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Rechtsvereinheitlichung trotz Rechtsbindung? - examinatorium.de

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<strong>Rechtsvereinheitlichung</strong> <strong>trotz</strong> <strong>Rechtsbindung</strong>?<br />

Durch eine Analyse <strong>de</strong>r Reichsgerichtsrechtsprechung auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>s bÄrgerlichen<br />

Rechts aus <strong>de</strong>n Jahren 1879 bis 1909 und ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />

Wechselwirkungen soll ein Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r „Integration durch Rechtsprechung“ erarbeitet wer-<br />

<strong>de</strong>n.<br />

Die EuropÄische Union besteht aus 25 Mitgliedsstaaten mit 25 unterschiedlichen Zivilrechts-<br />

ordnungen. Deren Inhalt wird zwar durch europÄische Verordnungen und Richtlinien beein-<br />

fluÅt, in StreitfÄllen wen<strong>de</strong>n jedoch nationale Gerichte nationale wie europÄisch geprÄgte<br />

Rechtsnormen an. In <strong>de</strong>n einzelnen MitgliedslÄn<strong>de</strong>rn bestehen jedoch ganz unterschiedliche<br />

Rechtskulturen, wer<strong>de</strong>n Juristen auf unterschiedliche Weise ausgebil<strong>de</strong>t und Richter auf ver-<br />

schie<strong>de</strong>nen Wegen rekrutiert. Europa zerfÄllt seit Schaffung <strong>de</strong>r groÅen nationalen Kodifika-<br />

tionen gleichsam in drei Zivilrechtskreise: Den angelsÄchsischen, <strong>de</strong>n romanischen und <strong>de</strong>n<br />

auch nach Osteuropa ausstrahlen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Rechtskreis. Dementsprechend unter-<br />

schiedlich gestaltet sich oftmals die LÇsung i<strong>de</strong>ntischer EinzelfÄlle. Der EuropÄische Ge-<br />

richtshof (EuGH), <strong>de</strong>m diese Aufgabe zugewiesen ist, ist bislang kaum in <strong>de</strong>r Lage, integrie-<br />

rend zu wirken. Er verfÉgt nicht Éber ausreichen<strong>de</strong> Ressourcen und mitgliedsstaatliche Ge-<br />

richte kommen ihrer Pflicht zur Vorlage von Rechtsfragen zum EuGH nicht genÉgend nach.<br />

Die Schaffung einer europÄischen Rechtseinheit und die (Wie<strong>de</strong>r-) Herstellung einer ge-<br />

samteuropÄischen Rechtskultur Éber europÄische National- und Kulturgrenzen hinaus kann<br />

vom EuGH <strong>de</strong>shalb nicht im wÉnschenswertem MaÅe vorangetrieben wer<strong>de</strong>n. FÉr die Legi-<br />

timation und Durchsetzung europÄischen Rechts ist jedoch genauso wie fÉr die Schaffung<br />

europÄischen Rechts eine funktionieren<strong>de</strong> europÄische Zivilrechtspflege ohne Alternative,<br />

solange die EU kein einheitliches europÄisches Zivilrecht schaffen kann.<br />

Was hat all das mit <strong>de</strong>m Reichsgericht und seiner Rechsprechung in <strong>de</strong>n ersten dreiÅig Jah-<br />

ren seines Bestehens zu tun? Im 1871 gegrÉn<strong>de</strong>ten <strong>de</strong>utschen Reich bestan<strong>de</strong>n vergleich-<br />

bare Probleme. Durch eine Betrachtung <strong>de</strong>r reichsgerichtlichen Rechtsprechung und ihres<br />

wirtschaftlichen und kulturellen Kontexts lÄÅt sich ein Mo<strong>de</strong>ll integrieren<strong>de</strong>r Wirkung <strong>de</strong>r<br />

Rechsprechung herausarbeiten. Seit 1879 bestand nÄmlich mit <strong>de</strong>m Reichsgericht ein ober-<br />

stes Zivilgericht im Deutschen Reich, wÄhrend die Rechtspflege und Juristenausbildung –<br />

wie Ébrigens bis heute – LÄn<strong>de</strong>rsache waren. Aufgabe <strong>de</strong>s Reichsgerichts sollte es unter<br />

an<strong>de</strong>rem sein, die Einheitlichkeit <strong>de</strong>r Rechtsprechung auf <strong>de</strong>m gesamten Reichsgebiet si-<br />

cherzustellen. Mit <strong>de</strong>r Einrichtung eines obersten Reichsgerichts korrespondierte jedoch kein<br />

reichseinheitliches Zivilrecht. Dieses trat erst mit <strong>de</strong>m bis heute gelten<strong>de</strong>n BÉrgerlichen Ge-<br />

setzbuch am 1. Januar 1900 in Kraft. Das Reich hatte nach <strong>de</strong>r Verfassung von 1871 zu-<br />

nÄchst nicht einmal die Kompetenz fÉr eine einheitliche, umfassen<strong>de</strong> Zivilgesetzgebung, die


Ébrigens <strong>de</strong>r EU ebenfalls noch nicht vollumfÄnglich zusteht. Erst 1873 wur<strong>de</strong> diese Kompe-<br />

tenz durch ein verfassungsÄn<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>s Gesetz, das vor allem auf Betreiben nationalliberaler<br />

Abgeordneter entstan<strong>de</strong>n ist, hergestellt. Zuvor galten im Deutschen Reich unzÄhlige Zivil-<br />

rechtsordnungen und -teilordnungen, die unterschiedlich alt und von ganz unterschiedlichen<br />

geistesgeschichtlichen HintergrÉn<strong>de</strong>n geprÄgt waren, siehe dazu Diethelm Klippel (Hrsg.),<br />

Deutsche Rechts- und Gerichtskarte – Eine Einteilung <strong>de</strong>s Deutschen Reichs nach Gebieten<br />

<strong>de</strong>s bÉrgerlichen Rechts und nach umfassen<strong>de</strong>n Gerichtsbezirken, 1896/1996. Bis in die<br />

ersten Jahre <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts waren diese verschie<strong>de</strong>nen Zivilrechtsordnungen Grund-<br />

lage <strong>de</strong>r reichsgerichtlichen Rechtsprechung.<br />

Welche Rolle spielte die reichseinheitliche Zivilgerichtsbarkeit nun bei <strong>de</strong>r Herstellung einer<br />

Rechtseinheit und also bei <strong>de</strong>r Integration <strong>de</strong>r Einzelstaaten in das neu entstan<strong>de</strong>ne Reich?<br />

Leistete die Rechtsprechung Vorarbeiten zu einem reichseinheitlichen Zivilrecht? O<strong>de</strong>r fand<br />

eine <strong>de</strong>rartige Entwicklung gera<strong>de</strong> nicht statt, weil bun<strong>de</strong>sstaatliche Unterschie<strong>de</strong> respek-<br />

tiert o<strong>de</strong>r gar betont wur<strong>de</strong>n? Be<strong>de</strong>utete Integration also Vereinheitlichung <strong>de</strong>r Ergebnisse<br />

o<strong>de</strong>r vielmehr gera<strong>de</strong> Achtung <strong>de</strong>r – etwa konfessionell o<strong>de</strong>r traditionell bedingten – Unter-<br />

schie<strong>de</strong>? LÄÅt sich mÇglicherweise ein IntegrationsprozeÅ durch die Entwicklung einer<br />

reichseinheitlichen juristischen Metho<strong>de</strong> beobachten, die von <strong>de</strong>n in ihren HerkunftslÄn<strong>de</strong>rn<br />

unterschiedlich ausgebil<strong>de</strong>ten und geprÄgten ReichsgerichtsrÄten entwickelt wur<strong>de</strong>? An wel-<br />

chen Punkten verlÄÅt das Reichsgericht die von Rechtsdogmatik und gerichtlicher Bindung<br />

an das Gesetz vorgegebenen Linien, um einen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung o<strong>de</strong>r<br />

kulturellen Einheit <strong>de</strong>s Reichs zu leisten? Und wie wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rartige Abweichungen begrÉn-<br />

<strong>de</strong>t? Wur<strong>de</strong>n also auch in <strong>de</strong>r Rechtsprechung <strong>de</strong>s spÄten 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts – und nicht nur<br />

im BÉrgerlichen Gesetzbuch – die FrÉchte <strong>de</strong>r blÉhen<strong>de</strong>n, von Savigny begrÉn<strong>de</strong>ten, <strong>de</strong>ut-<br />

schen Rechtswissenschaft <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts geerntet? Wur<strong>de</strong> die Frage einer integrie-<br />

ren<strong>de</strong>n Funktion <strong>de</strong>r Rechtsprechung auch theoretisch thematisiert und von wem?<br />

Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunÄchst eine juristische Analyse <strong>de</strong>r reichsgerichtlichen<br />

Rechtsprechung erfor<strong>de</strong>rlich. Diese Rechtsprechung wie<strong>de</strong>rum ist an <strong>de</strong>r Rechtsprechung<br />

und gÄngigen Lehrmeinung <strong>de</strong>r Einzelstaaten vor 1879 zu messen, damit mÇgliche Unter-<br />

schie<strong>de</strong> festgestellt wer<strong>de</strong>n kÇnnen. Ein <strong>de</strong>rartiger Vergleich ist in verschie<strong>de</strong>nen Sachgebie-<br />

ten fÉr alle vom Reichgericht angewen<strong>de</strong>ten Partikulargesetze vorzunehmen. AuÅer<strong>de</strong>m ist<br />

die Bewertung <strong>de</strong>r reichsgerichtlichen Judikatur in <strong>de</strong>r zeitgenÇssischen, nicht nur juristi-<br />

schen Literatur mit einzubeziehen. Das be<strong>de</strong>utete jedoch gera<strong>de</strong> nicht, daÅ die Reichsge-<br />

richtsrechtsprechung dogmatisch o<strong>de</strong>r dogmengeschichtlich zu analysieren wÄre. Juristische<br />

Kenntnisse und Arbeitsmetho<strong>de</strong> sind zwar unerlÄÅlich, um die Öberschreitung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />

Reichsgericht eigentlich gesetzten Grenzen durch die ReichsgerichtsrÄte sicher ermitteln zu<br />

kÇnnen. Von Interesse sind aber gera<strong>de</strong> die auf diese Weise feststellbaren nichtjuristischen,<br />

also wirtschaftlichen und kulturellen EinflÉsse auf die Rechtsprechung und umgekehrt <strong>de</strong>ren<br />

EinfluÅ auf die Lebenswirklichkeit im Reich.


Zur Untersuchung eigenen sich zum einen Gebiete, die stark religiÇs o<strong>de</strong>r weltanschaulich<br />

geprÄgt sind, etwa das Familienrecht; hier dÉrfte beispielsweise <strong>de</strong>r Umgang <strong>de</strong>s Reichsge-<br />

richts mit <strong>de</strong>n Rechten unehelicher Kin<strong>de</strong>r interessante RÉckschlÉsse zulassen. Noch span-<br />

nen<strong>de</strong>r sind Untersuchungen auf Gebieten, die fÉr die wirtschaftliche Entwicklung <strong>de</strong>s Reichs<br />

eine wichtige Rolle spielten, etwa das Kreditsicherungsrecht. Hier interessiert etwa die Si-<br />

cherungsÉbereignung von Mobilien. Nach vielen <strong>de</strong>utschen Lan<strong>de</strong>sgesetzen konnten beweg-<br />

liche GegenstÄn<strong>de</strong> lediglich verpfÄn<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, es war also eine Öbergabe an <strong>de</strong>n Kreditge-<br />

ber erfor<strong>de</strong>rlich. Dieser Umstand machte eine Verwendung wertvoller, aber fÉr Produktions-<br />

prozesse unverzichtbarer Maschinen o<strong>de</strong>r WarenbestÄn<strong>de</strong> als Kreditsicherheit unmÇglich;<br />

wer keine Immobilien besaÅ, war <strong>de</strong>shalb vom Kredit weitgehend ausgeschlossen. In <strong>de</strong>n<br />

letzten Jahrzehnten <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts suchte die Rechtspraxis <strong>de</strong>shalb UmgehungsmÇg-<br />

lichkeiten, mit <strong>de</strong>nen sich die Rechtsprechung konfrontiert sah.

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