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PDF (12.3 MB) - Fachbuch-Journal

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herzogtum“ statt „Großfürstentum“<br />

(S. 200) oder die Behauptung, dass an<br />

der Eroberung Sibiriens (1581/82) Uralund<br />

Orenburger Kosaken beteiligt gewesen<br />

seien (S. 117). Orenburg wurde<br />

erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts<br />

gegründet. Der heutige Fluss Ural hieß<br />

zur Zeit der Eroberung Jaik und dort<br />

gab es am Ende des 16. Jahrhunderts<br />

noch keine Kosaken. Die kosakischen<br />

Eroberer Sibiriens stammten vom Don,<br />

später kamen Kosaken aus der Dnepr-<br />

Region hinzu.<br />

Diese Texte zeigen, wie auch der Band<br />

der Spiegelredakteure Uwe Klussmann<br />

und Dietmar Pieper „Die Herrschaft der<br />

Zaren. Russlands Aufstieg zur Weltmacht“,<br />

eine ausgesprochen eindimensionale<br />

und deterministische Sicht auf<br />

die russische Geschichte, die angesichts<br />

der neueren Forschung über das kaiserliche<br />

Russland erstaunlich ist. Das Buch<br />

basiert auf dem Heft<br />

„Das Russland der Zaren“<br />

aus der Reihe „Spiegel<br />

Geschichte“, das Anfang<br />

2012 erschienen ist.<br />

Die Geschichte Russlands<br />

ist relativ einfach<br />

erzählt. Erst regierten die<br />

Zaren seit Ivan IV. dem<br />

Schrecklichen von 1547<br />

bis 1917, dann kamen die<br />

roten Zaren und jetzt ist<br />

Vladimir Putin der neue<br />

Zar. Das bestätigt den Spiegelredakteuren<br />

auch der Russlandexperte Alexander<br />

Rahr in einem Gespräch, das den Abschluss<br />

des Bandes bildet. Das liegt am<br />

„Schicksal Russlands“ und an der „höfischen<br />

Atmosphäre“ im Kreml. Da hängt<br />

der Zarismus gleichsam in den Mauern<br />

– gesprochen wird von der „Kraft des<br />

Kreml“ – und da hat auch die alte Idee<br />

von Moskau als dem „Dritten Rom“ und<br />

das Erbe von Byzanz die Jahrhunderte<br />

überlebt. So einfach kann Geschichte<br />

sein. Das russische Volk, das im Buch<br />

so gut wie gar nicht vorkommt, wird<br />

seit Jahrhunderten von diesen „Zaren“<br />

brutal unterdrückt; immer und überall<br />

herrscht Korruption. Einfache Weltbilder<br />

stehen offensichtlich immer noch<br />

hoch im Kurs, komplexe Sachverhalte<br />

überfordern Spiegelredakteure und Leser<br />

gleichermaßen.<br />

Nur ein Beispiel sei herausgegriffen.<br />

Nach der gescheiterten Revolution<br />

1905/06 habe in Russland „Ruhe, Grabesruhe“<br />

geherrscht (S. 215). Dies war<br />

mitnichten der Fall. Das Land erlebte<br />

eine Blüte seiner kulturellen und wirtschaftlichen<br />

Entwicklung: Das silberne<br />

Zeitalter der russischen Kultur in all ihren<br />

Bereichen, wofür hier nur stellvertretend<br />

die Triumphe des „Ballets Russes“<br />

unter Sergej Djagilev in West- und<br />

Mitteleuropa genannt seien. Die Wissenschaften<br />

nahmen, ebenso wie die<br />

industrielle Entwicklung, einen gewaltigen<br />

Aufschwung; der Zeitungs- und<br />

Zeitschriftenmarkt wuchs explosionsartig,<br />

denn immer mehr Menschen konnten<br />

mittlerweile Lesen und Schreiben.<br />

Die Presse veröffentlichte die Debatten<br />

der Duma, des seit 1906 bestehenden<br />

Parlamentes, und dort scheute sich ein<br />

liberaler Abgeordneter auch in den Zeiten<br />

des „brachialen“ Premierministers<br />

Petr Stolypin nicht, die Schlinge des<br />

Galgens, an dem bei weitem nicht so<br />

viele Revolutionäre gehängt wurden,<br />

wie suggeriert wird, als „Stolypins Kra-<br />

Es ist unglaublich, dass es noch solche Bücher über<br />

Russland gibt, die derart von Klischees und Stereotypen<br />

durchzogen sind. Das mögen die Leser/innen<br />

ganz offensichtlich, denn bei amazon wird es hochgelobt<br />

und steht sehr weit oben in der Bestenliste.<br />

watte“ zu bezeichnen. Das führte für<br />

das betreffende Mitglied des Hohen<br />

Hauses zwar zum Ausschluss für mehrere<br />

Sitzungen, stand aber im nächsten<br />

Tag in der Zeitung, weil die Dumadebatten<br />

unzensiert veröffentlicht<br />

wurden. Und sogar der Sport wurde<br />

im Jahrzehnt vor dem Ausbruch des<br />

Ersten Weltkrieges 1914 ein Massenphänomen.<br />

Unternehmer agierten als<br />

Mäzene in all diesen Bereichen und<br />

mancher Kunstsammler öffnete sein<br />

Haus zu bestimmten Zeiten, um seine<br />

Bildersammlungen der Öffentlichkeit<br />

zu präsentieren.<br />

Noch eine Bemerkung zur Ermordung<br />

des Premierministers Stolypin, von dem<br />

(S. 189) behauptet wird, er sei wenige<br />

Tage vor seiner Ermordung in Kiev (das<br />

Attentat fand am 14.9.1911 statt, der<br />

Premierminister starb am 18.9.1911) zurückgetreten.<br />

Dies war, auch wenn es so<br />

bei wikipedia (deutsche und englische<br />

Fassung) steht, nicht der Fall. Auch die<br />

angeführte Äußerung Stolypins nach<br />

den Schüssen auf ihn, er sei glücklich<br />

LANDESKUNDE | REISEN<br />

für den Zaren zu sterben, ist nicht authentisch<br />

überliefert. Da die Autor/innen<br />

auf alle Nachweise verzichten, lässt<br />

sich die Quelle nicht überprüfen. In Abraham<br />

Aschers maßgeblicher Biographie<br />

Stolypins aus dem Jahre 2001 und in<br />

den Erinnerungen der Tochter, Marija<br />

Bok, findet sich nur der Hinweis, der<br />

schwerverletzte Premier habe in Richtung<br />

der Zarenloge das Kreuzzeichen<br />

gemacht.<br />

Insgesamt nennen die Autoren/innen<br />

des „Spiegel“ in ihren „Buchhinweisen“<br />

gerade einmal sieben Titel zur weiteren<br />

Lektüre oder als Quellen, darunter<br />

die eher belletristischen Werke des<br />

britischen Autors Vincent Cronin über<br />

Katharina die Große (erstmals 1978<br />

erschienen; darüber ist die historische<br />

Forschung heute weit hinaus) und des<br />

französischen Literaten russisch-armenischer<br />

Herkunft Henri Troyat über<br />

Nikolaus II., der Anfang<br />

des 21. Jahrhunderts in<br />

Frankreich in einen Plagiatsfall<br />

verwickelt war.<br />

Auch diese romanhafte<br />

Erzählung ist längst<br />

nicht mehr auf dem<br />

neuesten Stand der Forschung.<br />

Empfohlen wird<br />

ebenfalls die Lektüre<br />

eines Buches des britischen<br />

Historikers Orlando<br />

Figes „Nataschas<br />

Tanz“ zur russischen Kulturgeschichte.<br />

Figes ist unter anderem dafür bekannt,<br />

dass er in Großbritannien einen Skandal<br />

verursachte, als er als Anonymus Werke<br />

seiner Kollegen bei amazon sehr negativ<br />

rezensierte. Sein Umgang mit den<br />

von ihm verwendeten Quellen ist bisweilen<br />

recht nachlässig.<br />

Da bieten die Herausgeber der fotografischen<br />

Reise durch das Zarenreich doch<br />

erheblich mehr Literaturhinweise, die<br />

allerdings auch nicht fehlerfrei sind. So<br />

liegen beispielsweise die Memoiren Alexander<br />

Kerenskijs, Ministerpräsident in<br />

Russland von Juli bis November 1917,<br />

auch in einer deutschen Übersetzung<br />

vor.<br />

In beiden Bänden wird durchgängig<br />

das Adjektiv „zaristisch“ benutzt. Es<br />

diente schon Vladimir Lenin und Genossen<br />

bis zum Zusammenbruch der<br />

Sowjetunion zur politischen Agitation.<br />

Es ist erstaunlich, dass es auch heute<br />

noch anstelle des Adjektivs „zarisch“<br />

(russisch: carskij) zur Diskriminierung<br />

politischer Herrschaft benutzt wird. t<br />

1 I 2013 55

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