mit einem behinderten Kind in unserer Gesellschaft und stellt dabei fest, dass<br />
diese in erhöhtem Umfang psychosozialen Benachteiligungen und Belastungen unterliegen:<br />
a) Die Geburt eines Kindes stellt ein bedeutendes Streßsereignis für eine Familie dar;<br />
b) außerdem erbringen die üblichen Übergänge im Lebens- bzw. <strong>Familien</strong>zyklus (z.B.<br />
Schuleintritt) erneute Anforderungen; c) schließlich gibt es eine Reihe dauerhafter Anforderungen<br />
zeitlicher, finanzieller, psychischer oder zwischenmenschlicher Art<br />
[HENNICKE/BLEY]. (BRADL zit. nach ALBRECHT/ PRÜSER1999, 367)<br />
Ein behindertes Kind prägt somit das Leben der Familie auf entscheidende Weise.<br />
Auch heute sind es me<strong>ist</strong> noch die Mütter, welche sich die me<strong>ist</strong>e Zeit um die Betreuung<br />
und Versorgung des Kindes kümmern. SEIFERT spricht hier von einer doppelten<br />
Benachteiligung der Frauen: einerseits als Frau in der Mutterrolle allgemein, andererseits<br />
als „lebenslange“ Mutter eines behinderten Kindes. Dies führt in den me<strong>ist</strong>en Fällen<br />
zu Einschränkungen der persönlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten, wie Außenstehende<br />
dies oft als selbstverständlich voraussetzen (vgl. SEIFERT 1997b, 239;<br />
WOLF-STIEGEMEYER 2001). Gerade in Bezug auf die Ablöse- und Auszugsproblematik<br />
sehen sich viele Eltern immer noch mit der gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert,<br />
lebenslang für ihr „Kind“ da sein zu müssen und in „ewiger“ Verantwortung der<br />
Versorgung zu stehen. BALZER und ROLLI kennzeichnen dies 1975 mit dem Begriff<br />
der „per<strong>man</strong>enten Elternschaft“ (vgl. KLAUSS 1997, 39). Allerdings kritisieren<br />
SELTZER und KRAUSS, dass dieser Begriff die Beziehung zwischen Eltern und Kind<br />
nicht beschreibt und dass die Beziehung weitaus flexibler sein dürfte, was Veränderungen<br />
dieser Beziehung im Laufe der Jahre betrifft (vgl. KLICPERA/ GASTEIGER-<br />
KLICPERA 1998, 109).<br />
Dabei lässt sich durchaus die Tendenz zu einer Forderung nach „<strong>Normal</strong>isierung“ der<br />
Elternschaft feststellen. Bei Eltern ohne behindertes Kind <strong>ist</strong> die Sichtweise, dass Eltern<br />
und auch hier im Besonderen die Mütter, in der Elternrolle keine lebenslange Aufgabe<br />
sehen, sondern den Wunsch auf ein „Leben nach der Elternschaft“ haben, schon<br />
länger zu beobachten (vgl. hierzu PAPSTEFANOU 1997; WILLI 1987). KLAUSS stellt<br />
in Bezug auf <strong>Familien</strong> mit einem Kind mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung fest, dass sich Eltern<br />
fragen: ‚Wann haben wir genug getan und ein Anrecht auf ein Leben als Ehepaar ohne<br />
<strong>Kinder</strong> wie andere auch, weil auch wir so normal leben wollen wie andere <strong>Familien</strong>?’<br />
und stellt klar: Sie haben ebenso wie ihre <strong>Kinder</strong> ein Recht auf ein eigenes Leben.<br />
(KLAUSS 1995, 445f). Er verwe<strong>ist</strong> auf das <strong>Normal</strong>isierungsprinzip und kommt zu dem<br />
Schluss: <strong>Normal</strong> <strong>ist</strong> aber, dass Menschen nicht lebenslang als <strong>Kinder</strong> leben, und dass<br />
Eltern nicht lebenslang <strong>Kinder</strong>betreuung als Aufgabe haben. (KLAUSS 1995, 445)<br />
SEIFERT stellt Tendenzen vieler jüngerer Eltern hinsichtlich einer Zukunftsplanung für<br />
39
ein „Leben so normal wie möglich“ fest. Wieder spielt ein verändertes Rollenverständnis<br />
der Mütter eine Rolle, die im Interesse ihrer eigenen Lebensplanung und Autonomie<br />
immer weniger zu einer lebenslangen Betreuung ihres Kindes bereit sind.<br />
(SEIFERT 1998, 165)<br />
Damit stellt sich automatisch die Frage, wo das erwachsen gewordene Kind später<br />
einmal leben kann beziehungsweise möchte. KLAUSS äußerte 1993 auf Basis einer<br />
Untersuchung der Lebenshilfe von 1987 die Vermutung, dass die Anzahl der Eltern, die<br />
sich an der Idee der <strong>Normal</strong>isierung orientieren und bewusst eine (räumliche) Ablösung<br />
von ihrem Kind im normalen (d.h. üblichen) Alter anstreben, zunehmen wird (vgl.<br />
KLAUSS 1993b, 244 und 1997, 39). Auch hierzu findet sich bei SEIFERT die Aussage<br />
einer jungen Mutter:<br />
[...] Wie wird mein Kind wohnen, wie wird mein Kind arbeiten, wo wird sein Platz sein,<br />
dass ich mich auch wieder rausziehen kann. Denn das <strong>ist</strong> mein Ziel, was ich auch ganz<br />
klar im Kopf hab: Ich werde nicht mein Leben lang mein Kind bei mir zu Hause behalten.<br />
(SEIFERT 1997b, 248)<br />
Die alles entscheidende Frage <strong>ist</strong>, ob und inwieweit sich die grundsätzlich Aufgabe der<br />
Eltern bei einem Kind mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung unterscheidet. Mit den Worten einer<br />
Mutter ausgedrückt:<br />
Wie auch immer Eltern den Erziehungsauftrag verstehen, sie erfüllen ihn mit der Absicht,<br />
ein Kind aus einer bestimmten ethischen, moralischen und religiösen Grundhaltung<br />
heraus lebenstüchtig zu machen. Wenn sie es eines Tages aus ihrer Obhut entlassen<br />
– oder es sich daraus entzieht – dann <strong>ist</strong> es in vielfältiger Hinsicht angelegt,<br />
ausgerichtet, in Teilbereichen fertig, <strong>ist</strong> nicht mehr unbeschriebenes Blatt. Dies gilt<br />
auch für unsere ge<strong>ist</strong>ig behinderten Söhne und Töchter. (TRAPPEN 1982, 18)<br />
Hinsichtlich der Folgen einer Ablösung mit folgendem Auszug meint sie:<br />
Auch Söhne und Töchter die das Elternhaus verlassen, bleiben uns zugehörig und wir<br />
bleiben für sie Vater und Mutter. Eltern sind nicht nur Erzeuger, Erzieher und Versorger,<br />
Eltern personifizieren auch Anfang, Herkunft, Geschichte. (TRAPPEN 1982, 19)<br />
Hier zeigt sich das Spannungsfeld in dem sich <strong>Familien</strong> mit einem behinderten Kind<br />
bewegen und welches nur allzu oft in der Diskussion um ihre Situation nicht genügend<br />
beachtet wird. Einerseits bleiben Eltern immer Eltern, egal wo ihr erwachsenes Kind<br />
mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung lebt. Andererseits haben sie, wie auch von KLAUSS postuliert,<br />
beide das Recht auf ein eigenes Leben entsprechend ihren Wünschen.<br />
40
3.2 Die Phase der Ablösung – Der Übergang vom Elternhaus in eine Einrichtung<br />
Ablösung <strong>ist</strong> mehr als ein Auszug aus dem Elternhaus. Sie verläuft auch nicht von heute<br />
auf morgen, sondern <strong>ist</strong> ein Prozess, welcher im Prinzip schon mit der Geburt beginnt<br />
und wahrscheinlich erst mit dem Tod der Eltern endet. Dies gilt meines Erachtens<br />
für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen. Dennoch gibt es einige Besonderheiten<br />
in Bezug auf <strong>Familien</strong> mit einem behinderten Kind. Im Folgenden werden<br />
die wesentlichen Aspekte des Loslösungsprozesses in Bezug auf die Bedeutung für<br />
diese Arbeit dargestellt.<br />
3.2.1 Reifung als natürlicher Prozess<br />
Reifung <strong>ist</strong> ein natürlicher Prozess in der Entwicklung aller Lebewesen. Im Gegensatz<br />
zu den me<strong>ist</strong>en Lebewesen, bei denen dieser Prozess mit dem Erlangen der Fortpflanzungsreife<br />
abgeschlossen <strong>ist</strong>, gestaltet dieser sich beim Menschen ungleich komplexer.<br />
Das Kind muss in seiner Entwicklung zum Erwachsenen auf drei Ebenen „reifen“:<br />
1. Geschlechtsreife<br />
2. Psychische Reife<br />
3. Soziale Reife (vgl. WALTER 1985; LEMPP 1997).<br />
Eng mit dem Reifeprozess <strong>ist</strong> die Phase der Ablösung verbunden, sie gilt sozusagen<br />
als vorläufiger Abschluss dieses Prozesses. Mit der Ablösung überschreiten die Jugendlichen<br />
eine Entwicklungsgrenze hin zum erwachsenen Menschen. Diese Übergangsphase<br />
wird Adoleszenz genannt und beginnt mit der Pubertät (vgl. ZIMBARDO<br />
1995, 91). Sie <strong>ist</strong> gekennzeichnet durch verschiedene Umstrukturierungsprozesse,<br />
welche von den Jugendlichen als leidvoll erlebt, in der Entwicklungspsychologie allerdings<br />
als typische Krisenerscheinungen der Pubertät (und nicht als krankhaftes Phänomen<br />
wie in der Psychiatrie) betrachtet werden (vgl. FILIPP 1981, 131f; WALTER<br />
1985; PAPASTEFANOU 1999 u.a.). HURRELMANN unterscheidet diesen Prozess auf<br />
vier Ebenen, welche zeitlich aufeinander folgen:<br />
• Auf der psychologischen Ebene, indem sich die eigene Orientierung von Gefühlen<br />
nicht mehr vorrangig an den Eltern, sondern an anderen Bezugspersonen<br />
ausrichtet;<br />
• auf der kulturellen Ebene, indem ein persönlicher Lebensstil entwickelt wird, der<br />
sich von dem der Eltern unterscheiden kann;<br />
• auf der räumlichen Ebene, indem der Wohnstandort aus dem Elternhaus verlagert<br />
wird, und schließlich<br />
41
• auf der materiellen Ebene, indem die finanzielle und wirtschaftliche Selbstständigkeit<br />
erreicht und da-<br />
mit die finanzielle Abhängigkeit vom Elternhaus beendet wird. (HURRELMANN<br />
1999, 142)<br />
WALTER geht davon aus,<br />
dass ge<strong>ist</strong>ig behinderte <strong>Kinder</strong> und Jugendliche in der Regel denselben schmerzhaften<br />
und stressvollen Umstrukturierungsprozess in Pubertät und Adoleszenz durchleben<br />
wie ihre nichtbehinderten Altersgenossen auch, allerdings me<strong>ist</strong> unter anderen Prämissen.<br />
In vielen Punkten sind sie den „normalen“ <strong>Kinder</strong>n gegenüber im Nachteil.<br />
(WALTER 1985, 26; vgl. auch WILKEN 1985; KLAUSS 1997, 40; LEMPP 1997, 31f)<br />
Dies bezieht sich sowohl einerseits auf die Einstellungen von Eltern, Erziehern und<br />
anderen, als auch konkret auf Aspekte, welche mit dem schon erwähnten „Mehr an<br />
sozialer Abhängigkeit“ zusammenhängen. Bei Menschen ohne Behinderung wird der<br />
Weg zu mehr Selbstständigkeit und Ablösung im Gegensatz zu Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger<br />
Behinderung praktisch „von selbst“ vorbereitet. Eine Tabelle von KLAUSS soll dies<br />
verdeutlichen.<br />
42
Bedeutung für Menschen ohne<br />
Behinderung<br />
<strong>Kinder</strong>garten <strong>Kinder</strong> werden zunächst gebracht,<br />
gehen dann eigenständig. Anbahnung<br />
von Freundschaften<br />
Schule/<br />
Ausbildung<br />
Selbständiger Schulbesuch, Kontakte<br />
zu Schulkameraden auch außerhalb<br />
der Schule, erstes eigenes Geld<br />
(Taschengeld, Verdienst)<br />
Peergroups Überwiegend Kontakte ohne<br />
Elternkontrolle im Jugendalter,<br />
Herausbildung eigener Standpunkte<br />
Freizeit/ Urlaub Möglichkeit, eigene Unabhängigkeit<br />
und eigene Interessen zu erproben<br />
und zu realisieren<br />
Arbeit „Freie“ Wahl des Arbeitsplatzes<br />
ohne Vorgaben. Verdienst<br />
ermöglicht selbstbestimmtes<br />
Leben, Wohnen etc.<br />
Wohnen Der Zeitpunkt des Auszuges aus<br />
dem Elternhaus wird selbst<br />
bestimmt und erfolgt auf der<br />
Grundlage des eigenen<br />
Einkommens. Wohnort und<br />
Wohnungseinrichtung werden<br />
individuell (nach Geschmack)<br />
Leben als<br />
Erwachsene<br />
entschieden.<br />
Nach der Berufswahl sind<br />
<strong>Familien</strong>gründungen, <strong>Kinder</strong><br />
etc. möglich. Interessen werden<br />
jetzt selbst wahr-genommen,<br />
politische Rechte genutzt<br />
Vergleich äußerlich gleicher Lebensabschnitte<br />
Aus: KLAUSS, 1995, S. 448<br />
Während bei Jugendlichen ohne Behinderung die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit<br />
ab dem <strong>Kinder</strong>garten stetig zunimmt, haben Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung<br />
das Problem, immer von elterlicher Hilfe, Transportmöglichkeiten und örtlichen Gege-<br />
43<br />
Bedeutung für Menschen mit<br />
ge<strong>ist</strong>iger Behinderung<br />
<strong>Kinder</strong> lernen andere <strong>Kinder</strong> und<br />
Betreuer kennen, aber in der<br />
Regel <strong>ist</strong> ein Transport über<br />
größere Strecken notwendig.<br />
Geringer Zuwachs an<br />
Eigenständigkeit<br />
Neuer Bekanntenkreis, aber<br />
weiterhin Transporte notwendig,<br />
kaum Kontakte außerhalb der<br />
Schule, enge Absprachen<br />
Elternhaus/Schule, eventuell<br />
Taschengeld<br />
Jugendkontakte fast<br />
ausschließlich organisiert, beaufsichtigt,<br />
nicht direkt im<br />
Wohngebiet<br />
Urlaub nur mit Eltern oder<br />
organisiert möglich, bei erheblicher<br />
Behinderung im Kurzzeitheim<br />
mit voller Betreuung<br />
Arbeitsmöglichkeit in der Regel<br />
nur in der regionalen Werkstatt<br />
für Behinderte oder in deren<br />
Fördergruppe, geringes Einkommen,<br />
das kein eigenständiges<br />
Leben ermöglicht<br />
Zeitpunkt des Auszuges <strong>ist</strong> me<strong>ist</strong><br />
fremdbestimmt (durch Eltern,<br />
Fachleute, unter Behördenmitwirkung),<br />
ebenso Ort und<br />
Grad der Eigenständigkeit des<br />
Wohnens nach der <strong>Familien</strong>phase.<br />
Nur teilweise Mitsprache<br />
bei Wohnungsgestaltung<br />
Nur einzelne Menschen mit<br />
ge<strong>ist</strong>iger Behinderung leben<br />
alleine oder in Partnerschaft,<br />
nur ganz wenige haben <strong>Kinder</strong>.<br />
In der Regel leben sie als<br />
„erwachsenes Kind“ in der<br />
Familie oder kollektiv in einem<br />
Heim. Ihre Interessen werden<br />
durch andere vertreten, Betreuer,<br />
Eltern, Verbände
enheiten (Infrastruktur der Angebote) abhängig zu sein. LEMPP (1997) und KLAUSS<br />
(1995) verweisen darauf, dass nichtbehinderte <strong>Kinder</strong> sich eher selbst um ihren psychosozialen<br />
Fortschritt und Zuwachs an Selbstbestimmung bemühen. <strong>Kinder</strong> und Jugendliche<br />
mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung hingegen müssen in dieser Hinsicht mehr angeregt<br />
und gefördert werden. Ein Problem liegt darin, dass bei Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger<br />
Behinderung die körperliche Reife me<strong>ist</strong> „normal“ verläuft, wohingegen die psychische<br />
und soziale Reife verlangsamt entwickelt wird (vgl. LEMPP 1997; WALTER 1985). Es<br />
gilt jedoch zu beachten, dass auch bei Nichtbehinderten eine asynchrone Abfolge dieser<br />
verschiedenen Prozesse festzustellen <strong>ist</strong> (vgl. WALTER 1985, 27;<br />
PAPASTEFANOU 1999). Hier verweisen die beiden genannten Autoren auf eine Entwicklung<br />
in den heutigen Industriegesellschaften, in welchen durch verlängerte Ausbildungszeiten<br />
und einem großen Angebot von Werten und Lebensperspektiven, die Reifung,<br />
Identitätsentwicklung und Ablösung erheblich erschwert und verzögert werden.<br />
Dennoch bleibt unstrittig, dass auch Jugendliche mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung in die normale<br />
Phase der Ablösungskrise gelangen und ihre Eltern damit konfrontiert werden.<br />
Diese Phase wird umso schwieriger erlebt, je schwerer die Behinderung des Jugendlichen<br />
<strong>ist</strong> (vgl. FEHLHABER 1987; KLAUSS 1988; 1995, 448).<br />
3.2.2 Der Prozess der Ablösung beginnt schon bei der Geburt<br />
Die erste Trennung bzw. Ablösung im Leben des Kindes erfolgt lange vor einem Auszug:<br />
es <strong>ist</strong> die Geburt. In der menschlichen Entwicklung kommt es zu weiteren Ablöseprozessen,<br />
wie dem Abstillen, Laufen lernen, erste Schritte, der Identitätsbildung und<br />
Abgrenzung von den Eltern im Kleinkindalter, Trennungsproblemen beim <strong>Kinder</strong>gartenund<br />
Schuleintritt, weiteren Abgrenzungen im Jugendalter und sind me<strong>ist</strong> über den Auszug<br />
hinaus ein die Familie begleitendes Thema (vgl. FISCHER 1997, 281). Kürzer gefasst<br />
könnte Ablösung wie folgt definiert werden: Ablösung umfasst alle Entwicklungen<br />
im Eltern-Kind-Verhältnis zu mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit (KLAUSS<br />
1997, 39) und vollzieht sich schrittweise über einen längeren Zeitraum.<br />
Die Ablösungsphase in der Jugend <strong>ist</strong> dabei nicht nur eine Entwicklungsphase für den<br />
erwachsenwerdenden jungen Menschen, sondern fällt zusammen mit einer komplementären<br />
Entwicklungsphase der Eltern. Für beide Seiten bedeutet die Loslösung eine<br />
Phase der Des- und Neuorientierung und bildet sowohl für das Kind, als auch für die<br />
Eltern eine Identitätskrise. WILLI beschreibt die Entwicklung von Eltern und Kind als<br />
aufeinander bezogene koevolutive Prozesse (WILLI 1987, 54). Ungelöste Ablösungsprozesse<br />
der Jugendlichen behindern die Neuorientierung der Eltern ebenso, wie die<br />
44
ungelöste Neuorientierung der Eltern die Ablösung der <strong>Kinder</strong> behindert (vgl. ebd.).<br />
Dies erleben Mitarbeiter dann im Alltag und definieren es als „Ablöseprobleme“. <strong>Familien</strong><br />
mit einem ge<strong>ist</strong>ig behinderten Kind sind in dieser Phase besonders darauf angewiesen,<br />
„Signale“ des Ablösewunsches aus dem Verhalten zu erkennen. FEHLHABER<br />
berichtet zum Beispiel über auftretende „Verhaltensstörungen“, die <strong>man</strong>gelnde sprachliche<br />
Ausdrucksmöglichkeiten kompensieren. Das Streben nach größerer Eigenständigkeit<br />
äußert sich dann oft in personen- und situationsbezogenen Verhaltensweisen<br />
(z.B. Rückzug, Verweigerung, Auflehnung und Aggression), welche in der Regel in<br />
Abhängigkeit zu den engsten Bezugspersonen stehen (vgl. FEHLHABER 1987, 158).<br />
In diesem Zusammenhang stellt KLAUSS die These auf, dass es bei Menschen mit<br />
ge<strong>ist</strong>iger Behinderung me<strong>ist</strong> nicht um ein „Loslassen“, sondern ein „Weggeben“ geht.<br />
Im Gegensatz zu nichtbehinderten <strong>Kinder</strong>n, die me<strong>ist</strong> selbst weg wollen, würden <strong>Kinder</strong><br />
mit einer ge<strong>ist</strong>igen Behinderung kaum selbst von Zuhause weg streben (umso weniger,<br />
je schwerer die Behinderung <strong>ist</strong>). In seiner Untersuchung mit Eltern stellte er auf die<br />
Frage nach der Zukunftsplanung fest, dass weniger als fünf Prozent der Eltern wissen<br />
oder das Gefühl haben, ob oder dass ihr Kind eine Trennung will (vgl. KLAUSS 1993b,<br />
1995). Zu kritisieren <strong>ist</strong> hierbei allerdings, dass er nur Eltern befragt hat und nicht die<br />
Jugendlichen selbst. Außerdem lässt sich wohl eher sagen, dass je schwerer die Behinderung<br />
<strong>ist</strong>, es umso schwerer <strong>ist</strong>, Vermutungen über einen Auszugswunsch anzustellen.<br />
Dies würde auch den Ausführungen von FEHLHABER 1987 entsprechen. Hinzu<br />
kommt, dass es immer noch nicht genügend angemessene Wohnplätze für Menschen<br />
mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung gibt, so dass die Mehrzahl immer noch zuhause lebt<br />
(vgl. SEIFERT 1997a., 57).<br />
Eine weitere interessante Untersuchung veröffentlichten KLICPERA und KLICPERA-<br />
GASTEIGER 1998. Sie befragten sowohl Eltern (aus einem ländlichen und einem städtischen<br />
Gebiet Österreichs) als auch Betreuer (nur aus dem gleichen ländlichen Gebiet),<br />
unter anderem zu verschiedenen Einstellungen zum Thema „Ablösung eines<br />
ge<strong>ist</strong>ig behinderten Erwachsenen von den Eltern und Wohnen im Wohnheim“.<br />
Ablösung von Eltern<br />
auch für behinderte<br />
Menschen notwendig<br />
Angehörige in Südtirol<br />
Angehörige in Wien<br />
Betreuer in Südtirol<br />
Trifft zu<br />
sicher etwas eher nicht nicht<br />
27% 15% 13% 45%<br />
17% 17% 19% 47%<br />
49% 36% 8% 7%<br />
45
Gefahr zu geringer<br />
Selbständigkeit<br />
Angehörige in Südtirol<br />
Angehörige in Wien<br />
Betreuer in Südtirol<br />
Wohnheim kann nie<br />
richtiges Zuhause<br />
sein<br />
Angehörige in Südtirol<br />
Angehörige in Wien<br />
Betreuer in Südtirol<br />
Eltern behinderter<br />
Menschen haben<br />
Recht<br />
auf ruhigen Lebensabend<br />
Angehörige in Südtirol<br />
Angehörige in Wien<br />
Betreuer in Südtirol<br />
Trifft zu<br />
Sicher etwas eher nicht nicht<br />
47% 24% 6% 23%<br />
42% 20% 19% 19%<br />
48% 23% 21% 8%<br />
46% 20% 19% 16%<br />
73% 9% 9% 9%<br />
25% 23% 32% 20%<br />
26% 22% 19% 33%<br />
21% 18% 26% 35%<br />
45% 35% 11% 9%<br />
Einstellungen zu Ablösung eines ge<strong>ist</strong>ig behinderten Erwachsenen von den<br />
Eltern und zum Wohnen in einem Wohnheim bei Angehörigen ge<strong>ist</strong>ig<br />
behinderter Menschen in Südtirol und Wien sowie bei Behindertenbetreuern<br />
Aus: KLICPERA/ KLICPERA-GASTEIGER 1998, S.112<br />
Interessant <strong>ist</strong> dabei, dass Eltern zwar die Gefahr einer geringeren Selbstständigkeit<br />
ihres Kindes erkennen, diese aber in Kauf nehmen, da in ihren Augen ein Wohnheim<br />
nie ein richtiges Zuhause sein kann. Außerdem betrachten sie, im Gegensatz zur Meinung<br />
der Betreuer, ihre elterliche Verantwortung dem Kind gegenüber für wichtiger, als<br />
das Recht auf einen ruhigen Lebensabend. Es wäre interessant zu untersuchen, ob die<br />
gleichen Tendenzen auch in Deutschland fest zu stellen sind und somit die formulierte<br />
These der „<strong>Normal</strong>isierung der Elternschaft“ eher ein Konstrukt von Fachleuten und<br />
weniger der Eltern darstellt. Im Gegensatz zu KLAUSS (1995), der eine „<strong>Normal</strong>isierung“<br />
der Ablösung sieht und sich dabei auf die wachsende Belastung der Eltern und<br />
das Recht des Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung auf Erwachsenwerden bezieht,<br />
fordern sie (allerdings auf Österreich bezogen) nicht für jeden Erwachsenen mit ge<strong>ist</strong>iger<br />
Behinderung einen öffentlich geförderten Wohnplatz vorzusehen, sondern solche<br />
Hilfen auszubauen, welche einen Verbleib in der Familie ermöglichen. Beide Positio-<br />
46
nen haben ihre Berechtigung, wichtig bleibt das Recht auf Bereitstellung und Wahrnehmen-Können<br />
beider Möglichkeiten (vgl. KLAUSS 1995; KLICPERA/ KLICPERA-<br />
GASTEIGER 1998). Wie schon GUSKI und LANGLOTZ-BRUNNER festgestellt haben,<br />
müssen äußere und innere Bedingungen der Ablösung in Einklang stehen. Erschwerende<br />
äußere Bedingungen (wie begrenzte Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten, finanzielle<br />
Probleme, Schweregrad der Behinderung, gesellschaftliche Normen) nehmen<br />
ebenso Einfluss auf die Ablöseprozesse wie psychodynamische Prozesse innerhalb<br />
der Familie.<br />
Die Ablösung kann nur dann als gelungen bezeichnet werden, <strong>wenn</strong> die „innere“, das<br />
heißt emotionale Loslösung aus dem Schonraum Familie statt gefunden hat, ansonsten<br />
sind auch die günstigsten äußeren Bedingungen nicht hinreichend (vgl. GUSKI/<br />
LANGLOTZ-BRUNNER 1991, 38).<br />
Übertriebene Fürsorglichkeit und über Gebühr erweiterte „Schutzzonen“ behindern das<br />
Selbstständigwerden und die Autonomie. KRIEGER, die als Mutter und Vorstandsmitglied<br />
der Lebenshilfe e.V. mit dem Aufgabengebiet „Wohnheime“ betraut <strong>ist</strong>, berichtet<br />
über ein „Auszugs-Vorbereitungsprogramm“ für ausziehende <strong>Kinder</strong>. Ihre Schilderungen<br />
(auch über Erfahrungen mit ihrer eigenen Tochter) lassen den Schluss zu, dass<br />
der Auszugswunsch bei genügend Vorbereitung von selbst bei den erwachsen gewordenen<br />
Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung entsteht (vgl. KRIEGER 1982, 32ff).<br />
TRAPPEN stellt fest, dass immer mehr Eltern den Fachleuten zustimmen, dass Menschen<br />
mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung das Elternhaus ebenso als junge Erwachsene verlassen<br />
sollten, wie ihre nichtbehinderten Altersgenossen. Der Eintritt in die Werkstatt für<br />
Behinderte biete sich daher als Zeitpunkt des Auszugs an, da sie in diesem Alter besonders<br />
lernfähig seien und Veränderungen ihres Lebensumfeldes gut verarbeiten<br />
könnten (vgl. KRIEGER 1982; TRAPPEN 1982; FEHLHABER 1987; KLAUSS 1995;<br />
SEIFERT 1997a). Andererseits könnte ein Zusammenfallen beider Ereignisse vom<br />
Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung auch als Doppelbelastung empfunden werden, da<br />
zeitgleich zwei schwerwiegende Veränderungen in seinem Lebensbereich stattfinden<br />
würden.<br />
Abschließend bleibt festzustellen, dass die Ablöseproblematik keine rein behindertenspezifische<br />
Thematik darstellt, sondern auch für <strong>Familien</strong> mit einem nichtbehinderten<br />
Kind eine Krise darstellt (vgl. hierzu besonders PAPASTEFANOU 1999).<br />
47
3.2.3 Die Bedeutung einer „erfolgreichen“ Trauerarbeit<br />
In Veröffentlichungen zum Thema Ablöseprozesse wird immer wieder darauf verwiesen,<br />
dass es zur erfolgreichen (im Sinne von abgeschlossen) Bewältigung dieses Prozesses<br />
von Nöten sei, dass die Eltern die Behinderung ihres Kindes verarbeitet haben.<br />
Trauerarbeit um das „imaginäre Kind“, das erträumte Wunschkind, <strong>ist</strong> notwendig, damit<br />
das behinderte Kind „als handelndes Subjekt mit individuellen Ressourcen und eigener<br />
Verantwortlichkeit“ (HENNICKE &BRADL 1990, 8) wahrgenommen werden kann, d.h.<br />
damit ihm als einem Menschen, der bei seinen Behinderungen doch einen eigenen<br />
Handlungsspielraum hat, begegnet werden kann. (ALBRECHT/ PRÜSER 1999, 368)<br />
Dies wird in der Literatur oft mit verschiedenen Phasen beschrieben (vgl. hierzu z.B.<br />
KERKHOFF 1981; JONAS 1989; SCHUCHHARDT 1996). In diesem Kontext wird oft<br />
vom Begriff der „Trauerarbeit“ gesprochen (in Anlehnung an KAST 1984). Sie hat den<br />
Verarbeitungsprozess der verschiedenen Phasen auf dem Weg zur Annahme der Behinderung<br />
mit diesem Begriff gekennzeichnet. Hierbei gilt die Behinderung als Verlust<br />
(eines erhofften/ erwarteten gesunden Kindes) und wird mit dem Verlust eines geliebten<br />
Menschen durch Tod verglichen. Nach KAST müssen währenddessen vier Phasen<br />
durchlaufen werden:<br />
1. Nichtwahrnehmung und Suchen<br />
2. aufbrechende chaotische Emotionen<br />
3. Suchen, Finden und Sich – Trennen<br />
4. Autonomieentwicklung als neuer Selbst- und Weltbezug. (vgl. CLOERKES<br />
2001, 240)<br />
Die Bedeutung solcher Modelle für Mitarbeiter einer Einrichtung liegt darin, dass sie<br />
sich mit deren Hilfe an die Situation einer Familie annähern können. Dabei bleibt nach<br />
CANACAKIS zu beachten<br />
Strukturen und Modelle werden in der Wissenschaft, auch in der Psychologie, benötigt<br />
und können wichtige Anhaltspunkte und Anregungen für die Praxis liefern. Man muss<br />
sich nur vor der blinden Übertragung auf den Menschen hüten, denn Gefühle lassen<br />
sich nun einmal nicht in Schablonen und Muster pressen. (CANACAKIS zit. nach<br />
HEER 2002)<br />
Nur <strong>wenn</strong> Trauerarbeit in ausreichender Weise gele<strong>ist</strong>et wird, können sich die Eltern<br />
realitätsgerecht verhalten (vgl. CLOERKES 2001, 240). Hingegen kann es bei ungele<strong>ist</strong>eter<br />
Trauerarbeit und „falscher“ Annahme der Behinderung zu einem Teufelskreis<br />
kommen. Beispielsweise kann anfängliche Ablehnung in Überbehütung als Wiedergutmachung<br />
umschlagen, wodurch das Kind massiv daran gehindert wird, selbstständiger<br />
zu werden. In Folge dessen kommt es auch nur sehr schwer zu einer Ablösung<br />
zwischen Eltern und Kind, da die Unselbstständigkeit des Kindes zu einer stärkeren<br />
Bindung an seine Bezugspersonen führt (vgl. GUSKI 1980, 136). Gelingt den Eltern<br />
48
dieser Annahmeprozess nicht, so kann das dazu führen, dass diese Krise als unbewältigte<br />
psychische Dauerbelastung die Familie in ihrem Erziehungs- und Sozialisationsprozess<br />
begleitet und die Ablösung dadurch erschwert wird (vgl. THEUNISSEN/<br />
PLAUTE 1995, 125). SEIFERT erläutert, welche Faktoren sich als positiv innerhalb des<br />
<strong>Familien</strong>systems erweisen, um die Behinderung des Kindes und mit ihr einher gehende<br />
Probleme bzw. Aufgaben besser zu bewältigen.<br />
Günstig <strong>ist</strong> ein <strong>Familien</strong>gefüge, in dem die Partnerbeziehung von Vater und Mutter intakt<br />
<strong>ist</strong>, wo die <strong>Kinder</strong> offen über ihre Probleme sprechen können, wo die Verantwortung<br />
für das behinderte Kind gemeinsam getragen wird und alle Beteiligten genügend<br />
Freiräume haben, eigenen Bedürfnissen nachzugehen. (SEIFERT 1997b, 244)<br />
KLAUSS beschreibt die Loslösung vom Elternhaus als Phase, in der die Eltern nun<br />
zum zweiten Mal Trauerarbeit zu le<strong>ist</strong>en haben. Nachdem die Eltern Abschied vom<br />
ersehnten „vollkommenen“ (d.h. nicht-behinderten) Kind nehmen und sich statt dessen<br />
auf ein Kind mit einer ge<strong>ist</strong>igen Behinderung einlassen mussten, wird nun von ihnen<br />
gefordert, ihr Kind als erwachsenen Menschen mit neuen Bedürfnissen wahr zu nehmen.<br />
Dies erfordert eine Neudefinition der Eltern-Kind-Beziehung (vgl. KLAUSS 1988,<br />
112f.). Die Ablösung mit einem Auszug aus dem Elternhaus kann somit nur dann erfolgreich<br />
verlaufen, <strong>wenn</strong> sich die Eltern und der junge Erwachsene aktiv mit dieser<br />
Entscheidung beschäftigt haben, ansonsten führt eine Nicht-Bewältigung dieser Krise<br />
wieder zu neuen Problemen (z.B. im Verhältnis zwischen Eltern und Betreuern). Des<br />
Weiteren muss beachtet werden, dass der Auszug unter Umständen ohne Initiative des<br />
Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung vorbereitet wird (z.B. bei schwerer Behinderung).<br />
In diesem Fall kommen noch eventuell Schuldgefühle der Art, sie würden ihr Kind abschieben<br />
und die Verantwortung abgeben, hinzu. Des Weiteren können Eheprobleme<br />
in Folge des Auszugs auftreten, da mit dem Wegfall der ständigen Betreuung mehr<br />
Raum für eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben einhergehen kann. Hieraus<br />
wird deutlich, wie wichtig begleitende Maßnahmen während der Ablösephase und<br />
vor einem Auszug sein können. Beiden, Eltern und erwachsenem Kind, muss dabei<br />
unter anderem klar werden, dass sie sich nicht gegenseitig verlieren, sondern die Eltern<br />
einerseits immer verantwortlich und ansprechbar bleiben und andererseits das<br />
Kind beziehungsweise der junge erwachsene Mensch seine Eltern als Bezugspartner<br />
behält (schon allein, weil diese einen Teil seiner Identität bilden). Dabei kommt es auch<br />
darauf an, wie sich die neuen Betreuer in dieser Phase gegenüber der Familie verhalten<br />
und bereit sind, Gesprächsmöglichkeiten anzubieten und auf Probleme einzugehen,<br />
anstatt sie zu verurteilen oder zu verharmlosen.<br />
49
Jeder erinnere sich daran, wie schwer es den eigenen Eltern fiel, als ihr Kind auszog<br />
und wie viel Heimweh <strong>man</strong> eventuell selbst anfangs hatte, woraus wiederum deutlich<br />
wird, dass Trauerarbeit auch in „nicht-behinderten“ <strong>Familien</strong> gele<strong>ist</strong>et werden muss.<br />
3.2.4 Der Auszug als normative Krise<br />
Zum Abschluss dieses Kapitels folgt nun eine Zusammenfassung der wesentlichen<br />
Aspekte des Ablöseprozesses für den speziellen Rahmen dieser Arbeit. Nach<br />
BRONFENBRENNER <strong>ist</strong> der Auszug aus dem Elternhaus als „ökologischer Übergang“<br />
zu verstehen. Dieser bringt immer auch eine Rollenveränderung mit sich (vgl.<br />
BRONFENBRENNER 1981, 22) In der Literatur wird die Loslösung des Menschen mit<br />
ge<strong>ist</strong>iger Behinderung zudem auch als kritisches Lebensereignis nach FILIPP bezeichnet<br />
(so z.B. bei KLAUSS 1988, 111) und als „zweite Krise“ der Familie beschrieben<br />
(nach der Geburt eines behinderten Kindes nun die Ablösung von der Familie; vgl. Kap<br />
3.1 dieser Arbeit). Zur Erinnerung: Als kritische Lebensereignisse werden dabei solche<br />
verstanden,<br />
die durch Veränderungen der (sozialen) Lebenssituation der Person gekennzeichnet<br />
sind und die mit entsprechenden Anpassungsle<strong>ist</strong>ungen durch die Person beantwortet<br />
werden müssen. (FILIPP 1981, 23)<br />
Es gibt normative (d.h. übliche) und nicht-normative Ereignisse, wobei die Ablösung<br />
allgemein und der Auszug im Besonderen als normativ gelten kann, das heißt, sie sind<br />
ein normaler Schritt in der Entwicklung der Familie. FILIPP we<strong>ist</strong> des weiteren darauf<br />
hin, dass solche kritischen Ereignisse<br />
nicht nur eine Gefahr für die Betroffenen im Sinne einer erhöhten Anfälligkeit für psychische<br />
und physische Störungen an sich, sondern (...) immer zugleich auch Chancen<br />
für Persönlichkeitsentfaltung und individuelle Weiterentwicklung [sein können]. (FILIPP<br />
1981 zit. nach THEUNISSEN/ PLAUTE 1995, 118)<br />
Daraus ergibt sich, dass für die Bewältigung dieses Prozesses die Art und Weise, wie<br />
diese Situation wahrgenommen und erlebt wird, von großer Bedeutung <strong>ist</strong>. So wird es<br />
wichtig, ob Eltern und erwachsen gewordenes Kind mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung die Ablösung<br />
als Herausforderung oder als Bedrohung sehen (vgl. auch THEUNISSEN/<br />
PLAUTE 1995, 118f). Hier wird deutlich, welche Rolle die Kontextfaktoren spielen: gibt<br />
es Ressourcen, auf welche die Familie zurückgreifen kann, sind Bewältigungsstrategien<br />
vorhanden, wurde das Kind mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung zur Selbstbestimmung und<br />
Selbstständigkeit hin erzogen?, sowie letztendlich: kam dieser Schritt vorbereitet oder<br />
unerwartet für beide Seiten? Zusätzlich kommt auch dem Umfeld der Familie (den die<br />
50
Familie umgebenden Systemen) eine wichtige Bedeutung zu. Relevant scheint hier<br />
unter anderem die Frage, wie dieser Schritt von außen gesehen, bewertet und unterstützt<br />
wird (sowohl psychisch wie organisatorisch). Ablösung findet also ebenso in der<br />
Entwicklung von Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung statt, allerdings kann die Wahrnehmung<br />
dieses Prozesses erschwert sein. Zudem kann die Ablösungskrise bei Menschen<br />
mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung zeitlich verzögert auftreten, was mit deren insgesamt<br />
verzögerten Entwicklung zusammenhängt (vgl. WALTER 1985, 26; FEHLHABER<br />
1987, 158).<br />
GUSKI we<strong>ist</strong> darauf hin, dass die (innere) Ablösung zwischen Eltern und Kind ein interaktiver<br />
Prozess <strong>ist</strong> (vgl. GUSKI 1980, 1991). Der Ablöseprozess nimmt logischerweise<br />
Einfluss auf die Systembedingungen der Familie und <strong>ist</strong> von diesen abhängig.<br />
Wenn das erwachsen gewordene Kind (ob mit oder ohne Behinderung) die Familie<br />
verlässt, erfordert dies erneut eine Reorganisation und Neubalancierung der Familie.<br />
BRAUN und LEITNER stellten 1976 drei wesentliche Folgen des Ablöseprozesses für<br />
die Familie (allerdings ohne Berücksichtigung einer Behinderung) fest:<br />
1. eine quantitative Reduktion der Interaktionsbeziehungen, 2. Veränderungen im<br />
Machtgefüge, wobei primär der Vater einen Autoritätsverlust hinnehmen muss, sowie<br />
3. ein Neuschreiben der <strong>Familien</strong>geschichte. (BRAUN/ LEITNER 1976 zit.<br />
nach PAPASTEFANOU 1997, 93)<br />
Bei <strong>Familien</strong> mit einem ge<strong>ist</strong>ig behinderten Kind wird wahrscheinlich eher die Mutter<br />
vom zweiten Punkt betroffen sein, da es zume<strong>ist</strong> immer noch die Mütter sind, die sich<br />
um das behinderte Kind kümmern und in Folge dessen einen wichtigen Lebensmittelpunkt<br />
„verlieren“. Daraus wird klar, dass die Beziehungen innerhalb der Familie eine<br />
besondere Bedeutung haben, wie mit der Behinderung des Kindes umgegangen wird<br />
und natürlich auch darauf, wie später der Ablöseprozess verläuft. Inwieweit speziell<br />
Väter Probleme mit dem Ablöseprozess ihres behinderten Kindes haben, wird in der<br />
Literatur leider bisher nicht separat untersucht, es kann aber davon ausgegangen werden,<br />
dass auch sie nicht unberührt vom Ablöseprozess ihres Kindes bleiben. Auf den<br />
grundsätzlich wichtigen Einfluss der Qualität der <strong>Familien</strong>struktur in Hinsicht auf die<br />
Verarbeitung von Systemveränderungen innerhalb der Familie verweisen GUSKI/<br />
LANGLOTZ–BRUNNER. Entwicklungsbedingte Veränderungen, zu denen ja auch der<br />
Ablöseprozess zählt, werden um so schwieriger je weniger innerfamiliale Flexibilität,<br />
Toleranz gegenüber Veränderungen, Kommunikationsfähigkeit und emotionaler Austausch<br />
vorhanden sind. (GUSKI/ LANGLOTZ–BRUNNER 1991, 39)<br />
HEIMLICH und ROTHER haben typische Stationen in der Ablösephase von Eltern behinderter<br />
<strong>Kinder</strong> festgestellt:<br />
51
1. Erschöpfung und Ausweg (physische uns psychische Erschöpfung; Auswegsuche<br />
durch Kurzzeitunterbringung, <strong>Familien</strong>entlastende Dienste etc.)<br />
2. Probe (erster Aufenthalt auf Probe; erstes Erleben des Abschiedsschmerzes,<br />
Heim-Weh des Kindes und Kind-Weh der Eltern); diese Phase wird oft wiederholt,<br />
bis der nächste Schritt gegangen werden kann<br />
3. Entscheidung (der eigentliche, endgültige Auszug und die damit verbundene<br />
Loslösung wird ins Auge gefasst; den Eltern wird klar, dass eine Neuorientierung<br />
stattfinden muss)<br />
4. Das zweite Zuhause (Einrichtungen werden angeschaut, das Kind auf den Umzug<br />
vorbereitet; der Schritt wird vor anderen gerechtfertigt)<br />
5. Neubeginn (Eltern kehren ohne ihr Kind nach Hause; Neubeginn des Jugendlichen<br />
in seinem neuen Zuhause und Neuorientierung des Lebens der Eltern)<br />
(vgl. HEIMLICH/ ROTHER 1995, 16f).<br />
Dieses Modell bezieht sich zwar vornehmlich auf die Erfahrung mit Eltern eines<br />
schwerbehinderten Kindes, wo der Umzug teilweise auch schon früher stattfinden<br />
muss, allerdings dürften Eltern, die den Auszug aus <strong>Normal</strong>isierungsgründen im Adoleszenzalter<br />
anstreben, ähnliche Phasen durchlaufen (vgl. hierzu z.B. den Bericht von<br />
BÖRNER 1997, 73f).<br />
Aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt sich, dass der Ablöseprozess eine<br />
Störung des Systems Familie darstellt und innerhalb dieses Systems ein neues<br />
Gleichgewicht hergestellt werden muss. Der Ablöseprozess muss also innerhalb des<br />
Spannungsfeldes der ihn umgebenden Systeme betrachtet werden. Bei der Bewältigung<br />
dieses Prozesses brauchen Eltern Begleitung und Unterstützung, auch über die<br />
Phase des Auszugs hinaus, damit sie diesen auch als Chance sehen können. Nochmals<br />
soll betont werden, dass „Probleme“ bei der Loslösung „normal“ sind und keine<br />
„Pathologie“ darstellen. Dennoch erscheint auf Grund des Aspekts, dass es sich bei<br />
<strong>Familien</strong> mit einem (ge<strong>ist</strong>ig) behinderten Kind oft um ein „Weggeben“ statt eines „Loslassen“<br />
handelt, professionelle Unterstützung sinnvoll. Anstatt die Eltern ob ihrer „<strong>man</strong>gelhaften“<br />
Ablösung zu kritisieren, sollten Mitarbeiter daher Verständnis für die schwierige<br />
Situation zeigen und Hilfen anbieten.<br />
Abschließend soll nun die Zusammenarbeit zwischen Eltern und professionellen Begleitern<br />
näher betrachtet werden.<br />
52
3.3 Fachleute und Eltern – Kooperation statt Konkurrenz<br />
Menschen mit Behinderung geraten mit dem Einzug in eine Einrichtung in die soziale<br />
Abhängigkeit eines tripolaren Beziehungsgeflechts (Bewohner – Eltern – Mitarbeiter).<br />
Das Verhältnis von Eltern und Betreuern <strong>ist</strong> dabei nicht immer das beste. Oft bestehen<br />
unterschiedliche Einstellungen zum Thema „Wohnen“ und „Ablösung“ (vgl. auch die<br />
Tabelle von KLICPERA/ KLICPERA-GASTEIGER in Kap. 3.2.2) Das Thema „Eltern<br />
und Fachleute“ wird in zahlreichen Veröffentlichungen behandelt (z.B. BÖRNER 1999,<br />
CESCHI 1996, ECKERT 2002, KLAUSS 1997, PREKOP 1983). PREKOP stellt fest:<br />
von der Situation der Eltern wissen Fachleute me<strong>ist</strong> zuwenig, um sich in sie hineinfühlen<br />
und die Beziehung entsprechend mitgestalten zu können. (PREKOP 1983, 17)<br />
Dies mag sicher auch heute oft noch gelten. Es gibt Mitarbeiter, welche die Position<br />
vertreten, da sie erwachsene Bewohner (Mitarbeiter etc.) betreuen, wäre Elternarbeit<br />
zweitrangig, stünde gar der Selbstbestimmung und dem Prinzip der <strong>Normal</strong>isierung,<br />
sowie dem Ziel der Ablösung entgegen. Ich denke, das Gegenteil <strong>ist</strong> der Fall. Die Eltern<br />
sollten als „Experten“ für ihr Kind und dessen Bedürfnisse gesehen werden und<br />
ihre Kompetenzen mit denen der Mitarbeiter zusammen geführt werden. Ebenso müssen<br />
Mitarbeiter auch den Eltern gegenüber einerseits ihre Arbeit und andererseits ihre<br />
Positionen transparent machen. Kooperation statt Konkurrenz entspricht demnach der<br />
systemischen Sichtweise, dass es sich um ein Mesosystem handelt, welches in ein<br />
Gleichgewicht gebracht werden muss. KLAUSS (1997) we<strong>ist</strong> mit einem Aufsatztitel auf<br />
eine Gefahr hin, <strong>wenn</strong> Eltern und Professionelle nur miteinander konkurrieren: Wenn<br />
alle das Beste wollen, leidet die Selbstbestimmung (des Menschen mit Behinderung!).<br />
Eltern möchten, dass ihr Kind auch in der neuen Umgebung sein „gewohntes“ Leben<br />
fortsetzen kann und wollen ihr Kind versorgt wissen. Betreuer hingegen handeln aus<br />
einer gewissen D<strong>ist</strong>anz heraus. Ihre Perspektive <strong>ist</strong> die „fachliche“, es geht um „Ziele“<br />
wie Selbstbestimmungsmöglichkeiten, Anleitung zur Selbstständigkeit, Wahrnehmung<br />
der Rechte, Ablösung vom Elternhaus und so weiter (vgl. auch BÖRNER 1999, 29).<br />
Hinzu kommt eventuell noch der Altersunterschied zwischen Eltern und Betreuern,<br />
welcher Zweifel hervor rufen kann, „ob die jungen Leute ohne Elternerfahrung überhaupt<br />
wissen, was mein Kind braucht?“ Betreuer fordern von den Eltern, „endlich loszulassen“<br />
oder fühlen sich „unnötig kontrolliert“. Rechtfertigung und gegenseitige<br />
Schuldzuweisungen können die Folge sein, wodurch Lösungssuche und Kooperation<br />
blockiert werden (vgl. auch KLAUSS 1997, 43) Außerdem kann es vorkommen, dass<br />
Eltern aus Angst ihrem Kind zu „schaden“, offene Aussprachen vermeiden. Hieraus<br />
ergibt sich, dass ein subjektiv empfundenes Machtgefälle, bei dem Eltern sich als abhängig<br />
von den Fachleuten empfinden, „echte“ Kooperation verhindert. Zu erkennen,<br />
53
worum es in dem Konflikt effektiv geht, <strong>ist</strong> die Voraussetzung, um ein Problem zu lösen.<br />
(CESCHI 1996, 13) Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass nicht Ziel <strong>ist</strong>, die<br />
Eltern durch die Betreuer zu ersetzen oder umgekehrt. Überhöhte (Selbst-) Ansprüche<br />
führen zwangsläufig auf beiden Seiten zu einem Scheitern (vgl. KLAUSS 1997, 43 ff).<br />
Um die Ressourcen und Fähigkeiten sinnvoll nutzen zu können, bedarf es einer qualitativen<br />
Arbeitsteilung und dem Verzicht auf einen „Absolutheitsanspruch“. Wenn sowohl<br />
Eltern als auch Mitarbeiter verstehen, dass sie eine unterschiedliche Bedeutung<br />
für den Bewohner haben, muss sich der Bewohner auch nicht zwischen beiden Parteien<br />
„entscheiden“! Dazu gehört auch eine offene und vertrauensvolle Atmosphäre. Daher<br />
muss als zentrale Aufgabe gelten, ein gegenseitiges Verständnis für die Lebensund<br />
Gedankenwelt des anderen aufzubauen. Ich stimme mit KLAUSS (1988) überein,<br />
<strong>wenn</strong> er feststellt:<br />
Eltern Behinderter sollten erleben, daß sich die Betreuer in ihre Situation hineinversetzen<br />
können. Eltern, die sich akzeptiert fühlen, können auch sachliche Kritik annehmen.<br />
(KLAUSS 1988, 118)<br />
Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll sich die unterschiedlichen „Voraussetzungen“<br />
zu vergegenwärtigen, welche Eltern und professionelle Begleiter mitbringen:<br />
Eltern Fachleute<br />
Stehen in elterlicher Beziehung zu ihrem<br />
Kind und wurden plötzlich damit<br />
konfrontiert, dass ihr Kind „behindert<br />
<strong>ist</strong>“<br />
Sind zunächst Laien, als Eltern immer<br />
verantwortlich für ihr Kind und oft auf<br />
sich allein gestellt<br />
54<br />
Stehen in fachlicher Beziehung zum<br />
Bewohner und haben sich ihren Beruf<br />
ausgesucht<br />
Haben eine Ausbildung, arbeiten me<strong>ist</strong><br />
im Team, welches die Verantwortung<br />
mitträgt<br />
Kennen ihr Kind seit der Geburt Haben zunächst nur das Fachwissen<br />
und müssen den neuen Bewohner<br />
Sind unentgeltlich und ausschließlich<br />
für ihr Kind zuständig<br />
Werden mit ihrem Kind identifiziert und<br />
sind Zuschreibungen der Umwelt (wie<br />
Vorurteile, Schuld, Ablehnung etc.)<br />
ausgesetzt<br />
Stehen oftmals unter ständiger „Kontrolle“/<br />
Beobachtung ihres Privatlebens<br />
durch Fachleute<br />
allmählich kennen lernen<br />
Bekommen Geld für ihre Arbeit, haben<br />
ein begrenztes Zeitbudget und müssen<br />
die „Gruppe“ im Blick halten<br />
Bekommen Achtung aufgrund ihres<br />
Jobs und werden nicht mit dem Menschen<br />
mit Behinderung identifiziert<br />
Müssen sich „nur“ fachlich rechtfertigen,<br />
keinen Einblick in ihre Privatsphäre<br />
geben<br />
Diese Aufzählung enthält keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern stellt die aus<br />
meiner (und der anderer Autoren, vgl. z.B. CESCHI 1996; PREKOP 1983) Erfahrung
wesentlichsten Aspekte dar. Diese „Besonderheiten“ des Elterndaseins sollten sich<br />
Mitarbeiter immer wieder bewusst machen. Eine Auseinandersetzung damit kann dann<br />
zu<br />
einer Würdigung der Le<strong>ist</strong>ungen, die <strong>Familien</strong> mit einem behinderten Kind in zahlreichen,<br />
spezifischen Belastungen erbringen [führen]. Diese Le<strong>ist</strong>ungen sind um so höher<br />
zu bewerten, je mehr <strong>man</strong> sich verdeutlicht, dass viele dieser Belastungen nicht primär<br />
durch die Behinderung des Kindes, sondern erst durch die Reaktionen der Umwelt,<br />
teilweise wenig behindertenfreundlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen oder<br />
einem geringschätzigen Umgang von Fachleuten mit Eltern behinderter <strong>Kinder</strong> entstehen.<br />
(ECKERT 2002, 32)<br />
An anderer Stelle fasst ECKERT (1998) Aspekte für eine „Partnerhafte Zusammenarbeit“<br />
(SPECK 1996) aus systemischer Sicht von Eltern und Fachleuten zusammen:<br />
• Die Akzeptanz der Autonomie des <strong>Familien</strong>systems: Jede Familie stellt genau<br />
wie mein eigener Arbeitskontext ein zunächst geschlossenes System mit eigenen<br />
Regeln und Wirklichkeiten dar, denen ich mich im Sinne der ‚strukturellen<br />
Koppelung’ langsam nähern kann.<br />
• Das Verstehenlernen der Lebenszusammenhänge einer Familie (...)<br />
• Das Erarbeiten der Kompetenzen/Ressourcen einer Familie (...)<br />
• Die Offenheit für verschiedenste Modelle und Themen in der Zusammenarbeit<br />
(...)<br />
• Die Aufwertung der Arbeit mit dem personellen Lebensumfeld: Das Wahrnehmen<br />
der Bedürfnisse oder Themen der Eltern (...) bewirkt häufig Veränderungen<br />
in der familiären Situation, die dem jeweiligen Kind wiederum zugute kommen.<br />
(...).<br />
(ECKERT 1998, 172)<br />
Grundsätzlich erscheint es sinnvoll, dass Gespräche und Kontakt nicht erst dann statt<br />
finden, <strong>wenn</strong> „etwas vorgefallen <strong>ist</strong>“, sondern als Kontaktpflege und vertrauensbildende<br />
Maßnahme selbstverständlich in der Arbeit werden. Entscheidend <strong>ist</strong> auch, die individuellen<br />
Bedürfnisse der Eltern zu erkennen. Nicht jede Familie möchte beraten werden<br />
oder in der Einrichtung aktiv „mitarbeiten“. (Eingeplante) Zeit für Gespräche <strong>ist</strong> ein weiterer<br />
wichtiger Faktor. Aus kommunikativer Sicht <strong>ist</strong> zu beachten, dass eine „verständliche“<br />
Sprache verwendet wird, bei der eine gleichberechtigte Kommunikation möglich<br />
<strong>ist</strong> (vgl. auch Kap. 2.4) und der Rahmen entsprechend dem Anlass gestaltet <strong>ist</strong>.<br />
Außerdem „liegt“ Elternarbeit nicht jedem Mitarbeiter, daher gilt es aus Einrichtungsseite,<br />
auch im Sinne der Qualitätssicherung und –entwicklung, hierzu Fortbildungen und<br />
Möglichkeiten zur (Selbst-) Reflektion (Supervision) anzubieten.<br />
55
4 Möglichkeiten der Begleitung von Ablöseprozessen im<br />
Rahmen von Wohneinrichtungen<br />
In den vorherigen Kapiteln wurden theoretische „Hintergrundinformationen“ erarbeitet,<br />
welche den Mitarbeitern in Wohneinrichtungen verdeutlichen sollen, dass eine Vielzahl<br />
von Aspekten den Ablöseprozess begleiten. Im folgenden Kapitel wird es darum gehen,<br />
aus diesen Gedanken heraus eine Konzeption zur Begleitung des Ablöseprozesses<br />
beziehungsweise des Auszugs aus dem Elternhaus zu entwickeln. Nach einigen<br />
theoretischen Vorüberlegungen zu den Themen Wohnen und Konzeptentwicklung,<br />
sowie einer Darstellung des Umfeldes des Brühler Wohnhauses, stelle ich meinen<br />
Konzeptvorschlag dar, welcher versucht, den verschiedenen Bedürfnissen der am Prozess<br />
beteiligten Systeme gerecht zu werden.<br />
4.1 Zur Bedeutung des Wohnens für den Menschen<br />
Die Notwendigkeit einer „Ablösebegleitung“ aus dem Elternhaus wird umso deutlicher,<br />
je mehr <strong>man</strong> sich mit der Bedeutung des Wohnens für den Menschen beschäftigt. Neben<br />
der Arbeit <strong>ist</strong> das Wohnen ein wichtiger identitätsstiftender Aspekt im Leben eines<br />
jeden erwachsenen Menschen: der Wohnplatz <strong>ist</strong> ein Ort maximaler individueller Souveränität<br />
[und] neben dem Arbeitsplatz wohl wichtigster Ort der persönlichen Individuation.<br />
(CRÄMER 1990, S. 170) Das Wort „Wohnen“ lässt sich auf das altdeutsche Wort<br />
„wonen“ zurückführen, was soviel bedeutet wie sich aufhalten, bleiben, wohnen, gewohnt<br />
sein; aber auch zufrieden sein, gefallen finden [vgl. auch mit „Wonne“]“.<br />
(DUDEN 1989, S. 817) Wohnen bedeutet also schon im Wortursprung mehr, als nur<br />
sich irgendwo aufzuhalten. Es besteht ein enger Zusammenhang mit den Begriffen<br />
„Wohlfühlen“ und „Gewöhnung“. Somit wird klar, dass schon beim Einzug in eine<br />
Wohneinrichtung der „Grundstein zum Wohlfühlen“ gelegt werden kann und sollte, um<br />
eine Eingewöhnung in die neue Umgebung für alle zu erleichtern. Darüber hinaus wird<br />
die Bedeutung des Wohnens von verschiedenen Autoren unterschiedlich akzentuiert.<br />
Sie reicht von der Betonung des Wohnens als „Wesensbestimmung des Menschen“<br />
über Wohnen als „soziales Grundbedürfnis des Menschen“ bis hin zu einer zunächst<br />
rein räumlichen Komponente (vgl. WEINWURM-KRAUSE 1999, S. 14f). Wohnraum<br />
kann somit einerseits als Schutzraum, Rückzugsmöglichkeit gesehen werden, aber<br />
auch als Ausdruck von Individualität, als Verwirklichungsbereich des Individuums<br />
56
(THEUNISSEN 1995, S. 145). Als solcher <strong>ist</strong> er sogar im Grundgesetz als „unverletzlich“<br />
geschützt (vgl. Artikel 13 des Grundgesetzes).<br />
WILKEN erläutert:<br />
Ganz allgemein drückt sich die Selbständigkeit des erwachsenen Menschen u.a. darin<br />
aus, dass er einen eigenständigen Wohn- und Lebensbereich besitzt. Diese normale<br />
Gegebenheit auf ge<strong>ist</strong>ig Behinderte zu übertragen, fällt noch häufig schwer. (WILKEN<br />
1985, S.42)<br />
SPECK betont, dass die Wohnbedürfnisse von Menschen mit einer ge<strong>ist</strong>igen Behinderung<br />
sich nicht von denen nichtbehinderter Menschen unterscheiden und den gleichen<br />
Einflussfaktoren unterliegen. Jedoch erfordert ihre „reduzierte Selbsthilfefähigkeit“<br />
(SPECK 1982, S.12) Unterstützung in der Wahrnehmung dieser Bedürfnisse und unterliegt<br />
der Gefahr nicht wahrgenommen oder beachtet zu werden. Er erkennt im Wohnen<br />
ein elementares Bedürfnis des Menschen nach einem Raum [...], in dem er daheim<br />
sein darf, [...] wo er sein darf, was er <strong>ist</strong>. (SPECK 1982, S.10) Er we<strong>ist</strong> darauf hin,<br />
dass der Bereich des Wohnens zwei Funktionen beinhaltet: einerseits die biologische<br />
Schutz-, sowie andererseits die soziokulturelle Ausdrucksfunktion. Diese stehen in<br />
per<strong>man</strong>enter Spannung und Wechselwirkung zueinander (vgl. ebd., S. 10). Er fordert<br />
ein „normalisiertes Wohnen“, das heißt gemeindeintegriertes Wohnen für Menschen<br />
mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung. Ihnen soll ermöglicht werden, einen Lebensstil praktizieren<br />
[zu] können, der den in der Kultur geltenden Normen entspricht. (SPECK 1982, S. 12)<br />
Hu<strong>man</strong>e Wohnbedingungen für diesen Personenkreis stehen für SPECK im Spannungsfeld<br />
von personal-sozialen Bedürfnissen des Einzelnen und vorgegebenen/ -<br />
gefundenen Systembedingungen (vgl. ebd., S.14). SAEGERT beschreibt die Wechselwirkungen<br />
und den Austausch im Bereich Wohnen und dessen Bedeutung für die<br />
Identitätsfindung des Menschen. Das Gefühl von „Heimat“, was sich ihrer Meinung<br />
nach nur entwickeln kann, <strong>wenn</strong> der (Wohn-) Raum Aneignungs- und Identifikationsmöglichkeiten<br />
bietet, steht in direktem Zusammenhang mit der Bedeutung des Wohnens<br />
für den Menschen. Nur <strong>wenn</strong> der Mensch sich heimisch fühlt, kann er ein Gefühl<br />
von „Zuhause“ oder „Daheim“ entwickeln (vgl. WEINWURM-KRAUSE 1999, S. 14f).<br />
Auch KRÄLING stellt fest, dass Wohnen mehr bedeutet, als nur Versorgung, Unterkunft<br />
und Verpflegung, sondern [auch] Geborgenheit und Eigenständigkeit, Privatheit<br />
und Gemeinschaft, die Möglichkeit des Rückzugs und Offenheit nach außen.<br />
(KRÄLING 1995, S. 21) ANDRITZKY und SELLE sehen in diesem Zusammenhang<br />
das Zuhause als „persönlichen Verwirklichungsbereich des Individuums“ und formulieren<br />
„universale Wohnbedürfnisse“. Als solche nennen sie unter anderen<br />
[den] Wunsch nach Sicherheit, Wärme, Schutz oder Geborgenheit, das Bedürfnis nach<br />
Beständigkeit und Vertrautheit, die Sehnsucht nach Raum für Selbstverwirklichung, der<br />
57
Wunsch nach einem Ort der Intimität, sowie das Bedürfnis nach Kommunikation, Zuwendung,<br />
Wertschätzung und Anerkennung. (ANDRITZKY/SELLE<br />
1987 zit. nach THEUNISSEN/PLAUTE 1995, S.145; s. auch THESING 1990, S. 29 ff)<br />
Den Moment von Lebensqualität im Bereich Wohnen (mit besonderem Blick auf Menschen<br />
mit schwerer ge<strong>ist</strong>iger Behinderung) erläutert SEIFERT unter Berücksichtigung<br />
der Sichtweise von BRONFENBRENNER. Von der Interaktion im Wohnbereich <strong>ist</strong> abhängig,<br />
wie Persönlichkeitsentwicklung stattfindet und Lebensqualität erlebt wird. Die<br />
Art und Weise des Austausches zwischen den beteiligten Subsystemen und Systemebenen<br />
(so wie sie vom Individuum erlebt wird), beeinflusst das Erleben der Lebensqualität<br />
(vgl. SEIFERT 1997a, S. 183ff).<br />
Gemeinsam <strong>ist</strong> all diesen Sichtweisen die Betonung der Dualität, einem Innen und Außen<br />
von Wohnen. Wohnen hat somit immer eine individuelle/ private und eine gesellschaftliche/<br />
soziale Bedeutung für den Menschen. Der Wohnraum steht in direkter Verbindung<br />
mit dem Aspekt der Identitätsbildung und einem Heimatgefühl, welche Lebensqualität<br />
erst ermöglichen. Die Ermittlung der individuellen Bedürfnisse und eine<br />
dementsprechende Unterstützung muss somit ein Ziel der (Ablöse-) Begleitung in<br />
Wohneinrichtungen sein, damit sich eben genau dieses Heimatgefühl bei einem neuen<br />
Bewohner einstellen kann.<br />
4.2 Bedingungsfeld „Brühler Wohnhaus für Menschen mit Körperbehinderung“<br />
Da diese Arbeit aus meiner Berufspraxis heraus und den Erfahrungen darin entstanden<br />
<strong>ist</strong>, werde ich im folgenden dieses Praxisfeld hinsichtlich der relevanten Aspekte für<br />
diese Arbeit kurz beschreiben. Das nachfolgende Konzept zur Ablösebegleitung wird in<br />
Hinblick auf diese Einrichtung entwickelt werden. Zudem ergibt sich aus der Trägerschaft<br />
eines Elternvereins die Möglichkeit der Kooperation innerhalb des „Vereinslebens“.<br />
4.2.1 H<strong>ist</strong>orie und Konzeption<br />
Das Brühler Wohnhaus für Körperbehinderte wurde im März 1999 eröffnet. Träger des<br />
Hauses <strong>ist</strong> der Verein für Körperbehinderte in den Kreisen Euskirchen und Erftkreis<br />
e.V.. Jeder Bewohner verfügt über ein Einzelzimmer, ein Badezimmer liegt jeweils zwischen<br />
zwei Zimmern. Die Zimmer können individuell gestaltet werden und haben Tele-<br />
58
fon-, sowie Fernsehanschluss. Sollten sich im Haus Paare finden, gibt es Möglichkeiten<br />
des Zusammen-Wohnens.<br />
Die Konzeption des Hauses wird derzeit im Rahmen der Qualitätssicherungsmaßnahmen<br />
des Hauses überarbeitet und konkretisiert. Als pädagogische „Leitlinien“ gelten<br />
derzeit fünf grundlegende Prinzipien:<br />
1. Die Selbstfindung, das bedeutet eine Unterstützung der Ablösung vom Elternhaus<br />
und der Weiterentwicklung der eigenen Identität.<br />
2. Die <strong>Normal</strong>isierung, entsprechend dem <strong>Normal</strong>isierungsprinzip soll den Bewohnern<br />
ein Leben so normal wie möglich gestattet werden.<br />
3. Die Selbstbestimmung, ausgehend von der Tatsache, dass jeder Mensch<br />
selbstbestimmt <strong>ist</strong> und sein will, soll jeder Bewohner so viele Entscheidungen<br />
wie möglich selber treffen und Eigenverantwortung übernehmen.<br />
4. Die Integration, auch verstanden als Möglichkeit zur sozialen Teilhabe <strong>ist</strong> ein<br />
wesentlicher Beitrag zur Lebensqualität. Wo immer es geht werden Aktivitäten<br />
nach außerhalb des Hauses verlegt und findet regelmäßig eine aktive Teilnahme<br />
am öffentlichen städtischen Leben statt.<br />
5. Die Gleichberechtigung, da jeder Mensch mit Behinderung als Experte in eigener<br />
Sache gesehen wird. (vgl. WOHNHAUS FÜR MENSCHEN MIT<br />
KÖRPERBEHINDERUNG 2002, S.6ff)<br />
Ziel dieser Prinzipien <strong>ist</strong> es, den Menschen mit Behinderung eine an ihren Bedürfnissen<br />
und Fähigkeiten orientierte Unterstützung zu bieten und ihnen so ein ihren Möglichkeiten<br />
entsprechend, selbstbestimmtes Leben (ebd.) zu ermöglichen. Im Sinne der<br />
Qualitätssicherung und Wahrung der Bewohnerrechte erfolgt darüber hinaus selbstverständlich<br />
eine Orientierung am aktuellen Heimgesetz, woraus sich drei weitere Aspekte<br />
ergeben:<br />
1. Schutz der Würde und der Bedürfnisse der Bewohner<br />
2. Wahrung der Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung<br />
der Bewohner<br />
3. Förderung einer hu<strong>man</strong>en und aktivierenden Pflege, <strong>wenn</strong> möglich gleichgeschlechtlich<br />
(vgl. WOHNHAUS FÜR MENSCHEN MIT<br />
KÖRPERBEHINDERUNG 2002 2002, S. 5).<br />
Die Mitbestimmung innerhalb des Hauses seitens der Bewohner und Mitarbeiter wird<br />
durch verschiedene Gremien gewährle<strong>ist</strong>et. Es gibt einen Heimbeirat, bestehend aus<br />
drei gewählten Bewohnern, einen Betriebsrat, sowie Bewohner-, Gruppenleiter- und<br />
Mitarbeiterteams sowohl auf Gruppen- als auch auf Gesamtebene. Schulungen und<br />
Fortbildungen sind sowohl auf Bewohner- als auch auf Mitarbeiterebene möglich.<br />
59
Ein eigenständiges Konzept zur Ablösebegleitung und Eingewöhnung nach einem Einzug<br />
besteht derzeit nicht. Lediglich vor der Neueröffnung gab es drei „Vorbereitungsund<br />
Kennenlern-Wochenenden“ für die damals feststehenden, ersten Bewohner. Erfahrungen<br />
aus diesen Maßnahmen werden in das folgende Konzept Miteinfließen, da<br />
der Autor an den damaligen Angeboten beteiligt war.<br />
4.2.2 Bewohner und Personal<br />
Im Brühler Wohnhaus für Körperbehinderte leben insgesamt 24 erwachsene Männer<br />
und Frauen mit einer Behinderung, in drei Gruppen zu je acht Bewohnern. Obwohl der<br />
Name der Einrichtung vermuten lässt, dass hier nur Menschen mit einer Körperbehinderung<br />
leben, besteht die Bewohnerschaft aus einer sehr heterogenen Zusammensetzung,<br />
zumal bei fast allen Bewohnern sogenannte Mehrfachbehinderungen vorliegen.<br />
Jede Gruppe besteht sowohl aus Männern als auch Frauen, Rollstuhlfahrern und<br />
„Fußgängern“. Bei Neu-Einzügen wird versucht darauf zu achten, dass das Gruppengleichgewicht<br />
erhalten bleibt, das heißt, ein Mann zieht für einen Mann ein oder eine<br />
Rollstuhlfahrerin für eine Rollstuhlfahrerin. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte haben<br />
die jeweilig betroffenen Gruppenbewohner ein Mitentscheidungsrecht bezüglich<br />
eines neuen Bewohners. Des weiteren versucht die Hausleitung Sorge dafür zu tragen,<br />
dass eine Gruppe mobil und flexibel bleibt, was bedeutet, den Pflegeaufwand einer<br />
Gruppe so zu gestalten, dass Aktivitäten auch mit wenig Personal möglich sind und<br />
alle Gruppen möglichst „gleich“ heterogen zu gestalten. Berufstätigkeit, ein gewisses<br />
Maß an Mobilität und Selbstständigkeit sind daher wichtige Aufnahmekriterien. Eine<br />
ständige medizinische Überwachung <strong>ist</strong> aufgrund des vorhandenen Personals und der<br />
Ausstattung des Hauses nicht möglich.<br />
Das Begleitungspersonal setzt sich aus verschiedenen Berufsgruppen zusammen, die<br />
sich in ihren jeweiligen Fachkompetenzen ergänzen. Beschäftigt sind: Heil- und Sonderpädagogen<br />
(3), Erzieherinnen (5), HeilerziehungspflegerInnen (5), examiniertes<br />
Alten- und Krankenpflegepersonal (9), je eine Schwesternhelferin und Sozialarbeiterin,<br />
sowie AnerkennungsjahrespraktikantInnen und Zivildienstle<strong>ist</strong>ende (5). Darüber hinaus<br />
gibt es eine Verwaltungsfachkraft, einen Hausme<strong>ist</strong>er, zwei Hauswirtschafterinnen,<br />
welche für die gesamte Wäsche zuständig sind, sowie Fremdpersonal einer Reinigungsfirma.<br />
Die Wohngruppen haben feste Mitarbeiter-Teams, welche zusammen mit<br />
den Bewohnern den Alltag weitgehend autonom gestalten.<br />
60
4.3 Vorüberlegungen zum Konzept einer Ablösebegleitung<br />
Die Erstellung eines Konzeptes sollte sich an einer gewissen Methodik orientieren.<br />
Dabei gilt es zunächst festzulegen, welche Art von Konzept erstellt werden soll: handelt<br />
es sich um ein kleines Alltagskonzept, um eine grundlegende Konzeption oder um einen<br />
Entwurf für bestimmte Maßnahmen. Des weiteren gilt es, inhaltliche Ziele zu beschreiben.<br />
Daher werden in den folgenden Abschnitten zunächst methodische Überlegungen<br />
dargestellt und anschließend inhaltliche Aspekte erläutert. Dabei orientiert sich<br />
das vorgeschlagene Konzept zur Ablösebegleitung an der bereits vorliegenden Grundkonzeption<br />
des Hauses und versucht, vorhandene Ressourcen zu nutzen. Es <strong>ist</strong> bewusst<br />
in einer anderen Schriftart gehalten, so dass es aus dieser Arbeit genommen<br />
und als eigenständige Broschüre weitergereicht werden könnte.<br />
4.3.1 Methodische Aspekte eines Konzepts<br />
Konzept, Konzeption, Leitbild oder auch Grundsätze werden oft synonym für den gleichen<br />
Begriff verwendet. Daher gilt es zunächst, den Unterschied zwischen Konzeption<br />
und Konzept zu klären. SPENGLER und GRAF stellen fest:<br />
‚Konzepte’ und ‚Konzeptionen’ sind folglich „Ent-würfe“ d.h. ge<strong>ist</strong>ige „Würfe“ in die Zukunft<br />
hinein, gedankliche Vorwegnahmen anzustrebender künftiger Zustände. Sie haben<br />
insofern Gemeinsamkeiten mit einer „Vision“ einerseits und einem „Plan“ andererseits.<br />
(...) nach unserem Sprachgefühl [meint] das „Konzept“ eher eine etwas vorläufige<br />
und skizzenhaftere oder inhaltlich begrenztere Formulierung von neuen Vorhaben,<br />
während die „Konzeption“ eher nach einer verbindlicheren und umfassenderen Selbstdarstellung<br />
und Programmaussage<br />
klingt. SPENGLER/ GRAF 2000, 15)<br />
In dieser Arbeit soll es um die Entwicklung eines Konzepts zur Ablösebegleitung gehen,<br />
also um einen fachlichen Vorschlag, wie auf Basis der Konzeption des Hauses ein<br />
Auszug aus dem Elternhaus und das Thema Ablösung begleitet werden können. Zwar<br />
<strong>ist</strong> im Leitfaden des Wohnhauses zu lesen, dass ein Einzug in unser Haus einen bedeutenden<br />
Schritt bei der Loslösung vom Elternhaus darstellt und durch Ablösung<br />
Selbstfindung und Selbstgestaltung des Lebens in allen Bereichen ermöglicht wird,<br />
aber wie dies geschehen soll, mit welcher Unterstützung und ähnliches, wird nicht weiter<br />
erläutert (vgl. s.o.). Auch die Le<strong>ist</strong>ungsbeschreibung des Hauses enthält dazu keine<br />
weiteren Ausführungen.<br />
Ein Ziel lautet daher, mit Hilfe eines Konzeptes zur Ablösebegleitung zur Personal- und<br />
Organisationsentwicklung im Rahmen von Qualitätssicherung beizutragen. Dies bedeutet<br />
normativ verbindliche Grundlagen innerhalb der Einrichtung festzulegen, um<br />
unterschiedliche Wertvorstellungen und Bedürfnisse in einem gemeinsamen Rahmen<br />
61
unterzubringen und in gewisser Weise für einheitliche Handlungsprinzipien in Bezug<br />
auf „Ablösebegleitung“ zu sorgen. Um dem systemischen Grundgedanken dieser Arbeit<br />
gerecht zu werden, <strong>ist</strong> der Einbezug aller am Prozess Beteiligten (Mitarbeiter, Bewohner,<br />
Eltern etc.) sowohl zur Konzeptentwicklung (z.B. durch Befragung; Feststellung<br />
vorhandener Ressourcen) als auch später in der Begleitung unablässlich. Dies <strong>ist</strong><br />
eine Voraussetzung, damit das Konzept von allen getragen werden kann und nicht als<br />
bloße Absichtserklärung in der Schublade verschwindet. Hinzu kommt die Berücksichtigung<br />
makrosystemischer Einflüsse (Trägerverein, theoretische Gedanken, gesetzliche<br />
Vorgaben, Finanzen, Infrastruktur etc.). Des Weiteren gilt es, das Konzept immer<br />
wieder zu überprüfen und gegebenenfalls an neue Anforderungen und Entwicklungen<br />
der Umwelt anzupassen (vgl. auch SPENGLER/ GRAF 2000, 30ff).<br />
4.3.2 Inhaltliche Aspekte<br />
Eltern berichteten mir, dass wenig Wissen über die Ablöseproblematik bei Mitarbeitern<br />
von Einrichtungen vorhanden <strong>ist</strong>. Eine durchdachte Unterstützung der ersten Zeit während<br />
der äußeren Ablösung und nach dem Einzug fand nach eigenen Angaben oftmals<br />
nicht statt und wird beziehungsweise wurde auch nicht angeboten, obwohl dies als<br />
hilfreich von Eltern angesehen wird. Hingegen wurden <strong>man</strong>che Eltern beispielsweise<br />
mit der Aufforderung konfrontiert, ihr (erwachsenes) Kind zunächst eine Weile nicht zu<br />
besuchen oder anzurufen, damit es sich besser einlebt und die Trennung besser verkrafte.<br />
Wie dies auf die Eltern wirken muss, wurde entweder nicht bedacht oder mit<br />
„Fachwissen“ gerechtfertigt. Andererseits fällt es Mitarbeitern oftmals schwer, sich in<br />
die Situation der Eltern und des neuen Bewohners hinein zu versetzen, da ihnen nötiges<br />
Hintergrundwissen zum Thema „Loslösung“ fehlt. Daher habe ich mit Betreuern,<br />
Eltern und Menschen mit Behinderung gesprochen, um Wege zu finden, wie dieser<br />
Prozess ihrer Meinung nach „besser“ vorbereitet und begleitet werden könnte. Die Vorschläge<br />
sollten dazu dienen, meine theoretischen Ausführungen zu diesem Themenkomplex,<br />
inklusive Handlungsleitideen, mit praktischen Anmerkungen Betroffener zu<br />
verknüpfen.<br />
Das Ziel des Konzeptes soll also sein, aufgrund der in den Kapiteln 1 und 2 dargestellten<br />
Leitideen den Prozess der Ablösung mit Hilfe geeigneter Maßnahmen zu begleiten.<br />
Dies bedeutet, dass sowohl Angebote an die Mitarbeiter, als auch an Bewohner und<br />
Eltern enthalten sind und der Zeitaspekt eine Berücksichtigung findet. Da der Verlauf<br />
des Ablöseprozesses bei jeder Familie trotz einer Vielzahl von Gemeinsamkeiten immer<br />
individuell verläuft, kann das Konzept zur Begleitung dieses Prozesses nur ein<br />
62
Rahmen sein, der individuell an die Bedürfnisse der Familie angepasst werden muss.<br />
Die Angebote basieren in den me<strong>ist</strong>en Fällen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Ein<br />
Zeitrahmen, in dem die Ablösung „abgeschlossen“ sein soll, <strong>ist</strong> aufgrund der Ausführungen<br />
zum Ablöseprozess und dem Systemgedanken bewusst nicht vorhanden. Eine<br />
„Erfolgskontrolle“ kann ebenfalls nur bedingt erfolgen, da sich soziale Prozesse schwer<br />
messen lassen. Da der soziale Bereich stark unter Geld<strong>man</strong>gel leidet, sollte das Auffinden<br />
und Nutzen vorhandener Ressourcen (z.B. Kooperationsmöglichkeiten) Vorrang<br />
haben, auch <strong>wenn</strong> mittelfr<strong>ist</strong>ig weitere „Investitionen“ angedacht werden. Einige Aspekte<br />
werden derzeit schon in der alltäglichen Arbeit in unterschiedlichem Ausmaß verwirklicht,<br />
sollen durch eine Betonung im Konzept allerdings eine mir wichtige Verbindlichkeit<br />
für alle Mitarbeiter und Gruppen erhalten.<br />
4.4 Konzeptvorschlag zum Bereich „Ablösebegleitung“<br />
Warum Ablösebegleitung?<br />
Der Schritt vom Elternhaus in eine Wohneinrichtung <strong>ist</strong> verbunden mit vielen Veränderungen,<br />
Umstellungen und neuen Anforderungen. Oftmals fällt er den Eltern ebenso<br />
schwer wie ihrem erwachsenen Kind. Ein Auszug aus dem Elternhaus vollzieht die<br />
innere (emotionale, nach Selbstbestimmung & Selbstständigkeit strebende) Ablösung<br />
auch nach außen hin. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Ablöseprozess<br />
mit einem Auszug noch nicht abgeschlossen <strong>ist</strong>. Daher gilt es, diesen Prozess von<br />
Seiten der Einrichtung entsprechend zu begleiten. Dazu bedarf es des Wissens um die<br />
Problematik des Loslösungsprozesses von <strong>Familien</strong> mit einem behinderten Kind, ebenso<br />
wie entsprechender Leitideen und methodischer Kompetenzen.<br />
Bei Menschen mit (schwerer) ge<strong>ist</strong>iger Behinderung wird die Wahrnehmung des Ablösewunsches<br />
bzw. ein Auszug eventuell erschwert. Dies kann dazu führen, dass er von<br />
den Eltern „initiiert“ werden muss. Hieraus können Schuldgefühle, Zweifel oder auch<br />
Rechtfertigungsdruck vor Kostenträgern bei ihnen entstehen. Der Umzug in eine<br />
Wohneinrichtung bedeutet nicht nur einen Umbruch in der <strong>Familien</strong>geschichte, sondern<br />
auch den Wechsel von einer privaten <strong>Familien</strong>gemeinschaft in eine institutionalisierte<br />
Wohngemeinschaft. Die <strong>Familien</strong>beziehungen werden mit diesem Schritt aber nicht<br />
aufgelöst, sondern bleiben ein wichtiger, aktiver Teil der Biografie des Bewohners, welche<br />
in das neue Umfeld integriert werden müssen. Aus dem „Zweier-Beziehung“ Eltern-Kind<br />
wird das „Dreieck“ Bewohner-Eltern-Betreuer. Dies führt zu Rollenveränderungen<br />
innerhalb der Familie, aber auch innerhalb der bestehenden Wohngruppe, was<br />
63
wiederum zu Rollen- und Selbstverständniskonflikten bei Eltern, aber auch Mitarbeitern<br />
führen kann. Somit stellt Elternarbeit neben der Begeleitung des Menschen mit Behinderung<br />
innerhalb einer Wohneinrichtung eine zentrale Aufgabe dar, um gegenseitiges<br />
Verständnis füreinander entwickeln zu können. Es gilt im Sinne einer Ganzheitlichkeit<br />
nicht bewohnerzentriert, sondern familienzentriert zu arbeiten, um dem Aspekt der sozialen<br />
Verflechtung von Bewohnern, Mitarbeitern Eltern und anderen besser gerecht zu<br />
werden.<br />
Daher wurde dieses Konzept zur Ablösbegleitung erarbeitet, um einen angemessenen<br />
Übergang und die Integration des Bewohners in sein neues Lebensumfeld zu unterstützen<br />
und sowohl ihm als auch seinen Eltern bei der Entwicklung neuer Lebensperspektiven<br />
beratend zur Seite stehen zu können. Dabei <strong>ist</strong> es wichtig, Wechselwirkungen<br />
in einem komplexen Prozess von Ablösen und Ankommen zu beachten, sowie<br />
unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse der beteiligten Personenkreise in Einklang<br />
zu bringen. Der Aufbau einer vertrauensvollen und gleichberechtigten Beziehung stellt<br />
hierbei den ersten Schritt auf dem Weg zu einer partnerschaftlichen Kooperation dar.<br />
Auf dieser Basis können „alte“ und „neue“ Lebenswelten miteinander in Einklang gebracht<br />
werden. Die Eltern als „Experten“ für ihren Sohn/ ihre Tochter, der einziehende<br />
Bewohner als „Experte“ für seine eigenen Bedürfnisse und der Mitarbeiter als „Experte“<br />
für Methoden und Konzepte benötigen im Prozess des Ablösens und Ankommens unterschiedliche<br />
Unterstützung da sie den Prozess aus unterschiedlichen Perspektiven<br />
erleben. Aufgrund der theoretischen Ausarbeitungen zur Thematik, sowie Erfahrungen<br />
und Gesprächen mit Eltern, Menschen mit Behinderung und Mitarbeitern in Wohneinrichtungen<br />
halte ich somit folgende Angebote für sinnvoll:<br />
4.4.1 Vorbereitung der Mitarbeiter bzw. Angebote der Institution<br />
1. Einplanen eines Zeitbudgets für Elternarbeit. Dazu gehören ebenso Aspekte<br />
der Kontaktpflege (wie Elterncafes, Tag der Offenen Tür), als auch Zeit für Einzelgespräche<br />
zu bestimmten Themen (Ängste; regelmäßig sog. „Entwicklungsgespräche“)<br />
oder um die eigene Arbeit den Eltern transparent zu machen. Hierzu<br />
bedarf es sowohl geeigneter Räumlichkeiten innerhalb des Hauses, als auch<br />
der Bereitschaft und Möglichkeit eines Hausbesuches (sofern gewünscht). Des<br />
weiteren wäre ein festes „Zeitfenster“, in welchem auf jeden Fall immer ein Mitarbeiter<br />
zu erreichen <strong>ist</strong> sinnvoll.<br />
2. Gestaltung eines „Infoblattes“ mit den wichtigsten für Eltern relevanten Informationen<br />
(Telefonnummern, aber auch Fotos mit Namen der für den Bewohner<br />
64
& die Familie relevanten Mitarbeiter und Bewohner) zur besseren Anfangsorientierung.<br />
3. (verpflichtende) Fortbildungen zu folgenden Themen:<br />
• Leitideen der Heilpädagogik (Was bedeutet systemisches Denken, Empowerment,<br />
<strong>Normal</strong>isierung, Ass<strong>ist</strong>enz etc.)<br />
• Ablösung,<br />
• Methoden der Gesprächsführung und Beratung, Kommunikationskompetenzen<br />
• Methoden der Ass<strong>ist</strong>enz und Erwachsenenbildung,<br />
• Rechtliche Aspekte der eigenen Arbeit.<br />
4. (systemische) Supervisions-Möglichkeiten einzeln oder im Team (je nach<br />
Budget), um eigene Arbeit, eigenes Selbstverständnis und Konflikte verschiedener<br />
Art mit Hilfe einer neutralen Person reflektieren zu können.<br />
5. Idealerweise Einstellung eines Diplomheilpädagogen mit Beraterausbildung<br />
oder die Fortbildung eines Mitarbeiters als/zum „<strong>Familien</strong>beauftragten“,<br />
der auch im Sinne eines Multiplikators Fortbildungen für Mitarbeiter<br />
und/oder Eltern anbieten könnte. Ebenso könnte dieser mit einem zu schaffenden<br />
Elternbeirat zusammen arbeiten und z.B. als Mediator zwischen Gruppenpersonal<br />
und Eltern fungieren.<br />
4.4.2 Begleitung vor / während der Auszugsphase<br />
1. Möglichkeiten zur Hospitation in einer Einrichtung, um den Alltag innerhalb<br />
der angestrebten Einrichtung oder mögliche Mitbewohner Kennenlernen zu<br />
können. Gleichzeitig würde dies der bereits bestehenden Gruppe eine Entscheidung<br />
für oder gegen den Bewerber erleichtern (möglich wäre auch die<br />
Teilnahme an einer Gruppenaktivität oder Freizeit). Dieses Angebot gilt sowohl<br />
für den möglichen Bewohner als auch seine Familie.<br />
2. Vorbereitung/ Durchführung der „Individuellen Hilfeplanung“ mit Hilfe der<br />
Methode einer Zukunftswerkstatt oder dem Buch von Susanne Göbel „So<br />
möchte ich Wohnen“.<br />
3. Einbezug der Eltern, Freunde o.ä. beim Renovieren des Zimmers (o.ä.) und<br />
der Einrichtung (sofern gewünscht und möglich), so wie es bei den me<strong>ist</strong>en<br />
Menschen bei einem Auszug geschieht.<br />
4. Kooperation sowohl mit Schulen, als auch der Werkstatt für Menschen mit<br />
Behinderung (WfbM), sowie der Volkshochschule (VHS) vor Ort, um so-<br />
65
wohl lebenspraktische Erfahrungen sammeln zu können, als auch z.B. Wohnangebote/-möglichkeiten<br />
der Umgebung kennen zulernen.<br />
5. Hierzu wäre u.a. die Einrichtung einer Möglichkeit zum „Probewohnen“ sinnvoll.<br />
4.4.3 Weitere Angebote an den Bewohner<br />
1. Jedem neuen Bewohner wird für die Anfangszeit ein „Pate“ aus dem Bereich<br />
der „alten“ Bewohner oder dem Heimbeirat zur Seite gestellt. Dieser unterstützt<br />
beim Einfinden in Alltagsabläufe, macht auf gruppeninterne Absprachen<br />
aufmerksam etc.<br />
2. Des weiteren wird ihm ein Mentor aus dem Mitarbeiterteam zur Seite gestellt.<br />
Dieser soll beim Auffinden eigener Bedürfnisse und Wünsche behilflich sein,<br />
auf Beschwerdemöglichkeiten hinweisen, bei besonderen Aktivitäten (wie Kleiderkauf,<br />
Arztbesuch etc.) als Begleiter fungieren <strong>wenn</strong> gewünscht und kann als<br />
Moderator für/ Vermittler in Gesprächen zwischen Bewohner und Eltern, Bewohner<br />
oder Mitarbeiter dienen.<br />
3. Vermittlung von Kursangeboten zu lebenspraktischen, politische und kulturellen<br />
etc. Themen (<strong>wenn</strong> möglich in Kooperation mit der VHS, ansonsten<br />
hausintern)<br />
4.4.4 Die Begleitung der Eltern<br />
1. Gesprächsangebote in unterschiedlicher Form und zu unterschiedlichen<br />
Themen, mit entsprechender Zeit und zwar nicht erst im Konfliktfall, sondern als<br />
grundsätzlich bestehendes Angebot. Die Bedeutung dieses Angebots kann<br />
nicht hoch genug eingeschätzt werden, sowohl zur Kontaktpflege als auch als<br />
Unterstützung und zur Vertrauensbildung.<br />
2. Ebenso wie dem Bewohner ein Pate zur Seite steht, sollte es für die Eltern einen<br />
festen Ansprechpartner geben. Dieser sollte meiner Meinung nach nicht<br />
derselbe sein wie der Bewohnermentor, um bei Vermittlungsgesprächen nicht<br />
in einen Gewissenskonflikt zu kommen. Der Elternmentor soll zudem der Aufnahme<br />
der Elternperspektive, der Lebensgeschichte des Bewohners etc. dienen.<br />
Zudem berichteten mehrere Eltern, dass so vermieden werden könne,<br />
66
dass sie immer wieder ihre Geschichte jedem neuen Mitarbeiter erzählen müssten.<br />
3. Einrichtung eines Elterngesprächskreises. Hier können „Betroffene“ Betroffene<br />
beraten und eventuell bei der Suche nach neuen Lebensperspektiven unterstützen<br />
oder auch praktische Informationen vermitteln, wie Finanzierungsmöglichkeiten,<br />
Ärzte o.ä.. Möglichkeiten hierzu ergeben sich auch aus der Tatsache,<br />
dass der Träger des Hauses ein Elternverein <strong>ist</strong>.<br />
4. Gründung eines Elternbeirats mit Beratungsfunktion, um die Mitwirkungsmöglichkeiten<br />
der Eltern zu schaffen. Ebenso kann er als Vermittler bei Konflikten<br />
zu Rate gezogen werden.<br />
5. Fortbildungs- bzw. Informationsangebote an die Eltern (z.B. zu Themen wie<br />
konzeptionelle Entwicklungen, Erb- und Betreuungsrecht, Sexualität und Elternschaft<br />
bei Menschen mit Behinderung, Leitgedanken der Heilpädagogik,<br />
Ablösung etc.). Auch hier können die Strukturen des Trägervereins genutzt<br />
werden. Ziel <strong>ist</strong> es, Hilfen zur Selbsthilfe anzubieten.<br />
5 Ausblick: Ablösen heißt auch Ankommen...<br />
Aus den Ausführungen sollte klar geworden sein, dass das Thema „Ablösung“ innerhalb<br />
komplexer Zusammenhänge steht. Ein Auszug bedeutet nicht das Ende des Ablösungsprozesses.<br />
Ebenso beinhaltet Ablösung vom Elternhaus auch Ankommen im<br />
neuen sozialen Umfeld.<br />
Die Ablösethematik steht oftmals direkt oder indirekt hinter Kooperations- und Verständnisproblemen<br />
in der Zusammenarbeit von Bewohnern, Eltern und Mitarbeitern.<br />
Somit <strong>ist</strong> es unabdingbar für Einrichtungen, sich mit diesem Thema auseinander zu<br />
setzen. Jedoch <strong>man</strong>gelt es an entsprechender umfassender Fachliteratur beziehungsweise<br />
einem Bewusstsein für den Informationsbedarf zu den diesen Bereich betreffenden<br />
Aspekten innerhalb der Ausbildung. Daher wurde mit dieser Arbeit der Versuch<br />
unternommen, ein systemisches Verständnis des Ablöseprozesses zu erarbeiten und<br />
zudem Grundlagen für ein professionelles Handlungsverständnis vorzustellen, welche<br />
Basis für ein Konzept einer entsprechenden Begleitung sein können. Da der Rahmen<br />
dieser Arbeit begrenzt <strong>ist</strong>, konnten viele Bereiche nur einführend bearbeitet werden.<br />
Daher habe ich an entsprechenden Stellen mir sinnvoll erscheinende Literaturangaben<br />
zur Vertiefung in den Fußnoten angemerkt.<br />
67
Die Loslösung von der Familie braucht Zeit (Beachtung der Chronosystem-Ebene),<br />
auch zum Ankommen in einer neuen Lebensphase und –rolle (sowohl in Bezug auf<br />
den Menschen mit Behinderung als auch der „zurückbleibenden“ Familie). Ein Auszug<br />
bedeutet nicht, dass damit das Ende aller <strong>Familien</strong>beziehungen eingeläutet wird. Die<br />
Betonung auf Ablöseprozess deutet an, dass es sich um etwas fließendes, sich entwickelndes<br />
handelt. Elternhaus und Wohneinrichtung stellen zwei zunächst eigenständige<br />
Systeme dar, welche miteinander verwoben sind und die in ein Gleichgewicht gebracht<br />
werden müssen. Im positivsten Fall entwickelt sich die Einsicht, dass es sich<br />
nicht um zwei konkurrierende Systeme handelt, sondern jedes für sich seine Berechtigung<br />
mit positiven Aspekten hat. Die Familie bietet das Zuhause als eine Art „Nest“, in<br />
das <strong>man</strong> immer wieder gerne zurückkehrt und in dem <strong>man</strong> entspannen kann. Die<br />
Wohneinrichtung hingegen symbolisiert dann vielleicht eher das Zuhause, in dem <strong>man</strong><br />
als „Erwachsener“ gefordert wird, mit den entsprechenden alltäglichen Anforderungen.<br />
Dementsprechend muss sich der Bewohner dann auch nicht entscheiden, wo er zuhause<br />
sein möchte.<br />
Begleiter können und sollen die Eltern nicht ersetzen. Umgekehrt müssen Eltern nicht<br />
„erzogen“ werden, damit sie im Sinne der „Fachleute“ pädagogisch/ andragogisch<br />
„sinnvoll“ handeln. Zur Ablösung aus dem Elternhaus gehört auch, dass ich (immer<br />
wieder) Nachhause kommen kann und von meinen Eltern „verwöhnt“ werde! Somit gilt<br />
es, die jeweiligen Stärken zu vereinen und nicht gegeneinander auszuspielen. Gegenseitiges<br />
Verständnis durch gemeinsame Gespräche, für die „Zeit“ vorhanden sein<br />
muss, <strong>ist</strong> ein Schlüssel für eine positive Verarbeitung des Ablöseprozesses und einen<br />
respektvollen Umgang miteinander. Reflexion der Prozesse mit Hilfe einer systemischen<br />
Sichtweise <strong>ist</strong> ein weiterer Schlüssel. Ohne die Berücksichtigung der individuellen<br />
Lebensgeschichte der Familie (auch mit den emotionalen Anteilen) wird alles<br />
„Fachwissen“ und jede professionelle Unterstützung unvollständig sein. Somit gilt es<br />
auch hier einen „Perspektivenwechsel“ einzuleiten, in dem Sinne, dass die Arbeit in<br />
einer Wohneinrichtung die gesamte Familie (oder entsprechende Bezugspersonen) im<br />
Blick haben sollte. Nur <strong>wenn</strong> Eltern das Gefühl haben, willkommen zu sein, werden sie<br />
auch „loslassen“ können. Mitarbeiter können dann als Unterstützung gesehen werden<br />
und nicht als Konkurrenz oder gar Gegner. Ablösung kann nur mit den Eltern zusammen<br />
begleitet werden!<br />
Auf makrosystemischer Ebene gilt, dass solange die Lebensumstände von Menschen<br />
mit Behinderung nicht „normalisiert“ sind, auch das Leben und die Lebensplanung von<br />
Eltern eines behinderten Kindes nicht „normalisiert“ sein werden. Ablösung und Auszug<br />
bedeutet bei nichtbehinderten <strong>Kinder</strong>n der Schritt in ein eigenes, privates Leben. Für<br />
Menschen mit Behinderung bedeutet es me<strong>ist</strong> noch den Schritt in eine Institution. Für<br />
68
die Eltern stellt dieser Schritt oft noch eher ein „Weggeben“ statt einem „Loslassen“ dar<br />
und <strong>ist</strong> oft mit Schuldgefühlen oder Rechtfertigungsdruck verbunden. An dieser Stelle<br />
weise ich darauf hin, dass Mitarbeiter einer Einrichtung erkennen müssen, wann die<br />
Grenzen ihrer Kompetenz zur Unterstützung der Eltern erreicht sind. Therapeutische<br />
Arbeit bedarf einer professionellen Ausbildung. Wenn ein Mitarbeiter feststellt, dass<br />
aus der Ablösung psychische Krisen größeren Ausmaßes entstanden sind (z. B. Eheprobleme<br />
oder Depressionen), müssen sie die Verantwortung abgeben. Kooperation<br />
mit anderen Einrichtungen und Beratungsstellen <strong>ist</strong> hierzu meines Erachtens ebenso<br />
wichtig, wie eine vertrauensvolle Basis zwischen Mitarbeitern und Eltern. Nur <strong>wenn</strong><br />
Eltern sich verstanden fühlen, können sie überhaupt Hilfen annehmen und werden sich<br />
nicht „pathologisiert“ fühlen. Gesellschaftliche und sozialpolitische Tendenzen zur Verbesserung<br />
der Rahmenbedingungen sind vorhanden, aber bei weitem noch nicht genug.<br />
Fraglich <strong>ist</strong> zum Beispiel, ob eine „Individuelle Hilfeplanung“ wirklich zu einem<br />
selbstbestimmten Leben im Sinne des Betroffenen, unterstützt mit der nötigen Hilfe,<br />
führt oder ob damit das Ziel einer „Kostenreduzierung“ verfolgt wird. Sollte weiterhin<br />
erst das „Eingeständnis“ der Eltern erforderlich sein, dass „es zuhause nicht mehr<br />
geht“, so wäre dies kein „Perspektivenwechsel“ und kein Weg zu <strong>Normal</strong>isierung und<br />
Empowerment.<br />
Der von mir entwickelte Konzeptvorschlag wurde einigen Kollegen bereits vorgestellt<br />
und wohlwollend aufgenommen. Damit er aber tatsächlich in die alltägliche Arbeit aufgenommen<br />
werden kann, bedarf es noch der Auseinandersetzung sowohl mit der gesamten<br />
Belegschaft des Hauses, dem Trägerverein, Eltern und Bewohnern. Ich denke,<br />
dass noch viel Überzeugungsarbeit gele<strong>ist</strong>et werden muss, damit wirklich jeder die<br />
Notwendigkeit eines solchen Konzeptes einsieht und neue Sichtweisen annehmen<br />
kann. Sicherlich wird auch über den Aspekt der Finanzierung zu sprechen sein. Jedoch<br />
sind einige der Vorschläge sofort und ohne großen Kostenaufwand zu verwirklichen,<br />
andere eher mittelfr<strong>ist</strong>ig. Zudem wird ein Angleichen an die überarbeitete Konzeption<br />
nötig sein. Letztlich kann nur eine Erprobung des Konzepts in der Praxis zeigen, wie<br />
sinnvoll die vorgeschlagenen Maßnahmen sind und welche Veränderungen oder Ergänzungen<br />
zu beachten sind.<br />
69
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Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. Stuttgart, Berlin,<br />
Köln 2001. S. 43-44.<br />
SPIEGEL, A. : Die Umsetzung von „<strong>Normal</strong>isierungsprinzipien“ im Wohnheim.<br />
In: WEINWURM-KRAUSE, E.-M. (Hrsg.) :Autonomie im Heim. Heidelberg 1999,<br />
S. 76-124.<br />
THESING, T.: Betreute Wohngruppen und Wohngemeinschaften für Menschen<br />
mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung. Freiburg i.B. 1990.<br />
THEUNISSEN, G./ PLAUTE, W.: Empowerment und Heilpädagogik. Ein Lehrbuch.<br />
Freiburg i.B. 1995(a).<br />
THEUNISSEN, G.: Ausgliederung ge<strong>ist</strong>ig behinderter Menschen aus der Psychiatrie.<br />
Internationale Entwicklung, zur Lage in den neuen Bundesländern und<br />
zu Reformen in der alten Bundesrepublik. 1995(b).<br />
In: BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE FÜR GEISTIG BEHINDERTE<br />
(Hrsg.): Wohnen heißt zu Hause sein. Hu<strong>man</strong>es Wohnen – seine Bedeutung für<br />
das Leben ge<strong>ist</strong>ig behinderter Erwachsener. Marburg 1995, S. 91-106.<br />
THEUNISSEN, G.: Familie – Behinderung –Ablösung. In: Heilpädagogik (1997)<br />
2, S. 1-9.<br />
THEUNISSEN, G.: Wege aus der Hospitalisierung: Empowerment in der Arbeit<br />
mit schwerstbehinderten Menschen. 2. Aufl. Bonn 2000.<br />
THEUNISSEN, G.: Erwachsenenbildung. In: ANTOR, G./ BLEIDICK, U.: Handlexikon<br />
der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis.<br />
Stuttgart, Berlin, Köln 2001. S. 371-373.<br />
76
THIMM, W.: Das <strong>Normal</strong>isierungsprinzip: Eine Einführung.<br />
Aus der Reihe: BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE FÜR GEISTIG<br />
BEHINDERTE E.V. (Hrsg.): Kleine Schriftenreihe, Bd. 5. Marburg 1994.<br />
TRAPPEN, M - L.: Die Bedeutung des Wohnens für ge<strong>ist</strong>ig behinderte Menschen<br />
aus Sicht der Familie.<br />
In: BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE FÜR GEISTIG BEHINDERTE<br />
(Hrsg.): Hu<strong>man</strong>es Wohnen: seine Bedeutung für das Leben ge<strong>ist</strong>ig behinderter<br />
Erwachsener. Marburg 1982, S. 16-24.<br />
TRENK-HINTERBERGER, P.: Die Rechte behinderter Menschen und ihrer Angehörigen.<br />
Schriftenreihe der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte,<br />
Band 103. 30. Aufl., Düsseldorf 2001.<br />
VAN KAN, P./ DOOSE, S.: Zukunftsweisend. Peer Counseling & Persönliche<br />
Zukunftsplanung. BIFOS-Schriftenreihe zum selbstbestimmten Leben Behinderter.<br />
2. Aufl. Kassel 2000.<br />
WALTER, J. : Pubertätsprobleme bei Jugendlichen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung.<br />
In: Ge<strong>ist</strong>ige Behinderung 24 (1985) 1, S.23-36.<br />
WALUJO, S./ MALMSTRÖM, C.: Grundlagen der SIVUS-Methode: Förderung<br />
der individuellen und sozialen Entwicklung bei Menschen mit ge<strong>ist</strong>iger Behinderung.<br />
Aus der Reihe SPECK, O. (Hrsg.): Behindertenhilfe durch Erziehung, Unterricht<br />
und Therapie, 16. 2. Aufl. München, Basel 1996.<br />
WEINWURM – KRAUSE, E. (Hrsg.): Autonomie im Heim: Auswirkungen des<br />
Heimalltags auf die Selbstverwirklichung von Menschen mit Behinderung. Heidelberg<br />
1999.<br />
WILLI, J. : Was verändert sich in der Ablösephase in der Geschichte einer Familie?<br />
In: LEMPP, R. (Hrsg.): Reifung und Ablösung. Das Generationenproblem und<br />
seine psychopathologischen Randformen. Bern 1987, S.54-63.<br />
WILKEN, U.: Hu<strong>man</strong>es Leben, Wohnen und Arbeiten ge<strong>ist</strong>ig behinderter Menschen.<br />
In: GEISTIGE BEHINDERUNG 24 (1985) 1, S. 37-48.<br />
WILKEN, U.: Selbstbestimmung und soziale Verantwortung. Gesellschaftliche<br />
Bedingungen und pädagogische Voraussetzungen.<br />
In: BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE FÜR MENSCHEN MIT<br />
GEISTIGER BEHINDERUNG (Hrsg.): Selbstbestimmung: Kongressbeiträge, 2.<br />
durchgesehene Aufl. Marburg 1997, S. 41-47.<br />
WOHNHAUS FÜR MENSCHEN MIT KÖRPERBEHINDERUNG (Hrsg.): Herzlich<br />
Willkommen im Brühler Wohnhaus für Körperbehinderte. (Prospekt) Brühl<br />
2002.<br />
77
ZIMBARDO, PH.G.: Psychologie. 6. neu bearb. und erw. Aufl. Berlin, Heidelberg<br />
u.a. 1995.<br />
78
Erklärung<br />
Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig angefertigt und<br />
keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen, die<br />
dem Wortlaut oder dem Sinne nach anderen Werken entnommen sind, habe ich<br />
in jedem einzelnen Falle unter genauer Angabe der Quelle deutlich als Entlehnung<br />
kenntlich gemacht.<br />
Brühl, der 13.10.2003 _______________________<br />
(Jörg Strigl)<br />
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