PDF (12.3 MB) - Fachbuch-Journal
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LANDESKUNDE | REISEN<br />
Almuth Degener. Georg Buddruss:<br />
The Meeting Place. Radio Features<br />
in the Shina Language of Gilgit<br />
by Mohammad Amin Zia. Text,<br />
interlinear Analysis and English<br />
Translation with a Glossary.<br />
Wiesbaden: Harrassowitz 2012.<br />
(Beiträge zur Indologie 46). Pp., XII, 308 S.<br />
ISBN 978-3-9540402-6-1<br />
€ 68,-<br />
Im Jahr 1871 erschien in Lahore/Panjab<br />
der Bericht des jungen österreichischungarischen<br />
Sprachwissenschaftlers und<br />
Forschungsreisenden Gottlieb William<br />
Leitner, der im Auftrag der britischen<br />
Regierung den äußersten Norden des<br />
indischen Subkontinents bereist hatte,<br />
das Karakoramgebiet im heutigen Pakistan.<br />
Das Werk in vier Bänden – „Races<br />
and languages of Dardistan“ – brachte<br />
zum ersten Mal Kunde von dieser nahezu<br />
unzugänglichen Region zwischen<br />
Kaschmir, Afghanistan, Tibet, Russland<br />
und China. Leitner war beeindruckt von<br />
dem „Paradies auf Erden“, auch wenn<br />
er die dort herrschende politische Anarchie<br />
bedauerte und für eine nationale<br />
Einheit der verfeindeten Gruppen und<br />
Stämme plädierte bzw. angesichts der<br />
vielen Übergriffe – wen wundert‘s – für<br />
den Anschluss an Britisch-Indien.<br />
Heute ist die Region um die kleine Stadt<br />
Gilgit touristischer Ausgangspunkt für<br />
die Besteigung der Achttausender der<br />
Umgebung; Trekkingtouren erschließen<br />
das Hochgebirge, und selbst eine<br />
Schnellstraße, der Karakoram Higway<br />
(KKH), bahnt sich seit 1978 einen Weg<br />
durch die zahllosen v-förmigen Gebirgstäler<br />
– sie verbindet heute als moderne<br />
Seidenstraße Pakistan mit China.<br />
Dardistan – hier, am Oberlauf des Indus,<br />
liegt einer der vielsprachigsten Plätze auf<br />
Erden. Die regionalen Sprachen der einzelnen<br />
Täler entbehren bis heute meist<br />
einer schriftlichen Fixierung; wenn<br />
überhaupt, wurde alles in Nastaliq, der<br />
Schrift des Urdu bzw. Persiens, aufgeschrieben.<br />
Von eigener Dichtung konnte<br />
kaum die Rede sein: Märchen, Rätsel,<br />
Sprichwörter, Heilrezepte – das war alles,<br />
was bisher an einheimischer literarischer<br />
Überlieferung existierte. Erst Mitte<br />
der 80er Jahre – und dies ist auch das<br />
Verdienst des Autors und Radiojournalisten<br />
Mohammad Amin Zia aus Gilgit<br />
– gelang es, über eine Serie einfach<br />
gestrickter, aber ungemein populärer<br />
„Radio-Soaps“ dem Shina, der Sprache<br />
des Gilgittals, gegenüber der Staatsspra-<br />
62 1 I 2013<br />
che Pakistans, dem Urdu, ein gewisses<br />
Heimatrecht zu verschaffen, mit Zustimmung<br />
und Unterstützung der pakistanischen<br />
staatlichen Stellen.<br />
Wie die Sendungen in lockerer, umgangssprachlicher<br />
Ausdrucksweise aktuelle<br />
Alltagsprobleme im Gilgittal aufgreifen<br />
und wie die drei Sprecher damit<br />
in durchaus kontroverser Form umgehen<br />
– das ist in diesem Band anhand von<br />
sieben Sendungen spannend nachzulesen.<br />
Der junge, dynamische, gut ausgebildete<br />
Brausekopf Taj, der alte, konservativ<br />
denkende Dorfchef Trangpha und<br />
der Lehrer, Master Sahib – er vermittelt<br />
und moderiert – treffen sich am Dorfmittelpunkt<br />
(bayaak „Treffpunkt“) und<br />
liefern sich in den 25minütigen Radiofeatures<br />
teils heftige Wortgefechte,<br />
in denen Themen wie Korruption und<br />
Bestechung, Müllprobleme, Wasserverschmutzung<br />
oder fehlendes Gemeinschaftsbewusstsein<br />
ziemlich unverblümt<br />
angegangen werden.<br />
In einer Gesellschaft einen Dialog zu<br />
suchen, zu führen und mit Erfolg auszubauen,<br />
in denen die Wahrung des<br />
Gesichts eine gar nicht zu überschätzende<br />
Rolle spielt, wo sich die religiösen<br />
Gruppierungen (Shiiten, Sunniten und<br />
Ismaeliten) und die Stämme untereinander<br />
nichts schenken, wo von Tal zu Tal<br />
unterschiedliche Traditionen, Sprachen<br />
und Sitten herrschen –, einen Dialog,<br />
der Identifikation erlaubt und Brücken<br />
schlägt zwischen Alt und Jung, zwischen<br />
vorwärtsgewandt und konservativ,<br />
zwischen regional und national und<br />
der bei aller Offenheit doch immer wieder<br />
einen versöhnlichen Ton anschlägt<br />
– face saving strategies eben –, das<br />
klingt zukunftsweisend angesichts der<br />
beklemmenden Neigung zur Konfrontation<br />
in derart fragmentierten Gesellschaften,<br />
kam es doch noch im Frühjahr<br />
2012 im Gilgittal zu Auseinandersetzungen<br />
zwischen den verfehdeten muslimischen<br />
Glaubensrichtungen von Shia/<br />
Ismailiya und Sunna mit zahlreichen Toten<br />
und Verletzten. Dass das friedliche,<br />
konstruktive Zusammenleben in keiner<br />
Gesellschaft von heute auf morgen vom<br />
Himmel fällt und stets eigener Anstrengungen<br />
bedarf, drückt der Master Sahib<br />
in der Sendung in einem schönen Bild<br />
aus: „Drop by drop a river is made“.<br />
Georg Buddruss und Almuth Degener ist<br />
es gelungen, als Indologen, Feldforscher<br />
und Sprachwissenschaftler nicht nur die<br />
sprachlichen, sondern auch die sozialen,<br />
religiösen und literarischen Implikationen<br />
dieser erfrischenden Radiosendung<br />
vom äußersten Ende der bewohnten<br />
Welt zu dokumentieren und zu interpretieren.<br />
Damit haben sie uns – weit<br />
über die sprachwissenschaftliche Analyse<br />
hinaus – einen Spaltweit die Tür zum<br />
sprachlichen und kulturellen Kosmos<br />
Zentral- und Südasiens geöffnet. (tk)<br />
Thomas Kaiser: Bildrollen. Dauer und<br />
Wandel einer indischen Volkskunst.<br />
Stuttgart: Arnoldsche 2012. Geb., 160 S.<br />
mit 200 Abb.<br />
ISBN 978-3-89790-365-4<br />
€ 39,80<br />
Als der Künstler und ethnologische Autodidakt<br />
Thomas Kaiser beim Besuch<br />
der Buchmesse in Kalkutta im Jahr<br />
1993 eher zufällig auf einen scheuen<br />
Verkäufer von Bildrollen traf und ihn<br />
fragte, was das sei und woher die Werke<br />
stammten, war dies die Geburtsstunde<br />
einer eindrucksvollen Sammlung. Der<br />
vorliegende Band setzt einen vorläufigen<br />
Schlussstein: er dokumentiert die<br />
fast zwanzigjährige Sammlertätigkeit,<br />
die in einer Ausstellung des Völkerkundemuseums<br />
der Universität Zürich gipfelt<br />
und macht sie durch die Publikation<br />
einem breiteren Publikum zugänglich.<br />
Seit über 2000 Jahren ziehen in Indien<br />
fahrende Künstler über Land, die anhand<br />
gemalter Bildrollen die Erzählungen<br />
der großen indischen Epen Mahabharata<br />
und Ramayana sowie eine Fülle<br />
lokaler Götter- und Heldengeschichten<br />
und moralischer Lehrstücke unter der<br />
meist des Lesens unkundigen Landbe-