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zwanzig und ein jahr, doch kein bisschen leise - Ernst-Reuter ...

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ZWANZIG UND EIN JAHR, DOCH KEIN BISSCHEN LEISE<br />

Kl<strong>ein</strong>er Versuch zur Geschichte der ERS 1 als Oberstufenschule<br />

Bernd Mader<br />

Jahrbuch 2010<br />

1989. War da was? Ja natürlich. Und im letzten Oktober wurde das ausgiebig gefeiert.<br />

Die Berliner Mauer fiel, der ganze Ostblock brach zusammen. Die Chronik des<br />

Jahrs 1989 verzeichnet noch viele schwerwiegende Ereignisse – <strong>und</strong> die Medien waren<br />

voll davon. Da fiel es in der breiten Öffentlichkeit gar nicht weiter auf, dass am<br />

Schul<strong>jahr</strong>esbeginn 1989 für die <strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1 <strong>ein</strong>e neue Ära begann. Aus<br />

der Gesamtschule von Klasse 5 bis 13 wurde <strong>ein</strong> Oberstufengymnasium. Doch, der<br />

Start verlief ziemlich ruhig. Ganz anders war die Stimmung sechs Jahre vorher. Da<br />

entschied der damalige Kultusminister im Einvernehmen mit dem Magistrat der Stadt<br />

Frankfurt das Auslaufen der ERS 1 als Gesamtschule <strong>und</strong> die allmähliche Umorganisation<br />

zur Oberstufenschule. Die Betroffenen – Schüler, Eltern, Lehrer – waren in der<br />

Mehrzahl traurig, geschockt, empört. Die Welle des Protests über den „Tod <strong>ein</strong>es der<br />

ältesten Reformprojekte“ der deutschen Schulpolitik schwappte über Stadt <strong>und</strong> Land<br />

<strong>und</strong> ließ die Medien rauschen. Tatsache war freilich: Zu Beginn des Schul<strong>jahr</strong>s<br />

1983/84 gab es für die 5. Klasse ungefähr 60 Anmeldungen - “normal“ waren vorher<br />

ungefähr 200 Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler pro Jahrgang - k<strong>ein</strong>e sinnvolle Gr<strong>und</strong>lage für<br />

<strong>ein</strong>e integrierte Gesamtschule mit <strong>ein</strong>em breiten <strong>und</strong> differenziertem Angebot. Eine<br />

solche Schule gab es übrigens gleich nebenan: die ERS II.<br />

Die Aufbauphase<br />

Ja, da standen wir nun, im Herbst 1989. Vor uns die Aufgabe, mit den Schülern, Eltern<br />

<strong>und</strong> Lehrern, die noch da waren, <strong>ein</strong>e neue Schule zu gestalten – in den alten<br />

Mauern <strong>und</strong> mit den Erfahrungen der Vergangenheit. Wie sollte das gehen? Ging alles<br />

weiter wie bisher – in der vertrauten Umgebung – oder musste alles neu <strong>und</strong> anders<br />

gemacht werden? Wie konnte sich die ERS 1, durch die Vorgeschichte geschwächt,<br />

als Oberstufengymnasium in der Frankfurter Schullandschaft behaupten,<br />

in der bereits ungefähr <strong>zwanzig</strong> traditionsreiche Gymnasien blühten, die fast alle <strong>ein</strong>e<br />

<strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1 Seite 29


Jahrbuch 2010<br />

Oberstufe hatten (<strong>und</strong> dann war da auch noch die Max-Beckmann-Schule, die in <strong>ein</strong>em<br />

prächtig renovierten Gebäude in zentraler Lage als Oberstufengymnasium residierte)?<br />

70 Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler in Klasse 11 waren <strong>ein</strong> Anfang, aber auf Dauer zu wenig<br />

für <strong>ein</strong>e attraktive Oberstufe. Da musste <strong>ein</strong>iges getan werden! Dass die Erfahrungen<br />

der Vergangenheit nicht zu verachten sind, sondern Hoffnungen für die Zukunft<br />

enthalten, wurde bei der Jubiläums-Festwoche im November 1989 sichtbar. Die<br />

ERS 1 <strong>und</strong> die ERS II feierten „<strong>Reuter</strong>s jubeln – <strong>ein</strong> Viertel Jahrh<strong>und</strong>ert…<strong>und</strong> das ist<br />

erst der Anfang“. Dieses Jubiläum demonstrierte Freude <strong>und</strong> Zuversicht. Fünf Jahre<br />

vorher war der 20. Geburtstag der <strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule(n) übergangen worden. Aus<br />

dem Kollegium war damals zu hören, es gebe nichts zu feiern. Die Jubiläumsfeier<br />

1989 gipfelte in <strong>ein</strong>em Fest mit den gegenwärtigen <strong>und</strong> den ehemaligen Schülern<br />

<strong>und</strong> Lehrern. Man konnte in der Aula vor Menschen nicht treten, <strong>und</strong> das Bühnenprogramm<br />

ging unter im Lärm der fröhlichen Gespräche. Es wurde klar: beide Schulen<br />

hatten <strong>ein</strong>e gem<strong>ein</strong>same Geschichte, beide Schulen waren auf<strong>ein</strong>ander angewiesen.<br />

Und das galt auch für die Zukunft. Die Zusammenarbeit beider Schulen sicherte<br />

der ERS 1 jedenfalls bis heute <strong>ein</strong>en soliden Gr<strong>und</strong>stock von Schülern, <strong>und</strong><br />

die ERS II konnte damit werben, dass sie <strong>ein</strong>e Oberstufe hatte – sozusagen im eigenen<br />

Haus.<br />

Das Kollegium machte sich also daran, die Schule so zu gestalten, dass 10.-Klässler<br />

aus ganz Frankfurt genügend Gründe finden konnten, sich hier – draußen in der<br />

Nordweststadt - anzumelden. Daran arbeiteten<br />

wir unermüdlich, <strong>und</strong> die Schülerzahlen<br />

stiegen stetig wieder an. Otfried<br />

Galm, Schulleiter bis 1996, wurde<br />

nicht müde, die Leistungen der Schule in<br />

der Öffentlichkeit zu verbreiten <strong>und</strong> an<br />

<strong>ein</strong>drucksvollen Graphiken den Anstieg<br />

der Schülerzahlen zu demonstrieren. Im<br />

Schul<strong>jahr</strong> 1992/93 war der Elternbeirat<br />

energisch der M<strong>ein</strong>ung, die großartige Arbeit der ERS 1 müsse der etwas ignoranten<br />

Seite 30 <strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1


Jahrbuch 2010<br />

Öffentlichkeit viel prägnanter vorgestellt werden. Das war die Geburtsst<strong>und</strong>e unter<br />

anderem <strong>ein</strong>er feierlichen öffentlichen Abiturfeier <strong>und</strong> des Jahrbuchs.<br />

Nun sind seit dem Start der ERS1 als Oberstufenschule über 20 Jahre vergangen.<br />

Ich m<strong>ein</strong>e: es war <strong>ein</strong>e Erfolgsgeschichte.<br />

Profilierung<br />

Die ersten Jahre brauchten wir, um das Profil unserer Schule zu schärfen. Die sich<br />

häufig ändernden gesetzlichen Regeln lieferten dazu schöne, unsere planerische<br />

Kreativität herausfordernde Vorlagen. Wir haben am „Markenkern“ der ERS 1 festgehalten,<br />

das Kurssystem mit festen Lerngruppen zu organisieren. Es gelang, mit <strong>ein</strong>er<br />

pfiffig ausgedachten Konstruktion stabile Klassen zu bilden <strong>und</strong> <strong>ein</strong> breites Angebot<br />

an Kursen, besonders an Leistungsfächern, auf die B<strong>ein</strong>e zu stellen. Wir<br />

kämpften immer wieder darum, dass auch kl<strong>ein</strong>e Leistungskurse, z. B. in Chemie<br />

oder Französisch zustande kamen, wir erreichten später, dass Kunst <strong>und</strong> Informatik<br />

als Leistungsfächer <strong>ein</strong>geführt wurden. Auch Italienisch, Spanisch <strong>und</strong> Lat<strong>ein</strong> konnten<br />

gelernt werden.<br />

<strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1 Seite 31


Jahrbuch 2010<br />

Ein besonderes Highlight entwickelte sich ab 1991, nachdem die Stadt den glorreichen<br />

Entschluss gefasst hatte, <strong>ein</strong> Schultheater-Studio in der ERS zu etablieren. Aus<br />

kl<strong>ein</strong>en Anfängen <strong>und</strong> beengten Arbeitsbedingungen entwickelten<br />

Joachim Reiss <strong>und</strong> s<strong>ein</strong>e wachsende Mitarbeiterschar<br />

<strong>ein</strong> blühendes Unternehmen, das das Schultheater<br />

nicht nur in Frankfurt, sondern im Lande Hessen <strong>und</strong><br />

darüber hinaus in Schwung brachte. In der ERS 1 wurde<br />

<strong>ein</strong> neues Fach <strong>ein</strong>geführt, das die Schülerinnen <strong>und</strong><br />

Schüler mit Begeisterung annahmen: Darstellendes Spiel.<br />

Theater als Unterrichtsfach, als regelmäßiges kulturelles Ereignis, als Herausforderung<br />

an die Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer, sich für dieses Fach zu qualifizieren. Eine Herausforderung<br />

auch für die traditionellen künstlerischen Fächer Kunst <strong>und</strong> Musik, in<br />

der Konkurrenz mit dem neuen Fach zu bestehen. Die betroffenen FachlehrerInnen<br />

haben das schlau gemacht, indem sie ihre Disziplinen als „Ästhetische Fächer“ zusammenschlossen<br />

<strong>und</strong> gem<strong>ein</strong>same Projekte ausheckten. Daraus erwuchsen mehrere<br />

Aufführungen, an denen Kunst, Musik <strong>und</strong> Darstellendes Spiel gem<strong>ein</strong>sam arbeiteten.<br />

Ein fulminanter Höhepunkt: der „Tanz auf dem Vulkan“ im Februar 1998.<br />

Die ganze Schule, die Pausenhallen, die Treppenhäuser, die Aula wurden zur Bühne<br />

von Theater, Musik <strong>und</strong> Kunstausstellung.<br />

Dass <strong>ein</strong> reichhaltiges Fächerangebot nicht alles ist, erfuhren die Mitglieder der<br />

Schulleitung hautnah, wenn sie sich an trüben Novemberabenden aufmachten zu<br />

den Informationsabenden an den Gesamt- <strong>und</strong> Realschulen, aus deren 10. Klassen<br />

die Kandidaten für die Oberstufe kamen. Da erschien dann auch die Konkurrenz <strong>und</strong><br />

breitete ihre gut bestückten <strong>und</strong> bunt geschmückten Marktstände aus. Supermarkt zu<br />

s<strong>ein</strong> reicht nicht, man muss auch <strong>ein</strong>ige f<strong>ein</strong>e Spezialitäten anzubieten haben.<br />

Das hieß für die ERS1: Wir müssen unsere Oberstufe so organisieren, dass unsere<br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler, die es häufig nicht in die Wiege gelegt bekamen, Abitur zu<br />

machen, möglichst wirkungsvoll dabei unterstützt wurden, sich für die Hochschulreife<br />

zu qualifizieren. Dazu hat das Kollegium <strong>ein</strong>e Reihe von guten Ideen entwickelt <strong>und</strong><br />

im Laufe der Jahre verf<strong>ein</strong>ert: die Einführungswoche, später dann Einführungstage<br />

zu Beginn der 11. Klasse, Kompensationskurse in den traditionellen Hauptfächern,<br />

Seite 32 <strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1


Jahrbuch 2010<br />

Abiturvorbereitungstage <strong>und</strong> – mit Schwerpunkt in Jahrgang 12 – die Berufsorientierung.<br />

Ein gutes Beispiel für erfolgreiche Entwicklungsarbeit. Berufsorientierung gehört von<br />

jeher zum Schulangebot für Abgangsklassen. Sie war also auch an der ERS 1 nichts<br />

völlig Neues. Es gab eigentlich schon immer individuelle<br />

Berufsberatung, allgem<strong>ein</strong>e Berufsorientierung<br />

durch Mitarbeiter des Arbeitsamts <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />

„Uni-Woche“ zur Information über Studiengänge <strong>und</strong><br />

Ausbildungswege. Dies war auf Dauer nicht genug.<br />

In Zeiten, in denen Arbeitsplätze knapper wurden,<br />

waren größere <strong>und</strong> genauere Vorbereitungen auf<br />

das Leben nach der Schule notwendig. Deshalb<br />

machte sich <strong>ein</strong>e Lehrergruppe um Dieter van Holst, Wolfgang Schmitt-Gauer, Elke<br />

Möbert <strong>und</strong> Judith Prager daran, die Berufsorientierung zu <strong>ein</strong>em Schwerpunkt auszubauen.<br />

Das begann im Februar 1997 mit <strong>ein</strong>em freiwilligen Betriebspraktikum für<br />

12.-Klässler, das parallel zur „Uni-Woche“ lief, <strong>und</strong> <strong>ein</strong>igen Veranstaltungen in der<br />

Schule. Daraus haben unsere Spezialisten im Laufe der Jahre <strong>ein</strong> breites <strong>und</strong> ausdifferenziertes<br />

Programm entwickelt, so wie es heute dasteht. Bereits in der 11. Klasse<br />

werden die Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler mit der Thematik konfrontiert In Klasse 12 bietet<br />

sich inzwischen <strong>ein</strong> breites Spektrum an Möglichkeiten an: Betriebspraktikum, Informationsbesuche<br />

in Betrieben <strong>und</strong> an der Uni, Bewerbungstraining, Eignungstests<br />

– <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e geniale Verbindung von Information über Berufspraxis <strong>und</strong> Kontakten mit<br />

Ehemaligen. Aus den Gesprächen auf <strong>ein</strong>em Ehemaligenfest erwuchs <strong>ein</strong>e Gruppe<br />

von <strong>ein</strong>stigen ERS-Schülern, die in den Berufsorientierungswochen leibhaft wieder in<br />

der Schule ersch<strong>ein</strong>en, um interessierten Schülern hautnah <strong>und</strong> handfest von ihren<br />

Erfahrungen zu erzählen – als Ärztin, als Richter, als Lehrerin, als Journalist oder als<br />

Event-Manager.<br />

Die Entwicklung der Berufsorientierung zum heutigen ausgereiften Stand ist nicht zu<br />

denken ohne den Einsatz aller Raffinessen der modernen Medien. Ohne elektronische<br />

Dateien <strong>und</strong> E-Mail wäre die Aktivierung der oft außerhalb von Frankfurt leben-<br />

<strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1 Seite 33


Jahrbuch 2010<br />

den Ehemaligen kaum zu realisieren. Was heute als normal ersch<strong>ein</strong>t, geht auf lange<br />

Jahre Pionierarbeit zurück. Jürgen <strong>und</strong> Peter Poloczek weiteten seit Mitte der 90er-<br />

Jahre den Computerraum auf die ganze Schule aus, <strong>und</strong> aus <strong>ein</strong>er Handvoll Computer-Freaks<br />

wurde die Top-Medienschule ERS 1. Davon<br />

ist zurecht schon manches Heldenlied gesungen worden<br />

– auf der Homepage hört man es klingen – das ich<br />

hier nicht wiederholen muss. 15 der 20 Jahre der ERS 1<br />

hat diese Arbeit jedenfalls die Schule bewegt <strong>und</strong> geprägt.<br />

Die ERS 1 war – insofern trifft das Wort von der Pionierarbeit zu – der allgem<strong>ein</strong>en<br />

Entwicklung zumeist <strong>ein</strong> <strong>bisschen</strong> voraus. Als <strong>ein</strong>e der ersten Schulen hatte<br />

sie <strong>ein</strong>e eigene Homepage. Im Jahr 2000 verlegte <strong>ein</strong>e Arbeitsgruppe in der ganzen<br />

Schule Kabel, damit in Lehrerzimmer, Bibliothek <strong>und</strong> in Unterrichtsräumen Internet-<br />

Zugänge geschaffen wurden. Kaum war das fertig, legte die Stadt Frankfurt los mit<br />

<strong>ein</strong>em Erneuerungsprogramm, das die Neuausstattung der Computerräume <strong>und</strong> die<br />

Verlegung von Glasfaserkabeln zur Komplett-Vernetzung der Schule umfasste. Die<br />

Schule mobilisierte viele Ideen <strong>und</strong> Arbeit in die Modernisierung der Verwaltung mit<br />

Hilfe der Computertechnik. Kaum lief dies alles <strong>ein</strong>igermaßen reibungslos, holte das<br />

Land Hessen aus zur großen EDV-Erneuerung der gesamten Landesverwaltung.<br />

Auch in der ERS 1 verbreitete sich danach die große LUSD.<br />

Das pädagogische Klima<br />

Im <strong>zwanzig</strong>sten Jahr ihrer Geschichte, also im Jahr<br />

2008, kam die Schulinspektion in die ERS 1 <strong>und</strong> durchleuchtete<br />

sie vom Keller bis unters Dach. Der Bericht<br />

der Inspektoren (jedermann kann ihn auf der Homepage<br />

nachlesen) hebt als <strong>ein</strong>e Stärke der Schule hervor:<br />

„Ein positiver zwischenmenschlicher Umgang sowie<br />

<strong>ein</strong>e hohe Identifikation aller Beteiligten mit der Schule<br />

prägen das Schulleben.“ Ein Satz, bestens geeignet für<br />

<strong>ein</strong>e Werbebroschüre. Ein Satz freilich, der die Geschichte<br />

der ERS 1 von Anfang an begleitet hat. Immer<br />

wieder haben Schüler, Lehrer, Eltern ihre Erfahrung mit<br />

Seite 34 <strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1


Jahrbuch 2010<br />

der ERS 1 so ähnlich beschrieben. Die der Schule weniger Wohlgesinnten haben<br />

daraus gern mal den Verdacht von Kuschelpädagogik <strong>und</strong> Billigabitur gebastelt. Wer<br />

die ERS 1 kennt, weiß: Es handelt sich um das hier herrschende fre<strong>und</strong>liche pädagogische<br />

Klima, das erst die Voraussetzung dafür schafft, dass die gleichwohl anstrengende<br />

<strong>und</strong> anspruchsvolle Arbeit gelingt mit den vielen unterschiedlichen Menschen,<br />

die hier herumwuseln <strong>und</strong> die immer wieder auch Konflikte mit<strong>ein</strong>ander auszutragen<br />

haben.<br />

Im ersten Drittel der ERS1-Geschichte als Oberstufengymnasium standen der Aufbau<br />

<strong>und</strong> die Profilierung zu <strong>ein</strong>er attraktiven Abiturschule im Zentrum der Aufmerksamkeit.<br />

Deshalb floss viel Energie für <strong>ein</strong>e gut funktionierende Unterrichtsorganisation,<br />

für <strong>ein</strong> reichhaltiges Unterrichtsangebot, für Beratung <strong>und</strong> Unterstützung der<br />

Schüler für <strong>ein</strong>en erfolgreichen Abschluss, für besondere Projekte in <strong>und</strong> außerhalb<br />

der Schule, die <strong>ein</strong> abiturgemäßes selbständiges Arbeiten voranbrachte – <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />

muntere Öffentlichkeitsarbeit nach dem Motto: „Tue Gutes <strong>und</strong> rede darüber!“<br />

Als Hannelore Christ 1999 Schulleiterin wurde, stellte<br />

sich Frage nicht mehr, ob die ERS 1 <strong>ein</strong> stabiler Faktor<br />

in der Frankfurter Schullandschaft war. Die Zahl der<br />

Schüler lag zuverlässig <strong>und</strong> blieb seitdem bei über 400,<br />

für die 11. Klassen meldeten sich immer um die die 150,<br />

meistens sogar mehr, an, es konnten manchmal gar<br />

nicht alle, die wollten, aufgenommen werden.<br />

Je größer <strong>ein</strong>e Schule ist, desto mehr Mühe kostet <strong>ein</strong><br />

gutes Schulklima. Um es zu bekommen <strong>und</strong> zu verbessern,<br />

reicht es nicht, sich an Zahlen zu berauschen.<br />

Und so rückten zwei Aspekte stärker als vorher in den Vordergr<strong>und</strong>: 1. dass wir es<br />

mit jungen Männern <strong>und</strong> jungen Frauen zu tun hatten <strong>und</strong> 2. dass wir es mit SchülerInnen<br />

(Achten Sie bitte auch in diesem Text auf die politisch korrekte Grammatik!)<br />

aus verschiedenen Ländern zu tun hatten. Die Internationalität der Stadt Frankfurt<br />

wirkte sich unübersehbar auf die Zusammensetzung unserer Schülerschaft aus. Die<br />

Statistik, die im Durchschnitt <strong>ein</strong> knappes Drittel an Schülern ausländischer Herkunft<br />

zählte, lieferte nur <strong>ein</strong> leicht verschleiertes Bild. In Wirklichkeit stammten um die Hälf-<br />

<strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1 Seite 35


Jahrbuch 2010<br />

te aus Einwanderer-Familien. Davon gab alljährlich die Aufnahme der 11. Klassen<br />

<strong>ein</strong>e deutliche, oft auch erheiternde akustische Vorstellung, wenn sich nämlich die<br />

TutorInnen abmühten, all die türkischen, arabischen oder afrikanischen Namen unfallfrei<br />

von ihrer Klassenliste zu Gehör zu bringen.<br />

Für die pädagogische Innenausstattung gab es viel zu tun, <strong>und</strong> es geschah auch viel.<br />

Angefangen damit, dass die jungen Frauen ermuntert wurden, Leistungskurse in den<br />

klassischen „Männerfächern“ wie Physik oder Chemie zu besuchen. Das hatte <strong>ein</strong>igen<br />

Erfolg, der z. B. Deutsch oder Französisch im umgekehrten Sinn nicht gelang:<br />

hier versammelten sich vor allem Schülerinnen. Dass diese Informatik besuchen <strong>und</strong><br />

sich zu perfekten Userinnen der Computer entwickeln, gehörte schnell zu den<br />

Selbstverständlichkeiten. Die Berufsorientierung erweiterte ihr Angebot um Projekte,<br />

die junge Frauen dazu ermutigen, sich für anspruchsvolle Qualifikationen in technischen<br />

Berufen zu interessieren. Eine ganze Reihe von engagierten Schülerinnen<br />

nahm am Mentorinnenprojekt der Fachhochschule Frankfurt<br />

<strong>und</strong> an dem besonders spannenden Mentoring-<br />

Projekt der Firma IBM teil. Die Teilnehmerinnen konnten<br />

im persönlichen Kontakt mit erfolgreichen Frauen deren<br />

Arbeitsfeld <strong>und</strong> deren persönliche Situation am Arbeitsplatz<br />

erleben. Einen wichtigen Beitrag für die Arbeit an<br />

der Gleichberechtigung der Geschlechter lieferte auch<br />

der Sport. Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer machten Mädchen wie<br />

Jungen passende Kursangebote, <strong>und</strong> bei den Stadtmeisterschaften glänzten für die<br />

ERS 1 Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen gleichermaßen.<br />

Im Übrigen entwickelten sich die Schülerzahlen auf erstaunliche Weise: bis zum<br />

Schul<strong>jahr</strong> 2001/02 gab es immer etwas mehr Schüler als Schülerinnen an der ERS 1.<br />

Das änderte sich in den folgenden Jahren auffällig. Das Verhältnis kehrte sich nämlich<br />

um <strong>und</strong> pendelte sich <strong>ein</strong> auf etwa 60% Mädchen <strong>und</strong> 40% Jungen. Entsprechend<br />

gibt es seitdem mehr erfolgreiche Abiturientinnen als Abiturienten. Da taten<br />

sich ja ganz neue Probleme auf. Und ganz ernsthaft wurde die Frage aufgeworfen,<br />

ob nicht zukünftig die jungen Männer besonders gefördert werden müssten. Offensichtlich<br />

gab es mehr Problembären als Problembärinnen.<br />

Seite 36 <strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1


Jahrbuch 2010<br />

Diese Entwicklung hatte auch damit zu tun, dass sich gerade junge Frauen aus<br />

Migrantenfamilien erfolgreicher vom Ballast ihres Migrationshintergr<strong>und</strong>es lösen<br />

konnten als ihre Brüder. Damit sind wir mittendrin in der Problematik der heterogenen<br />

Schülerschaft. Diese erfuhr durch die Terroranschläge vom September 2001 in<br />

den USA noch <strong>ein</strong>e besondere Zuspitzung. Die ERS 1 hat sich vielfältig damit aus<strong>ein</strong>andergesetzt:<br />

Das waren aus sichtbarem Anlass Diskussionen unter Schülern <strong>und</strong><br />

Lehrern über Kopftuch tragende Schülerinnen <strong>und</strong> damit über die Rolle von Mann<br />

<strong>und</strong> Frau unter dem Einfluss des Islam. Daraus erwuchs die zeitweise im Lehrerkollegium<br />

umkämpfte Festlegung, dass Ethik Pflichtfach für alle war, die nicht am kirchlichen<br />

Religionsunterricht teilnahmen. Damit existierte in allen Schüler<strong>jahr</strong>gängen <strong>ein</strong><br />

Forum, in der heterogene weltanschauliche Überzeugungen gem<strong>ein</strong>sam diskutiert<br />

wurden. Das waren auf der praktischen Ebene Förderkurse in Deutsch. Das waren<br />

die alljährlichen Lesungen des deutsch-türkischen Autors Nevfel Cumart, der mit<br />

s<strong>ein</strong>en autobiografisch gefärbten Texten <strong>und</strong> vor allem mit s<strong>ein</strong>en Erzählungen über<br />

s<strong>ein</strong>e persönlichen Erfahrungen den Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern authentisch den<br />

selbstbewussten Lebensweg <strong>ein</strong>es Migranten nahebrachte.<br />

Die ERS 1 hat das interkulturelle Lernen zu <strong>ein</strong>em ihrer Hauptthemen gemacht. Das<br />

ist <strong>ein</strong>e Erfolgsgeschichte, an der die Arbeitsgruppe zum interkulturellen Lernen, gegründet<br />

im Schul<strong>jahr</strong> 2003/04, großen Anteil hat. Sie aktivierte das ganze Kollegium<br />

<strong>und</strong> trug diese Arbeit in die Öffentlichkeit. Die ERS 1 nahm erfolgreich teil am Wettbewerb<br />

der Herbert-Quant-Stiftung zum<br />

Trialog der Kulturen <strong>und</strong> erhielt auf diese<br />

Weise <strong>ein</strong>e finanzielle Unterstützung für<br />

neue Aktivitäten.<br />

Schon im Jahr 2000 gelang Angelika Rieber<br />

<strong>ein</strong> besonderer Coup: Sie lud Edzard <strong>Reuter</strong>,<br />

den Sohn des Mannes, dessen Namen<br />

unsere Schule trägt, in ihre Klassen <strong>ein</strong>. Und<br />

der kam tatsächlich, <strong>und</strong> nicht nur <strong>ein</strong>mal,<br />

sondern seitdem fast jedes Jahr. Er hatte<br />

Spannendes über s<strong>ein</strong> Leben zu erzählen, besonders über s<strong>ein</strong>e Jugend in der Tür-<br />

<strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1 Seite 37


Jahrbuch 2010<br />

kei, in der s<strong>ein</strong> Vater, der Sozialdemokrat <strong>Ernst</strong> <strong>Reuter</strong>, während der Nazi-Zeit Asyl<br />

fand. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Daimler-Benz präsentierte sich, beglaubigt<br />

durch s<strong>ein</strong>e Lebenserfahrung, als engagierter Kämpfer für die Integration<br />

von Menschen verschiedener Kulturen <strong>und</strong> Religionen <strong>und</strong> gegen migrantenf<strong>ein</strong>dliche<br />

Politik. S<strong>ein</strong>e Besuche haben die Schüler sehr be<strong>ein</strong>druckt <strong>und</strong> besonders das<br />

Selbst- <strong>und</strong> Geschichtsbewussts<strong>ein</strong> der jungen Türkinnen <strong>und</strong> Türken gestärkt. Und<br />

sie haben die Schulgem<strong>ein</strong>de als Ganzes animiert, sich mit ihrem Namensgeber zu<br />

befassen. Das schönste Zeugnis dafür: das große, mosaikartige Porträt <strong>Ernst</strong> <strong>Reuter</strong>s,<br />

das <strong>ein</strong> Kunstleistungskurs angefertigt hat <strong>und</strong> das nicht nur die Pausenhalle im<br />

2. Stock schmückt, sondern auch die Startseite der Homepage.<br />

Eine wichtige praktische Folge: Die ERS 1 fährt<br />

in das Land, aus der die Mehrheit ihrer ausländischen<br />

Schüler stammt. Den Anfang machte Ingrid<br />

Bruch, die im September 2004 mit ihrer Klasse<br />

zu <strong>ein</strong>er Begegnungsfahrt in Zusammenarbeit<br />

mit dem deutsch-türkischen Jugendwerk nach<br />

Istanbul <strong>und</strong> Kütahya aufbrach. Mit der ersten<br />

Fahrt nach Ankara, die Angelika Rieber mit ihrer<br />

Abiturklasse im Herbst 2006 unternahm, wurde<br />

auch die Verbindung zur dortigen <strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-<br />

Schule geknüpft. Diese Schulpartnerschaft lebt<br />

trotz der weiten Wege, die Reisen nach Ankara gehören zum Repertoire. Zu dem allem<br />

passt, dass die Schülerzeitung der ERS 1 den Namen EXIL trägt.<br />

Die Geschichte der ERS 1 als Oberstufenschule begann, weil <strong>ein</strong>e andere Geschichte<br />

zu Ende ging. Nach fast drei Jahren, seit ich die Schule verlassen habe, stelle ich<br />

beruhigt fest: Die Geschichte der ERS 1, von der ich unvollständig erzählt habe, ist<br />

k<strong>ein</strong>eswegs am Ende. Im Gegenteil. Die Schule ist gut gefüllt mit Schülern, das bewährte<br />

Kollegium bekommt frische Energie durch junge Lehrkräfte, neue Ideen <strong>und</strong><br />

Projekte sprudeln. Schulleitung <strong>und</strong> Kollegium arbeiten bei Sonne <strong>und</strong> Regen daran,<br />

dass die ERS 1 <strong>ein</strong> starkes Stück in der Frankfurter Schullandschaft bleibt.<br />

Seite 38 <strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1


Gibt es nach <strong>zwanzig</strong> <strong>und</strong> <strong>ein</strong>em Jahr etwa k<strong>ein</strong>en Gr<strong>und</strong> zum Feiern?<br />

Jahrbuch 2010<br />

Der Autor war von 1990 bis 2007 stellvertretender Schulleiter der<br />

ERS 1.<br />

<strong>Ernst</strong>-<strong>Reuter</strong>-Schule 1 Seite 39

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