August/September - Experimenta.de
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eXperimenta<br />
aUgUst / sePTember 2008<br />
Monatsmagazin <strong>de</strong>s INstituts für KreAtives Schreiben, Bad Kreuznach/Bingen<br />
Inhalt dieser Ausgabe<br />
Impression................................................... 2<br />
Die Kunst .................................................... 3<br />
Peter Heinrichs: Lyrikwerkstatt ...................... 3<br />
Anja We<strong>de</strong>rshoven: Blütenküsse ................... 5<br />
Artur Lundkvist: Lebe wie Gras ................... 10<br />
Sophie Mereau: Schwärmerey ................... 13<br />
Susanne Speicher: Hommage an das Leben.. 14<br />
Der Betrieb................................................ 21<br />
Experimentelles Schreiben in <strong>de</strong>r Gruppe..... 21<br />
Auf das Wesentliche reduziert ................... 23<br />
Die Welt <strong>de</strong>s Kreativen Schreibens ................ 26<br />
Mo<strong>de</strong>rne Lyrik ......................................... 26<br />
Im Hier und Jetzt ..................................... 33<br />
Das Institut ................................................ 34<br />
Ich habe gerochen, geschmeckt, gespürt...... 34<br />
Der Wegweiser .......................................... 40<br />
Kurzgeschichten gesucht ........................... 40<br />
Carla Capellmann: fern ............................ 41<br />
Carla Capellmann: fern (es) sehen.............. 42<br />
Was ich gera<strong>de</strong> lese ................................ 43<br />
Allfälliges............................................... 44<br />
Die Redaktion ............................................ 50<br />
Neuer Redakteur ..................................... 50<br />
Impressum .............................................. 50<br />
Editorial<br />
Liebe Leserinnen und<br />
Leser,<br />
die bewusste Benutzung<br />
von Worten<br />
bereichere unser<br />
Leben, davon ist <strong>de</strong>r<br />
Glücksforscher Milhaly<br />
Csikszentmihalyi<br />
überzeugt. Die traditionelle<br />
Form <strong>de</strong>s<br />
Erzählens, das „gesprochene<br />
Wort“, hat<br />
einen beson<strong>de</strong>ren<br />
Unterhaltungswert<br />
und hebt das Wohl-<br />
(Fortsetzung Seite 2)<br />
eXperimenta 08 & 09/2008 Www.<strong>Experimenta</strong>.De 14. <strong>August</strong> 2008
efin<strong>de</strong>n. Die verbale Kommunikation, bei <strong>de</strong>r interaktiv Worte sich zu wertvollen<br />
Informationen verdichten, ist im Grun<strong>de</strong> genommen Hauptzweck einer<br />
Unterhaltung.<br />
Schreiben befreit die Seele. Diese Metapher formuliert für viele Menschen, die<br />
sich <strong>de</strong>m kreativen Schreiben widmen, eine Möglichkeit, verkrustete Erinnerungen<br />
zu visualisieren, um Gefühlen freien Lauf zu lassen, sie ins „Fließen“<br />
zu bringen. Flow beim Schreiben – Flow mit Worten.<br />
„Dichtung ist eine <strong>de</strong>r besten kreativen Nutzungen von Sprache. Da Verse <strong>de</strong>m<br />
Verstand ermöglichen, Erfahrungen in kon<strong>de</strong>nsierter Form zu bewahren, sind<br />
sie i<strong>de</strong>al, um das Bewusstsein zu formen.“ So nachzulesen bei Csikszentmihalyi,<br />
<strong>de</strong>m Chicagoer Psychologieprofessor. Schreiben ist also ein Ausdruck<br />
ursprünglicher Kreativität. Konzentration auf innere Schichten <strong>de</strong>r Seele kann<br />
autobiografische Momente wie<strong>de</strong>r beleben, damit sie in einem schöpferischen<br />
Prozess geordnet wer<strong>de</strong>n.<br />
Menschen, die sich <strong>de</strong>m Creative Writing zuwen<strong>de</strong>n, berichten immer wie<strong>de</strong>r<br />
davon, wie gut es ihnen tut, wenn sie sich etwas „von <strong>de</strong>r Seele geschrieben“<br />
haben. Schreiben dient also nicht nur dazu, etwas los zu wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn<br />
verhilft auch zum Gefühl, etwas getan zu haben, was das Wohlbefin<strong>de</strong>n<br />
stärkt.<br />
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Schreiben!<br />
Ihr Rüdiger Heins<br />
Impression<br />
© Rüdiger Heins 2008<br />
eXperimenta 08 & 09/2008 Www.<strong>Experimenta</strong>.De 14. <strong>August</strong> 2008
Die Kunst<br />
Peter Heinrichs: Lyrikwerkstatt<br />
Der Autor<br />
Peter Heinrichs: Lyrikwerkstatt<br />
Wenn Gedichte sterben,<br />
atmen sie nur noch aus.<br />
Alles vergessen:<br />
das Umschreiten <strong>de</strong>r Flamme ...<br />
<strong>de</strong>n Höhenrausch …<br />
Kein Funken mehr<br />
Peter Heinrichs, Jahrgang<br />
unter <strong>de</strong>r Asche,<br />
1939, brach nach einem<br />
die Lungen von Feinstaub verschattet, Architektur-, Medizin- und<br />
die Spiegel geblen<strong>de</strong>t.<br />
Germanistikstudium seine<br />
HERR! Noch ist´s nicht Zeit,<br />
Doktorarbeit in Literaturge-<br />
<strong>de</strong>r Sommer ist noch klein,<br />
schichte ab und ging als<br />
doch die Autopsie hat schon begonnen. Quereinsteiger in die Werbe-<br />
Auf <strong>de</strong>m Seziertisch zerschnittenes Brot – branche. Als Kreativdirektor in<br />
keine Aster, kein ersoffener Bierfahrer. mehreren internationalen<br />
„Halte mich! Du, ich falle!<br />
Agenturen war er für die Wer-<br />
Ich bin im Nacken so mü<strong>de</strong> ..“<br />
bebudgets vieler bekannter<br />
Das ist doch wohl klar,<br />
Unternehmen verantwortlich<br />
da darf man nicht anknüpfen.<br />
und arbeitet jetzt als Werbe-<br />
Nur keinen Reim!<br />
dozent und freier Autor in<br />
Nur keine trockene Kehle!<br />
München.<br />
Nur kein Leuchten im Auge!<br />
Selbst ein Zittern <strong>de</strong>s Li<strong>de</strong>s könnte schuldig machen.<br />
Verse, die durch Jahrhun<strong>de</strong>rte flogen –<br />
je<strong>de</strong>r ein Paria jetzt, für uns unberührbar.<br />
Wir wählen das Stroh und entsorgen das Korn.<br />
Wir sind Individualisten,<br />
wir sind eines Stils,<br />
wir sind emsige Beamte <strong>de</strong>s Wörterverknüpfens.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 3<br />
Lyrik
Wir erfin<strong>de</strong>n das Rad neu – immer und immer und immer wie<strong>de</strong>r,<br />
flechten Verse auf Ganzjahresreifen,<br />
keiner davon<br />
jemals gefahren,<br />
doch alle schon<br />
ohne Profil.<br />
Entropie ringsum, das kriecht sich breit wie<br />
Mehltau. Angenehm laues<br />
Bad im Gemenge.<br />
Nach unten<br />
offene Dichterskala.<br />
Noch nicht einmal Cover-Versionen<br />
von römischen Brunnen o<strong>de</strong>r blauen Klavieren.<br />
Pssst!<br />
Wenn einer liest –<br />
brechen die an<strong>de</strong>ren<br />
<strong>de</strong>n Blickkontakt ab.<br />
Je<strong>de</strong>r schaut in <strong>de</strong>n Schoß,<br />
doch dort<br />
wird we<strong>de</strong>r gezeugt noch empfangen.<br />
Kein Lachen. Kein Seufzen. Keine Träne herab.<br />
Unsichere Rundgänge durch<br />
sterile, dürre Wortgebil<strong>de</strong>.<br />
Rascheln<strong>de</strong> Blindtexte.<br />
Vorsicht, nicht auf die Buchenstäbe treten!<br />
Das Knacken könnte miss<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n.<br />
Und immer wie<strong>de</strong>r<br />
kollektives, betretenes Schweigen –<br />
lei<strong>de</strong>r auch diesmal<br />
vergeblich vor <strong>de</strong>m Kreißsaal gewartet,<br />
wie<strong>de</strong>r fand keine Geburt statt.<br />
Da kommt nichts zur Welt, das man lieben könnte.<br />
(Richtig gehört, ich sagte: lieben.<br />
Dieses peinliche gestrige Wort!)<br />
Da blutet keine Nabelschnur,<br />
da füllt sich keine Lunge,<br />
da schreit nichts;<br />
selbst die Nachgeburt bleibt aus.<br />
Ihr habt ja recht!<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 4
Die Notwendigkeit neuen Lebens ergibt sich nicht.<br />
Darum lasst uns hinausgehn,<br />
wo <strong>de</strong>r Sommer lehnt und <strong>de</strong>n Schwalben zusieht,<br />
wo die Fel<strong>de</strong>r rauschen und zwischen <strong>de</strong>n Wipfeln<br />
man nur einen Hauch spürt. Dort<br />
wollen wir bleiche Knöchlein sammeln,<br />
vielleicht fahles Bruchholz,<br />
vertrocknete Käfer o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n wimmeln<strong>de</strong>n Vogelkadaver<br />
unterm duften<strong>de</strong>n Flie<strong>de</strong>r …<br />
Unsern Fund dann wollen<br />
wir betten in Särge.<br />
Die steh´n schon gefaltet<br />
aus blütenweißem<br />
Papier. 80 g/m2<br />
Anja We<strong>de</strong>rshoven: Blütenküsse<br />
„Schau mal, wie schön!“ Vera<br />
war stehengeblieben und blickte<br />
auf die Einfahrt einer Villa am<br />
Rand <strong>de</strong>s Stadtwalds. Hinter<br />
<strong>de</strong>m schmie<strong>de</strong>eisernen Gitter<br />
trieb ein leichter Wind Myria<strong>de</strong>n<br />
von abgefallenen Kirschblütenblättern<br />
über das Kopfsteinpflaster.<br />
„Sieht aus wie Schnee,<br />
nicht?“, hakte Vera nach.<br />
Simon murmelte etwas Beifälliges.<br />
Mädchen – so viel wusste<br />
er schon – hatten eine blühen<strong>de</strong><br />
Fantasie und konnten sich für<br />
Die Autorin<br />
Anja We<strong>de</strong>rshoven wur<strong>de</strong> 1968 in<br />
Mönchengladbach geboren, studierte<br />
Germanistik in Bonn und arbeitet als<br />
freie Autorin und Literaturkritikerin u.a.<br />
für die Luxemburger Tageszeitung<br />
tageblatt. Seit 2007 Organisation und<br />
Leitung <strong>de</strong>r WortWeber – Autorengruppe<br />
Nie<strong>de</strong>rrhein.<br />
seltsame Dinge begeistern. Aber als Vera jetzt die Klinke <strong>de</strong>s Tores runterdrückte<br />
und <strong>de</strong>n quietschen<strong>de</strong>n Flügel öffnete, wur<strong>de</strong> er unruhig.<br />
„Was hast du vor? Wir dürfen da nicht rein.“<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 5<br />
Prosa
„Aber es ist nicht abgeschlossen.“ Vera grinste. „Du hast doch nicht etwa<br />
Schiss?!“ Sie drückte sich durch <strong>de</strong>n offenen Spalt auf das Grundstück und sah<br />
ihn herausfor<strong>de</strong>rnd an. Simon folgte ihr seufzend und wachsam.<br />
„Ich glaube, hier wohnt gar keiner.“ Vera <strong>de</strong>utete auf die verschlossenen<br />
Fensterlä<strong>de</strong>n. Nur das Gezwitscher von Vögeln war zu hören, ab und zu das<br />
Summen <strong>de</strong>r ersten Hummeln, die noch schwerfällig durch <strong>de</strong>n Garten taumelten.<br />
Ein Windstoß trieb die weiß-rosa Blütenblätter in großen Wellen ein Stück<br />
weiter.<br />
Vera ging in die Hocke und nahm eine Handvoll <strong>de</strong>r zarten Blätter, ließ sie<br />
sanft durch ihre Finger rieseln. Simon lehnte sich an <strong>de</strong>n Stamm eines Baumes<br />
und schaute ihr zu: Was war heute nur an<strong>de</strong>rs an ihr? Irgen<strong>de</strong>twas war an<strong>de</strong>rs<br />
als früher.<br />
Dabei kannte er Vera, seit sie im Kin<strong>de</strong>rgarten immer heimlich die verhassten<br />
Kakaotabletten für ihn gegessen hatte. Bis vor einem halben Jahr, als sie<br />
mit ihren Eltern in eine an<strong>de</strong>re Stadt ziehen musste, war sie sein bester Kumpel<br />
gewesen, sein engster Freund. Dass sie ein Mädchen war, hatte dabei keine<br />
Rolle gespielt. Mit Vera konnte man alles machen: Auf Bäume klettern, Karl<br />
May lesen und Blutsbrü<strong>de</strong>rschaft schließen, Ratten mit Steinen bewerfen. Mit<br />
ihr konnte man die besten Wettbewerbe im Selbsterfun<strong>de</strong>ne-Lange-Wörter-<br />
Aufsagen machen und sich in klangvollen Geheimsprachen unterhalten. Vera<br />
war nie wie die an<strong>de</strong>ren Mädchen gewesen, son<strong>de</strong>rn einfach nur Vera.<br />
Jetzt hatte sie sich bis zum Treppenaufgang <strong>de</strong>r Villa vorgewagt und wühlte,<br />
auf <strong>de</strong>r untersten Stufe sitzend, weiter in <strong>de</strong>m Blütenteppich. Wie<strong>de</strong>r betrachtete<br />
Simon sie: Was bloß irritierte ihn an ihr?<br />
„Du fängst aber früh an“, hatte sein Onkel am Tag zuvor bei Simons Geburtstagskaffee<br />
gesagt. „Wird gera<strong>de</strong> mal zwölf und hat schon die erste Freundin.“<br />
Die Erwachsenen hatten gelacht und Simon war rot gewor<strong>de</strong>n, ohne zu wissen<br />
warum.<br />
„Lasst doch <strong>de</strong>n Jungen in Ruhe“, sprang seine Mutter ihm bei. „Die kennen<br />
sich schon aus <strong>de</strong>m Sandkasten.“ Und dabei blinzelte sie Simon zu.<br />
Die Gespräche am Tisch wechselten das Thema, aber er nahm sie nur noch<br />
in einem kleinen Winkel seines Bewusstseins wahr. Der Tag hatte einen Riss<br />
bekommen; Simon fühlte sich fremd.<br />
„Willst du dich nicht auch setzen?“ Vera schaute ihn von unten an. Sie trug<br />
das rote T-Shirt, das einmal ihm gehört und das er ihr zum Abschied mitgegeben<br />
hatte. „Zieh es an, wenn du Heimweh hast“, hatte er gesagt, und sie war<br />
gerührt gewesen.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 6
„Klar, warum nicht …“, er hockte sich neben sie auf die Kante <strong>de</strong>r Stufe,<br />
vermied es aber, sie zu berühren.<br />
„Wie viele das wohl sind?“ Vera hielt jetzt ein einzelnes Blütenblatt zwischen<br />
Daumen und Zeigefinger und bestaunte das hauchdünne Gewebe, das<br />
das Sonnenlicht durchschimmern ließ und in mannigfaltigen Rosatönen leuchtete.<br />
„Du meinst, auf <strong>de</strong>r ganzen Einfahrt hier?“<br />
„Ja, alle Blütenblätter von allen Blüten von diesem Baum.“<br />
„Keine Ahnung“, Simon fühlte sich unbehaglich. „Du stellst merkwürdige<br />
Fragen!“<br />
„Aber das ist doch spannend, man müsste die eigentlich mal zählen.“<br />
„Wozu das <strong>de</strong>nn, du spinnst ja.“ Er klang mürrisch.<br />
„Bist du eigentlich froh, wenn ich gleich wie<strong>de</strong>r nach Hause fahre?“<br />
„Nee, wieso? Ist gut, dass du mal wie<strong>de</strong>r hier bist.“<br />
Sie sah ihn skeptisch an. „Ich hab mehr das Gefühl, ich stör dich.“<br />
„Du störst doch nicht. Wobei <strong>de</strong>nn?“<br />
Während Simon Grasbüschel aus <strong>de</strong>n Fugen zwischen <strong>de</strong>n Pflastersteinen<br />
rupfte, sammelte Vera die Blütenblätter in <strong>de</strong>r langen, schmalen Senke zwischen<br />
ihren Oberschenkeln. Die Blätter raschelten beim Aufheben leise in<br />
ihren Hän<strong>de</strong>n und klangen wie früher <strong>de</strong>r Ba<strong>de</strong>schaum, wenn die feinen Luftbläschen<br />
zerplatzten. Eine <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Mütter hatte die Kin<strong>de</strong>r immer gemeinsam<br />
in die Ba<strong>de</strong>wanne gesteckt, wenn sie von ihren Erkundungstouren verdreckt<br />
nach Hause gekommen waren.<br />
Jetzt senkte Vera das Gesicht in die Blätter.<br />
„Mmh, die riechen schon nach Kirschen! Ein bisschen zumin<strong>de</strong>st.“ Sie richtete<br />
<strong>de</strong>n Oberkörper auf und drehte ihre Beine auffor<strong>de</strong>rnd in Simons Richtung.<br />
Der beugte sich zögerlich über ihren Schoß und schnupperte. Wur<strong>de</strong><br />
schon wie<strong>de</strong>r rot im Gesicht. Er zog die Nase zurück.<br />
„Weiß nicht“, murmelte er und drehte <strong>de</strong>n Kopf weg: Vera sollte das Glühen<br />
auf seinen Wangen nicht sehen. Er nahm eine Handvoll Blütenblätter vom<br />
Bo<strong>de</strong>n und streute sie ihr über die Haare, übers Gesicht. Aber anstatt sich zu<br />
wehren, lächelte sie!<br />
„Noch eine“, bat sie. „Das fühlt sich lustig an.“<br />
Sie schloss die Augen, und er ließ zwei weitere Hän<strong>de</strong> nacheinan<strong>de</strong>r über<br />
ihr andächtig erhobenes Gesicht rieseln.<br />
„Es schneit. Es schneit weiche, duften<strong>de</strong> Schneeflocken.“ Die Flocken verirrten<br />
sich auch in Veras Mund, während sie sprach. Sie pustete, spitzte die<br />
Lippen. Die waren von dunklerem Rosa als die Blüten. Simon schaute weg.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 7
Aber nur kurz. Dann griff er mit vollen Hän<strong>de</strong>n in das schimmern<strong>de</strong> Blütenmeer<br />
zu seinen Füßen: Ein Schneetreiben! Immer schneller ließ er die Blütenflocken<br />
auf sie herabfallen, feucht und kühl aus seinen erhitzten Hän<strong>de</strong>n.<br />
Fe<strong>de</strong>rleicht be<strong>de</strong>ckte das Blütengestöber Veras Haar, glitt liebkosend über ihre<br />
noch winterblasse Haut, blieb in duftigen Tupfen auch auf Veras T-Shirt hängen.<br />
Und da sah er es. Wusste plötzlich, was an<strong>de</strong>rs war. Hielt inne und starrte:<br />
Unter seinem Shirt, das er heute zum ersten Mal an ihr sah, war es nicht mehr<br />
glatt und flach wie bei ihm. Da war eine An<strong>de</strong>utung, eine winzige Erhebung.<br />
Es war kein Busen, es war noch nicht <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> wert, aber es war auch nicht<br />
mehr nichts. Simons Handflächen kribbelten. Plötzlich roch auch er die Kirschen.<br />
Vera öffnete die Augen und bemerkte seinen Blick.<br />
„Ja, ich weiß“, sagte sie. „Doof, nicht?“ Sie schüttelte sich <strong>de</strong>n Blütenschnee<br />
vom Shirt und verschränkte die Arme vor <strong>de</strong>r Brust.<br />
Simon zuckte die Schultern. „Ist doch normal, o<strong>de</strong>r?“<br />
„Ja schon, aber so früh. Und ich wollte doch lieber ein Junge sein.“ Vera<br />
sah ihn prüfend an, aber Simons Blicke wichen ihr aus. Angestrengt hörte er<br />
<strong>de</strong>m Gesang <strong>de</strong>r Vögel zu.<br />
„Das mit <strong>de</strong>m Jungen wird jetzt wohl nichts mehr“, sagte er endlich mit belegter<br />
Stimme. Vera kicherte.<br />
„Und du?“<br />
„Wie, und ich?“<br />
„Ja, ich meine … kriegst du auch schon Haare … du weißt schon?“<br />
„Du stellst wirklich komische Fragen heute!“ Er schubste sie probehalber ein<br />
bisschen an <strong>de</strong>r Schulter.<br />
„Nein, das ist eine wichtige Frage!“ Vera schubste zurück. „Weil das ungerecht<br />
ist! Bei euch Jungs sieht man ja nichts.“ Sie schubste heftiger und<br />
Simon wagte wie<strong>de</strong>r, sie anzusehen.<br />
„Trotz<strong>de</strong>m eine doofe Frage. Ich erzähl auch nichts.“<br />
„Du bist gemein!“ Sie kniff ihn ein bisschen in <strong>de</strong>n Oberarm. „Dann muss<br />
ich eben nachschauen, ob du schon …“<br />
Vera stürzte sich auf Simon und rang mit ihm, als sei sie nicht viele Monate<br />
weg gewesen und habe sich in <strong>de</strong>r Zeit so beunruhigend verän<strong>de</strong>rt. Simon<br />
überwältigte sie problemlos, weil er seit ihrem Abschied in die Höhe geschossen<br />
war und seine Schultern vielleicht doch schon ein bisschen breiter als die<br />
ihren waren. Aber in Veras Haar hingen diesmal noch Blütenküsse und Simon<br />
wühlte blind und verwirrt seine Nase in all dieses Haar-Blüten-Duft-Gemisch.<br />
Diesmal, als er ihren Oberkörper zu Bo<strong>de</strong>n drückte und über ihr war in <strong>de</strong>m<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 8
ganzen chaotischen Kirschblütenblättergewusel, befiel eine neue Freu<strong>de</strong>,<br />
dunkelrot leuchtend, seinen Körper. Diesmal en<strong>de</strong>te das Gerangel nicht in<br />
einem Triumphgeheul <strong>de</strong>s Überlegenen, son<strong>de</strong>rn in plötzlicher, gespannter<br />
Stille, in <strong>de</strong>r Simon seinen Mund auf Veras erstaunte Lippen drückte. Diesmal<br />
errang er nicht einen Sieg, son<strong>de</strong>rn einen Mädchenmund, <strong>de</strong>r warm und<br />
weich und feucht war und sich unter seinem Kuss öffnete und schon nach <strong>de</strong>n<br />
Früchten schmeckte, die <strong>de</strong>r Kirschbaum im Spätsommer tragen wür<strong>de</strong>.<br />
Eine Tür schlug. Sie erschraken. Aber im Haus bewegte sich nichts. Simon<br />
stand auf und schüttelte sich die Blätter von <strong>de</strong>n Klei<strong>de</strong>rn.<br />
„Ich glaube, wir müssen nach Hause“, sagte er. „Deine Mutter wird gleich<br />
kommen, um dich abzuholen.“ Vera nickte stumm, benommen.<br />
Sie schlossen das quietschen<strong>de</strong> Tor zur Villa und gingen schweigend nebeneinan<strong>de</strong>r.<br />
Durch dieselben Straßen, an <strong>de</strong>nselben Häusern vorbei wie auf<br />
<strong>de</strong>m Hinweg. Immer noch sangen die Vögel. Aber <strong>de</strong>nnoch war alles unvertraut.<br />
„Du erzählst nieman<strong>de</strong>m was, o<strong>de</strong>r?“, bat Simon, als sein Elternhaus in<br />
Sichtweite kam. Der Wagen von Veras Mutter stand schon in <strong>de</strong>r Einfahrt.<br />
„Nein, nieman<strong>de</strong>m!“, Vera hob zwei Finger zum Schwur. „Großes Schwarzfußindianerhottentottensüdseepiraten-Ehrenwort!“<br />
Da hätte Simon sie gerne noch einmal geküsst, aber hier gab es keine<br />
Kirschbäume.<br />
Anja We<strong>de</strong>rshoven hat mit ihrem Text beim Wettbewerb Vom Schreiben <strong>de</strong>r<br />
Sinne einen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n ersten Preise errungen. Vgl. Bericht auf Seite 34.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 9
Artur Lundkvist: Lebe wie Gras<br />
Und das Gras wan<strong>de</strong>rt über die Welt,<br />
von <strong>de</strong>n Flüssen unter <strong>de</strong>m Wind <strong>de</strong>r breiteste und grünste.<br />
Immer ist das Gras unterwegs,<br />
die Hüften <strong>de</strong>r Berge hinauf, in die verschlafenen Städte hinein,<br />
über Brachland, Savannen, Steppen,<br />
wo <strong>de</strong>r Kentaur nie überwun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>,<br />
wo die Weite unter <strong>de</strong>n Hufen <strong>de</strong>r Pfer<strong>de</strong> trommelt,<br />
unter schiefäugigem Mond die Milch im Filzzelt gärt.<br />
Das Gras<br />
trägt <strong>de</strong>n Sturzregen auf Myria<strong>de</strong>n Rücken<br />
und hält <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n mit zahllosen kleinen Zehen.<br />
Das Gras spannt furchtlos seine dünnen Finger<br />
um einen Totenkopf.<br />
Das Gras arbeitet rastlos, zau<strong>de</strong>rt nie,<br />
sich Wege zu sprengen, über Gestein zu klettern,<br />
und seine Antwort auf je<strong>de</strong> Gewalt ist Wachsen.<br />
Das Gras liebt die Welt wie seinen Halm,<br />
glücklich noch an grauen Tagen.<br />
Das Gras, es strömt im Festverwurzeltsein,<br />
es fließt im Stehen dahin,<br />
vielfältig immer, doch beieinan<strong>de</strong>r und eins.<br />
Das Gras folgt <strong>de</strong>m Menschen als Weggefährte<br />
und verbeugt sich vor <strong>de</strong>r Erinnerung, die ins Vergessen<br />
eingeht.<br />
Das Gras hat das Horn <strong>de</strong>s Einhorns gebettet<br />
und die Axt <strong>de</strong>s Indianers,<br />
es wächst als schützen<strong>de</strong> Wimper um Quellen<br />
und zeichnet mit hohen dunklen Büscheln<br />
die Konturen von Tieren, die <strong>de</strong>r Blitz getötet.<br />
Die wil<strong>de</strong> Maus<br />
zieht einen Scheitel von Schauern durch das Gras,<br />
das grenzenlose Gras,<br />
das <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> dient und gleichermaßen <strong>de</strong>n Tieren,<br />
das durch Feuer und Kälte stirbt,<br />
immer wie<strong>de</strong>r aber sich erhebt<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 10<br />
Der Klassiker
und nie davon träumt, Zahn o<strong>de</strong>r Messer zu sein:<br />
lebe wie Gras.<br />
Artur Lundkvist, Lebe wie Gras, aus: Liv som gräs, 1954, ins Deutsche übertragen<br />
von Friedrich Ege.<br />
Bibliographie: Artur Lundkvist: Gedichte. Köln (Verlag Kiepenheuer & Witsch)<br />
1963, 184 S. Nur noch antiquarisch.<br />
Der Autor<br />
(ea) Artur Lundkvist (* 3. März 1906 in Oberljunga/Schwe<strong>de</strong>n, † 11. Dezember<br />
1991 in Stockholm), Schriftsteller und Literaturkritiker, wuchs in ländlicher<br />
Umgebung auf, verließ die Schule im Alter von 10 Jahren, bil<strong>de</strong>te sich<br />
selbst weiter, fühlte sich als Ausgestoßener aufgrund seiner literarischen Neigung.<br />
1934-35 war er Grün<strong>de</strong>r und Mitautor <strong>de</strong>s Literaturmagazins Karavan.<br />
1936 heiratete er die dänische Dichterin Maria Wine. Ihre Beziehung ähnelt<br />
<strong>de</strong>r Jean Paul Sartres und Simone <strong>de</strong> Beauvoirs – freie Liebe, die ein Leben<br />
lang hält. 1958 erhielt er <strong>de</strong>n Lenin Frie<strong>de</strong>nspreis <strong>de</strong>r Sowjetunion. 1961 bis<br />
1991 korrespondieren<strong>de</strong>s Mitglied <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Künste Berlin (Ost). Von<br />
1968 an war er Mitglied <strong>de</strong>r Schwedischen Aka<strong>de</strong>mie. Er übersetzte literarische<br />
Werke (z.B. Pablo Neruda, Clau<strong>de</strong> Simon, Octavio Paz, Nadine Gordimer)<br />
aus <strong>de</strong>m Spanischen und Französischen ins Schwedische, belebte über<br />
60 Jahre die Schwedische Literatur und Kultur, brachte <strong>de</strong>n schwedischen<br />
Lesern ausländische Literatur nahe.<br />
Lundkvist gehörte auch <strong>de</strong>m Schwedischen Frie<strong>de</strong>nskomittee an. Er schrieb<br />
rund 80 Bücher, u.a. Gedichte, Reisebücher. Sein Werk wur<strong>de</strong> in fast 30<br />
Sprachen übersetzt.<br />
Werke u.a.:<br />
- Omnaten. (In the night) Gedichte<br />
- Self-Portrait of a Dreamer With Open Eyes (1966)<br />
- Emigration to Paradise (1979)<br />
- Written Against the Wind (1983)<br />
- Journey in Dream and Imagination<br />
- Vulkanischer Kontinent – Eine Reise in Südamerika. Brockhaus Verlag<br />
Leipzig, 1958<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 11
- Der verwan<strong>de</strong>lte Drache – Eine Reise durch das neue China. Brockhaus<br />
Verlag Leipzig, 1956<br />
- Ein Baum mit Fischen. Gedichte 1928-1969. reclam, 1972<br />
Quellen. en.wikipedia.org, www.britannica.com, <strong>de</strong>utsch.agonia.net,<br />
www.adk.<strong>de</strong>, www.dradio.<strong>de</strong>, query.nytimes.com, www.gkm.se<br />
Zum Gedicht von Artur Lundkvist vergleiche auch <strong>de</strong>n Artikel Susanne Speicher:<br />
Hommage an das Leben auf Seite 14.<br />
(tr) Das Frie<strong>de</strong>nskomitee war die<br />
schwedische Sektion <strong>de</strong>s Weltfrie<strong>de</strong>nsrats.<br />
Dieser wur<strong>de</strong> 1949<br />
(nach an<strong>de</strong>ren Quellen 1950)<br />
gegrün<strong>de</strong>t, um für friedliche<br />
Koexistenz und nukleare Abrüstung<br />
zu werben. Während <strong>de</strong>r<br />
Zeit <strong>de</strong>s kalten Kriegs galt es als<br />
von <strong>de</strong>r UdSSR gesteuerte Vorfeldorganisation.<br />
2008 gehörten<br />
<strong>de</strong>m Weltfrie<strong>de</strong>nsrat Gruppen<br />
aus 76 Län<strong>de</strong>rn an.<br />
Quelle: Wikipedia – die freie<br />
Enzyklopädie<br />
Die Illustration von Boris Artzybaschev<br />
im Magazin TIME vom<br />
17. <strong>September</strong> 1951 zeigt eine<br />
<strong>de</strong>n Weltfrie<strong>de</strong>nsrat als Werkzeug<br />
von Josef Stalin.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 12
Sophie Mereau: Schwärmerey<br />
Wirst du mir stets <strong>de</strong>n Seraphsfittig leihen,<br />
du nektartrunkne, süße Schwärmerey?<br />
Du wirst es nicht. - Verglimmen und zerrinnen<br />
wird <strong>de</strong>ine Gluth vor <strong>de</strong>n getrübten Sinnen;<br />
<strong>de</strong>in Wahnsinn bleibt <strong>de</strong>m kühlern Blut nicht treu.<br />
Dies Saitenspiel, das rings mit Harmonieen<br />
die ganze Er<strong>de</strong> magisch übergoß,<br />
verrauscht und schweigt; die Phantasie verblühet,<br />
<strong>de</strong>r Lenz erbleicht, <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> Gluth versprühet,<br />
- ein Einz'ges nur bleibt ewig wechsellos!<br />
Was nur allein <strong>de</strong>s Zufalls Laune trotzet,<br />
die schöne Blüthe reiner Menschlichkeit,<br />
das uns allein zu freyen Wesen grün<strong>de</strong>t,<br />
woran allein sich unsre Wür<strong>de</strong> bin<strong>de</strong>t,<br />
dies höchste Gut, es heißt - Selbstständigkeit.<br />
Die Autorin<br />
Sophie Schubart (* En<strong>de</strong> März 1770 in Altenburg, †<br />
31. Oktober 1806 in Hei<strong>de</strong>lberg), eine <strong>de</strong>r ersten<br />
Schriftstellerinnen, heiratet 1793 <strong>de</strong>n Juristen Friedrich<br />
Ernst Karl Mereau, von <strong>de</strong>m sie sich 1801 schei<strong>de</strong>n<br />
lässt. Begeistert sich für die I<strong>de</strong>ale <strong>de</strong>r Romantik.<br />
Briefwechsel mit ihrem För<strong>de</strong>rer Friedrich Schiller.<br />
1803 Heirat mit Clemens Brentano.<br />
Mitherausgeberin <strong>de</strong>s Göttinger Roman-Kalen<strong>de</strong>rs,<br />
Herausgeberin <strong>de</strong>r Zeitschift „Kalathiskos“ und <strong>de</strong>s<br />
„Berlinischen Damen-Kalen<strong>de</strong>r auf das Jahr 1800“<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 13
Werke:<br />
- Bei Frankreichs Feier. Den 14ten Junius 1790<br />
- Das Blüthenalter <strong>de</strong>r Empfindung<br />
- Amanda und Eduard<br />
Quellen: www.zeno.org, gutenberg.spiegel.<strong>de</strong>, <strong>de</strong>.wikipedia.org.<br />
Die Scheidung wur<strong>de</strong> einheitlich erst im Rahmen <strong>de</strong>r Einführung <strong>de</strong>r Zivilehe<br />
1875 im Deutschen Reich eingeführt. Bis zum 1976 galt dabei im Ehescheidungsverfahren<br />
das Schuldprinzip. Dieses wur<strong>de</strong> in einer Reform <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Paragraphen durch das sogenannte Zerrüttungsprinzip abgelöst. Im<br />
Gesetzestext selbst wird dabei vom Scheitern <strong>de</strong>r Ehegemeinschaft gesprochen.<br />
Quelle: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie.<br />
Susanne Speicher: Hommage an das Leben<br />
(cw) Ein Werkstattbesuch<br />
Die Künstlerin<br />
Susanne Speicher<br />
1965 geboren in München<br />
1985/86 Freie Kunstschule Stuttgart<br />
1986/88 Radierung und Zeichnung im<br />
Atelier George Ball, Paris<br />
1988/93 Graphik-Studium an <strong>de</strong>r HBK<br />
in Saarbrücken, Schwerpunkt<br />
© Susanne Speicher 2007<br />
1993/95<br />
Kalligraphie, Drucktechniken, Zeichnen<br />
Studienvertiefung mit Beteiligung an <strong>de</strong>r Lehre, Tiefdruck und<br />
Siebdruck<br />
Seither freischaffen<strong>de</strong> Künstlerin und Dozentin; zahlreiche Ausstellungen,<br />
Buchprojekte, Auftragsarbeiten.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 14<br />
Bild und Graphik
Die griechische Sprache braucht für die Worte schreiben und zeichnen nur<br />
einen Begriff, nämlich graphein. Man <strong>de</strong>nke nur an geläufige Begriffe wie<br />
gravieren, Graphologie, Graphik o<strong>de</strong>r Graffiti. Denkanstöße wie diesen durfte<br />
ich aus einem überaus kurzweiligen und anregen<strong>de</strong>n Gespräch mit <strong>de</strong>r Graphikerin<br />
Susanne Speicher mitnehmen, die ich für vor einigen Tagen in ihrem<br />
Zuhause in Saarlouis besuchte.<br />
Das Ehepaar Speicher hat dort mit seinen drei Söhnen in einem ehemaligen<br />
Bauernhaus <strong>de</strong>n Traum von Wohnen und Arbeiten unter einem Dach verwirklicht.<br />
Das Wohnhaus beherbergt auch das Atelier <strong>de</strong>r Künstlerin, und im ehemaligen<br />
Wirtschaftsteil befin<strong>de</strong>n sich die Buchbin<strong>de</strong>rwerkstatt mit Rahmengalerie,<br />
die Andreas Speicher betreibt, sowie ein lichtdurchfluteter Ausstellungsraum.<br />
Bemerkenswert ist, wie optisch ansprechend und funktional die alte<br />
Bausubstanz mit <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s täglichen Lebens und gleich zweier<br />
‚Betriebe‘ in Einklang gebracht wur<strong>de</strong>. Das ganze Anwesen wirkt, als wer<strong>de</strong><br />
es schon immer so genutzt. Wie schön, es gibt sie noch, die guten - alten<br />
neuen - Dinge... In dieser Atmosphäre läßt es sich bestimmt wun<strong>de</strong>rbar leben<br />
und arbeiten.<br />
Und genau darüber möchte ich mehr wissen: die künstlerische Arbeit <strong>de</strong>r<br />
Susanne Speicher, die mich mit diesem anstecken<strong>de</strong>n Lachen empfängt , eine<br />
Treppe höher in <strong>de</strong>n Ausstellungsraum führt und ohne Umschweife ins Thema<br />
einsteigt. Vor uns auf <strong>de</strong>m schlichten, massiven Holztisch hat sie einige Arbeiten<br />
zurechtgelegt. Wir fangen an<br />
mit zwei kunterbunten Schülerarbeiten.<br />
„Diese Blätter sagen ganz<br />
viel auch über mein eigenes<br />
Schaffen. Sie entstan<strong>de</strong>n im Rahmen<br />
<strong>de</strong>s MUS-E - Projektes, für<br />
das ich im Auftrag <strong>de</strong>r Yehudi-<br />
Menuhin-Stiftung schon seit sieben<br />
Jahren an einer Grundschule<br />
in Burbach tätig bin. Die Schülerinnen<br />
und Schüler <strong>de</strong>r Klassenstufe<br />
drei bekamen folgen<strong>de</strong> Im Garten, Schülerarbeit<br />
Aufgabe: ein Blatt Papier war in<br />
gleichgroße Quadrate einzuteilen, je<strong>de</strong>s Quadrat mit einem Buchstaben in<br />
Druckschrift zu versehen und <strong>de</strong>r die Schrift umgeben<strong>de</strong> Raum im Quadrat war<br />
zu ‚verglasen‘, wie es in <strong>de</strong>r Fachsprache heißt - einfacher gesagt, farbig zu<br />
gestalten. Der Text beginnt mit <strong>de</strong>n Worten ‚In einem Garten...‘. Auf diese<br />
Weise entstan<strong>de</strong>n individuelle (Bil<strong>de</strong>r-)Geschichten, <strong>de</strong>ren Lesbarkeit durch die<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 15
an keine Vorgaben gebun<strong>de</strong>ne farbliche Ausgestaltung zum Teil stark in <strong>de</strong>n<br />
Hintergrund trat“.<br />
Sie lächelt verschmitzt. „Es ist manchmal so weit gegangen, dass <strong>de</strong>r Inhalt<br />
<strong>de</strong>s Textes zum kleinen Geheimnis <strong>de</strong>r jungen Autoren wur<strong>de</strong>. Betrachten wir<br />
nun Ausschnitte aus <strong>de</strong>n Blättern, fin<strong>de</strong>n sich in ihnen weitere, ganz eigenständige<br />
Kunstwerke. Ich verfolge diesen Ansatz natürlich einerseits, weil das<br />
Schriftschreiben in meiner Kunst großen Raum einnimmt. Ich fin<strong>de</strong> es aber<br />
ebenso wichtig, die Fertigkeiten, die in <strong>de</strong>n kleinen Menschen von Natur aus<br />
angelegt sind, zu för<strong>de</strong>rn. Sehen Sie zum Beispiel dieses Blatt, das mein zweijähriger<br />
Sohn kürzlich aus freien Stücken, ohne jegliche Anleitung, gestaltet<br />
hat. Es ist eine Zeichnung und zugleich mutet es an wie ein Schriftteppich.<br />
Wenn man so will, ist auch für Kin<strong>de</strong>r wie bei <strong>de</strong>m griechischen Verb Zeichnen<br />
und Schreiben - noch - ein und dasselbe. Und sie haben Freu<strong>de</strong> daran. Unsere<br />
Aufgabe ist es, diese Freu<strong>de</strong> zu erhalten und zu unterstützen.“<br />
Wie wahr. Ich bin ganz angetan von <strong>de</strong>r<br />
Begeisterung und <strong>de</strong>m Elan meiner Gesprächspartnerin,<br />
komme kaum nach mit <strong>de</strong>n<br />
Notizen (ob ich mir ein Diktiergerät anschaffen<br />
soll?). Hintergrundinformationen zu <strong>de</strong>m<br />
erwähnten MUS-E—Projekt kann ich zum<br />
Glück später im Internet nachlesen. Und das<br />
lohnt sich. Die Stiftung hat es sich zum Ziel<br />
gemacht, Kin<strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>rs in sozialen Brennpunkten<br />
in ihrer Kreativität zu för<strong>de</strong>rn, ihre<br />
Ausdrucksfähigkeit und ihre Persönlichkeit<br />
wie auch ihre soziale Kompetenz zu stärken.<br />
In <strong>de</strong>r Begegnung mit Künstlern <strong>de</strong>r Fachrichtungen<br />
Bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kunst, Musik, Tanz und<br />
Theater erhalten sie die Möglichkeit, frei und<br />
ohne Zwang zu wählen, sich etwas zuzutrauen<br />
und selbst gestalterisch tätig zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Den Unterricht erteilen immer qualifizierte<br />
Kin<strong>de</strong>rzeichnung, © Simon<br />
Speicher 2008<br />
Fachleute, die selbstverständlich Erfahrung im Unterrichten nachweisen müssen.<br />
Wie Susanne Speicher berichtet, ist das Projekt anerkanntermaßen so<br />
erfolgreich, dass im Saarland ab <strong>de</strong>m nächsten Schuljahr für alle Grundschulen<br />
im Land die Teilnahme ermöglicht wer<strong>de</strong>n soll. Man kann es kaum glauben<br />
- das geschieht in einer Zeit, die von Schulschließungen und Sparmaßnahmen<br />
geprägt ist. Trotz allen berechtigten Lobes: jemand sollte die Initiatoren <strong>de</strong>s<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 16
Projektes mal fragen, ob nicht das kreative Schreiben das Programm sinnvoll<br />
erweitern könnte.<br />
Doch zurück zum Atelierbesuch bei Frau Speicher. Gefragt nach <strong>de</strong>m eigenen<br />
Werk, das sie am meisten liebt, verschwin<strong>de</strong>t die zierliche Gestalt für<br />
einen Augenblick - und kehrt zurück mit einem rechteckigen Gegenstand von<br />
stattlichen Ausmaßen, <strong>de</strong>n heranzuschaffen sie einige Mühe kostet. Aus <strong>de</strong>r<br />
Das Buch von <strong>de</strong>r kleinen Seejungfrau, © Susanne Speicher 2000<br />
Nähe betrachtet sieht das Werk aus wie ein riesenhaftes Buch. Auf <strong>de</strong>m Rücken<br />
eingeprägt die Aufschrift ‚Die kleine Seejungfrau‘. Blaugrünes Wasser<br />
überall auf <strong>de</strong>m Einband, Lichtreflexe tanzen über die Fläche. Die kostbare<br />
Schatulle öffnet sich und gibt ihren Inhalt preis. Fast wie bei einer russischen<br />
Matrjoschka kommt zum Vorschein: ein weiteres Buch. Außer<strong>de</strong>m eine Vielzahl<br />
großformatiger Illustrationen, die Susanne Speicher rasch auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n um<br />
uns her ausbreitet: ein blaugrünes Meer, das magisch anzieht. „Dieses Werk<br />
be<strong>de</strong>utet mir beson<strong>de</strong>rs viel“, bekennt die Künstlerin nicht ohne Stolz. „Ich<br />
habe es gemeinsam mit meinem Mann Andreas, <strong>de</strong>r ja Buchbin<strong>de</strong>rmeister von<br />
Beruf ist, als unseren Beitrag zum Wettbewerb ‚Kunst und und Handwerk‘ <strong>de</strong>r<br />
Industrie- und Han<strong>de</strong>lskammer im Jahr 2000 angefertigt.“<br />
Grundlage ist das Märchen von <strong>de</strong>r kleinen Seejungfrau. Die Künstlerin hat<br />
es Wort für Wort liebevoll von Hand in <strong>de</strong>m kleinen, inneren Buch nie<strong>de</strong>rgeschrieben,<br />
wobei an <strong>de</strong>r vom Blau ins Grün und wie<strong>de</strong>r zurück fließen<strong>de</strong>n<br />
Tusche immer <strong>de</strong>r Schauplatz <strong>de</strong>s Geschehens in <strong>de</strong>r Geschichte abgelesen<br />
wer<strong>de</strong>n kann. Die filigranen Illustrationen geben die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Szenen<br />
<strong>de</strong>s Märchens wie<strong>de</strong>r. Man kann sich gut vorstellen, dass auf diese Weise das<br />
Vorlesen die Zuhörer buchstäblich in <strong>de</strong>r Handlung abtauchen lässt. Vollen<strong>de</strong>t<br />
wird das Gesamtwerk, das <strong>de</strong>n Söhnen gewidmet ist, durch <strong>de</strong>n sei<strong>de</strong>nen<br />
Einband, <strong>de</strong>r selbstre<strong>de</strong>nd von <strong>de</strong>r Künstlerin angefertigt und von ihrem Mann<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 17
gekonnt auf <strong>de</strong>r selbstgefertigten Mappe und <strong>de</strong>m von Hand gebun<strong>de</strong>nen Buch<br />
aufgebracht wur<strong>de</strong>.<br />
„Wir haben damals die Jury regelrecht in Verlegenheit gebracht. So wörtlich<br />
hat kein Mitbewerber die Verbindung von Handwerk und Kunst umgesetzt.<br />
Schließlich entschloss man sich, einen Son<strong>de</strong>rpreis auszuloben.“<br />
Vertrauensvolles Augenzwinkern. Sicher doch, verstehe, auch diese Herrschaften<br />
konnten sich <strong>de</strong>r Magie dieser I<strong>de</strong>e und ihrer stimmigen Realisierung<br />
nicht entziehen. Auch ich bin beeindruckt von diesem edlen Kunststück, das<br />
beileibe nicht nur zum Anschauen<br />
gedacht ist, und ich<br />
darf noch eine Weile <strong>de</strong>m<br />
Fluß <strong>de</strong>r Erinnerung an<br />
eigenes Erleben <strong>de</strong>r Märchen<br />
Hans Christian An<strong>de</strong>rsens<br />
nachspüren, <strong>de</strong>nn die<br />
nimmermü<strong>de</strong> Frau Speicher<br />
ist gera<strong>de</strong> im Gespräch mit<br />
Kun<strong>de</strong>n, die die ausgestellten<br />
Werke anschauen.<br />
Wohin man <strong>de</strong>n Blick<br />
auch wen<strong>de</strong>t in diesem<br />
Raum - <strong>de</strong>s Berührtseins<br />
kann ich mich nicht erwehren.<br />
Man ist umgeben von<br />
visueller Poesie. Die Liebe ist<br />
ein Hemd aus Feuer, steht<br />
da zu lesen (Autor: Nazim<br />
Hikmet). Und direkt<br />
daneben: ein männliches<br />
und ein weibliches Wesen,<br />
einan<strong>de</strong>r zustrebend in<br />
Radierung, ohne Titel, Ausschnitt, © Susanne<br />
Speicher 2007<br />
unmerklicher Bewegung,<br />
geborgen von einer Anmutung<br />
<strong>de</strong>s besagten Kleidungsstücks.<br />
Die Farben<br />
strahlen nichts von <strong>de</strong>r Bedrohlichkeit o<strong>de</strong>r gar Vernichtungskraft <strong>de</strong>s Elementes<br />
aus, sie wärmen vielmehr, mit <strong>de</strong>r gleichen Selbstverständlichkeit wie das<br />
Blut in unseren A<strong>de</strong>rn. Das Bild lebt, ohne Zweifel. Zu gerne zeigte ich Ihnen<br />
die Farbradierung hier an dieser Stelle, doch lei<strong>de</strong>r gibt es nur noch dieses<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 18
eine bereits gerahmte Exemplar, und eine Fotographie durch das Glas verbietet<br />
sich. Zu viel ginge verloren von <strong>de</strong>m Zauber. Überhaupt stellen die Arbeiten<br />
<strong>de</strong>r Susanne Speicher höchste Anfor<strong>de</strong>rungen, was ihre Abbildbarkeit<br />
anbelangt. Die Intensität und Lebendigkeit <strong>de</strong>r Originale, die nicht wie künstlich<br />
hergestellt, son<strong>de</strong>rn wie - ich kann es nicht treffen<strong>de</strong>r ausdrücken - natürlich<br />
gewachsen erscheinen, läßt sich auf technischem Weg nur sehr unzureichend<br />
transportieren. Zum Glück steht ein Besuch in <strong>de</strong>r Galerie je<strong>de</strong>rmann<br />
offen.<br />
O<strong>de</strong>r: Sie besuchen das internationale Museum für Buch- und Schriftkunst in<br />
Offenbach - auch von <strong>de</strong>ssen Existenz höre ich hier zum ersten Mal. Dort ist<br />
eine Mappe mit Radierungen und zugehörigem Schriftzyklus nach <strong>de</strong>m Gedicht<br />
‚Lebe wie Gras‘ <strong>de</strong>s schwedischen Autors Artur Lundkvist (noch ein Tip!)<br />
von Susanne Speicher zu sehen. Ein Blatt aus <strong>de</strong>m Zyklus (Das Gras liebt die<br />
Welt wie seinen Halm/glücklich noch an grauen Tagen) wur<strong>de</strong> im Jahr 1993<br />
mit <strong>de</strong>m Rudo-Spemann-Preis <strong>de</strong>r Stadt Offenbach ausgezeichnet. Wer <strong>de</strong>r<br />
Meinung sein mag, Schriftkunst sei nicht ernstzunehmen o<strong>de</strong>r nicht mehr zeitgemäß,<br />
<strong>de</strong>m möchte ich die<br />
Worte von Professor Karlgeorg<br />
Hoefer (Schreibwerkstatt<br />
Klingspor) ans Herz legen:<br />
Die Schreibkunst bewirkt auch<br />
heilen<strong>de</strong> Kräfte, wenn man<br />
schreibend <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>r<br />
Dichter folgt, bil<strong>de</strong>t eine handschriftliche<br />
Brücke von Mensch<br />
zu Mensch und von Land zu<br />
Land.<br />
Der Vormittag, <strong>de</strong>n Susanne<br />
Speicher für mich freigehalten<br />
hat, neigt sich rasend<br />
schnell <strong>de</strong>m En<strong>de</strong>. Ich muss<br />
lei<strong>de</strong>r einsehen, dass das<br />
Wirken dieser Künstlerin, das<br />
sie mir so herzlich und mit<br />
Freu<strong>de</strong> näherbringt, nicht<br />
lückenlos in einem Aufsatz<br />
gewürdigt wer<strong>de</strong>n kann. So<br />
Vieles hätte ich gerne noch<br />
ausführlicher erwähnt. Zum<br />
Vergleichen<strong>de</strong> Schriftprobe, © Susanne<br />
Speicher 2008<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 19
Beispiel die wun<strong>de</strong>rbare Ausstellung, die <strong>de</strong>n Titel trug ‚... wie das Wasser, so<br />
unser Leben...‘. Für diese hat sie alle Orte, an <strong>de</strong>nen sie in ihrem bewegten<br />
Leben schon weilte, wie<strong>de</strong>r aufgesucht, Vergangenem nachgespürt - und es<br />
unter Verwendung von Wasser, das sie während dieser Reise sammelte, in<br />
großformatigen Aquarellen festgehalten. Auch das bilinguale Buchprojekt, das<br />
sie im Auftrag als freischaffen<strong>de</strong> Künstlerin an <strong>de</strong>r Erweiterten Realschule<br />
Überherrn und <strong>de</strong>ren Partnerschule Collège Rabelais in Hôpital, Frankreich,<br />
mit einer 8. Klasse umgesetzt hat, verdient Beachtung. Es orientiert sich an<br />
<strong>de</strong>m Gemeinschaftswerk ‚Le visage <strong>de</strong> la paix‘ von Pablo Picasso und Paul<br />
Eluard, enthält handgeschriebene Texte und Illustrationen und wird <strong>de</strong>mnächst<br />
erscheinen. Auf dieses und an<strong>de</strong>re Buchprojekte kann ich zu gegebener Zeit<br />
hier gerne hinweisen. O<strong>de</strong>r die Bil<strong>de</strong>r zwischen Himmel und Meer, die erst<br />
noch entstehen wer<strong>de</strong>n<br />
Nicht unerwähnt bleiben darf, was ihrem Tun zu Grun<strong>de</strong> liegt: seit sie <strong>de</strong>nken<br />
kann, ist für Susanne Speicher klar, dass nur ein Leben als Künstlerin in<br />
Frage kommt, mit allen Risiken und Unwägbarkeiten, die diese Entscheidung<br />
birgt. Sie vergleicht es mit ihrer neben <strong>de</strong>r Zeichnung und <strong>de</strong>m Schriftschreiben<br />
bevorzugten Arbeitstechniken, <strong>de</strong>r Radierung: „Je<strong>de</strong> Linie, die in die<br />
Kupferplatte eingeritzt wird, ist unauslöschlich da und muss akzeptiert wer<strong>de</strong>n.<br />
Diese Technik dul<strong>de</strong>t<br />
keine Kompromisse“.<br />
Kompromisslos<br />
ist sie auch in ihrem<br />
Anliegen, ihr Können<br />
und ihre Liebe<br />
zum künstlerischen<br />
Gestalten weiterzugeben,<br />
übrigens<br />
nicht nur an Kin<strong>de</strong>r,<br />
aus <strong>de</strong>r Überzeugung<br />
heraus, dass<br />
schöpferisches Tun<br />
Teil <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Natur ist. Ohne Titel, schwarze Tinte – und sonst nichts! © Su-<br />
Auf eine Formel sanne Speicher 2008<br />
gebracht: Kunst<br />
kommt für Susanne Speicher von ..... Leben!<br />
Eine starke Behauptung, doch kein Lippenbekenntnis. Ihre Werke bezeugen<br />
dies eindrucksvoll. Für diese Authentizität und die Freu<strong>de</strong> am Lebendigsein,<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 20
die ihre Arbeit vermittelt, für ihre Empathie und die Beachtung, die sie auch<br />
<strong>de</strong>n kleinen Dingen schenkt, in <strong>de</strong>nen allzuoft unbemerkt das große Geheimnis<br />
<strong>de</strong>s Menschseins sich spiegelt, bewun<strong>de</strong>re ich diese Künstlerin. Der Besuch bei<br />
ihr hat mich reicher gemacht.<br />
Informationen: www.ymsd.<strong>de</strong>, www.klingspor-museum.<strong>de</strong>,<br />
www.Schreibwerkstatt-Klingspor.<strong>de</strong>. Kontakt zur Künstlerin über die Redaktion.<br />
Der Betrieb<br />
Experimentelles Schreiben in <strong>de</strong>r Gruppe<br />
(ehn) In Überherrn im Saarland, einer mehr als 12000 Einwohner zählen<strong>de</strong>n<br />
Gemein<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Grenze zu Frankreich, hat sich in <strong>de</strong>n vergangenen vier<br />
Jahren eine interdisziplinär arbeiten<strong>de</strong> Künstlergruppe etabliert. Hier wirken<br />
Komponist, Sängerin, Schriftsteller, Kunstfotografin, Schmuck<strong>de</strong>signerin, Kunstkeramiker,<br />
Kunsterzieher und (teilweise autodidaktisch ausgebil<strong>de</strong>te) Maler(innen)<br />
zusammen. 2004 neu gegrün<strong>de</strong>t, zählt die Künstlergruppe Bisttal<br />
e.V. <strong>de</strong>rzeit 24 Mitglie<strong>de</strong>r, weitere Interessenten stehen vor <strong>de</strong>r Tür.<br />
Drei Frauen und drei Männer fan<strong>de</strong>n sich vor einem Jahr zusammen, um in<br />
einer experimentell orientierten Schreibgruppe kreativ zu wer<strong>de</strong>n. Alle zwei<br />
Wochen sucht man an einem Montagabend nach <strong>de</strong>m gemeinsamen Weg in<br />
ein Projekt, das miteinan<strong>de</strong>r realisiert wer<strong>de</strong>n soll. Dazwischen kommuniziert<br />
man via eMail.<br />
Mo<strong>de</strong>rator <strong>de</strong>r Schreibgruppe, auch ihr Initiator, ist Edgar Helmut Neumann,<br />
<strong>de</strong>r „Felsberger Dorfschreiber“ und außer<strong>de</strong>m Vorsitzen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Künstlergruppe<br />
Bisttal.<br />
Der ehemalige Tageszeitungsredakteur, heute Maler und Autor, experimentiert<br />
mit Worten ebenso gerne wie mit Farben und freut sich über die Möglichkeiten<br />
für Symbiosen im Zusammenwirken mit an<strong>de</strong>ren, die seine Interessen<br />
teilen.<br />
Die Schreibgruppe hat recht schnell beschlossen, gemeinsam einen Roman<br />
zu schreiben. Vielleicht entsteht eine Familiensaga. Konkretes muss sich aber<br />
erst noch entwickeln. Es ist bislang eine längere Startphase gewesen, auch<br />
durch personelle Wechsel bedingt. Nach langwierigen Diskussionen brütet<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Betrieb Seite 21<br />
Berichte
man inzwischen über Plot und Setting, über <strong>de</strong>n Einstieg in die Geschichte.<br />
Kürzlich konnte die Gruppe sich darauf einigen, mit einem Prolog zu beginnen.<br />
Der ist nun in mehreren Fassungen geschrieben und harrt <strong>de</strong>r Abstimmung<br />
auf einen gemeinsam gewollten Text.<br />
Der Weg zu diesem Ergebnis war steinig. Er führte außer<strong>de</strong>m um einige Ecken<br />
herum erst einmal in einen Kreisverkehr, in <strong>de</strong>m einige Erwartungen abgezweigt<br />
wer<strong>de</strong>n mussten. Die sechs Abenteuerlustigen hat <strong>de</strong>r Mut nicht verlassen,<br />
sie schauen unverdrossen nach vorne.<br />
Was liegt bereits auf <strong>de</strong>m Tisch? Die Vorarbeit für einen von allen Beteiligten<br />
mitgetragenen Plot. Dabei trat <strong>de</strong>utlich zutage, wie wichtig es bei einer<br />
solchen Gruppenarbeit ist, sich von autobiographischen Erfahrungen und<br />
an<strong>de</strong>ren „Verliebtheiten“ zu lösen. Ohne Kompromisse kann das keine(r) leisten.<br />
Die Protagonistin <strong>de</strong>s Romans, sie wur<strong>de</strong> Veronika getauft, kommt 1945 zur<br />
Welt. Ihre Mutter stirbt im Kindbett. Die Handlungsgeschichte reicht nach<br />
ersten Festlegungen bis 2030, lässt min<strong>de</strong>stens drei unterschiedliche Generationen<br />
erleben. Nebenbei erlaubt sie politisch geprägte Assoziationen in<br />
grenzüberschreiten<strong>de</strong>n Dimensionen. Der Prolog lässt erahnen, dass es Verwicklungen<br />
gibt, <strong>de</strong>retwegen in <strong>de</strong>r Gruppe sicherlich in mehreren Strängen<br />
gesponnen wird. Wohl für je<strong>de</strong>n verständlich ist, dass man vorerst nicht allzu<br />
viel über die weiteren Inhalte verraten will.<br />
Das Projekt soll künftig online verfolgt wer<strong>de</strong>n können. So bastelt man <strong>de</strong>rzeit<br />
an einer <strong>de</strong>r Gruppe zugeordneten zweiten Vereinshomepage. Ursprünglich<br />
gab es sogar Überlegungen, <strong>de</strong>m Leser im Web auch eine Art Interaktion<br />
anzubieten. Doch es wird bei <strong>de</strong>r Möglichkeit bleiben, <strong>de</strong>n wachsen<strong>de</strong>n Text<br />
Woche für Woche zu kommentieren, wenn man will, auch Anregungen für<br />
weitere Überlegungen zu geben. Vielleicht kommt die Gruppe bei einem späteren<br />
Projekt auf ihre ursprüngliche I<strong>de</strong>e zurück, die Leser im Web zum Mitschreiben<br />
einzula<strong>de</strong>n.<br />
Der Schreibgruppe gehören an Norbert Klitzke, <strong>de</strong>r literaturwissenschaftliche<br />
Kenntnisse mitbringt, Helmut Kraus, <strong>de</strong>r in seinem Leben nicht nur als<br />
Theologe Erfahrungen sammelte, Gisela Bell, die unter an<strong>de</strong>rem als Mundartdichterin<br />
erfolgreich publiziert hat, Ruth Ankele, eine ehemalige Kriminalbeamtin,<br />
<strong>de</strong>ren Lebensweg ebenso in die Kreativität führte wie <strong>de</strong>r von Inge<br />
Noell, einst Mitglied <strong>de</strong>r Redaktion <strong>de</strong>r Saarländischen Ärztekammer, die<br />
neben ihren eigenen Interessen Edgar Helmut Neumann malend und schreibend<br />
zur Seite steht. In aller Leben hat es viele Brüche gegeben, sie wer<strong>de</strong>n<br />
sich auf die eine und an<strong>de</strong>re Weise im Text sicherlich wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n, das möchte<br />
niemand leugnen.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Betrieb Seite 22
Die Gruppe ist übereingekommen, mutig mit <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Kreativen<br />
Schreibens zu Werke zu gehen. Diese Entwicklung will man ebenfalls auf <strong>de</strong>r<br />
Homepage dokumentieren. Dazu gehört, dass je<strong>de</strong>(r) auch an<strong>de</strong>re eigene<br />
Texte einstellen darf.<br />
Die bislang wichtigste Erfahrung in dieser Schreibgruppe, die sich geschlossen<br />
halten will, ist das vertrauliche Miteinan<strong>de</strong>r, das auf Respekt und<br />
Toleranz grün<strong>de</strong>t. Und <strong>de</strong>n Wortwitz nicht zu vergessen, <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>n Schreibübungen<br />
immer wie<strong>de</strong>r aufblitzt. In <strong>de</strong>r Run<strong>de</strong> hat ihn einer als Ergebnis <strong>de</strong>s<br />
sich gegenseitigen Annäherns betrachtet und bezeichnet. Diesen Prozess will<br />
niemand in <strong>de</strong>r Gruppe ungebührlich beschleunigen. Die abgesteckte Zeitachse<br />
betrifft lediglich <strong>de</strong>n Handlungsablauf <strong>de</strong>r geplanten Geschichte. Diese darf<br />
über viele Monate hinweg wachsen. Dabei muss niemand sich selbst o<strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>ren inner- o<strong>de</strong>r außerhalb <strong>de</strong>r Gruppe etwas beweisen, was Karriere<br />
prägend wäre.<br />
Das Experiment hat die Lust am Miteinan<strong>de</strong>r geweckt, wo immer das dann<br />
hinführen mag. Fabulieren müssen kann süchtig machen, aber auch plagen;<br />
hier gewiss nicht. Die Spannung, die gewöhnlich für die Leser produziert wird,<br />
wächst hier, von einem Treffen bis zum nächsten, am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s gegenseitigen<br />
Zuweisens von „Aufgaben“ für die sechs Beteiligten, eher im Blick auf die<br />
gemeinsamen Schritte auf noch nicht ausgetretenen Pfa<strong>de</strong>n.<br />
Und noch eine an<strong>de</strong>re Feststellung am Schluss: Das Surfen im Web, bei<br />
nicht von vornherein festgelegten Recherchen, ist für je<strong>de</strong> und je<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r<br />
Gruppe ein beson<strong>de</strong>res Vergnügen, mit <strong>de</strong>m niemand vorher gerechnet hat.<br />
Der künftige Online-Roman <strong>de</strong>r Schreibgemeinschaft in <strong>de</strong>r Künstlergruppe<br />
Bisttal braucht seine Zeit - wie lange, wagt niemand vorauszusagen. Ganz<br />
gleich wie das Ergebnis ausfallen wird, es wird keine verlorene Zeit sein.<br />
Dessen sind sich alle einig. Dieses sorgsam gepflegte Miteinan<strong>de</strong>r trägt wahrscheinlich<br />
zum Erfolg <strong>de</strong>s 1. Überherrner Kultursommers im kommen<strong>de</strong>n Jahr<br />
bei, einer weiteren Initiative dieses kleinen aber rührigen Kulturvereins auf<br />
stadtfernem Bo<strong>de</strong>n. Die Schreibgruppe hat bereits konkrete Vorstellungen<br />
dazu.<br />
Auf das Wesentliche reduziert<br />
(cr) Lyrik im Wasserturm mit Maria Bernhard<br />
Wir wollen die Tradition <strong>de</strong>r Hauslesung und Hausmusik, wie sie zwischen<br />
1815 und 1825 zum Beispiel bei <strong>de</strong>m Komponisten Schubert gepflegt wur<strong>de</strong>,<br />
wie<strong>de</strong>r erwecken“, sagt Maurits Campert. Der Wirtschaftsprüfer, Jahrgang<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Betrieb Seite 23
1947, Hollän<strong>de</strong>r, Autor dreier grundverschie<strong>de</strong>ner Bücher, bezeichnet sich als<br />
Amateurmusiker. Das gleiche sagt seine Frau Saskia Campert-Schrok van<br />
Rilland von sich. Sie ist Juristin,<br />
ein Jahr jünger als er, auch<br />
Hollän<strong>de</strong>rin.<br />
Das Paar hatte Maria Bernhardt<br />
aus Daun eingela<strong>de</strong>n, die<br />
Herausgeberin <strong>de</strong>r Haiku-<br />
Anthologie Das Jahr explodiert.<br />
Da geht es um die Liebe zum<br />
Leben, auch um Vergänglichkeit<br />
und um aktuelles Zeitgeschehen,<br />
alles zu einer lyrischen<br />
Architektur gefügt.<br />
Klänge <strong>de</strong>r Suite Nr. 1 aus<br />
<strong>de</strong>r Wassermusik von G. F.<br />
Hän<strong>de</strong>l begleiten einen auf <strong>de</strong>r<br />
Wen<strong>de</strong>ltreppe <strong>de</strong>s Wasserturms<br />
in Utscheid-Buscht vorbei an<br />
Buddha-Statuen, tanzen<strong>de</strong>n<br />
hinduistischen Gottheiten, Bücherstapeln<br />
über Zen-<br />
Maria Bernhardt. © Masud Rezazada<br />
2008<br />
Buddhismus und Batik-<br />
Wandbehängen, auf <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />
indische Elefantengott Ganesha<br />
und tibetische Mandala-Motive<br />
zu sehen sind. Oben fasziniert die eindrucksvolle Aussicht in alle vier Himmelsrichtungen.<br />
In <strong>de</strong>r hellen Kühle <strong>de</strong>s Raumes, <strong>de</strong>r bis 1963 rund 30.000<br />
Liter Trinkwasser fasste, nun mit seinem schlichten Ambiente <strong>de</strong>r richtige Ort<br />
dafür zu sein schien, las im Juni Maria Bernhardt unter <strong>de</strong>m Titel Lyrik im<br />
Wasserturm. Die Dichterin absolvierte zwischen 1998 bis 2000 <strong>de</strong>n Studiengang<br />
Kreatives Schreiben am INKAS in Bad Kreuznach.<br />
Vor achtzehn Zuhörern gestaltet sie gemeinsam mit <strong>de</strong>m Ehepaar Campert<br />
eine Lesung, bei <strong>de</strong>r sich Musik und Dichtkunst zu einem harmonischen Ganzen<br />
verbin<strong>de</strong>n.<br />
Nach <strong>de</strong>m ersten Klavierstück von Mozart, gespielt von Maurits Campert,<br />
liest Maria Bernhardt mehrere Gedichte, in <strong>de</strong>nen das Element Wasser zu<br />
Gedankenspaziergängen einlädt. Das konzentriert lauschen<strong>de</strong> Publikum wird<br />
mit <strong>de</strong>n Geheimnissen eines Meermorgens vertraut und verzaubert bei einem<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Betrieb Seite 24
Haiku über schillern<strong>de</strong> Libellen und Seerosen im Meerfel<strong>de</strong>r Maar. Es folgen<br />
musikalische Interpretationen nach Hugo Wolf, Franz Liszt und Robert Schumann<br />
zum Gedicht Du bist wie eine Blume von Heinrich Heine. Im dritten<br />
Textteil sind heitere und tiefsinnige Gedichte zu hören, mit <strong>de</strong>nen Maria Bernhardt<br />
verschie<strong>de</strong>ne Facetten <strong>de</strong>s Lebens spiegelt. Wie im Verkehrsstau Haiku<br />
auf Parkscheine schreiben. Auch Impressionen in <strong>de</strong>r Abtei Himmerod.<br />
Schließlich beleuchtet sie bei philosophischen Annäherungen an Sinn und<br />
Wert von Zeit <strong>de</strong>ren Einflüsse im Leben.<br />
In <strong>de</strong>r Pause suchen Zuhörer das Gespräch mit Maria Bernhardt sowie Saskia<br />
und Maurits Campert. Dabei begegnen sie drei Menschen, die ihr Leben<br />
intensiv auskosten. Die drei lassen erkennen, dass sie ihren Weg gefun<strong>de</strong>n<br />
haben.<br />
Saskia und Maurits Camperts, Maria Bernhardt. © Masud Rezazada 2008<br />
„Schreiben“, so Maria Bernhardt, „be<strong>de</strong>utet für mich, mit wenigen Worten<br />
viel zu sagen und die Worte so zusammenzufügen, dass sie eine Melodie<br />
bekommen und zwischen <strong>de</strong>n Zeilen eine Tiefe erkennbar wird. Alles, was so<br />
einfach klingt, besitzt nicht nur einen Gedanken – <strong>de</strong>r Sinn streut sich in mehrere<br />
Richtungen und auf mehreren Ebenen.“<br />
Dann stimmt Saskia Campert an<strong>de</strong>re Lie<strong>de</strong>r an, „<strong>de</strong>nn das Leben ist zu kurz<br />
und man muss es genießen“.<br />
Die Lesung klingt aus mit Haiku und Kurzgedichten, die die Leser durch <strong>de</strong>n<br />
Kreislauf <strong>de</strong>r Jahreszeiten führen. Die Gastgeberin been<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n lyrisch ausge-<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Betrieb Seite 25
füllten Abend mit Mozarts Die Zufrie<strong>de</strong>nheit. Diese Veranstaltung wäre durchaus<br />
eines größeren Rahmens würdig gewesen und hätte diesen sicherlich<br />
ausgefüllt.<br />
Informationen zum Wasserturm erhalten Sie im Internet unter<br />
www.watertowerutscheid.eu.´<br />
Die Welt <strong>de</strong>s Kreativen Schreibens<br />
Mo<strong>de</strong>rne Lyrik<br />
(rh) Vom Klang <strong>de</strong>r Sprache, Teil 3<br />
Auf <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>r Lyrik unserer Tage bewegen wir uns durch einen<br />
dichten Dschungel von Textkulissen, die zwar als Lyrik <strong>de</strong>klariert wer<strong>de</strong>n, als<br />
solche aber oftmals nicht zu erkennen sind. Wie sieht die Lyrik unserer Tage<br />
aus, wo kommt sie her, wer schreibt sie und was bewegt die Dichtung im<br />
21. Jahrhun<strong>de</strong>rt?<br />
(Fortsetzung aus eXperimenta 07/2008)<br />
Klangcollagen <strong>de</strong>r Dichtung<br />
Diese Form <strong>de</strong>r Lyrik ist in <strong>de</strong>r Regel nicht so häufig anzutreffen, weil wir es<br />
hier mit einer sehr speziellen Ausdrucksform von Sprache zu tun haben, die<br />
noch weniger Aufmerksamkeit als die Mainstream-Lyrik überhaupt erhält und<br />
es zu<strong>de</strong>m nur wenige LyrikerInnen gibt, die diese Kunst beherrschen. Vielleicht<br />
liegen auch viele lyrische Klangcollagen unbeachtet in irgendwelchen Schubla<strong>de</strong>n<br />
herum, weil sich <strong>de</strong>r Dichter, die Dichterin nicht traut, diesen schier<br />
unverständlichen Text, <strong>de</strong>r sämtliche Regeln <strong>de</strong>r regellosen Verskunst auf <strong>de</strong>n<br />
Kopf stellt, zu veröffentlichen.<br />
Im Bereich <strong>de</strong>s Hörspiels hat sich diese Form <strong>de</strong>nnoch etabliert. Der Komponist<br />
Heiner Goebbels ist auf diesem Gebiet ein großer Künstler. In Zusammenarbeit<br />
mit <strong>de</strong>m Dramatiker Heiner Müller entstan<strong>de</strong>n Klangcollagen, die<br />
epochale Kunstwerke gewor<strong>de</strong>n sind.<br />
Als Beispiel einer lyrischen Klangcollage soll das Gedicht „ein rennen“ dienen,<br />
um einen Geschmack davon zu bekommen, wie eine Klangcollage <strong>de</strong>r<br />
Dichtung aussehen könnte. Das Gedicht hat <strong>de</strong>r Verfasser dieses Artikels an-<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt <strong>de</strong>s Kreativen Schreibens Seite 26<br />
Galerie <strong>de</strong>r Autoren
lässlich eines Besuches im Kunstmuseum Stä<strong>de</strong>l in Frankfurt am Main im Jahre<br />
1995 geschrieben.<br />
ein rennen<br />
running to the man with the cappa di gold<br />
rubens<br />
velasquez<br />
staub und säuregeschützt - dirty bones<br />
quarenta - vierzehntes bis achtzehntes<br />
jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
(längst verfault)<br />
running steps - die stufen rauf<br />
nothing new upstairs – senor tengo hambre<br />
tiefgekühlt konserviert - die alten<br />
meister<br />
"He man, you have to go down. Nobody likes to see you on this<br />
empty space!"<br />
"down, down, down, man. You have to go down, before you come up"<br />
Funkspruch:<br />
"Be careful, this running guy is coming"<br />
HALLO ANTONY – NICE TO SEE YOU<br />
Mein Freund ist krank, he is ill. He is lying in bed. In a white bed.<br />
Give me back your power !!!<br />
Funkspruch:<br />
"Be careful, this running guy is running ...<br />
Be careful, this running guy ist running. Was will uns <strong>de</strong>r Dichter damit sagen?<br />
Vielleicht, dass sein Freund krank ist, vielleicht dass er eine Treppe herunterkommen<br />
soll? Wir wissen es nicht, und <strong>de</strong>r Dichter gibt uns keine Auskunft<br />
über die Hintergrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Gedichtes. So stehen wir also alleine wie vor einem<br />
abstrakten Bild, auf <strong>de</strong>m wir aber auch rein gar nichts, außer <strong>de</strong>n Farben,<br />
erkennen können. Immerhin sind die Farben ein Anhaltspunkt. Übertragen auf<br />
die Sprache könnten wir sagen: „Was sagen uns die Worte?" Diese Frage ist<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt <strong>de</strong>s Kreativen Schreibens Seite 27
im Grun<strong>de</strong> genommen schon die Antwort, <strong>de</strong>nn es geht bei <strong>de</strong>r Klangcollage<br />
darum, was <strong>de</strong>r Leser o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Hörer beim Rezipieren einer Klangcollage<br />
empfin<strong>de</strong>t. Lutz von Wer<strong>de</strong>r spricht in diesem Zusammenhang vom so genannten<br />
„Iso-Prinzip" (Wer<strong>de</strong>r 1993:<br />
335). Die Klangcollage im übertragenen<br />
Sinne also homöopathisches<br />
Heilmittel <strong>de</strong>r Sprache – heilen<strong>de</strong><br />
Poesie. Die Klangcollage sen<strong>de</strong>t<br />
lyrische Potenzen, die Sprache in ein<br />
Informationsinstrument verwan<strong>de</strong>lt,<br />
das so nur vom Unterbewussten empfangen<br />
wer<strong>de</strong>n kann. Der autobiografische<br />
Schmerz wird also nicht mit<br />
Allopathie, <strong>de</strong>r Schulmedizin, behan<strong>de</strong>lt.<br />
Allopathie betäubt <strong>de</strong>n Schmerz,<br />
sagen die Homöopathen; Homöopathie<br />
mobilisiert die eigenen Heilungskräfte,<br />
um die Ursachen eines<br />
Schmerzens zu heilen. Die Klangcollage<br />
als heilen<strong>de</strong> Poesie, die <strong>de</strong>m<br />
Rezipienten eine Möglichkeit eröffnet,<br />
aus <strong>de</strong>m vorgegebenen Sound einen<br />
Bert Papenfuß-Gorek am 24. April<br />
2007 im Kaffee Burger (Berlin-Mitte)<br />
bei <strong>de</strong>r Benefiz-Lesung Krankenhaus<br />
später für Michael Stein. Ordu Onuz<br />
2007, Creative Commons 2.5.<br />
<strong>de</strong>m kohol meiner freun<strong>de</strong> goenn ich gute freun<strong>de</strong><br />
die kennen ihn gut kennen seinen nutzen gewiss<br />
die koennen auch teufelsohne truh<strong>de</strong>lduhn sein<br />
stuekk zum stuekk ihn auch feind sein lassen<br />
zumpe<br />
alkobol<strong>de</strong><br />
Bert Papenfuß<br />
Wahrnehmungshorizont zu eröffnen.<br />
Die Klangcollage ist übrigens die<br />
neuzeitliche Antwort auf <strong>de</strong>n archaische<br />
Begriff <strong>de</strong>r Lyrik: Lyra - <strong>de</strong>r Leier<br />
entnommen (Koch 1997: 108).<br />
alkofoegel gluekkseelen triefig<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt <strong>de</strong>s Kreativen Schreibens Seite 28
Von Jamben, Hebungen und Senkungen<br />
Lyrischer Sprachausdruck setzt sich nicht nur aus <strong>de</strong>n einzelnen Worten, Versen<br />
o<strong>de</strong>r Strophen zusammen, die <strong>de</strong>r Dichter vorgibt. Sprache hat auch unter<br />
<strong>de</strong>n Zeilen ein in sich geschlossenes System, das Lyrik erst zur Lyrik macht,<br />
sonst wäre es ja Prosa. Häufig wird in Unkenntnis <strong>de</strong>r Hebungen und Senkungen,<br />
<strong>de</strong>r Jamben, Alternationen und an<strong>de</strong>ren melodischen Sprachmelodien<br />
auch von zeitgenössischen Dichtern gedichtet, was das Zeug hält - schräge<br />
Melodien wer<strong>de</strong>n als solche nicht erkannt und gelten als salonfähig, wobei<br />
gegen <strong>de</strong>n Klang schräger Melodien nichts einzuwen<strong>de</strong>n ist, nur die Absicht<br />
<strong>de</strong>r Dichterin sollte für die geübte Leserin erkennbar sein.<br />
Lyrische Archäologie © Rüdiger Heins 2005<br />
Beispielsweise haben wir es bei einer Hebung im metrischen Bauplan mit<br />
betonten Silben zu tun. Demzufolge gibt es zwei-, drei- o<strong>de</strong>r vierhebige Verse<br />
(DUDEN 2000: 28). Eine Senkung ist eine unbetonte Silbe in einem metrisch<br />
gebun<strong>de</strong>nen Vers. Die Hebungen und Senkungen wie<strong>de</strong>rum ergeben eine<br />
Alternation, also ein Wechselspiel aus Hebungen und Senkungen.<br />
Der Jambus beschreibt eine steigen<strong>de</strong> Silbenfolge von einer Senkung zu einer<br />
Hebung: Gewált (Du<strong>de</strong>n 2000: 29).<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt <strong>de</strong>s Kreativen Schreibens Seite 29
Beim Trochäus begibt sich ein Vers von <strong>de</strong>r Hebung zur Senkung: Gárten,<br />
während <strong>de</strong>r Daktylus eine dreisilbige Folge aus einer Hebung und zwei Senkungen<br />
beschreitet: Táp-fer-keit. Zu guter Letzt gibt es noch <strong>de</strong>n so genannten<br />
Anapäst, eine dreisilbige Folge aus zwei Senkungen und einer Hebung bestehend:<br />
Pa-ra-diés.<br />
Diese Interaktion <strong>de</strong>r Hebungen und Senkungen, gezielt eingesetzt, bestimmen<br />
das Metrum <strong>de</strong>r Sprache. Unabhängig davon, ob diese Dichtung im<br />
Mittelalter o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Neuzeit angesie<strong>de</strong>lt ist.<br />
Was ist <strong>de</strong>nn nun mo<strong>de</strong>rne Lyrik?<br />
Es ist drei Uhr morgens. Wie<strong>de</strong>r eine dieser schlaflosen Nächte. Du kämpft mit<br />
dir und du <strong>de</strong>nkst, dass du lieber doch Politologie studieren solltest, <strong>de</strong>nn<br />
damit könnte man wenigstens Geld verdienen. Du bist an einem Punkt angelangt,<br />
an <strong>de</strong>m dir nichts mehr gelingt. Die I<strong>de</strong>e im Kopf ist gut, doch das<br />
weiße Blatt bleibt leer. Du bist einfach nicht dazu in <strong>de</strong>r Lage, die Sache mit<br />
<strong>de</strong>inem Gedicht zu En<strong>de</strong> zu bringen. Und es schafft dich, du hast all diese<br />
Informationen in <strong>de</strong>inem Kopf gesammelt. Aber nichts passiert damit. Du verlierst<br />
die Hoffnung, bist verzweifelt. Jetzt bist du auch noch zu alt für ein Politologiestudium.<br />
Vielleicht wäre es ja doch besser, das Angebot <strong>de</strong>ines Nachbarn<br />
anzunehmen, seinen Kiosk in <strong>de</strong>r Stadtmitte zu betreiben.<br />
sisting texas april<br />
n a c h diesem tag<br />
in <strong>de</strong>r großstadt<br />
in die stille hinein … &<br />
nichts ---sagen<br />
bloß dann & wann 1 paar<br />
wörter<br />
auf das papier schlagen:<br />
erinnerung wagen – er-<br />
innerung an mich selbst?<br />
hier sitze ich<br />
allein & es taut<br />
in meinem kopf<br />
in meinem zimmer<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt <strong>de</strong>s Kreativen Schreibens Seite 30
- das ist<br />
keineswegs<br />
eng o<strong>de</strong>r klein! –<br />
& ich wollte …<br />
dann & wann<br />
ging die tür auf<br />
& 1 lied wehte<br />
nach -------------------<br />
-----------d r a u ß e n<br />
Theo Breuer<br />
Donnerwetter, so weit kommt es noch: und dann plötzlich trifft dich <strong>de</strong>r Strahl<br />
<strong>de</strong>r Erleuchtung und du erhältst diese wun<strong>de</strong>rbare Eingebung und du bist<br />
dankbar, möchtest jeman<strong>de</strong>m „Danke" sagen. Es ist aber nichts Geringeres,<br />
als <strong>de</strong>in eigener Geist, <strong>de</strong>m du Dank schul<strong>de</strong>st. Und dann schreibst du wie<strong>de</strong>r.<br />
Die Blocka<strong>de</strong> ist durchbrochen. Die I<strong>de</strong>e fließt. Flow beim Creative Writing.<br />
So etwas geschieht aber nur nach erfolgter harter Arbeit und gründlicher<br />
Vorbereitung. Und du bist wie ein Farmer <strong>de</strong>r Lyrik, säst die Saat im Frühjahr<br />
aus und die Ernte erfolgt im Herbst.<br />
Das ist Lyrik. Nichts an<strong>de</strong>res als säen und ernten.<br />
Literaturverzeichnis<br />
Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt. Piper Verlag. München<br />
2000.<br />
William S. Burroughs: Der Job. Gespräche mit Daniel Odier. Verlag Ullstein.<br />
Berlin 1986.<br />
William S. Bourroghs: Nova Express. Reinbek 2000.<br />
E. E. Cummings: Poems – Gedichte, the poems to come are for you and for me<br />
and are not for mostpeople – die gedichte hier drin sind für dich und für mich<br />
für meisteleute sind sie nichts, Zweisprachige Ausgabe, Aus <strong>de</strong>m Amerikanischen<br />
von Eva Hesse, Erweiterte Neuausgabe, textura, Langewiesche-Brandt<br />
Ebenhausen bei München 1994, ISBN 3-7846-0545-1<br />
DUDEN Abiturhilfen. Gedichte analysieren. Mannheim 2000.<br />
Hans Magnus Enzensberger: Zukunftsmusik. Suhrkamp. Frankfurt 1991.<br />
Sophie Goll: Sophies Sampling. Barßel 2000.<br />
Ted Hughes: Etwas muss bleiben. Suhrkamp. Frankfurt am Main 2002.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt <strong>de</strong>s Kreativen Schreibens Seite 31
Inge v. Jadi, Hrsg.: Leb wohl sagt mein Genie. Verlag Das Wun<strong>de</strong>rhorn. Hei<strong>de</strong>lberg<br />
1985.<br />
James Joyce: Ulysses. Suhrkamp. Frankfurt am Main1996.<br />
Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? Beck’sche Reihe. München 1996.<br />
Mario Klarer: Einführung in die neuere Literaturwissenschaft. Primus Verlag.<br />
Darmstadt 1999.<br />
Hans-Albrecht Koch: Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Wissenschaftliche<br />
Buchgesellschaft. Darmstadt 1997.<br />
Uwe Kolbe: Vineta. Gedichte. Suhrkamp. Frankfurt 1998.<br />
Lax, Robert: the hill. Der Berg. Zweisprachig. Englisch/Deutsch.; Pendo, Zürich<br />
1998; Hrsg: Paula Dias<br />
Volker Meid: Elektronisches Sachwörterbuch zur Deutschen Literatur. CD-ROM.<br />
Reclam. Stuttgart 2000.<br />
Volker Meid: Sachlexikon Literatur. Deutscher Taschenbuch-Verlag. München<br />
2000.<br />
Bert Papenfuß: harm. Janus Press. Berlin 1993.<br />
Fritz Reutemann, Hrsg.: Fluchtzeiten. Das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Totlachgesellschaft? Eine<br />
Lyrik-Anthologie. Geest-Verlag. Vechta-Langför<strong>de</strong>n 2002.<br />
Marianne Schnei<strong>de</strong>r, Lothar Schirmer (Hrsg.): O Stern und Blume, Geist und<br />
Kleid .... Blumenbil<strong>de</strong>r und Gedichte. Von Leonardo da Vinci bis Ernst Jandl.<br />
Schirmer/Mosel Verlag, München.<br />
William Shakespeare: Sonette. dtv. München 1996.<br />
Andreas Thalmayr: Das Wasserzeichen <strong>de</strong>r Poesie o<strong>de</strong>r Die Kunst und das<br />
Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hun<strong>de</strong>rtvierundsechzig Spielarten vorgestellt<br />
von Andreas Thalmayr. Eichborn Verlag Frankfurt am Main 1997<br />
Lutz von Wer<strong>de</strong>r: Lehrbuch <strong>de</strong>s kreativen Schreibens. Schibri-Verlag, Berlin /<br />
Milow 1993<br />
William Carlos Williams: Die Worte, die Worte, die Worte. Gedichte. Hg. von<br />
Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt/Main 1962.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt <strong>de</strong>s Kreativen Schreibens Seite 32
Im Hier und Jetzt<br />
So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the<br />
past 1 . Der letzte Satz aus <strong>de</strong>m erstmals 1925 erschienenen Roman The Great<br />
Gatsby von F. Scott Fitzgerald.<br />
(cr) Wie Gatsby mag<br />
<strong>de</strong>r eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />
an lauen Sommeraben<strong>de</strong>n<br />
in seinem<br />
Garten stehen und in<br />
die nahen<strong>de</strong> Nacht<br />
hinausschauen. Wie<br />
Jay Gatsby, <strong>de</strong>r<br />
nachts in seinem<br />
dunklen Garten steht,<br />
während seine Gäste<br />
feiern, und mit Blicken<br />
das grüne Licht am<br />
gegenüberliegen<strong>de</strong>n<br />
Ufer, an <strong>de</strong>m seine<br />
Jugendliebe lebt, Van Gogh: Sternennacht<br />
beschwört und <strong>de</strong>m<br />
am En<strong>de</strong> keine Hoffnung und nicht einmal mehr das Leben bleibt. Auch wenn<br />
er glaubt, voran zu kommen, treiben ihn seine Gedanken zurück in die Vergangenheit,<br />
in <strong>de</strong>r er seelisch vor Anker gegangen ist und <strong>de</strong>r er nicht entkommen<br />
kann und will.<br />
In <strong>de</strong>r Gegenwart, im Hier und Jetzt, wenn die Gedanken und die Aufmerksamkeit<br />
mit <strong>de</strong>r unmittelbaren Umgebung in Einklang schwingen, verliert die<br />
Zeit an Geschwindigkeit. Zwar laufen die Zeiger <strong>de</strong>r Uhren weiter, doch welche<br />
Rolle spielen sie noch? Die Dinge, die eben noch so wichtig erschienen,<br />
ob nun in Gestalt von Formularen, pastellfarbenen Oberhem<strong>de</strong>n, verflossenen<br />
Geliebten o<strong>de</strong>r Brummschä<strong>de</strong>ln, wer<strong>de</strong>n zu Nichtigkeiten und ziehen mit<br />
trockenem Laub und Grashalmen stromabwärts.<br />
1<br />
Auf Deutsch: Und so legen wir uns in die Riemen, stemmen uns gegen <strong>de</strong>n Strom, und treiben<br />
doch unaufhörlich in die Vergangenheit zurück. (Übers.: C. Rezazada, Juli 2008).<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Welt <strong>de</strong>s Kreativen Schreibens Seite 33<br />
Carolines Marginalien
Im Hier und Jetzt haben die Blätter verschie<strong>de</strong>ner Bäume ihren individuellen<br />
Klang im Wind. Im Hier und Jetzt enthüllt <strong>de</strong>r dunkler wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Nachthimmel<br />
von Sekun<strong>de</strong> zu Sekun<strong>de</strong> mehr Sterne und Planeten, blinken<strong>de</strong> Flugzeuge und<br />
Satelliten, die gleichmäßig ihre Bahnen ziehen – wenn man nur <strong>de</strong>n Blick<br />
hebt.<br />
Bibliographie:<br />
F. Scott Fitzgerald: The Great Gatsby. London (Penguin) 1973. ISBN 0-14-<br />
008204-2. 176 S. 7,99 €.<br />
Dt. Ausgabe:<br />
F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby. Roman. Übersetzung Bettina Abarnell.<br />
Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay. Zürich (Diogenes) 2007. ISBN 3-<br />
257-20183-4. 188 S. 9,90 €.<br />
Das Institut<br />
Ich habe gerochen, geschmeckt, gespürt<br />
Lesung und Wettbewerbspreisverleihung bei <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sgartenschau in Bingen<br />
(ehn) Vom Schreiben <strong>de</strong>r Sinne – so lautete die Aufgabenstellung. Zwanzig<br />
Autoren beteiligten sich am Wettbewerb, drei von ihnen wur<strong>de</strong>n als Preisträger<br />
geehrt.<br />
eXperimenta-Schriftleiter Toni Reitz präsentierte sie bei einer Lesung in <strong>de</strong>r<br />
Lan<strong>de</strong>sgartenschau in Bingen. Es war eine Veranstaltung <strong>de</strong>s Instituts für Kreatives<br />
Schreiben (INKAS) nach einer I<strong>de</strong>e von Rüdiger Heins im vergangenen<br />
Herbst. Während er sich jetzt auf einer fernen Insel sonnte, schwitzten auf <strong>de</strong>n<br />
Stufen <strong>de</strong>s Tunneltheaters vor allem Chris Blomen-Pfaff und Christine Seiler, die<br />
Organisatorin und die Regisseurin <strong>de</strong>s Abends, gemeinsam mit <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>rator,<br />
in <strong>de</strong>r Schwüle <strong>de</strong>r Unwägbarkeiten, bevor eine nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren in <strong>de</strong>r<br />
Arena stand.<br />
Eins wollte <strong>de</strong>n dreien nicht gelingen: die Wolken am Himmel ließen sich<br />
von ihnen nicht hinter <strong>de</strong>n Bergen halten. Eine geschützte Bühne stand nicht<br />
zur Verfügung. „Hoffentlich wan<strong>de</strong>lt sich das bunte Stimmungsbild <strong>de</strong>r beteiligten<br />
Künstler an diesem Abend nicht in regengraue Apathie.“ Diese nur leise<br />
geäußerte Sorge stand zwar auf keine Stirn geschrieben, eher glühte lächeln-<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 34<br />
Veranstaltungen von INKAS
<strong>de</strong>r Trotz auf <strong>de</strong>n Wangen aller, <strong>de</strong>nen man ansah, wie gerne sie Mikrofon<br />
und Lautsprecherbox benutzt hätten, um <strong>de</strong>n Himmel anzuschreien. Doch<br />
niemand tat es.<br />
Auch Gernot Blume<br />
ließ seine Harfe nicht<br />
traurig weinen. Sein<br />
ermuntern<strong>de</strong>s Spiel<br />
übertönte fast schon<br />
auftrumpfend leichtes<br />
Prasseln auf gelegentlich<br />
aufgespannten Regenschirmen.<br />
Trotz <strong>de</strong>r<br />
Widrigkeit keine aufmüpfigen<br />
Stakkati. Im<br />
Gegenteil: Die Saiten<br />
<strong>de</strong>s Instrumentes begrüßten<br />
immer wie<strong>de</strong>r einmal,<br />
leise und ganz von<br />
alleine singend, als<br />
wür<strong>de</strong>n sie die Liebkosungen<br />
begrüßen, die<br />
Kraft <strong>de</strong>s Win<strong>de</strong>s.<br />
Auf <strong>de</strong>n Publikumsrängen<br />
saßen lei<strong>de</strong>r<br />
nicht so viele, wie es die<br />
Akteure <strong>de</strong>s Abends<br />
verdient hatten. Die eine<br />
und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re vernahm<br />
<strong>de</strong>shalb sehr wohlwollend<br />
die Ankündigung, dass dieser Wettbewerb recht bald zu einer Anthologie<br />
führen soll, die eXperimenta online anbieten wer<strong>de</strong>. Im Publikum wur<strong>de</strong> sofort<br />
geflüstert: „Hoffentlich auch die Texte, die nicht ausgewählt wor<strong>de</strong>n sind…“<br />
Das bewies, wie neugierig dieser Abend auf mehr gemacht hat, auch wenn<br />
<strong>de</strong>r Himmel ihn grollend been<strong>de</strong>te, mit Blitz und Donner und Regenguss <strong>de</strong>m<br />
Miteinan<strong>de</strong>r ein vorzeitiges En<strong>de</strong> setzte. Der Eingangsmo<strong>de</strong>ration folgend war<br />
das dann tatsächlich eine Erfahrung mit allen Sinnen: die Luft roch, das Nass<br />
schmeckte, <strong>de</strong>r Donner ließ die Worte verstummen, die Blitze schreckten die<br />
Augen, das Gefühl bemächtigte sich eines je<strong>de</strong>n einzelnen; dieser Tagebucheintrag<br />
schrieb sich quasi von selbst.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 35
Im Mittelpunkt <strong>de</strong>r kurz vorher erst eingeübten Performance stan<strong>de</strong>n sehr unterschiedlich<br />
gesetzte Texte. Je<strong>de</strong>r einzelne hätte genügend Anlass geboten,<br />
mit <strong>de</strong>n Autoren ein interessantes Gespräch zu führen. Wenn Sinne schreiben,<br />
dann sind es Menschen, die all ihr Gespür ihre kreativen Gedankenspiele<br />
formen lassen. Dem einen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren mag aufgefallen sein, dass diese<br />
Menschen an diesem Abend irgendwie viel zu kurz kamen. We<strong>de</strong>r Organisation,<br />
noch Regie, noch Mo<strong>de</strong>ration hätten unter <strong>de</strong>n gegebenen Bedingungen<br />
etwas daran än<strong>de</strong>rn können. Der Wettlauf gegen die Nässe als eine, diesmal<br />
unerwünschte, sinnliche Erfahrung sollte im Nachhinein als ein sportliches<br />
Unterfangen betrachtet wer<strong>de</strong>n, das als beinahe gelungen zu bezeichnen ist.<br />
Für manche(n) war es eine Premiere, die die Nerven stählte.<br />
Rüdiger Heins hat nun die Möglichkeit zur Wie<strong>de</strong>rgutmachung, ihm steht<br />
mit seiner Sendung in Radio Rheinwelle ein passen<strong>de</strong>s Medium zur Verfügung,<br />
was jetzt eine Menge Hoffnungen weckt, wenn dies an dieser Stelle angemerkt<br />
wird. Ich bin so frei.<br />
Die leisen Töne sind’s<br />
An diesem Samstagabend in <strong>de</strong>r Arena <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sgartenschau haben vierzehn<br />
Menschen dazu beigetragen, dass ich mich <strong>de</strong>n Himmelsallüren wohlgelaunt<br />
entzog.<br />
Ich nehme mir nun heraus, mich über alle Gebote journalistischer Objektivität<br />
hinwegzusetzen. Denn so wie das Windspiel in <strong>de</strong>n Saiten <strong>de</strong>r Harfe leise<br />
Töne erklingen ließ, so brachten hier mehrere Leute die Saiten auf meiner<br />
Seele zum Schwingen, was <strong>de</strong>n Resonanzkörper meiner glücklicherweise nicht<br />
mehr vergrabenen Kin<strong>de</strong>rseele noch an<strong>de</strong>rntags nachklingen ließ.<br />
Karina Schlingensiepen aus Wuppertal bewies mir einmal mehr, wie literarisches<br />
Schreiben im Glücksfall auch ein engagiertes Schreiben ist. Ich gebe<br />
zu, dass bereits <strong>de</strong>r Titel ihres Textes mich, <strong>de</strong>n Maler von Mohnblüten, einfing.<br />
Mohnblütenrot traf mich das Signal, auch behin<strong>de</strong>rten Menschen sinnenfroh<br />
gegenüber zu treten. Die Autorin, Jahrgang 1982, bereits mehrfach<br />
ausgezeichnet, wird mit Sicherheit noch öfter ähnlich ergreifend Aufmerksamkeit<br />
wecken. Möglicherweise passen auch an<strong>de</strong>re Geschichten, um sich zu<br />
einem Hörbuch ermutigt zu fühlen. Karina Schlingensiepen, eine Journalistin<br />
mit sehr literarischer A<strong>de</strong>r, lässt ihre blin<strong>de</strong> Meg unterstreichen, dass Blätter<br />
nie glücklicher als im Herbst riechen, wenn sie, Farbe ausstrahlend, so viel zu<br />
erzählen haben. Ein anrühren<strong>de</strong>r Text, <strong>de</strong>r mit einem stillen Gefühl in einem<br />
glücklichen Augenblick en<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>m geschlossene Augen so unendlich mehr<br />
sehen können als geöffnete. Das Mohnblütenrot, das ihr in die Hand gelegt<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 36
wird von jeman<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>m sie sehr nahe sein will, diese ausgestrahlte Wärme,<br />
das war für alle ein Geschenk.<br />
Die drei Siegerinnen <strong>de</strong>s Wettbewerbs: Marlene Schulz, 3. Preis, Karina<br />
Schlingensiepen, 1. Preis, Anja We<strong>de</strong>rshoven, 1. Preis (v.l.n.r.). © Chris<br />
Blomen-Pfaff 2008<br />
Dankbar war ich an diesem Samstagabend auch Anja We<strong>de</strong>rshoven aus<br />
Mönchengladbach für ihre Blütenküsse. Die Leiterin einer Autorengruppe,<br />
Jahrgang 1968, selbst Literaturkritikerin, hat sich mit einem ganz beson<strong>de</strong>ren<br />
Feingefühl zu Kin<strong>de</strong>rseelen im Aufbruch geneigt, eine Wegmarkierung einem<br />
vor Augen und ins Herz gestellt, die in je<strong>de</strong>m Leben zu <strong>de</strong>n sinnlichsten Erfahrungen<br />
gehört, die aber nicht immer in <strong>de</strong>n Klangschalen <strong>de</strong>r Erinnerungen<br />
diese zarten Töne hören lassen. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, <strong>de</strong>n mir<br />
die Fee Anja We<strong>de</strong>rshoven erfüllen wollte, dann wäre es <strong>de</strong>r, dass diese<br />
Blütenküsse einmal mit ähnlichen Begebenheiten in einem Buch daher kommen.<br />
Die Geschichte selbst ist so dicht, dass sie kaum erweitert wer<strong>de</strong>n kann,<br />
aber <strong>de</strong>r Autorin gesteht man gerne zu, dass sie aneinan<strong>de</strong>r reihen darf, was<br />
ihr mit so viel Gefühl aus <strong>de</strong>r Fe<strong>de</strong>r fließt.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 37
Beim Anhören <strong>de</strong>s Textes <strong>de</strong>r Gewinnerin <strong>de</strong>s dritten Wettbewerbspreises<br />
fragte <strong>de</strong>r Journalist sich zunächst, ob diese Geschichte möglicherweise eine<br />
vornehm artikulierte Reaktion sei. Mir ist nicht bekannt, ob Marlene Schulz aus<br />
Hofheim ihre Geschichte schrieb, als <strong>de</strong>r Bestseller Feuchtgebiete bereits <strong>de</strong>n<br />
Gipfelsturm <strong>de</strong>r permanenten Medienpräsenz angetreten hatte. Aber es drängte<br />
sich mir <strong>de</strong>r Verdacht auf, dass hier von <strong>de</strong>r Erziehungswissenschaftlerin,<br />
die belletristisches und journalistisches Schreiben studiert hat, eine an<strong>de</strong>re<br />
Seite kreiert wer<strong>de</strong>. Dem Vorschlaghammer in <strong>de</strong>n Verkaufsregalen ist hier ein<br />
Goldschmie<strong>de</strong>hämmerchen entgegengestellt. „Alles kann, nichts muss“, ein<br />
beliebter Satz in Singlebörsen und an<strong>de</strong>rswo, geformt am En<strong>de</strong> eines Heilfastens<br />
und vor einer Hinwendung zu an<strong>de</strong>ren Ufern, hat subtile Wendungen<br />
assoziativ bereitgestellt, scharf gewürzt für diejenigen, die ihre Phantasien<br />
spazieren führen. Beim Nachlesen <strong>de</strong>s Textes habe ich eine doch größere<br />
Bewun<strong>de</strong>rung für die stilistischen Feinheiten aufgebracht. Diese Bewun<strong>de</strong>rung<br />
kommt allerdings fast allen Texten zugute, die ich im Tunneltheater in Bingen<br />
hörte und zuhause am Schreibtisch nachgelesen habe.<br />
Das laute Leben<br />
An <strong>de</strong>m Abend stan<strong>de</strong>n Kindheitserinnerungen im Vor<strong>de</strong>rgrund, Marlene<br />
Schulzes Text war nicht <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Rahmen fiel. So ist das<br />
eben. Dieser Abend ließ auch erkennen, dass mancher Text besser in <strong>de</strong>r<br />
Schubla<strong>de</strong> reifen sollte. So wünsche ich Manolo Link, dass er sein Märchen<br />
von weisen Sinnen einer umfangreichen Überarbeitung unterziehen möchte.<br />
Kreativ gewachsene Texte dürfen wuchern, sie dürfen aber auch beschnitten<br />
wer<strong>de</strong>n, um Wachstumswünschen gerecht zu wer<strong>de</strong>n. Links Text ist ebenso <strong>de</strong>r<br />
Text eines Studieren<strong>de</strong>n am INKAS wie <strong>de</strong>r von Manuel Göpferich. Dessen<br />
Gedankenspiel hat mir ebenfalls gefallen, aber <strong>de</strong>m Text fehlt etwas, was <strong>de</strong>r<br />
Schreiber selbst feststellen müsste. Ich dachte nebenbei an die Rose, die einer<br />
<strong>de</strong>r Bettlerin schenkte. Immerhin.<br />
Celestine von Gerda Fuckner „fängt ein, was uns droht zu flüchten“: Diesmal<br />
forsch abenteuerlich, in einem von ihr bestimmten Fall und nicht allgemein,<br />
was Mann erhofft, was Frau will, was man einan<strong>de</strong>r gibt und nimmt. Ein ebenso<br />
prickeln<strong>de</strong>r wie nach<strong>de</strong>nklicher Text, <strong>de</strong>r stilistisch und inhaltlich nun noch<br />
mehr erwarten lässt. Die Autorin Gerda Fuckner kann Frau und Mann, die ihr<br />
ebenso amüsiert wie hellhörig lauschen, sehr neugierig wer<strong>de</strong>n lassen.<br />
Christine Seiler, angehen<strong>de</strong> Pädagogin, die mit erst 22 Jahren schon Dozentin<br />
für kreatives Schreiben ist, warum auch nicht, <strong>de</strong>monstrierte mit ihrem<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 38
Beitrag, was das ist, kreativ mit allen Sinnen zu schreiben. Sie stellte ihr toben<strong>de</strong>s<br />
Ich im aufbrausen<strong>de</strong>n Kaufhaustrubel ihren Zuhörern mit Lauter Leben<br />
gekonnt ins Ohr.<br />
Manuel Göpferich aus Kraichgau setzte „Laute Schläge“ nachsinnend hinterher.<br />
Die Germanistin Marion Eisenberger aus La<strong>de</strong>nburg, Journalistin im<br />
Gesundheitswesen, präsentierte anschließend jahreszeitlich beheimatete Haiku.<br />
Sommergefühle hatten zu dieser Zeit keinen Platz mehr. Ihr Regen-Haiku<br />
sorgte für Schmunzeln. Denn just in diesem Augenblick verlor die Autorin<br />
ebenso wie die sich daran anschließen<strong>de</strong> Harfenmusik <strong>de</strong>n Wettlauf gegen<br />
Blitz und Donner.<br />
Die Kin<strong>de</strong>rseele lächelt<br />
Zurück zum Ursprung unserer Kreativität. Zurück zu <strong>de</strong>n Wurzeln: Die Küche<br />
meiner Kindheit von Chris Blomen-Pfaff, Erinnerung an einen Duft meiner Kindheit<br />
von Anne Mai und Ein Duft meiner Kindheit von Carla Capellmann, drei<br />
Texte, die gemeinsam mit mir bekannten an<strong>de</strong>ren Texten von Kursabsolventen<br />
in <strong>de</strong>r Schule von Rüdiger Heins eine beson<strong>de</strong>re Anthologie ersehnen lassen,<br />
ein Kompendium von gefühlsstarken Erinnerungen für ein Erzählcafé <strong>de</strong>r Generationen.<br />
Vielleicht lässt <strong>de</strong>r INKAS-Chef sich schon bald für diese I<strong>de</strong>e<br />
erwärmen.<br />
Chris Blomen-Pfaff zitiert selbst ihren Sohn: „Sie lebt ganz viel und schreibt<br />
darüber“. Die gebürtige Saarbrückerin, die in Bingen eine Konzert-Agentur<br />
betreibt, wur<strong>de</strong> bei dieser Veranstaltung ein Kulturquirl genannt. Ihr Text kam<br />
aber sehr besinnlich daher, sehr eindringlich, sehr Geheischnis erinnernd.<br />
Dieser Schrank in Omas Küche, diese geheimnisvolle Truhe mit ihren beson<strong>de</strong>ren<br />
Schätzen, wer erinnert sich nicht gerne daran, sofern man eine solche<br />
Oma gehabt hat.<br />
Carla Capellmann aus Königswinter beschreibt Unterschiedliches eindrucksvoll<br />
und nachvollziehbar, unter an<strong>de</strong>rem auch wie Zigarettenqualm zu<br />
Hause die Luft war, die sie atmen musste, <strong>de</strong>r sie sich mit gemischten Gefühlen<br />
erinnert, neben so vielem an<strong>de</strong>ren in ihrem einst jugendlichen Alltag, auch<br />
<strong>de</strong>ssen, wessen sie sich nicht erinnern möchte.<br />
Für Anne Mai aus Man<strong>de</strong>lbachtal ist frisch gemahlener Bohnenkaffee, eben<br />
erst aufgebrüht, ein beson<strong>de</strong>res Samstagsbouquet gewesen, <strong>de</strong>m man heute<br />
noch gerne nachschmecken möchte, mit allem was geruchsintensiv dazu gehörte.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Das Institut Seite 39
Ja, da war noch Gertrud Kati Schwabach, zu dieser Veranstaltung als Gastautorin<br />
eingela<strong>de</strong>n. Ihr Gedicht Du an meiner Seite, in wohlgesetzten Zeilen<br />
gereimt, ließ eingangs <strong>de</strong>r Veranstaltung schon Flügel wachsen, die trotz aller<br />
Bitternis <strong>de</strong>r widrigen Umstän<strong>de</strong> wegen über <strong>de</strong>n Abend hinweg getragen<br />
haben. Sie meinte wohl jemand an<strong>de</strong>res, als die übrigen Autoren in diesem<br />
Augenblick gedacht haben, aber <strong>de</strong>nen und <strong>de</strong>n Zuhörern hat <strong>de</strong>r Zuspruch zu<br />
frei laufen<strong>de</strong>n Gefühlen gut getan.<br />
Autoren brauchen Zuhörer, die applaudieren. Es hätten an diesem Abend<br />
wirklich mehr sein sollen. Und min<strong>de</strong>stens zwei hätten länger anhalten<strong>de</strong>n<br />
Applaus verdient gehabt. Abgesehen von <strong>de</strong>m auch diesmal wie<strong>de</strong>r begeistern<strong>de</strong>n<br />
Gernot Blume, <strong>de</strong>m man gerne nachreisen möchte, wenn man seine<br />
Konzerttermine im Internet gefun<strong>de</strong>n hat.<br />
Der Wegweiser<br />
Kurzgeschichten gesucht<br />
Verlag Buena Vision in Kassel lädt talentierte Autoren ein<br />
(ehn) „Verlag sucht talentierte Autoren“ annonciert Markus Weuthen aus Kassel.<br />
Der gelernte Buchhändler aus <strong>de</strong>m Rheinland hat vor einigen Monaten <strong>de</strong>n<br />
Verlag Buena Vision gegrün<strong>de</strong>t. Zu <strong>de</strong>n geplanten Buchprojekten gehören<br />
sogenannte Versendbücher, die man in einem normalen Briefumschlag verschicken<br />
kann. Derzeit <strong>de</strong>nkt Weuthen über Literatur fürs Hotelzimmer nach.<br />
Deshalb ruft er „Schreibbegeisterte“ dazu auf, ihm „stilvolle Kurzgeschichten<br />
mit positiver Konnotation“ zum Thema „Hotel“ sowie „geschmackvolle Erzählungen“<br />
zum Bereich „Erotik“ zu überlassen. Die Texte sollen einen Umfang<br />
von maximal vier DIN A4-Seiten haben. Die Autoren behalten ihre Urheberrechte<br />
und wer<strong>de</strong>n mit hun<strong>de</strong>rt Euro pauschal entlohnt. Bei Eignung <strong>de</strong>r Texte<br />
wer<strong>de</strong>n Folgeaufträge in Aussicht gestellt. Markus Weuthen, Jahrgang 1965,<br />
hat unter an<strong>de</strong>rem auch sozialpädagogisch sowohl im Kin<strong>de</strong>r- als auch Erwachsenenbereich<br />
gearbeitet und an <strong>de</strong>r Universität Kassel Visuelle Kommunikation<br />
studiert. Schon mehrfach arbeitete er mit Tom Tiggemann zusammen,<br />
<strong>de</strong>m Leiter <strong>de</strong>s Instituts für Kreatives Schreiben in Kassel, war Teilnehmer an<br />
<strong>de</strong>ssen Kursen und hat mit ihm Lesungen veranstaltet.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 40
Die verlagseigene Homepage befin<strong>de</strong>t sich noch im Aufbau. Buena Vision<br />
hat bislang zwei Bücher herausgebracht: Weinerzählungen sowie 33verrückte<br />
I<strong>de</strong>en für <strong>de</strong>n Alltag. Kontakt zum Verlag bekommt man schriftlich unter <strong>de</strong>r<br />
Adresse Markus Weuthen, Dag-Hammarskjöld-Straße 54, D-34119 Kassel o<strong>de</strong>r<br />
per Email an info@buena-vision.<strong>de</strong>.<br />
Statt <strong>de</strong>r üblichen Fernsehtips erreichen uns von unserer Korrespon<strong>de</strong>ntin zwei<br />
Gedichte, die sich wie Hilferufe aus <strong>de</strong>r Dürre lesen.<br />
Carla Capellmann: fern<br />
: weh<br />
sehnen<br />
(seh ich + dreh)<br />
wortbe<strong>de</strong>utung<br />
im sommerwind<br />
tipp e ich + ver<br />
: mute (mut+will+ich)<br />
dass sich<br />
_NIEMAND_<br />
für tipps interessiert<br />
tippe ich + schreibe<br />
es auf + schreibe (es auch)<br />
(was ich <strong>de</strong>nke)<br />
dass<br />
: fern weh seh<br />
dass<br />
: fern seh weh<br />
dass<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 41<br />
Television
: seh weh weh seh<br />
dass<br />
(ich stottere)<br />
fernseh<br />
ist baeh ist verwerflich<br />
ist schlecht (und nicht recht)<br />
für <strong>de</strong>n künstler die kunst<br />
ist zu streichen<br />
+ AUS<br />
diesem grun<strong>de</strong><br />
gibt es<br />
in dieser<br />
aus<br />
:gabe keine<br />
(minus)<br />
tv-tipps<br />
eine frage<br />
:<br />
seh ich<br />
(fernes)<br />
weh?<br />
Carla Capellmann: fern (es) sehen<br />
in <strong>de</strong>r ferne<br />
<strong>de</strong>r winter<br />
rückt näher<br />
blaue träume<br />
die mattscheibe<br />
grauen.voll<br />
schwarz kein gedicht<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 42
diesen sommer - dieser sommer<br />
er lacht<br />
in die ferne<br />
wehen bil<strong>de</strong>r<br />
bemalen<br />
<strong>de</strong>n eigenen film<br />
im netz / auf <strong>de</strong>r netzhaut<br />
digitalgefrieren<br />
für <strong>de</strong>n winter<br />
(eiskalt) <strong>de</strong>r sommer<br />
wer lacht<br />
aus <strong>de</strong>r fern e<br />
ge.seh.en<br />
(totes tv)<br />
Was ich gera<strong>de</strong> lese<br />
Harry Mulisch: Das Attentat<br />
(am) Der Roman erzählt die Geschichte einer Verdrängung und ihre schrittweise<br />
Offenlegung durch scheinbar zufällige Ereignisse. Die Handlung beginnt an<br />
einem Januarabend 1945 in Haarlem bei Amsterdam. Der Zweite Weltkrieg<br />
geht zu En<strong>de</strong>, aber Holland ist noch immer unter <strong>de</strong>utscher Besatzung. In einer<br />
Straße mit nur vier Häusern fällt abends ein sechsfacher Schuss. Der tote<br />
Nazikollaborateur wird von Nachbarn vor das Haus <strong>de</strong>r Familie Steenwijk<br />
geschleift. Deren zwölfjähriger Sohn Anton verliert in dieser Nacht seinen<br />
Bru<strong>de</strong>r und seine Eltern. Erst lange Zeit später entschlüsseln sich für ihn die<br />
Ereignisse seiner Vergangenheit, abschließend im Jahre 1981 mit <strong>de</strong>m letzten<br />
noch fehlen<strong>de</strong>n Baustein in <strong>de</strong>r Rekonstruktion <strong>de</strong>r Aufklärung <strong>de</strong>s Anschlages.<br />
Das recht dünne Buch hatte es in sich und verübte bereits auf <strong>de</strong>n ersten<br />
Seiten ein Attentat, in<strong>de</strong>m es mich am narrativen Haken packte und in die<br />
Seiten zog. Ich ent<strong>de</strong>ckte beeindrucken<strong>de</strong> Sätze in einer klaren Sprache.<br />
Mulisch ist sparsam mit Adjektiven und arbeitet mit präzisen Substantiven. Er<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 43
lässt keinen reinen Übeltäter zu, son<strong>de</strong>rn fin<strong>de</strong>t für je<strong>de</strong>n Protagonisten ein<br />
Licht, das die unterschiedlichen Facetten <strong>de</strong>r Charaktere, ihre Ausformung<br />
und Handlungsweisen ausleuchtet. Der Inhalt wirkte auf mich auffallend konstruiert,<br />
hielt aber trotz dieses Eindruckes über <strong>de</strong>n gesamten Text eine hohe<br />
Spannung. Das Werk war in <strong>de</strong>n achtziger Jahren <strong>de</strong>r größte literarische<br />
Erfolg in <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n.<br />
Harry Mulisch, 1927 in Haarlem geboren, lebt in Amsterdam. Sein Vater<br />
verwaltete während <strong>de</strong>r Nazizeit als Direktor einer Bank auch konfisziertes<br />
jüdisches Eigentum, seine Mutter war eine Frankfurter Jüdin. In seinem umfangreichen<br />
Werk spielt <strong>de</strong>r Zweite Weltkrieg eine zentrale Rolle.<br />
Bibliographie<br />
Harry Mulisch Das Attentat. Roman. Orig.: De Aanslag. Aus <strong>de</strong>m<br />
Nie<strong>de</strong>rländischen von Annelen Habers. rororo Taschenbücher<br />
22797. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt)<br />
11 2007. ISBN 978-3-499-22797-4. 189 S. 7,95 €.<br />
(tr) Und außer<strong>de</strong>m empfiehlt <strong>de</strong>r Doktor:<br />
Ian McEwan Am Strand. Roman. Orig.: On Chesil Beach. Aus <strong>de</strong>m<br />
Englischen von Bernhard Robben. Zürich (Diogenes)<br />
2007. ISBN 978-3-257-06607-4. 206 S. 18,90 €.<br />
Allfälliges<br />
Seminare<br />
3. — 5. Oktober<br />
2008<br />
Abenteuer Schreiben im Kunstzentrum Bosener Mühle<br />
Ein Intensivseminar im Textcoaching mit Rüdiger Heins<br />
Kommt Ihnen das bekannt vor? Sie haben eine gute<br />
I<strong>de</strong>e für eine Geschichte, aber <strong>de</strong>r Text fließt nicht aus<br />
Ihnen heraus.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 44
ab 30. Oktober<br />
2008<br />
Diese permanente Anspannung überträgt sich auch auf<br />
Ihre Lebensqualität; <strong>de</strong>nn Kreativität möchte sich entfalten<br />
können. Die Frage ist nur: „Wie kann ich lernen,<br />
meine Kreativität im Schreiben ins Fließen zu bringen?<br />
Und: Wie funktioniert das Schreiben von Gedichten,<br />
Kurzgeschichten und an<strong>de</strong>ren Texten?“<br />
Spätestens das ist <strong>de</strong>r Zeitpunkt für ein Textcoaching:<br />
Sie brauchen jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Ihnen von außen auf die<br />
Sprünge hilft, damit Ihr Selbstmanagement in Bewegung<br />
kommt.<br />
In <strong>de</strong>m Intensivseminar Abenteuer Schreiben wer<strong>de</strong>n<br />
Sie auf die Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> eines Autorendaseins aufmerksam<br />
gemacht, um Ihnen im Alltag gut vorbereitet<br />
begegnen zu können. Im Textcoaching wer<strong>de</strong>n Sie mit<br />
<strong>de</strong>m Selbstmanagement vertraut gemacht und <strong>de</strong>r<br />
Organisation Ihres Schreiballtags.<br />
Mit unterschiedlichen Bausteinen <strong>de</strong>s literarischen<br />
Schreibens und <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s „Creative Writing<br />
wer<strong>de</strong>n die Seminarteilnehmer in <strong>de</strong> Realisation eines<br />
geplanten Schreibprojektes eingeführt. Der Seminarleiter,<br />
selbst erfahrener Buchautor, gibt in diesem Seminar<br />
auch einen Einblick in seine Textarbeit.<br />
Für dieses Seminar ist keine Vorkenntnis nötig. Die<br />
Inhalte sind für Anfänger und Fortgeschrittene geeignet.<br />
Teilnehmerbegrenzung: 12 Personen<br />
Ort: Kunstzentrum Bosener Mühle<br />
Telefon: +49 (68 52) – 74 74<br />
Studium Creative Writing am Inkas Institut<br />
Son<strong>de</strong>rtermin:<br />
30. Oktober 20:00 Uhr Besuch eines literarischen<br />
Vortrags im Ida Dehmel Saal in Bingen.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 45
Reguläre Studientermine:<br />
31. Oktober bis 01. November 2008<br />
21. bis 22. November 2008<br />
19. bis 20. Dezember 2008<br />
30. bis 31. Januar 2009<br />
27. bis 28. Februar 2009<br />
27. bis 28. März 2009<br />
Beginn <strong>de</strong>s Sommersemesters:<br />
24. bis 25. April: Beginn <strong>de</strong>s Sommersemesters 2009<br />
Ablauf:<br />
Freitag 18:00 bis 20:00 Uhr Themenabend<br />
Der Samstag beginnt um 10:00 Uhr mit einem Schreiblabor,<br />
in <strong>de</strong>m Übungen aus <strong>de</strong>m Creative Writing als<br />
Warming Up einstudiert wer<strong>de</strong>n. Das Schreiblabor ist<br />
verpflichtend und eine Möglichkeit zum Erwerb eines<br />
Leistungsnachweises.<br />
Ab 14:00 Uhr beginnt <strong>de</strong>r Studientag (und en<strong>de</strong>t um<br />
18:00 Uhr) mit literaturtheoretischen Erkenntnissen<br />
(Lyrik und Prosa), die auch schreibend umgesetzt wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Institutsräume in Bad Kreuznach befin<strong>de</strong>n sich in<br />
<strong>de</strong>r Magister-Faust-Gasse 37 und in <strong>de</strong>r Bahnhofstraße<br />
26 (Bildungszentrum St. Hil<strong>de</strong>gard). In Bingen in <strong>de</strong>r<br />
Mainzer Str. 25 (Stift St. Martin).<br />
Die Studientermine fin<strong>de</strong>n grundsätzlich im Bildungszentrum<br />
St. Hil<strong>de</strong>gard statt, während Lektoratsgespräche<br />
und Projektgruppen im INKAS Institut (Magister-<br />
Faust-Gasse) durchgeführt wer<strong>de</strong>n.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 46
Rundfunk<br />
26. <strong>August</strong> 2008 15.00 — 17.00 Uhr, Radio Rheinwelle<br />
eXperimenta im Radio<br />
Die Radiosendung für Kreatives Schreiben bei Radio<br />
Rheinwelle<br />
Thema: Mo<strong>de</strong>rne Lyrik Teil 3<br />
Mo<strong>de</strong>ration und Sen<strong>de</strong>leitung: Rüdiger Heins<br />
Hörspiel<br />
30. <strong>August</strong> 2008 15.15 Uhr, Bayern 2<br />
Tankred Dorst/Ursula Ehlers: Auf <strong>de</strong>m Chimborazo<br />
Zum Jubiläum ihres Hochzeitstages besteigt die resolute<br />
ältere Dorothea zusammen mit ihren Söhnen Heinrich<br />
und Tilmann einen Berg nahe <strong>de</strong>r Grenze zur<br />
DDR. Mit von <strong>de</strong>r Partie ist auch ihre langjährige<br />
Freundin Klara. Dorothea schwärmt von einer erlebnisreichen<br />
Vergangenheit und ihren wohlgeratenen Söhnen.<br />
Außer Klara scheinen alle erfolgreich zu sein.<br />
Dann brechen Konflikte auf und die erlogene Fassa<strong>de</strong><br />
gerät ins Wanken. Es bleibt Verbitterung, Mittelmäßigkeit<br />
und die Unfähigkeit, das Leben zu bewältigen.<br />
Regie: Ulrich Gerhardt<br />
31. <strong>August</strong> 2008 18.20 Uhr, SWR2<br />
Per Olov Enquist: Gestürzter Engel<br />
„Man soll nicht versuchen, Liebe zu erklären. Aber<br />
wenn man es nicht versuchte, wo stün<strong>de</strong>n wir dann?“<br />
Ein Mann erinnert sich, träumt und erzählt. Nicht vom<br />
Durchschnittsfall. Die radikale Wahrheit <strong>de</strong>r Liebe<br />
erfüllt sich für ihn in einem Skandal, <strong>de</strong>r nur mit Verständnis<br />
nicht gut zu erklären ist.<br />
Regie: Norbert Schaeffer<br />
Produktion: SWR 1998<br />
11. <strong>September</strong> 2008 23.04 Uhr, SR 2<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 47
Kurt Vonnegut: Am einen En<strong>de</strong> ein Feuer und am an<strong>de</strong>ren<br />
En<strong>de</strong> ein Narr<br />
Das experimentierfreudige Hörspiel verknüpft absur<strong>de</strong><br />
kleine Geschichten mit betrachten<strong>de</strong>n Passagen aus<br />
„Mann ohne Land“, in <strong>de</strong>nen es um Politik geht, aber<br />
auch um die Tabakindustrie, Zivilisationskritik und<br />
Literatur. Vonneguts Betrachtungen wirken meinungsfreudig<br />
und witzig, manchmal weise, sein Witz funktioniert,<br />
wie von ihm gewohnt, als Ventil <strong>de</strong>r Verzweiflung.<br />
Bearbeitung und Regie: Martin Schütz und Markus<br />
Wolf<br />
Produktion: DRS 2007<br />
12. <strong>September</strong> 2008 22.03 Uhr, SWR2<br />
Frie<strong>de</strong>rike Mayröcker: Gärten, Schnäbel, ein Mirakel,<br />
ein Monolog, ein Hörspiel<br />
„Schlafe auf Nervenkitzel“, sagt die Dichterin, „ganz<br />
dünner durchsichtiger durchlöcherter Schlaf“. – „Mein<br />
Gang ist unsicher, ich wer<strong>de</strong> schwächer ... es ist zu<br />
spät, <strong>de</strong>r Sommer verhaucht.“ – „Ich habe keine Inspiration,<br />
sage ich zu meinem Arzt.“ Doch die Ärztin<br />
tröstet. „Schreiben“, sagt sie, „wer<strong>de</strong>n Sie länger<br />
können als lesen.“ In ihrem jüngsten Hörspiel flaniert<br />
Frie<strong>de</strong>rike Mayröcker durch einen Park poetischer<br />
Assoziationen. Selbstverständlich taucht auch ER immer<br />
wie<strong>de</strong>r auf, Ernst Jandl, <strong>de</strong>r Begleiter durch Jahrzehnte.<br />
Klaus Schöning, als Regisseur ebenfalls ein langjähriger<br />
Partner <strong>de</strong>r Dichterin, hat Frie<strong>de</strong>rike Mayröckers<br />
Monolog arrangiert und mit Musik von John Dowland<br />
zu einem Stück berühren<strong>de</strong>r Radiokunst verwoben.<br />
Regie: Klaus Schöning<br />
Produktion: ORF/SWR 2008 - Ursendung<br />
19. <strong>September</strong> 2008 22.03 Uhr, SWR2<br />
Almut Tina Schmidt: Die Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Metronoms<br />
Wolf hält einen Traum nach <strong>de</strong>m Erwachen weiterhin<br />
für Wirklichkeit und gerät über sein ungeordnetes<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 48
Bewusstsein ins Straucheln. Er stürzt zurück in sein<br />
Kindheitstrauma: Die von ihm gefürchtete Klavierlehrerin<br />
steht ihm wie<strong>de</strong>r leibhaftig gegenüber – und hat<br />
nichts von ihrem Schrecken verloren. Er ist wie<strong>de</strong>r<br />
gefangen in <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Fingerübungen und Konkurrenzkämpfe<br />
mit Zahnspangen tragen<strong>de</strong>n Streberschülern.<br />
Alles ist, wie es war – nur noch viel bizarrer. Was<br />
ist die Zeit? Metronom und Uhr ticken um die Wette<br />
und lassen Wolf alleine mit <strong>de</strong>r Unausweichlichkeit<br />
seines Albtraums.<br />
Regie: Susanne Krings<br />
Produktion: WDR 2006<br />
20. <strong>September</strong> 2008 15.15 Uhr, Bayern 2<br />
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften<br />
Ein Romanprojekt und Schreibexperiment, das seinen<br />
Autor 20 Jahre vollkommen beanspruchte und bis zum<br />
En<strong>de</strong> seines Lebens 1942 nicht losließ. Das Werk blieb<br />
unvollen<strong>de</strong>t. Zu Lebzeiten wur<strong>de</strong>n bereits 1600 Seiten<br />
veröffentlicht, im Nachlass fan<strong>de</strong>n sich weitere 6000<br />
Manuskriptseiten. Es gilt als Werk, das an literarischer<br />
Brillanz, an sprachlicher Präzision, I<strong>de</strong>enfülle und<br />
I<strong>de</strong>ntifikationspotential kaum zu überbieten ist. Noch<br />
heute polarisiert <strong>de</strong>r unvollen<strong>de</strong>te Roman die Kritiker.<br />
Regie: Klaus Buhlert<br />
Produktion: BR 2004, Remix erster und zweiter Teil<br />
(von 20 insgesamt)<br />
25. <strong>September</strong> 2008 20.04 Uhr, SR2<br />
Henning Mankell: Begegnung am Nachmittag<br />
Ein älteres Ehepaar re<strong>de</strong>t nach vielen Jahren das erste<br />
Mal wie<strong>de</strong>r miteinan<strong>de</strong>r. Seit fast 60 Jahren sind sie<br />
verheiratet, seit 24 Jahren leben sie getrennt. Sie<br />
möchte jetzt einen klaren Schlussstrich ziehen. Die<br />
Scheidungspapiere hat sie bereits vorbereitet, doch er<br />
weigert sich, diese zu unterzeichnen – schließlich liebe<br />
er sie nach wie vor. Im Streit kommen allerhand Themen<br />
auf <strong>de</strong>n Tisch. Schließlich macht sie ihm ein Geständnis.<br />
Ein ehrliches und glaubwürdiges Stück, zu-<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Der Wegweiser Seite 49
Die Redaktion<br />
Neuer Redakteur<br />
weilen bissig und zynisch, aber stets amüsant.<br />
Besetzung: Nadja Tiller und Walter Giller<br />
Regie: Rainer Clute<br />
Produktion: DLR/RB/SR 2008<br />
Edgar Helmut Neumann, Jahrgang 1947, arbeitet<br />
journalistisch seit 1964, fast drei Jahrzehnte als<br />
Tageszeitungsredakteur unter an<strong>de</strong>rem bei <strong>de</strong>r<br />
Main-Post in Würzburg sowie beim Darmstädter<br />
Echo. Heute ist er ehrenamtlich „Dorfschreiber“ in<br />
Felsberg und Vorsitzen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Künstlergruppe<br />
Bisttal. Dort mo<strong>de</strong>riert er nebenher eine Experimentelle<br />
Schreibwerkstatt. Er selbst verbin<strong>de</strong>t malen und<br />
schreiben zu Symbiosen von Farben und Worten.<br />
(tr) Diese Nummer <strong>de</strong>r eXperimenta war die erste, die in einem Redaktionsteam<br />
erstellt wur<strong>de</strong>. Ich danke Frau Auler und Herrn Neumann ganz herzlich<br />
für die intensive, ernsthafte und ergebnisorientierte Zusammenarbeit.<br />
Impressum<br />
Redaktionsanschrift: INKAS – Institut für Kreatives Schreiben im Netzwerk für<br />
alternative Medien und Kulturarbeit e.V., Magister-Faust-Gasse 37, D-55545<br />
Bad Kreuznach und Dr.-Sieglitz-Straße 49, D-55411 Bingen, Telefon & Fax<br />
+49 (6721) 92 1060, E-Mail: Info@Inkas-Id.De<br />
Herausgeber: Rüdiger Heins (rh)<br />
Redaktion: Ellen Auler (ea), Edgar Helmut Neumann (ehn), Toni Reitz – Schriftleitung<br />
(tr)<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Redaktion Seite 50
Korrespon<strong>de</strong>nten: Carla Capellmann – Television (cc), Anne Mai – Hörspiel<br />
(am), Caroline Rezazada – Marginalien (cr), Carmen Weber – Graphik und<br />
Bild (cw).<br />
Herstellung: Toni Reitz<br />
Auflage: 2.723<br />
Einsendungen: Literarische Beiträge bitte mit Bild und Kurzvita an<br />
Dr.Toni.Reitz@T-Online.De. Für eingesandte Beiträge kann keine Haftung übernommen<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Rechte an namentlich gekennzeichneten Beiträgen liegen beim jeweiligen<br />
Autor. Alle sonstigen Rechte liegen beim Institut für Kreatives Schreiben Bad<br />
Kreuznach und Bingen und bei ID Netzwerk für alternative Medien- und Kulturarbeit<br />
e.V.<br />
© ID Netzwerk für alternative Medien- und Kulturarbeit e.V.<br />
ISSN 1865-5661, URN: urn:nbn:<strong>de</strong>:0131-experimenta3<br />
Sollte gegen gelten<strong>de</strong>s Urheberrecht verstoßen wor<strong>de</strong>n sein, bitten wir um<br />
umgehen<strong>de</strong> Benachrichtigung.<br />
Bil<strong>de</strong>r: Seite 1 Editorial © Frie<strong>de</strong>rike Zabel 2008. Seite 12 Illustration aus<br />
TIME public domain. Seite 33 Van Gogh: Sternennacht urheberrechtsfrei. Seite<br />
35 Programm <strong>de</strong>r Lesung © Toni Reitz 2008 unter Verwendung einer Fotographie<br />
von Christine Seiler, © 2006. Nicht namentlich gekennzeichnete Bil<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r Autoren und Redakteure wur<strong>de</strong>n von ihnen selbst zur Verfügung gestellt.<br />
In <strong>de</strong>r Rechtschreibung folgen wir jeweils <strong>de</strong>n Gepflogenheiten <strong>de</strong>s Autors.<br />
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Redaktion Seite 51