Heft 2008 / II - Evangelische Landeskirche in Baden
Heft 2008 / II - Evangelische Landeskirche in Baden Heft 2008 / II - Evangelische Landeskirche in Baden
51. Jahrgang 2008 Heft II BEITRÄGE PÄDAGOGISCHER ARBEIT Gemeinschaft Evangelischer Erzieher in Baden Aus dem Inhalt Hartmut Rupp Wahrnehmen, erklären, deuten, erschließen – Kirchenpädagogik heute Claus Günzler Zeiterfahrung und Persönlichkeitsbildung – Das schnelle Leben und seine Paradoxien – Lutz Mauermann E-Learning – Veränderte Lernbedingungen in der Mediengesellschaft Buchbesprechungen E 26078
- Seite 2 und 3: Zum Geleit Die Pfaffen zu Rom macht
- Seite 4 und 5: die Erkenntnis der Räumlichkeit g
- Seite 6 und 7: Zur Beheimatung kommt es dort, wo T
- Seite 8 und 9: Diese Grundformen bilden den Hinter
- Seite 10 und 11: Von daher wird verständlich, dass
- Seite 12 und 13: 34 Roland Degen unterscheidet den
- Seite 14 und 15: und die Gruppe der hochmotivierten,
- Seite 16 und 17: Für das Bildungswesen bedeutet die
- Seite 18 und 19: ich zu wissen, dass es vergangene Z
- Seite 20 und 21: und so allen heranwachsenden Genera
- Seite 22 und 23: legendes Argument, das weit über d
- Seite 24 und 25: Schule sein, keineswegs aber das Le
- Seite 26 und 27: LUTZ MAUERMANN E-Learning - Veränd
- Seite 28 und 29: und dem vermittelten Lerngegenstand
- Seite 30 und 31: Beispiel 5: Studierende erwerben Me
- Seite 32 und 33: damit weniger Schwierigkeiten als m
- Seite 34 und 35: Anmerkungen 1 Eimeren, B. v. & Free
- Seite 36 und 37: nicht Fachleute? Bei der Definition
- Seite 38 und 39: über die Zizit, die „Schaufäden
- Seite 40 und 41: um einen Übersetzungsfehler handel
- Seite 42 und 43: Bill T. Arnold u.a. STUDIENBUCH ALT
- Seite 44: Der Bezug der Zeitschrift Beiträge
51. Jahrgang<br />
<strong>2008</strong><br />
<strong>Heft</strong> <strong>II</strong><br />
BEITRÄGE<br />
PÄDAGOGISCHER<br />
ARBEIT<br />
Geme<strong>in</strong>schaft<br />
<strong>Evangelische</strong>r Erzieher <strong>in</strong> <strong>Baden</strong><br />
Aus dem Inhalt<br />
Hartmut Rupp<br />
Wahrnehmen, erklären, deuten, erschließen –<br />
Kirchenpädagogik heute<br />
Claus Günzler<br />
Zeiterfahrung und Persönlichkeitsbildung<br />
– Das schnelle Leben und se<strong>in</strong>e Paradoxien –<br />
Lutz Mauermann<br />
E-Learn<strong>in</strong>g – Veränderte Lernbed<strong>in</strong>gungen<br />
<strong>in</strong> der Mediengesellschaft<br />
Buchbesprechungen<br />
E 26078
Zum Geleit<br />
Die Pfaffen zu Rom machten e<strong>in</strong> Concilium gegen Kaiser Leo,<br />
der die Bilder verbot,<br />
und beschlossen, dass die Bilder s<strong>in</strong>d der Laien Bücher.<br />
Das wäre wohl wahr,<br />
wenn man wahrhaftige Historien oder Geschichten malte.<br />
Wer weiß schon etwas von Johannes Bugenhagen, e<strong>in</strong>em der Wittenberger<br />
Reformatoren, dessen Todestag sich <strong>in</strong> diesem Jahr zum 450. Mal jährt! Er<br />
war Mitstreiter Luthers und Pfarrer an der Wittenberger Stadtkirche, darüber<br />
h<strong>in</strong>aus aber der Reformator der gesamten norddeutschen Küstenregion,<br />
was ihm den Ehrennamen „Doktor Pommeranus“ e<strong>in</strong>brachte.<br />
Weite Teile dieses Gebietes standen unter dänischer Herrschaft, so dass uns<br />
e<strong>in</strong>e Reihe von Briefen mit König Christian <strong>II</strong>I. erhalten s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> denen er<br />
sich auch für praktische Belange der Reformation e<strong>in</strong>setzt: Wer theologisch<br />
ausgebildete evangelische Pfarrer haben möchte, muss auch etwas für deren<br />
Ausbildung tun. Bugenhagen setzt sich immer wieder für soziale Belange e<strong>in</strong>,<br />
bittet um Unterstützung für Studenten, vermittelt Theologen und Juristen an<br />
Geme<strong>in</strong>den und Kanzleien, die für e<strong>in</strong>e dem Evangelium gemäße Verkündigung<br />
und Kirchenordnung sorgen sollen.<br />
Aber auch <strong>in</strong> anderen praktischen Fragen der Reformation, die weit über das<br />
Organisatorische h<strong>in</strong>aus gehen und <strong>in</strong> die Tiefe theologischer Fragestellungen<br />
reichen, bittet ihn König Christian um Rat.<br />
So tragen Bugenhagens Briefe gelegentlich auch Züge e<strong>in</strong>es theologischen Gutachtens,<br />
etwa der Brief vom 28. Dezember 1537, aus dem das E<strong>in</strong>gangszitat<br />
stammt. Es geht dabei nicht nur um längst überwundene Streitpunkte früherer<br />
Jahrhunderte. Den Auffassungen und Begründungen der Reformatoren können<br />
auch für den Umgang mit heutigen Fragestellungen Kriterien entnommen<br />
werden.<br />
Am augenfälligsten ist dies im Blick auf Kirchenpädagogik, e<strong>in</strong>e verhältnismäßig<br />
junge religionspädagogischen Diszipl<strong>in</strong>. Kann Bugenhagens Kriterium<br />
für legitime und bedenkliche Bilder <strong>in</strong> Kirchen nicht auch als pädagogischhermeneutische<br />
Leitfrage bei der Betrachtung bildlicher Darstellungen <strong>in</strong><br />
Kirchen, seien es Symbole oder Abbildungen, dienen?<br />
Und welche prägende Rolle spielen bildliche Darstellungen <strong>in</strong> unserer heutigen<br />
Medienwelt? Informieren sie? Illustrieren sie? Inspirieren sie? Und <strong>in</strong>wieweit<br />
kommt dabei Wirklichkeit zur Sprache, <strong>in</strong>wieweit tiefere Wahrheit,<br />
vordergründige Realität oder unbewusste oder bewusste Verzerrung?<br />
Die Fragestellungen der Reformation s<strong>in</strong>d aktueller als uns oft bewusst ist.<br />
Dr. Hans Maaß
HARTMUT RUPP<br />
Wahrnehmen, erklären, deuten, erschließen –<br />
Kirchenpädagogik heute *<br />
1. Die Wiederentdeckung des Kirchenraumes<br />
„Kirchen dienen der christlichen Geme<strong>in</strong>de zum Gottesdienst. Dazu s<strong>in</strong>d sie<br />
gebaut. Aber sie s<strong>in</strong>d mehr: Sie haben e<strong>in</strong>e Ausstrahlungskraft weit über die<br />
Geme<strong>in</strong>den h<strong>in</strong>aus, denen sie angehören. . . . Jeder Kirchenraum . . . kann Zugänge<br />
zum Glauben und neue Erfahrungen mit der Wirklichkeit erschließen.“.<br />
So formulierte die EKD-Synode <strong>in</strong> ihrer Verlautbarung zum Kirchenraum<br />
<strong>in</strong> Leipzig am 25. Mai 2003. 1 Hier wird nachvollzogen, was viele Geme<strong>in</strong>den<br />
schon länger entdeckt haben: e<strong>in</strong> neues Interesse an Kirchenräumen.<br />
E<strong>in</strong>e funktionale Betrachtung des Kirchenraumes als bloßes Gehäuse für<br />
Gottesdienste, wie sie für den Protestantismus kennzeichnend ist 2 , wird offenkundig<br />
dem Kirchenraum und den ihn Begehenden nicht (mehr) gerecht.<br />
Nach Jugendstudien nehmen Kirchen e<strong>in</strong>e Spitzenposition unter den affektiv<br />
stark besetzten Orten e<strong>in</strong>. 3 Dieses Interesse zeigt sich auch an der Resakralisierung<br />
von Geme<strong>in</strong>dezentren 4 , an den Widerständen bei Verkaufs- oder<br />
Abrissplänen oder an dem Drängen auf offene Kirchen, das bis h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die<br />
Touristikverbände reicht.<br />
Diese Wiederentdeckung des Kirchenraums ist vielschichtig. Da gibt es<br />
„schlendernde Passanten“, die die Unterhaltung suchen, „Erlebnishungrige“,<br />
die mystische Erlebnisse erwarten, „kunsthistorisch Interessierte“, die<br />
kunstgeschichtliche Exkurse mögen und „religiös Bewegte“, die auch e<strong>in</strong><br />
Gebet im Kirchenraum schätzen. Erkennbar sprechen Kirchenräume auch<br />
religiös Neutrale und religiös Distanzierte an. 5<br />
H<strong>in</strong>ter diesem Interesse s<strong>in</strong>d unterschiedliche Motive zu erkennen. Dazu<br />
zählt e<strong>in</strong>mal der Wunsch nach heimatlicher Geborgenheit <strong>in</strong> unübersichtlichen<br />
und hektischen Zeiten 6 , die Suche nach e<strong>in</strong>em „begreifbaren“ S<strong>in</strong>n, der<br />
Überdruss an e<strong>in</strong>er allzu abstrakten Verkündigungssprache und das Unbehagen<br />
an der Gleichgültigkeit protestantischer Theologie gegenüber den „Äußerlichkeiten“<br />
des Glaubens. 7<br />
Dem gewachsenen Interesse am Kirchenraum auf Seiten von Begehenden<br />
entspricht auf Seiten der Theologie e<strong>in</strong> neues Verständnis des Kirchengebäudes,<br />
* Vorgetragen bei der Tagung der GEE „Heilige Räume“ Kirchengebäude ganzheitlich entdecken<br />
und erfahren, am 16./17.06.2007 <strong>in</strong> Mosbach-Neckarelz<br />
1
die Erkenntnis der Räumlichkeit göttlicher Offenbarung, die Erweiterung<br />
der Hermeneutik um s<strong>in</strong>nliche Wahrnehmung, aber auch die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> das<br />
Schw<strong>in</strong>den alltagskultureller Überlieferungen. Kirchengebäude werden als<br />
„sichtbare Zeichen“ gesehen, „dass Gott unter den Menschen Wohnung<br />
nimmt“ 8 . Kirchengebäude, der Kirchenraum und se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung „erzählen<br />
vom Glauben“ 9 . Zur Entdeckung kam, dass Gott <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Inkarnation selbst<br />
räumliche Gestalt gew<strong>in</strong>nt 10 und auch das gesprochene Wort leiblich-räumliche<br />
Dimensionen hat 11 , das zudem durch räumliche Kontexte Deutung<br />
erfährt. Leiblich-s<strong>in</strong>nliche Wahrnehmung durch Hören, Sehen, Fühlen,<br />
Riechen, Tasten, Schmecken ist Voraussetzung für das Verstehen und damit<br />
Grundlage von Erfahrung und Erkenntnis. 12 Worte, die der Wahrnehmung<br />
entgegenstehen, haben es schwer verstanden zu werden. 13 In dem Maße, wie<br />
es nicht mehr zu e<strong>in</strong>er selbstverständlichen Nutzung religiöser Orte und<br />
Symbole kommt und diese <strong>in</strong> Gefahr stehen, zu unverständlichen Relikten<br />
e<strong>in</strong>er museal gewordenen Vergangenheit zu werden, bedarf es e<strong>in</strong>er bewussten<br />
und deshalb auch didaktisch <strong>in</strong>szenierten Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der sichtbaren<br />
Gestalt christlichen Glaubens im Kirchenraum. 14 Die ganze Entwicklung<br />
wird man schließlich auch als Reflex auf die Ablösung der Kategorie der Zeit<br />
durch die des Raumes <strong>in</strong> der Theologie ansehen können. 15<br />
2. Eigenart und Ziele der Kirchenpädagogik<br />
In Unterscheidung zu e<strong>in</strong>er monologischen, ganz auf Sprechen, Hören und<br />
Sehen abgestellten historisch-genetischen Kirchenführung geht es Kirchenpädagogik<br />
um e<strong>in</strong>e ganzheitliche, aktive und erfahrungsorientierte Erschließung<br />
des Kirchenraumes. 16 Dabei ist „Ganzheitlichkeit“ sowohl personal als auch<br />
<strong>in</strong>haltlich und darüber h<strong>in</strong>aus auch methodisch zu bestimmen. Es geht um<br />
den E<strong>in</strong>bezug von „Kopf, Herz und Hand“ sowie aller S<strong>in</strong>ne, es geht um<br />
das Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Perspektiven auf den Raum (wie<br />
Stadtgeschichte, Kunst- und Architekturgeschichte, Frömmigkeitsgeschichte,<br />
Semiotik, Theologiegeschichte, Liturgik) sowie den E<strong>in</strong>satz von dialogischen,<br />
partizipativen, erkundenden, kreativen und produktionsorientierten Lernverfahren<br />
sowie Formen „liturgischen Lernens“. 17 Die Abfolge der Verben<br />
„wahrnehmen, erklären, deuten, erschließen“ ist durchaus didaktisch geme<strong>in</strong>t. 18<br />
Aus dem Entdecken und Beschreiben entsteht die Suche nach H<strong>in</strong>tergründen<br />
und der Entwurf von S<strong>in</strong>ndeutungen, was zu e<strong>in</strong>em „s<strong>in</strong>nen-vollen“<br />
Aneignungsprozess führt, der auch S<strong>in</strong>gen, Beten, Schreiben, Malen und<br />
Predigen kennt.<br />
Leitend ist der Ansatz e<strong>in</strong>er konstruktivistischen Didaktik 19 , die davon ausgeht,<br />
dass bedeutungsvolles Lernen zwar anregende und strukturierte Lernwelten<br />
braucht, sich aber <strong>in</strong> subjektiver Konstruktion vollzieht und auf Ko-<br />
2
Konstruktion angewiesen ist. „E<strong>in</strong>druck“ und „Ausdruck“ s<strong>in</strong>d die Pole e<strong>in</strong>es<br />
solchen aneignenden Lernens.<br />
Ziel e<strong>in</strong>er solchen Erschließung ist die persönliche Begegnung mit dem im<br />
Kirchenraum zum Ausdruck kommenden christlichen Glauben. 20 Diese Begegnung<br />
bezieht eigenes Leben auf Phänomene christlicher Religion und<br />
diese Phänomene auf eigenes Leben. Es handelt sich also um e<strong>in</strong>en wechselseitigen<br />
Erschließungsprozess, wie er für e<strong>in</strong>e kategoriale Bildung (W. Klafki)<br />
kennzeichnend ist. Kirchenpädagogik darf deshalb als Teilbereich religiöser<br />
Bildung bezeichnet werden.<br />
Diese Begegnung kann, je nach Ausrichtung, Bereitschaft und Intensität zu<br />
e<strong>in</strong>er Alphabetisierung, zu e<strong>in</strong>er spirituellen Erfahrung oder zu e<strong>in</strong>er Beheimatung<br />
<strong>in</strong> dem Kirchenraum führen.<br />
Alphabetisierung zielt auf die Fähigkeit, den Text der Kirchenarchitektur<br />
und des Kirchenraumes lesen, zum anderen aber auch auf die Fähigkeit, über<br />
eigene Wahrnehmungen <strong>in</strong> diesem Raum sprechen zu können. Davon auszugehen<br />
ist, dass diese Alphabetisierung e<strong>in</strong>e wichtige Voraussetzung dafür<br />
ist, die Möglichkeiten religiösen Lebens <strong>in</strong> diesem Raum wahrnehmen zu<br />
können. 21 Sie kann zu e<strong>in</strong>em neuen Interesse an dem christlichen Glauben<br />
führen. Darüber h<strong>in</strong>aus kann e<strong>in</strong>e solche Alphabetisierung Zugänge zu<br />
wichtigen Gehalten des „kollektiven Gedächtnisses“ (Maurice Halbwachs)<br />
eröffnen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gegenwartsorientierten Lebensweise verschüttet s<strong>in</strong>d.<br />
Kirchengebäude und Kirchenräume erzählen von den Lebensdeutungen<br />
früherer Generationen, von ihren Sehnsüchten und Bedürfnissen, von ihren<br />
Konflikten und Kämpfen, von dem, was für sie heilig und wichtig war, aber<br />
auch von dem, wovon sie sich abgegrenzt haben. Kirchen erzählen auch<br />
von Versagen und Schuld. Man denke an die Darstellung von Synagoge und<br />
Kirche. Zur E<strong>in</strong>sicht kann werden, dass alles Leben von dem Leben anderer<br />
lebt und sich dem Lebenswerk Verstorbener verdankt. 22<br />
Spirituelle Erfahrungen werden dort möglich, wo es an unterschiedlichen<br />
geistlichen Orten des Kirchenraumes, wie der Schwelle, dem Prozessionsweg,<br />
e<strong>in</strong>em Kirchenfenster, e<strong>in</strong>em Grabste<strong>in</strong>, dem Altar, dem Kreuz, dem<br />
Taufste<strong>in</strong> zu Berührungen zwischen dem christlichen Zeugnis und der<br />
Person des Begehenden kommt und diese von e<strong>in</strong>em verändernden Geist<br />
erfasst wird. Methoden dazu f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> der liturgischen Tradition der<br />
Kirche: Pilgerschritt, Leibübungen, Bildmeditation, Schriftauslegung,<br />
Predigt, Psalmodieren, Herzensgebet, Bekreuzigen, das Murmeln von<br />
Schriftversen, Gebete mit Körperhaltungen. Dazu gehört aber auch das<br />
Gespräch über eigene Erfahrung und die Entdeckung von Gottes Handeln<br />
im eigenen Leben. 23<br />
3
Zur Beheimatung kommt es dort, wo Teilnehmende mit dem Raum der gottesdienstlichen<br />
Geme<strong>in</strong>de vertraut werden und diesen sich als „ihre“ Heimat<br />
aneignen. Dies geschieht dann, wenn der Raum als Gottesdienstraum selber<br />
<strong>in</strong> Gebrauch genommen wird, z. B. durch Kanzellesen, Orgelspielen oder<br />
Glockenläuten, wenn der Raum mit eigenen Werken ausgestaltet wird oder<br />
sogar e<strong>in</strong>mal so umgestaltet und vorgestellt wird, wie er eigenen Vorstellungen<br />
entspricht.<br />
3. Die Entwicklung der Kirchenpädagogik und ihre Typen<br />
Die Anfänge der Kirchenpädagogik liegen am Ende der 80iger Jahre des<br />
vergangenen Jahrhunderts und s<strong>in</strong>d mit evangelischen Frauen verbunden.<br />
Christiane Kürschner (Hannover) und Inge Hansen (Hamburg) suchten <strong>in</strong><br />
Aufnahme der reformpädagogisch <strong>in</strong>spirierten Museumspädagogik 24 sowie<br />
Ansätzen aus England 25 mit religiös unkundigen K<strong>in</strong>dern die sichtbaren<br />
Zeichen der christlichen Religion im Kirchenraum zu erschließen. Anfang der<br />
90iger Jahre nahm das Geme<strong>in</strong>dekolleg der VELKD <strong>in</strong> Celle diese Impulse<br />
auf und <strong>in</strong>tegrierte sie <strong>in</strong> das Projekt „Kirchen erzählen vom Glauben“. Man<br />
versprach sich davon e<strong>in</strong>e durchaus missionarisch verstandene „Öffnung der<br />
Kirchen“. Seit 1993 werden von dort alljährlich Kurse zur Wahrnehmung<br />
und Deutung von Kirchenräumen angeboten. Auch das Comenius-Institut<br />
der EKD hat sich bald dieser Thematik angenommen. 26 2000 wurde auf<br />
Initiative von Erika Grünewald (Hamburg) der „Bundesverband Kirchenpädagogik“<br />
gegründet, um die vielfältigen bundesweiten Erfahrungen zu<br />
bündeln und allen Menschen zugänglich zu machen, die auf diesem Gebiet<br />
tätig s<strong>in</strong>d.<br />
Es war Christian Möller, der 1990 <strong>in</strong> Heidelberg diesen Ansatz aufnahm und<br />
so <strong>in</strong> das Programm der Praktischen Theologie <strong>in</strong>tegrierte. 27 Zwischenzeitlich<br />
haben verschiedene Vertreter der Praktischen Theologie, wie Christian<br />
Grethle<strong>in</strong>, Klaus Razschok, Manfred Josuttis, Gottfried Adam, Wolf-Eckhart<br />
Fail<strong>in</strong>g oder Horst Schwebel, die Kirchenpädagogik als Gegenstandsbereich<br />
der Praktischen Theologie entdeckt. In kirchlichen Verlautbarungen 28 wird die<br />
Kirchenpädagogik als neue Chance kirchlicher Verkündigung gesehen.<br />
In den zurückliegenden Jahren stieg das Interesse an Kirchenpädagogik<br />
sprunghaft an. Aus e<strong>in</strong>em nur für K<strong>in</strong>der entwickelten Ansatz wurde e<strong>in</strong><br />
breites Angebot für verschiedene Lebensalter und für ganz unterschiedliche<br />
Interessen. Auch die katholische Kirche hat zwischenzeitlich dieses Arbeitsfeld<br />
für ihre Arbeit entdeckt. Träger s<strong>in</strong>d nicht nur engagierte Geme<strong>in</strong>den<br />
oder Religionspädagogische Institute, sondern immer mehr auch die Kirchliche<br />
Erwachsenenbildung. An geschichtlich bedeutsamen Kirchen werden heute<br />
auch Kirchenpädagog<strong>in</strong>nen angestellt (Köln, Freiburg). Es erhebt sich die<br />
4
Frage, ob vom Amt des „Kirchenführers“ gesprochen werden kann. 29 Was<br />
anfänglich auf feste Geme<strong>in</strong>degruppen oder auf Schulklassen bzw. auf K<strong>in</strong>der<br />
und Jugendliche begrenzt war, richtet sich zwischenzeitlich auch auf Touristen<br />
und macht den Stadtführungen Konkurrenz. Dies kann soweit gehen, dass<br />
Stadtführungen ihrerseits zwischenzeitlich Führungen zu „magischen Orten“<br />
anbieten oder andererseits Kirchengeme<strong>in</strong>den ihre Kirchenräume für Stadtführungen<br />
verschließen (so z.B. <strong>in</strong> Speyer). Abzusehen ist, dass sich neben<br />
der „Kirchen“-Pädagogik auch e<strong>in</strong>e „Friedhofs“-Pädagogik und sogar e<strong>in</strong>e<br />
„Moschee“-Pädagogik 30 entwickelt.<br />
Die fortschreitende Entwicklung hat zur Ausbildung verschiedener Typen<br />
e<strong>in</strong>er kirchen-pädagogischen Erschließung geführt.<br />
Es lassen sich vier Grundformen unterscheiden:<br />
(1) die <strong>in</strong>dividuelle Kirchenerkundung mit Hilfe e<strong>in</strong>es Erkundungsbogens<br />
oder e<strong>in</strong>es Detektivspiels, die zu e<strong>in</strong>er differenzierten Wahrnehmung des<br />
Kirchenraumes anleitet und sich für K<strong>in</strong>der- und Jugendgruppen 31 , aber<br />
auch für Passanten sowie kunsthistorisch Interessierte eignet,<br />
(2) die auf Wahrnehmung und Gespräch abgestellte Kirchenführung, die<br />
sich vornehmlich an Erwachsene richtet, sowohl Passanten als auch kunsthistorisch<br />
Interessierte ansprechen kann und e<strong>in</strong>e Weiterentwicklung der<br />
historisch-genetischen Kirchenführung darstellt,<br />
(3) die spirituelle Erfahrung ermöglichende geistliche Führung 32 , <strong>in</strong> der nache<strong>in</strong>ander,<br />
betrachtend, schreitend, s<strong>in</strong>gend, musizierend, betend, meditierend<br />
Orte und Elemente des Kirchenraumes aufgesucht, deren religiöser Gehalt<br />
erschlossen und dabei auch persönliche Lebenserfahrungen und -fragen<br />
thematisiert werden – e<strong>in</strong> Ansatz, der sich vor allem für Erlebnishungrige<br />
und religiös Bewegte eignen dürfte und<br />
(4) die ganzheitliche, aktive Kirchenerschließung, die auf e<strong>in</strong>e vielfältige<br />
spielerische Wahrnehmung (E<strong>in</strong>druck), auf kreative Gestaltung (Ausdruck)<br />
sowie das Gespräch Wert legt und für K<strong>in</strong>der- und Jugendgruppen sowie<br />
kunsthistorisch Interessierte geeignet ist.<br />
Innerhalb dieser Typen gibt es unterschiedliche Akzentsetzungen. So kann<br />
mehr auf den Baustil und kunstgeschichtliche Aspekte Wert gelegt werden,<br />
auf die liturgische Bedeutung der Gegenstände oder auf die Zeichen des<br />
christlichen Glaubens. 33 Da kann stärker auf Information, auf Erleben, auf<br />
praktisches Nachvollziehen oder auf Umgestaltung geachtet werden. 34 Auf<br />
katholischer Seite wird <strong>in</strong>tensiv über „mystagogische“ Kirchenführungen<br />
nachgedacht, die <strong>in</strong> der Begegnung mit dem Kirchenraum Spuren Gottes <strong>in</strong><br />
dem eigenen Leben entdecken lassen wollen.<br />
5
Diese Grundformen bilden den H<strong>in</strong>tergrund für spezielle Konzepte. So<br />
haben sich vielerorts thematische Kirchenerschließungen entwickelt, bei<br />
denen man sich auf bestimmte Themen wie den Baustil, den Zusammenhang<br />
von Klang und Raum, das Licht oder die Glasfenster ausrichtet.<br />
Bei kunstgeschichtlich Interessierten f<strong>in</strong>den synästhetische Raum<strong>in</strong>szenierungen<br />
viel Aufmerksamkeit. Hier werden E<strong>in</strong>zelelemente des Kirchenraumes<br />
<strong>in</strong> den Mittelpunkt gestellt und durch Musik, Poesie, Schauspiel, Meditation,<br />
Gespräch differenziert erschlossen. In den Schulen gibt es Projektunterricht<br />
zum Kirchenraum, <strong>in</strong> denen Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler arbeitsteilig besondere<br />
Aspekte des Kirchenraumes herausarbeiten, diese dokumentieren und die<br />
Ergebnisse dann präsentieren. In Städten entwickeln sich kirchenpädagogische<br />
Wanderungen, <strong>in</strong> denen nache<strong>in</strong>ander verschiedene Kirchen unter unterschiedlichen<br />
Gesichtspunkten erschlossen werden. E<strong>in</strong>en Sonderbereich bilden<br />
„offene Kirchen„ wie sie derzeit auch im evangelischen Raum gefordert werden.<br />
Diese verlangen e<strong>in</strong>e spezifische Präparierung des Kirchenraumes, damit es<br />
auch für Passanten zu e<strong>in</strong>er persönlichen Begegnung mit dem Kirchenraum<br />
kommen kann. 35<br />
4. Die Streitfrage: S<strong>in</strong>d Kirchen heilige Räume?<br />
Für die katholische Theologie und Kirche s<strong>in</strong>d Kirchen zweifelsfrei „heilige“<br />
Räume. In ihr ist die Gegenwart Gottes s<strong>in</strong>nlich erfahrbar, denn sie zeigt<br />
sich im eucharistischen Brot, das außerhalb der Messe im Tabernakel aufbewahrt<br />
wird. Der Kirchenraum ist deshalb auch dann heilig, wenn ke<strong>in</strong>e<br />
Messe gefeiert wird und verlangt deshalb une<strong>in</strong>geschränkten Respekt. 36 In<br />
der Kirchen- und Altarweihe wird dieser Raum aus der Welt ausgegrenzt<br />
und durch „energetische Aufladung“ für die Begegnung mit Gott präpariert. 37<br />
<strong>Evangelische</strong> Theologie tut sich damit schwer und so durchzieht die (evangelische)<br />
Kirchenpädagogik die Frage, ob Kirchen heilige Räume seien.<br />
Letztlich geht es dabei um die Frage, wie Kirchenräume überhaupt zu verstehen<br />
und wie die Reaktionen der Kirchenbesucher auf den Kirchenraum<br />
e<strong>in</strong>zuordnen s<strong>in</strong>d. Handelt es sich um bloß subjektive Gefühle oder um Resonanzen<br />
auf die Gegenwart Gottes im Kirchenraum?<br />
Zwei Positionen stehen sich <strong>in</strong> der gegenwärtigen Diskussion konträr gegenüber.<br />
Horst Schwebel <strong>in</strong>sistiert im Anschluss an Luther 38 darauf, dass sich<br />
der Kirchenraum zur Gottesbeziehung „neutral“ verhalte. „Als Gebäude ist<br />
e<strong>in</strong> Kirchengebäude e<strong>in</strong> Gebäude wie jedes andere auch, ohne dass es e<strong>in</strong>e besondere<br />
Heiligkeit oder Sakralität hätte. Se<strong>in</strong>en Wert erhält das Kirchengebäude<br />
e<strong>in</strong>zig über das, was dar<strong>in</strong> geschieht.“ 39 Nach Manfred Josuttis h<strong>in</strong>gegen<br />
„residieren“ <strong>in</strong> Kirchenräumen „göttliche Atmosphären“. Hier kommt es – auch<br />
außerhalb des Gottesdienstes – zur Begegnung mit der Macht des Heiligen. 40<br />
6
E<strong>in</strong>e vermittelnde Position nimmt Klaus Razschok e<strong>in</strong>. Auch für ihn lässt<br />
der Kirchenraum Gottes Wirken verspüren, doch dieses Wirken ist verwoben<br />
mit menschlichem Leben und Handeln. Kirchenräume enthalten „göttliche<br />
Spuren“, doch diese s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>gelagert <strong>in</strong> die Spuren der gottesdienstlichen<br />
Geme<strong>in</strong>de. 41 Jeder Abendmahlskelch lässt etwas von der Begegnung mit<br />
Christus erkennen. Diese Spuren lassen sich auch außerhalb des Gottesdienstes<br />
entdecken.<br />
Versteht man heilige Räume als Räume, die zu Gott gehören und diesem<br />
Gott entsprechen, so öffnet sich noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> anderes Verständnis des<br />
Kirchenraumes. Es s<strong>in</strong>d dann solche Räume, die <strong>in</strong> ihrer Gestalt von dem<br />
Evangelium Jesu Christi erzählen und auf <strong>in</strong>direkte, gleichnishafte Weise auf<br />
die Gegenwart Gottes <strong>in</strong> der Verkündigung des geschriebenen Wortes Gottes<br />
h<strong>in</strong>weisen. Wohl handelt es sich stets um menschlich-geschichtliche Gestaltungen,<br />
doch sie haben an der Predigt von dem dreie<strong>in</strong>igen Gott Anteil<br />
und s<strong>in</strong>d von diesem affiziert. Diese Predigt ist auch dann wahrzunehmen,<br />
wenn gerade ke<strong>in</strong> Gottesdienst stattf<strong>in</strong>det.<br />
So „predigt“ die Ostung des Kirchenraumes von Christus als dem Licht der<br />
Welt. Sie richtet die E<strong>in</strong>tretenden auf die aufgehende Sonne aus und stellt<br />
ihnen so die christliche Orientierung vor Augen. Sie fordert ihn auf, die<br />
„Nacht“ h<strong>in</strong>ter sich zurück zu lassen, nimmt ihn h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> „das Schiff, das<br />
sich Geme<strong>in</strong>de nennt“ und verheißt ihm e<strong>in</strong> Leben im Licht. Der enge E<strong>in</strong>gang<br />
lässt den Innenraum als weit erleben und er<strong>in</strong>nert so daran, dass Gott me<strong>in</strong>e<br />
Füße auf weiten Raum stellen (Ps 31,9) will. Auf symbolische Weise wird<br />
Aufatmen und die Befreiung von e<strong>in</strong>engender Angst wahrgenommen. Der<br />
Platz <strong>in</strong> den Kirchenbänken richtet die Sitzenden auf Kanzel, Abendmahl,<br />
Taufe und Kreuz aus und nimmt ihn so <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e christliche Lebensorientierung<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Der Sitzplatz <strong>in</strong> der Bankreihe bestimmt jeden e<strong>in</strong>zelnen als Glied <strong>in</strong><br />
der Geme<strong>in</strong>schaft der Getauften. An diesen Beispielen zeigt sich, dass diese<br />
Verkündigung nicht nur ohne Worte spricht, sondern die ganze Körperhaltung<br />
bestimmt und so symbolisch christliches Leben e<strong>in</strong>übt.<br />
Diese Sicht des Kirchenraumes f<strong>in</strong>det ihre Entsprechung <strong>in</strong> den Empfehlungen<br />
des Ev. Kirchenbautages <strong>in</strong> Wolfenbüttel vom 12. April 1991: „Durch die<br />
gegenwärtige Gestaltung und Ausstattung soll die Begegnung der Geme<strong>in</strong>de<br />
mit dem lebendigen Gott zum Ausdruck kommen.“ 42<br />
Diese besondere Eigenschaft der Kirchenräume machen diese zu „sonderbaren“<br />
Räumen. Sie gehören nach Michel Foucault zu den „Heterotopien“ 43 ,<br />
die zu den alltäglichen Räumen <strong>in</strong> Beziehung stehen, sich aber von diesen<br />
unterscheiden, wie schon an ihrer äußeren Gestalt deutlich wird. Sie nehmen<br />
auf, was <strong>in</strong> den alltäglichen Lebensräumen geschieht, setzen dieses jedoch <strong>in</strong><br />
Beziehung zu dem Gott Jesu Christi und bewirken so e<strong>in</strong>e Unterbrechung. 44<br />
7
Von daher wird verständlich, dass es <strong>in</strong> dem Kirchenraum Alltäglichkeiten<br />
gibt, die jedoch ganz anders ausfallen. Da gibt es e<strong>in</strong>en Tisch, um den herum<br />
jedoch niemand sitzt. Da wird gegessen und getrunken, gesessen und geschritten,<br />
doch alles wird <strong>in</strong> Anspruch genommen als H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>ndeutung,<br />
die gel<strong>in</strong>gendes Leben verspricht. Indem Kirchenpädagogik hilft<br />
die Zeichen des Glaubens im Kirchenraum zu lesen, hilft sie auch das eigene<br />
Leben noch e<strong>in</strong>mal anders wahrzunehmen.<br />
Anmerkungen<br />
1 Zit. nach. Hartmut Rupp (Hg.), Handbuch der Kirchenpädagogik, 2006, 318-320. Auch auf<br />
katholischer Seite wird dies zwischenzeitlich so gesehen: „Künstlerisch wertvolle Kirchen<br />
wecken das Interesse vieler Menschen, selbst wenn ihnen der Glaube fremd geworden ist.“<br />
Erzbischof Zollitzsch, am 13. März 2006 <strong>in</strong> der Katholischen Akademie Freiburg.<br />
2 Ausschlaggebend dafür war Luther, der bei der E<strong>in</strong>weihung der Schlosskirche <strong>in</strong> Torgau 1544<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Predigt zu Luk 14,1ff. formulierte: „Wir sollen itzt dis newe Haus e<strong>in</strong>segnen und weihen<br />
unserm HERrn JHesu CHRisto, Welches mir nicht alle<strong>in</strong> gebürt und zustehet, sonden ir sollt<br />
auch zugleich an den Sprengel und reuchfas greifen, auff das dis newe Haus dah<strong>in</strong> gericht werde,<br />
das nichts anders dar<strong>in</strong> geschehe, denn das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch se<strong>in</strong> heiliges<br />
Wort und wir widerumb mit jm reden durch Gebet und Lobgesang.“ Vgl. WA 49, 588–592<br />
3 He<strong>in</strong>er Barz, Religion ohne Institution Teil <strong>II</strong>, 1992, 58<br />
4 Wolf-Eckart Fail<strong>in</strong>g, Die e<strong>in</strong>geräumte Welt und die Transzendenzen Gottes, <strong>in</strong>: W.E. Fail<strong>in</strong>g,<br />
H.G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 91–122, dort 94f.<br />
5 Nach e<strong>in</strong>er nicht repräsentativen Befragung von Karol<strong>in</strong>e Exner, Redaktion Katholische Kirche<br />
beim SWR, mitgeteilt bei e<strong>in</strong>er Tagung der Katholischen Akademie Freiburg am 13.3.2006<br />
6 So H. Barz a.a.O.<br />
7 Offenkundig zögern Protestanten bei der Vorstellung e<strong>in</strong>er „Verleiblichung des Heils“ mitzumachen,<br />
der e<strong>in</strong>er sakramental orientierten katholischen Theologie ungleich leichter fällt. Hier<br />
mag e<strong>in</strong>e Skepsis wirken, die am Bilderverbot und an der Gegenwart des lebendigen Gottes<br />
Maß nimmt. Doch hier könnte auch die so oft beklagte Flucht <strong>in</strong> die Innerlichkeit wirken.<br />
8 Wolfgang Huber, Kirchen <strong>in</strong> der Zeitenwende, 1995, 286<br />
9 So das Motto e<strong>in</strong>er Initiative des Geme<strong>in</strong>dekollegs der VELKD <strong>in</strong> Celle<br />
10 Wolf-Eckart Fail<strong>in</strong>g a.a.O. 97<br />
11 Christoph Bizer hält fest: „ . . .das im Buch der heiligen Texte aufgeschriebene göttliche Wort<br />
wird durch die Stimme hallend gemacht, raumbildend, so dass sich die Herantretenden an der<br />
Grenze zu e<strong>in</strong>em Raum der Spiritualität bef<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> dem der Heilige Geist Gottes wirksam<br />
ist.“ In: ders., Wahrnehmungen – sprachlich gestaltet – zum Wahrnehmen, <strong>in</strong>: Th. Klie,<br />
S. Leonhard (Hrsg.), Schauplatz Religion. Grundzüge e<strong>in</strong>er Performativen Religionspädagogik<br />
2003<br />
12 Die Sprache er<strong>in</strong>nert an die Leiblichkeit des Denkens, denn Begriffe wachsen aus Begreifen,<br />
Verstehen er<strong>in</strong>nert an Stehen, Ause<strong>in</strong>andersetzung an Setzen, Erfahrung an Fahren und Bildung<br />
an Bilden. Vgl. R. Degen, Den Räumen Raum geben, JRP 18, 2002, 115–123, dort 119<br />
13 Dies ist z. B. der Fall, wenn das Beträufeln des Getauften mit Wasser als „ Ersäufen“ bzw. Sterben<br />
und Auferstehen gedeutet oder e<strong>in</strong> sargähnlicher Holzkasten als „Tisch des Herrn“ bezeichnet<br />
wird.<br />
14 Zu den didaktischen Pr<strong>in</strong>zipien der Kirchenpädagogik vgl. H. Rupp ( Hg.), Handbuch der<br />
Kirchenpädagogik 2006, 229–235<br />
8
15 Sehr deutlich markiert dies Jürgen Moltmann an se<strong>in</strong>er eigenen theologischen Entwicklung,<br />
vgl. J. Moltmann, Gott und Raum, <strong>in</strong>: ders./C. Rivuzumwami (Hg.), Wo ist Gott? Gottesräume<br />
– Lebensräume, 2002, 29–41<br />
16 Vgl. Thesen zur Kirchenpädagogik <strong>in</strong>: kirchenPÄDAGOGIK, Zeitschrift des Bundesverbandes<br />
Kirchenpädagogik 1/2002, 24f.<br />
17 Modelle „liturgischen Lernens“ entwerfen Bärbel Husmann und Thomas Klie <strong>in</strong>: dies.,<br />
Gestalteter Glaube, 2005; vgl. auch Christoph Bizer, „Liturgie und Didaktik“ <strong>in</strong>: JRP 5, 1989,<br />
83–111<br />
18 Mit diesen Begriffen werden <strong>in</strong> dem Handbuch für Kirchenpädagogik hg. H. Rupp, 2006<br />
sowohl das Kirchengebäude als auch der Kirchenraum und se<strong>in</strong>e Elemente erarbeitet und sollen<br />
e<strong>in</strong>e wahrnehmungsorientierte Erschließung des Kirchenraumes eröffnen.<br />
19 Vgl. Hans Mendl (Hg), Konstruktivistische Religionspädagogik, 2005<br />
20 Roland Degen, e<strong>in</strong> Wegbereiter der Kirchenpädagogik, formuliert: „Kirchenerkundungen erreichen<br />
dort ihr Ziel, wo ohne, dass dies zu erzeugen ist – die Lebensgeschichte des Individuums<br />
und die <strong>in</strong>haltliche Überlieferung des Raumes sich spannend und spannungsvoll begegnen.“<br />
Roland Degen, „Echt stark hier!“ Kirchenräume erschließen. Aufgaben – Typen-Kriterien, <strong>in</strong>:<br />
R. Degen, I. Hansen, Lernort Kirchenraum 1998, 5–22, dort 18.<br />
21 Wolfgang Huber, Kirche <strong>in</strong> der Zeitenwende, 1995, 284 stellt fest: „Die Fähigkeit den ,Text‘<br />
der Kirchenarchitektur und der im Raum aufbewahrten Kunstwerke zu ,lesen‘, ist e<strong>in</strong>e wichtige<br />
Voraussetzung dafür, die Möglichkeiten zur Begegnung <strong>in</strong> diesem Raum wahrzunehmen.<br />
Kirchenraumpädagogik ist deshalb als e<strong>in</strong>e wichtige Aufgabe entdeckt worden, deren Chancen<br />
über das Maß bisheriger Realisierung weit h<strong>in</strong>ausgehen. Nur wenn Kirchenräume subjektiv<br />
,gelesen‘ werden können, fördern die Kirchenräume diejenigen Primärerfahrungen, die gerade<br />
<strong>in</strong> ihnen auf unvergleichliche Weise möglich s<strong>in</strong>d.“<br />
22 So Dieter Nestle, Gottes Haus und Gottes Acker. Die Geme<strong>in</strong>schaft von Lebenden und Toten<br />
<strong>in</strong> der Kirche <strong>in</strong>: Christian Möller u.a. (Hg.), Dieter Nestle . . ., dass es die Elenden hören und<br />
sich freuen, 2004, 125–133.<br />
23 Epitaphe z.B. erzählen von Tod und Hoffnung und können eigene Hoffnungs- und Todesbilder<br />
ansprechen.<br />
24 Vgl. Klaus Weschenfelder, Wolfgang Zacharias, Handbuch Museumspädagogik, 1992<br />
25 Vgl. Ruth Görnandt, Was ist Kirchenpädagogik? Entstehung – Gegenstand – Arbeitsweise, <strong>in</strong>:<br />
kirchenPÄDAGOGIK 1/2202,5–11<br />
26 E<strong>in</strong>e Folge war die Herausgabe des materialreichen und anregenden Aufsatzbandes von<br />
R. Degen, I. Hansen (Hg.), Lernort Kirchenraum 1998<br />
27 Christian Möller, Die Predigt der Ste<strong>in</strong>e. Zur Ästhetik der Kirche, <strong>in</strong>: J. Seim/L. Steiger (Hg.),<br />
Lobet Gott. Beiträge zur theologischen Ästhetik, FS Rudolf Bohren, 1990,171–178<br />
28 Vgl. z.B. EKD und VEF (Hg.), Gestaltung und Kritik zum Verhältnis von Protestantismus<br />
und Kultur im neuen Jahrhundert, 1999<br />
29 In den östlichen Kirchen hat sich zwischenzeitlich schon das Amt des „Kirchenwächters“ ausgebildet.<br />
30 E<strong>in</strong>e erste Publikation liegt vor: Ali-Özgür Özdil, Wenn Moscheen sich öffnen. Moscheepädagogik<br />
<strong>in</strong> Deutschland – E<strong>in</strong>e praktische E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> den Islam, 2002<br />
31 Viele Kirchen haben sog. „K<strong>in</strong>derkirchenführer“ entwickelt, e<strong>in</strong>zelne Kirche wie die Marktkirche<br />
<strong>in</strong> Hannover ansprechend gestaltete „Erkundungsbögen“.<br />
32 Birgit Neumann, Antje Rösener, Kirchenpädagogik. Kirchen öffnen, entdecken und verstehen.<br />
E<strong>in</strong> Arbeitsbuch, 2003, 72–76 sprechen von „spirituellen Kirchenführungen“; H. Rupp, Handbuch<br />
der Kirchenpädagogik, 2006, 250–260 von e<strong>in</strong>er „geistlichen Raumerschließung“.<br />
33 Ganz auf die Zeichen des christlichen Glaubens im Kirchenraum konzentriert sich Friedemann<br />
Fichtl, Der Teufel sitzt im Chorgestühl, 2002<br />
9
34 Roland Degen unterscheidet den „baukundlichen“, den „katechetischen“, den „handlungsorientierten“,<br />
den „symboldidaktischen“ den „Neues gestaltenden“ Typus vgl. „Echt stark hier!“<br />
Kirchenräume erschließen. Aufgaben – Typen – Kriterien, <strong>in</strong>: R. Degen, I. Hansen, Lernort<br />
Kirchenraum 1998, 5–22, dort 10-19. Die katholische Religionspädagog<strong>in</strong> Monika Scheidler,<br />
TU Dresden, unterscheidet liturgisch-katechetischen von spirituell-symboldidaktischen,<br />
kreativen und „mystagogischen“ Führungen.<br />
35 Vgl. H. Rupp, Handbuch der Kirchenpädagogik 2006, 264–269<br />
36 Vgl. Deutsche Bischöfe – Liturgiekommission, Räume der Stille. Gedanken zur Bewahrung<br />
e<strong>in</strong>es bedrohten Gutes <strong>in</strong> unserer Zeit, 14.2.2003, S. 22<br />
37 So Manfred Josuttis <strong>in</strong>: ders., Religion als Handwerk, 2002, 132. Josuttis sieht auch <strong>in</strong> den<br />
Lesungen, Gebeten und der Predigt bei e<strong>in</strong>er evangelischen Kirchene<strong>in</strong>weihung e<strong>in</strong>e solche<br />
Ausgrenzung und Aufladung<br />
38 Bei der E<strong>in</strong>weihung der Schlosskirche <strong>in</strong> Torgau formuliert er: „Nicht das man daraus e<strong>in</strong><br />
sondere Kirchen mache, als were sie besser denn andere heuser, do man gottes Wort predigt.<br />
Fiele aber die not fur, das man nicht wollte oder kündte hier<strong>in</strong> zusamen komen, so möchte<br />
man wol draussen beim Brunnen oder sonst wo predigen . . .“.a.a.O.<br />
39 H. Schwebel, Die Kirche und ihr Raum, <strong>in</strong>: S. Glockz<strong>in</strong>-Bever, H. Schwebel (Hg.), Kirchen<br />
Raum Pädagogik, 2002, 9–30 dort 14f<br />
40 Vgl. Manfred Josuttis, Der Weg <strong>in</strong>s Leben, 1991, 66–79. sowie M. Josuttis, Vom Umgang mit<br />
heiligen Räumen <strong>in</strong>: Th. Klie (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses<br />
Lernen 1998, 34-43. Josuttis schließt sich dem Philosophen Hermann Schmitz an, der Kirchenräume<br />
als Stätten der Kultur göttlicher Gefühle sieht, wobei diese objektiv-räumlich verstanden<br />
werden müssen vgl. ders., System der Philosophie. Der Raum, Vierter Teil, 1995, 80f.<br />
41 Vgl. K. Razschok, Spuren im Kirchenraum, Pastoraltheologie 4,2000, 142–157; vgl. auch<br />
K. Razschok, Der Feier Raum geben <strong>in</strong>: Th. Klie a.a.O. 112–135<br />
42 Zit. nach H. Rupp (Hg.), Handbuch der Kirchenpädagogik 2006, 315<br />
43 Vgl. Michel Foucault, Andere Räume, <strong>in</strong>: K. Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute<br />
oder Perspektiven e<strong>in</strong>er anderen Ästhetik, 2002, 34–46<br />
44 „Kirchenräume s<strong>in</strong>d heute weith<strong>in</strong> optische Unterbrechungen <strong>in</strong>mitten Verkehr, Geschäft und<br />
Politik; auch kann ihre Andersartigkeit sie zu Gegenräumen machen.“ R. Degen, Den Räumen<br />
Raum geben, JRP 18,2002, 122<br />
10
CLAUS GÜNZLER<br />
Zeiterfahrung und Persönlichkeitsbildung *<br />
– Das schnelle Leben und se<strong>in</strong>e Paradoxien –<br />
Es hat <strong>in</strong> den letzten Jahren vielerlei Kritik an der Schule gegeben, vor allem<br />
durch die PISA-Studien, <strong>in</strong> denen hochmögende Analysten uns wissen lassen,<br />
<strong>in</strong> welchen Sektoren die Leistungen unserer Schüler h<strong>in</strong>ter dem <strong>in</strong>ternationalen<br />
Standard zurückbleiben. Als Therapie wird dann e<strong>in</strong>e breite Palette neuer<br />
Kompetenzen def<strong>in</strong>iert, an denen wir die Schulpraxis schleunigst ausrichten<br />
müssten, wenn wir global konkurrenzfähig bleiben wollten. Kurzum, Bildungskritik<br />
und – <strong>in</strong> ihrem Schlepptau – Bildungspolitik haben es mit der Bildung<br />
plötzlich sehr eilig, wollen möglichst direkt e<strong>in</strong>e neue Qualität generieren und<br />
setzen dabei auf e<strong>in</strong>e methodisch-organisatorische Neuausrichtung der Schule.<br />
Solchem Pragmatismus lässt sich nur schwerlich widersprechen, denn er geht<br />
ja von realen Defekten aus, doch ihm ist auch e<strong>in</strong> unübersehbarer Mangel an<br />
die Stirn geschrieben: Die Reflexivität bleibt zugunsten schneller Reformen<br />
auf der Strecke. Module und Kompetenzen sollen jetzt leisten, was die alten<br />
Lerngegenstände und Bildungsziele nicht mehr schaffen, und an Bildungsstandards<br />
glaubt man dann messen zu können, was sich bisher nur schätzen<br />
ließ. Da stellt sich die Doppelfrage: Kann das Tempo der Neustrukturierung<br />
die gründliche Fundierung ersetzen? Und ist das bisherige Verständnis von<br />
Bildung an sich selbst gescheitert oder an dem Zeitgeist, <strong>in</strong> dessen Zeichen es<br />
sich bewähren musste. Solchen Fragen möchte ich hier nachgehen und habe<br />
mit dem Term<strong>in</strong>us ,Zeitgeist‘ schon das Schlüsselphänomen benannt, das<br />
sich als H<strong>in</strong>tergrund vieler Lern- und Leistungsprobleme kaum übersehen<br />
lässt: die Frage nach dem Umgang mit der Zeit.<br />
Bildung, Tempo und Zeitparadoxien<br />
An Schule und Hochschule machen wir die Erfahrung, dass immer mehr<br />
K<strong>in</strong>der und Jugendliche sich immer weniger auf e<strong>in</strong> gründliches, kont<strong>in</strong>uierliches<br />
Lernen konzentrieren können und freimütig bekennen, sie hätten<br />
dazu e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong>e Zeit. Der Term<strong>in</strong>druck sche<strong>in</strong>t unwiderstehlich zu se<strong>in</strong><br />
und sieht ununterbrochen Aktivitäten vor, deren persönlicher Reiz die Schule<br />
zum Randphänomen relativiert. Deshalb werden auch die s<strong>in</strong>nvollsten<br />
Hausaufgaben h<strong>in</strong>ausgeschoben, fallen schließlich dem Vergessen anheim,<br />
* Vorgetragen bei der Tagung der GEE „Schule, Zeitgeist, Lebenswelt – Bildung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er diffusen<br />
Realität, am 5./6.Mai 2007 <strong>in</strong> Falkau<br />
11
und die Gruppe der hochmotivierten, leistungsorientierten Schüler mutiert<br />
vom maßgeblichen Regelfall zur bemitleidenswerten M<strong>in</strong>derheit. Es ist ke<strong>in</strong>eswegs<br />
abwegig, hier mit neuen schulorganisatorischen Vorzeichen zu reagieren,<br />
also die Ganztagsschule e<strong>in</strong>zuführen und sie an Bildungsstandards auszurichten,<br />
doch dies löst das Problem nicht <strong>in</strong> der Sache, sondern nur im äußeren<br />
Rahmen: Zwar wird der Spielraum für die Beliebigkeit der Zeitnutzung<br />
enger und der Anspruch des Unterrichts strenger, aber bleibende Wirkung<br />
kann dies nur haben, wenn der Umgang mit der Zeit nicht nur reguliert, sondern<br />
auch thematisiert, also als fächerübergreifende erzieherische Aufgabe <strong>in</strong> den<br />
Schulalltag aller Klassenstufen <strong>in</strong>tegriert wird. Ich werde später darauf zurückkommen,<br />
möchte aber schon hier betonen, dass der Umgang mit der Zeit<br />
e<strong>in</strong>e unausweichliche Herausforderung darstellt, wenn die Schule nicht nur<br />
Kompetenzen vermitteln, sondern auch der Förderung von stabilen Persönlichkeiten<br />
verpflichtet bleiben soll.<br />
Diese alte Aufgabe ist heutzutage e<strong>in</strong> Unterfangen, das so unzeitgemäß wie<br />
ke<strong>in</strong> anderes ersche<strong>in</strong>t, denn es weckt den Verdacht der Donquichotterie, mit<br />
pädagogischen Mitteln gegen das schnelle Leben, gegen den Geschw<strong>in</strong>digkeitsrausch<br />
der Gegenwart anzuarbeiten. Zeit wird uns seit etwa zwei Jahrzehnten<br />
mit wachsender Exklusivität als Tempo auferlegt, das heißt, es darf<br />
ke<strong>in</strong>e ruhig fließende Zeit geben, sondern alle Zeite<strong>in</strong>heiten müssen m<strong>in</strong>utiös<br />
mit immer neuer Aktivität gefüllt, vor dem Absturz <strong>in</strong> die Monotonie bewahrt<br />
werden, und so ersche<strong>in</strong>t es wenig attraktiv, sich e<strong>in</strong>er Aufgabe stetig und<br />
beharrlich über längere Zeitphasen zu widmen. Letzteres ist unbestritten die<br />
Bed<strong>in</strong>gung für qualifizierte Leistungen, doch es fällt immer schwerer, diesen<br />
Weg zu gehen, wenn von überall her die Abwechslung lockt.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs gibt es auch Hoffnung, und diese wurzelt <strong>in</strong> den Zeitparadoxien,<br />
die das schnelle Leben mit wachsender Schärfe aufwirft. Diese Paradoxien<br />
werden uns zunehmend bewusst und verleihen der Frage nach dem S<strong>in</strong>n des<br />
dom<strong>in</strong>ierenden Zeitverständnisses e<strong>in</strong>e neue Brisanz. Ich möchte dies an<br />
e<strong>in</strong>igen wenigen Beispielen skizzieren und schicke voraus, dass der Zeitgew<strong>in</strong>n,<br />
den wir der modernen Technik verdanken, beachtlich ist, also die<br />
Zweckmäßigkeit des technischen Fortschritts nicht bezweifelt werden kann.<br />
Zugleich aber bedeutet Zeitgew<strong>in</strong>n stets auch Zeitverlust, denn die modernen<br />
Geräte s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Handwerkszeug, sondern komplizierte Systeme,<br />
die es mühselig zu erschließen und dann sorgfältig zu warten gilt, das heißt, sie<br />
s<strong>in</strong>d gefräßige Zeitdiebe. Wenn die Kosten-Nutzen-Rechnung aufgehen soll,<br />
muss der Zeitgew<strong>in</strong>n den Zeitverlust deutlich überwiegen, doch dies gel<strong>in</strong>gt<br />
bestenfalls <strong>in</strong> hochgerüsteten Betrieben mit entsprechendem Fachpersonal,<br />
nicht aber im privaten Alltag. Hier neutralisiert der Zeitaufwand den Zeitgew<strong>in</strong>n<br />
und verschl<strong>in</strong>gt letztlich Zeit, die für wichtigere D<strong>in</strong>ge des Lebens<br />
zur Verfügung stehen müsste, so auch für das gründliche Lernen.<br />
12
Vor zwei Jahrzehnten gab es e<strong>in</strong> vergleichbares Problem <strong>in</strong> dieser Zuspitzung<br />
noch nicht: Fernseher und Waschmasch<strong>in</strong>e ließen sich spontan bedienen, das<br />
Telefon war <strong>in</strong> sich evident, auch den Wecker konnte man ohne <strong>in</strong>terpretatorisches<br />
Experimentieren stellen, das Wechseln des Staubsaugerbeutels bedurfte<br />
ke<strong>in</strong>er Literaturhilfe, und alle sechs bis acht Wochen galt es beim Auto Luft<br />
und Öl zu kontrollieren. Demgemäß waren die Gebrauchsanleitungen<br />
knapp und klar, man brauchte noch ke<strong>in</strong>en Platz für reichbestückte ,Manual‘-<br />
Bibliotheken, musste ke<strong>in</strong>e Open-End-Abende an Hotl<strong>in</strong>es verbr<strong>in</strong>gen und<br />
hatte viel Zeit für anderes. Wer diese überschaubare Zeit erlebt hat, muss<br />
deshalb heute nicht zum Nostalgiker werden, sondern kann sich durchaus<br />
der neuen Technologien bedienen, doch er wird kaum bereit se<strong>in</strong>, sich den<br />
technischen Zeitdieben auszuliefern, und sollte dar<strong>in</strong> auch die Jüngeren stärken,<br />
die diesen Vergleich nicht ziehen können. Es geht also um den lebensdienlichen<br />
Umgang mit der Zeit, <strong>in</strong> der Gesellschaft <strong>in</strong>sgesamt, besonders<br />
aber <strong>in</strong> Elternhaus und Schule, denn hier entscheidet es sich, ob wir die<br />
Technologien nötigen, sich unserem Zeitanspruch anzupassen, oder ob wir als<br />
willfährige Opfer vor dem Herstellerdruck kapitulieren.<br />
Derzeit s<strong>in</strong>d wir von der humanen Hoheit über den Technikgebrauch noch<br />
weit entfernt, passen unseren Lebensstil e<strong>in</strong>er hochkomplexen Technik an,<br />
anstatt e<strong>in</strong>e Technik nach unseren Maßen zu fordern, und oft bemerken wir<br />
die Zeitparadoxien gar nicht mehr, weil sie selbstverständlich ersche<strong>in</strong>en.<br />
Das schnelle Leben nötigt uns zum Denken <strong>in</strong> M<strong>in</strong>uten, und zugleich stehen<br />
wir voller Gleichmut <strong>in</strong> Schlangen vor Post-, Bahn- und Bankschaltern,<br />
nehmen apathisch jährlich rund 60 Stunden Autobahnstau h<strong>in</strong>, <strong>in</strong>vestieren<br />
lange Abende <strong>in</strong> das Downloaden, Updaten, Nachladen, Umstecken usw.<br />
und „kommunizieren“ <strong>in</strong> aller Eile nach dem Signalton mit irgendwelchen<br />
Anrufbeantwortern. Plausibel ist das nicht, doch man hat sich daran gewöhnt,<br />
und deshalb richten wir nun auch das Bildungswesen nach diesen Erfahrungen<br />
aus: Reflexionsbere<strong>in</strong>igte Kurzstudiengänge präparieren den Unifunktionsbediener<br />
für Multifunktionsgeräte, und das Turbogymnasium soll den<br />
Abiturientennachschub beschleunigen, wobei <strong>in</strong> beiden Fällen offen bleibt,<br />
<strong>in</strong>wieweit das erhöhte Tempo Lücken erzeugt, die durch zeitaufwändige<br />
Zusatzpensen ausgeglichen werden müssen und so die gewonnene Zeit wieder<br />
absorbieren. Mit anderen Worten: Wie <strong>in</strong> allen Bereichen der heutigen<br />
Gesellschaft kommt es neuerd<strong>in</strong>gs auch im Bildungswesen darauf an, dass<br />
Reformen – so e<strong>in</strong>e zeittypische Vokabel – „zeitnah“ realisiert werden, also<br />
schnell, umgehend und direkt, und demgegenüber tritt die sorgfältige<br />
Abschätzung der Langzeitfolgen als theoretischer Ballast zurück. Wenn e<strong>in</strong>e<br />
Reform dann erste Widersprüche aufwirft, wird sie eben zeitnah durch<br />
e<strong>in</strong>e Reform der Reform „optimiert“, und so kann denn die Innovationsgeschw<strong>in</strong>digkeit<br />
permanent aufrechterhalten werden.<br />
13
Für das Bildungswesen bedeutet dies e<strong>in</strong>en Vorzeichenwechsel von grundsätzlichem<br />
Gewicht, denn hier hat man stets nach entwicklungsgemäßen<br />
Rhythmen gesucht, also niemals auf das Tempo gesetzt, während just dieses<br />
heutzutage zum maßgeblichen Faktor geworden ist. Die Zeit als Tempo begünstigt<br />
zwangsläufig den schnellen Wandel zu Lasten der stabilisierenden<br />
Konstanz, durchkreuzt immerfort mit allerneuesten Neuigkeiten das ruhige<br />
Heranreifen <strong>in</strong>nerer Orientierungen und nötigt die Schule dazu, die langfristige<br />
Aufgabe der Persönlichkeitsbildung zugunsten der Vermittlung<br />
aktueller Brauchbarkeiten zurückzustellen. Ohne Frage aber prägt die Zeiterfahrung<br />
unsere Selbstdeutung, also die Art und Weise, wie wir uns selbst<br />
verstehen und unser Leben gestalten. Deshalb erzeugt sie bei verschiedenen<br />
Generationen sehr unterschiedliche Lebenshorizonte, und dies gilt auch für die<br />
derzeit Heranwachsenden im Vergleich mit den Erwachsenen. Das jeweilige<br />
Zeitverständnis setzt also die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen für Bildung und Erziehung,<br />
und so müssen wir die Frage nach der Zeit <strong>in</strong> ihren maßgeblichen Entwicklungsetappen<br />
zurückverfolgen, wenn wir die gegenwärtige Situation orten wollen.<br />
Das möchte ich nunmehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em knappen Rekurs tun.<br />
Exemplarisches zur Geschichte des Zeitverständnisses<br />
In der Antike lag die durchschnittliche Lebenserwartung deutlich unter<br />
30 Jahren, wobei zu berücksichtigen ist, dass die hohe Säugl<strong>in</strong>gs- und<br />
K<strong>in</strong>dersterblichkeit e<strong>in</strong>en maßgeblichen Anteil daran hatte. Wer die K<strong>in</strong>derjahre<br />
überstanden hatte und als junger Erwachsener von Krieg und Seuche<br />
verschont blieb, konnte durchaus 50 Jahre und älter werden, doch der Mehrheit<br />
wurde dies nicht zuteil, das heißt, alte Menschen waren nicht der Regelfall,<br />
schon gar nicht mit der Gesundheit und Eigenständigkeit, wie sie heute<br />
üblich geworden ist. So lag es nahe, dass man bei der Zeit vor allem an die<br />
kurze Lebenszeit dachte, und Hippokrates (circa 460–370), der Begründer<br />
der wissenschaftlichen Mediz<strong>in</strong>, fasste diese Erfahrung <strong>in</strong> die berühmte<br />
Formel „Vita brevis, ars longa“. Das Leben – so wollte er damit sagen – ist<br />
zu kurz, um die ärztliche Kunst vollständig zu erlernen.<br />
Das Motiv der Lebenskürze prägte für fast zweie<strong>in</strong>halb Jahrtausende das<br />
menschliche Zeitbewusstse<strong>in</strong>, und erst das 20. Jahrhundert hat dann durch<br />
riesige Fortschritte <strong>in</strong> Hygiene, Ernährung und Mediz<strong>in</strong> die allgeme<strong>in</strong>en<br />
Lebensumstände so umfassend verbessert, dass die Lebenserwartung heute<br />
bei 80 Jahren angekommen ist. Aus dem vormaligen Privileg ist gewissermaßen<br />
e<strong>in</strong> demokratischer Anspruch und deshalb e<strong>in</strong> demographischer<br />
Faktor geworden. Dies hat die Zeiterfahrung tiefgreifend verändert und die<br />
Frage nach dem Umgang mit der Zeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en neuen Bezugsrahmen gestellt,<br />
doch auch schon <strong>in</strong> der Antike vollzog sich <strong>in</strong> kritischer Absetzung von<br />
Hippokrates e<strong>in</strong> Wandel <strong>in</strong> der Deutung der Zeit. Die Stoiker wollten den<br />
14
Respekt vor der Lebenskürze nicht dem bloßen Hoffen und Bangen überlassen,<br />
setzten sich beherzt vom „Vita brevis, ars longa“-Motiv ab, und Seneca (4–65)<br />
erklärt dann <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift „Von der Kürze des Lebens“:<br />
„Wir haben nicht zuwenig Zeit; wir vergeuden zuviel davon.“ 1<br />
Das Leben – so me<strong>in</strong>t er – sei lang genug, wenn man es nur zu nutzen wisse,<br />
und nutzen könne man es, <strong>in</strong>dem man die Zeit sammele und bewahre. Im<br />
Zeichen der antiken Lebenserwartung kl<strong>in</strong>gt dies heroisch, ja trotzig, doch<br />
es wird damit e<strong>in</strong> Programm formuliert, das durchaus <strong>in</strong> die Zukunft weist,<br />
denn mit zunehmender Lebensdauer steigert sich auch der Anspruch, die<br />
verliehene Zeit verantwortlich zu füllen, und dieses Postulat trifft nicht zuletzt<br />
unsere alternde Gegenwartsgesellschaft. Ob kurzes oder langes Leben,<br />
für Seneca bietet sich jedem Menschen die Chance, die ihm gegebene Zeit <strong>in</strong><br />
produktiver Weise zu gestalten, und so urteilt er denn:<br />
„Nichts ist schändlicher, als wenn e<strong>in</strong> Greis mit nichts anderem beweisen<br />
kann, dass er lange gelebt hat, als mit der Zahl se<strong>in</strong>er Jahre.“ 2<br />
Dieser Appell zum aktiv-verantwortlichen Umgang mit der Zeit ist e<strong>in</strong>e<br />
bemerkenswerte ethische Errungenschaft, doch er entwickelt das antike<br />
Zeitverständnis nicht essentiell weiter, denn Seneca begreift wie se<strong>in</strong>e antiken<br />
Vorgänger die Zeit weiterh<strong>in</strong> als objektive Macht, die allem Leben e<strong>in</strong>en<br />
Zeitpunkt des Entstehens und e<strong>in</strong>en Zeitpunkt des Vergehens, also e<strong>in</strong>e<br />
bestimmte Dauer vorgibt, und während dieser Dauer gilt es jedes neue<br />
Jetzt vernünftig, ergo tugendhaft, zu meistern. Das Leitmotiv ist die jedem<br />
Menschen zugewiesene Zeitdauer, <strong>in</strong> der Regel also die Lebenskürze, und<br />
die führt zu e<strong>in</strong>em Leben im Präsens, das heißt, <strong>in</strong> jedem neuen Augenblick<br />
muss jedermann das, was auf ihn zukommt, eigenbestimmt und pr<strong>in</strong>zipienbewusst<br />
beantworten. Das menschliche Leben verläuft also <strong>in</strong> der Zeit als<br />
objektivem Rahmen, wird aber noch nicht <strong>in</strong> der ihm eigenen zeitlichen<br />
Struktur, <strong>in</strong> der subjektiven Verflechtung von Gegenwart, Vergangenheit<br />
und Zukunft erfasst. Dass es auch e<strong>in</strong>e subjektive Zeit gibt, dass es unser<br />
Zeitbewusstse<strong>in</strong> ist, welches über unseren Umgang mit der Zeit entscheidet,<br />
und dass wir ke<strong>in</strong>eswegs nur Spielball e<strong>in</strong>er verme<strong>in</strong>tlich objektiven Zeit s<strong>in</strong>d,<br />
ist e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>sicht, die erstmals August<strong>in</strong>us (353–430) gew<strong>in</strong>nt. Er fundiert die<br />
Zeitstruktur im menschlichen Ich und wird damit zum <strong>in</strong>spirierenden Vorläufer<br />
der modernen Zeitforschung. 3<br />
In Buch XI se<strong>in</strong>er „Confessiones“ erörtert August<strong>in</strong>us die Frage nach der Zeit<br />
<strong>in</strong> ihrer ganzen Vielschichtigkeit, ist sich der Schwierigkeit der Problematik<br />
vollauf bewusst und bekennt:<br />
„Was also ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich<br />
e<strong>in</strong>em Fragenden es erklären, weiß ich es nicht. Aber zuversichtlich behaupte<br />
15
ich zu wissen, dass es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verg<strong>in</strong>ge, und<br />
nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit,<br />
wenn nichts seiend wäre.“ 4<br />
In detaillierten Analysen prüft er dann die Dreiheit von Vergangenheit, Gegenwart<br />
und Zukunft, fragt, <strong>in</strong> welchem S<strong>in</strong>n hier von drei Zeiten gesprochen<br />
werden könne, und kommt zu dem klaren Befund:<br />
„Es s<strong>in</strong>d diese Zeiten e<strong>in</strong>e Dreiheit <strong>in</strong> der Seele, und anderswo sehe ich sie<br />
nicht: und zwar ist da Gegenwart von Vergangenem, nämlich Er<strong>in</strong>nerung;<br />
Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augensche<strong>in</strong>; Gegenwart von<br />
Künftigem, nämlich Erwartung.“ 5<br />
Die Untersuchung mündet dann <strong>in</strong> die Aussage:<br />
„In dir, me<strong>in</strong> Geist, messe ich die Zeiten.“ 6<br />
Damit ist die Schlüsselrolle des menschlichen Zeitbewusstse<strong>in</strong>s begrifflich<br />
klar erfasst: Die Vergangenheit ,ist‘ nicht und die Zukunft auch nicht, denn<br />
die e<strong>in</strong>e ist abgelaufene Zeit, die andere noch bevorstehende Zeit, also handelt<br />
es sich hier nicht um Seiendes. Wohl aber können wir uns die Vergangenheit<br />
vergegenwärtigen (memoria) oder uns der Zukunft mit Erwartung (expectatio)<br />
zuwenden, doch beides tun wir <strong>in</strong> der Gegenwart, das heißt, es ist unsere<br />
jetzige Anschauung (contuitus), die das Früher und das Später <strong>in</strong> sich here<strong>in</strong>holt.<br />
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt es also nicht als eigenständige<br />
Zeitwelten, sondern nur, <strong>in</strong>sofern sie sich unser Zeitbewusstse<strong>in</strong> im jeweiligen<br />
Jetzt vergegenwärtigt, und diese Vergegenwärtigung ist unverzichtbar, wenn es<br />
uns auf e<strong>in</strong>e unverkürzte Zeiterfahrung ankommt. Seneca hatte das noch nicht<br />
denken können, weil er die Zeit als e<strong>in</strong>e naturhafte, äußere Macht auffasste,<br />
bei August<strong>in</strong>us dagegen verlagert sich der Akzent auf den subjektabhängigen<br />
Charakter der Zeit, auf das menschliche Ich als die Instanz, die das Jetzt immer<br />
von neuem zum Früher und zum Später h<strong>in</strong> überschreitet, so Vergangenheit<br />
und Zukunft <strong>in</strong> sich aufnimmt und dies auch tun muss, wenn es sich nicht<br />
dem puren Jetzt ausliefern will. Damit ändert sich nichts an der Tatsache, dass<br />
jedem Menschenleben e<strong>in</strong>e bestimmte Dauer beschieden ist, doch die zeitliche<br />
Strukturierung dieser je eigenen Zeitphase wird zur Sache des <strong>in</strong>dividuellen<br />
Zeitbewusstse<strong>in</strong>s.<br />
Die von August<strong>in</strong>us eröffnete Perspektive bestimmt von nun an die Frage<br />
nach der Zeit, wobei vor allem der Gedanke des messenden und schöpferischen<br />
Geistes die Denker an der Wende zur Moderne prägt, so etwa Nikolaus<br />
Cusanus (1401–1464), der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em „Liber de Mente“ den Term<strong>in</strong>us ,mens‘<br />
vom Term<strong>in</strong>us ,mensura‘ herleitet 7 und den Maß setzenden Geist als Schöpfer<br />
aller Zeite<strong>in</strong>teilungen (Stunden, Monate, Jahre etc.) sieht, mith<strong>in</strong> die Zeit als<br />
16
Funktion des Geistes und nicht als e<strong>in</strong>e äußere Realität begreift. 8 Diese<br />
Überzeugung, dass die Zeit zwar e<strong>in</strong> realer Faktor <strong>in</strong> unserem Leben ist,<br />
aber <strong>in</strong> ihrer Wirkung zugleich maßgeblich von unserem Zeitbewusstse<strong>in</strong> bestimmt<br />
wird, prägt das Denken bis heute. Niemand bestreitet, dass wir<br />
grundsätzlich imstande s<strong>in</strong>d, unseren Umgang mit der Zeit zu regulieren,<br />
etwa zu entscheiden, welchen Tribut wir dem Druck der Uhr entrichten und<br />
welchen Lebensanteil wir dem personal so bedeutsamen Wechselspiel zwischen<br />
dem Blick zurück und dem Blick nach vorne zubilligen wollen. Wir können<br />
entscheiden, ob wir e<strong>in</strong> Leben im puren Jetzt führen oder dem Früher und<br />
Später e<strong>in</strong>en festen Ort <strong>in</strong> unserem Lebensverständnis e<strong>in</strong>räumen wollen.<br />
Doch warum nutzen wir diese Chance unter modernen Bed<strong>in</strong>gungen immer<br />
weniger?<br />
Zu den ersten Diagnostikern, die diese Frage aufwerfen, zählt Goethe. Aus dem<br />
18. Jahrhundert herkommend, wittert er zu Beg<strong>in</strong>n des 19. Jahrhunderts e<strong>in</strong>e<br />
gravierende Veränderung der Zeiterfahrung durch die frühe Industrialisierung,<br />
sieht se<strong>in</strong>e eigene Zeit zu Ende gehen und warnt vor der Mischung aus Geschw<strong>in</strong>digkeit<br />
und Mittelmäßigkeit, die <strong>in</strong> der Fortschrittsgesellschaft die<br />
ruhige Entwicklung der Jugend bedrohe. In Briefen aus dem Jahr 1825 beklagt<br />
er, dass „junge Leute viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen“<br />
würden, dass die Geschw<strong>in</strong>digkeit nur noch „e<strong>in</strong>e mittlere Kultur“<br />
zulasse und echte Begabungen an der Entwicklung h<strong>in</strong>dere. 9 Dieses Zusammenspiel<br />
von Schnelligkeit, Zeitstrudel und Mittelmäßigkeit verdichtet er im<br />
Adjektiv „veloziferisch“, kennzeichnet also das frühe 19. Jahrhundert als e<strong>in</strong>e<br />
teuflisch schnelle Zeit und umreißt deren Risiko folgendermaßen:<br />
„Für das größte Unheil unsrer Zeit, die nichts reif werden lässt, muss ich halten,<br />
dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im<br />
Tage vertut, und so immer aus der Hand <strong>in</strong> den Mund lebt, ohne irgend etwas<br />
vor sich zu br<strong>in</strong>gen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten,<br />
e<strong>in</strong> guter Kopf könnte wohl noch e<strong>in</strong>s und das andere <strong>in</strong>terpolieren.<br />
Dadurch wird alles, was e<strong>in</strong> jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, <strong>in</strong>s<br />
Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum<br />
Zeitvertreib der übrigen; und so spr<strong>in</strong>gt’s von Haus zu Haus, von Stadt<br />
zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles<br />
veloziferisch.“ 10<br />
Aus der Perspektive unserer heutigen Wissens- und Informationsgesellschaft<br />
nimmt sich die Welt, die Goethe vor fast zweihundert Jahren diagnostiziert hat,<br />
geradezu gemächlich aus, doch dies ändert nichts an der Tatsache, dass der<br />
Begriff des Veloziferischen e<strong>in</strong>e Strukturschwäche der modernen Fortschrittsgesellschaft<br />
aufdeckt, e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Automatismus, der se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss<br />
<strong>in</strong>zwischen bis <strong>in</strong> alle Verästelungen des Lebensalltags h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> ausgedehnt hat<br />
17
und so allen heranwachsenden Generationen e<strong>in</strong> Zeitverständnis auferlegt,<br />
das die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Schule konterkariert. Dieser<br />
Siegeszug des Geschw<strong>in</strong>digkeitsideals hat se<strong>in</strong>en bisherigen Höhepunkt zwar<br />
erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts erreicht, also lange nach Goethe, aber<br />
gerade dadurch bestätigt er umso markanter das Risiko, vor dem dieser gewarnt<br />
hat: die Gefährdung der Humanität durch e<strong>in</strong>e Zeiterfahrung, die den<br />
E<strong>in</strong>zelnen ständig von sich selbst ablenkt, anstatt ihn zu sich selbst f<strong>in</strong>den zu<br />
lassen. Damit s<strong>in</strong>d wir wieder <strong>in</strong> der Gegenwart angekommen, und ich<br />
möchte mich jetzt der Frage zuwenden, warum es die Schule so schwer hat,<br />
ihrem Auftrag gerecht zu werden, ganz gleich, wie sie organisiert ist, und unabhängig<br />
davon, ob sie nach alter Weise Sachzusammenhänge erschließen oder<br />
reformfreudig streng umrissene Module übermitteln will. Allen derartigen<br />
Fragen liegt nämlich e<strong>in</strong> weitaus tiefer reichendes Problem voraus: die Frage<br />
nach dem Umgang mit der Zeit. Sie ist maßgeblich an der Selbst- und<br />
Lebensdeutung jedes E<strong>in</strong>zelnen beteiligt und lässt sich heutzutage nicht<br />
ernsthaft erörtern, ohne die Multimediawelt zu berücksichtigen, die uns täglich<br />
unentr<strong>in</strong>nbar umflutet.<br />
Die Medialisierung des Alltags als Verflüchtigung der Zeiterfahrung<br />
Die Euphorie, die <strong>in</strong> den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts den Aufbruch <strong>in</strong><br />
die Multimediawelt begleitet hat, wird seit sechs bis acht Jahren zunehmend<br />
durch kritische Stimmen relativiert. Diese attestieren den neuen Medien e<strong>in</strong>e<br />
desorientierende Wirkung auf den Lebensalltag, und zwar vor allem bei denjenigen,<br />
die im Zeichen der digitalen Technologien heranwachsen. Niemand<br />
bezweifelt den professionellen Nutzen des globalen Informationstempos für<br />
Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Verkehr usw., doch als Kehrseite der damit<br />
erzielten Fortschrittsbeschleunigung tritt mehr und mehr e<strong>in</strong>e eklatante<br />
Verkümmerung der Zeiterfahrung <strong>in</strong> der Alltagswelt zu Tage, eben damit<br />
aber e<strong>in</strong> bedrohliches Risiko für den klaren und stetigen Weg zur stabilen<br />
Persönlichkeit.<br />
Verschiedene Studien erblicken die Ursache für diesen Wandel der Zeiterfahrung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Veränderung der Wahrnehmung 11 , und zwar <strong>in</strong> der zunehmenden Verselbständigung<br />
des Sehens und Hörens gegenüber der Sprache und dem Denken.<br />
Die neuen Medien, ob Handy, Internet, Playstation oder kommerzialisiertes<br />
Fernsehen, s<strong>in</strong>d deswegen neu, weil sie im Unterschied zum Buch, zum Film,<br />
zur Diaserie oder zum programmatischen Fernsehen vergangener Jahrzehnte<br />
nahezu ausschließlich auf das Hören und Sehen setzen, also die sprachliche<br />
Verarbeitung der Hör- und Sehimpulse ausklammern. Sprache aber ist das<br />
Medium, das uns das folgerichtige Denken ermöglicht, systematische Zusammenhänge<br />
stiftet, uns zur aktiven Ause<strong>in</strong>andersetzung mit komplexen<br />
Sachverhalten befähigt und so zu e<strong>in</strong>er eigenen Lebens- und Weltdeutung<br />
18
gelangen lässt. 12 Wenn also die Sprache medial vernachlässigt, auf modische<br />
Allerweltsfloskeln reduziert und damit ihrer Differenziertheit beraubt wird,<br />
dann wird dem E<strong>in</strong>zelnen das Mittel genommen, vom Sehen und Hören zum<br />
Denken zu gelangen, also das, was er sieht und hört, zu orten, den Stellenwert<br />
se<strong>in</strong>er Wahrnehmung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en größeren Zusammenhang zu stellen. Wer<br />
diese Fähigkeit mitbr<strong>in</strong>gt, kann durch den medialen Zauber nicht ernsthaft<br />
verunsichert werden, doch wer Sprache und Urteilsfähigkeit erst noch entwickeln<br />
soll, benötigt e<strong>in</strong>e extrem robuste Veranlagung zum Selbstdenken,<br />
wenn er nicht dem Spiel der audiovisuellen Reize erliegen soll.<br />
Die Medialisierung des Alltags, <strong>in</strong>sbesondere die digitale Hochrüstung des<br />
K<strong>in</strong>derzimmers, b<strong>in</strong>det K<strong>in</strong>der und Jugendliche, die ihr ohne Erwachsenenhilfe<br />
ausgesetzt s<strong>in</strong>d, an e<strong>in</strong>e unaufhörliche Kette der Seh- und Hörimpulse,<br />
konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf das jeweilige Jetzt und br<strong>in</strong>gt sie damit<br />
um die Chance, sich sprachlich das Früher und das Später zu erschließen<br />
und so Maßstäbe für die Beurteilung des Jetzt zu entwickeln. Nicht Rückblick<br />
und Vorblick, sondern der Dauerdruck der Jetzt-Ansprüche bestimmt den<br />
Lebensrhythmus der Betroffenen und unterläuft eben jenes Zeitverständnis,<br />
das seit August<strong>in</strong>us als wesentliche Dimension des Menschse<strong>in</strong>s verstanden<br />
wird. Die digitalisierte Kultur lebt vom Jetzt und signalisiert immerfort<br />
„Bleib’ dran!“, „Log’ dich e<strong>in</strong>“, „Klick’ hier!“, „Bestell’ sofort!“, das heißt, die<br />
Zeit wird gleichsam punktualisiert, zu e<strong>in</strong>er Abfolge von Jetzt-Erfahrungen<br />
verdünnt; Distanz und Nachdenklichkeit ersche<strong>in</strong>en da eher als Spielverderber.<br />
Offenbar hat es die moderne Gesellschaft weith<strong>in</strong> noch nicht gelernt, den<br />
digitalen Fortschritt <strong>in</strong>telligent zu nutzen, anstatt naiv an se<strong>in</strong>er schillernden<br />
Oberfläche hängen zu bleiben. Deshalb missverstehen viele die Multimediawelt<br />
als e<strong>in</strong>e Art digitales Dop<strong>in</strong>g, reihen e<strong>in</strong> Jetzt-Erlebnis an das andere,<br />
haben für das geduldige Arbeiten an komplexen Aufgaben nie Zeit und lernen<br />
so das volle Spektrum der Zeiterfahrung gar nicht erst kennen.<br />
Folgerichtig verliert die Schule dramatisch an E<strong>in</strong>fluss, denn sie muss Arbeitshaltungen<br />
e<strong>in</strong>fordern, die Beharrlichkeit und Ausdauer voraussetzen, also<br />
das pure Jetzt <strong>in</strong> Frage stellen, und deshalb ist sie für das schnelle Leben<br />
wahrlich ke<strong>in</strong>e „coole location“. Für den immer noch stattlichen Anteil lernwilliger<br />
Schüler macht es dieser Zeitgeist zusehends schwieriger, sich selbst<br />
treu zu bleiben, denn ihnen entgeht nicht, dass das allgeme<strong>in</strong>e Anspruchsniveau<br />
s<strong>in</strong>kt und <strong>in</strong>tensiver Arbeitsaufwand eigentlich nicht vonnöten ist.<br />
Mit anderen Worten: Der Lebenshorizont der künftigen Erwachsenen wie<br />
auch ihre persönliche Stabilität sche<strong>in</strong>t der pädagogischen Praxis mehr und<br />
mehr zu entgleiten.<br />
Diese Diagnose zu stellen, bedeutet allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>eswegs, den diagnostizierten<br />
Sachverhalt unwidersprochen h<strong>in</strong>zunehmen, und dafür gibt es e<strong>in</strong> grund-<br />
19
legendes Argument, das weit über die Schule h<strong>in</strong>ausreicht: Wie die Geschichte<br />
zeigt, haben Kulturen immer dann als menschenfreundlich gegolten,<br />
wenn sie den E<strong>in</strong>zelnen weder auf das Gestern fixieren noch im Heute aufgehen<br />
lassen noch e<strong>in</strong>em verme<strong>in</strong>tlichen Morgen opfern, sondern ihm die Freiheit<br />
lassen, se<strong>in</strong>e eigene Zeiterfahrung zu machen und produktiv zu verarbeiten.<br />
Deshalb kann es sich unsere moderne Gesellschaft um ihrer eigenen Zukunft<br />
willen nicht leisten, ihren Nachwuchs auf e<strong>in</strong> Leben im Jetzt e<strong>in</strong>zuschwören<br />
und ihm damit Orientierungsmöglichkeiten vorzuenthalten, die er benötigt,<br />
um das Jetzt zu relativieren und langfristige Ziele für den eigenen Platz <strong>in</strong> der<br />
Gesellschaft zu entwickeln. Anders gesagt: Im Sog der Multimedia-Dynamik<br />
leisten wir uns derzeit die Paradoxie, das schnelle Leben zu begünstigen und<br />
zugleich auf e<strong>in</strong>e hochqualifizierte Zukunftsgesellschaft zu hoffen.<br />
Dies kann so nicht bleiben, und wenn nicht alle Zeichen trügen, drängen<br />
gleich mehrere Widersprüche die moderne Gesellschaft zu e<strong>in</strong>em ernsthaften<br />
Bewusstse<strong>in</strong>swandel, zuallererst die massiven Ant<strong>in</strong>omien zwischen Klima<br />
und Energieverbrauch, Klima und Mobilität usw., sodann aber auch diejenige<br />
zwischen schnellem Leben und tragfähiger Bildung. Immerh<strong>in</strong> ist die Schulreife<br />
der E<strong>in</strong>schulungsjahrgänge neuerd<strong>in</strong>gs zum öffentlichen Thema geworden,<br />
und so wird es wohl bald bundesweit Sprachtests bei den Vierjährigen geben,<br />
um vorliegende Defekte bis zur E<strong>in</strong>schulung ausgleichen zu können. Dies<br />
wird der Spracherziehung <strong>in</strong> der Schule höhere Ansprüche ermöglichen,<br />
bei Ausländern wie bei Inländern, und wenn sich dann die alte Erkenntnis<br />
wieder durchsetzt, dass ohne die Beherrschung der Muttersprache auch das<br />
Fremdsprachenlernen nicht wirklich gel<strong>in</strong>gen kann, wird das die Sprachkultur<br />
an unseren Schulen nachhaltig fördern. Vor allem aber eröffnet e<strong>in</strong>e<br />
Verfe<strong>in</strong>erung der Sprachkultur dem Denken neue Spielräume, denn wo die<br />
Sprache konsequent gepflegt wird, da wird Vergangenes vergegenwärtigt und<br />
Zukünftiges konstruiert, da bilden also das Früher und das Später unausweichliche<br />
Bezugspunkte, und e<strong>in</strong>e bessere Prophylaxe gegen das schnelle<br />
Leben im Jetzt gibt es nicht.<br />
Heute fehlt es der Schulpolitik noch an str<strong>in</strong>genten Konzepten, weil sie<br />
selbst dem Spiel der kurzfristigen Lösungen zum Opfer gefallen ist, doch die<br />
Not der Zeit wird hier e<strong>in</strong>e grundsätzliche Neuorientierung erzw<strong>in</strong>gen. Deshalb<br />
sollten wir <strong>in</strong> der Spracherziehung unnachgiebiger werden, nicht vor<br />
dem allzu lockeren Zeitgeist kapitulieren, sondern von der E<strong>in</strong>schulung bis<br />
zum Schulabschluss auf e<strong>in</strong>em korrekten Sprachgebrauch bestehen, auch<br />
wenn dies die eiligen Genießer der Multimediawelt zunächst langweilt. Derartiges<br />
lässt sich relativ gut ertragen, obschon stets e<strong>in</strong> Risiko bleibt, denn<br />
schon <strong>in</strong> Platons Höhlengleichnis werden Lehrende von lifestyle-geprägten<br />
Schattenexistenzen gelegentlich sogar getötet. 13 Auch Goethe bietet <strong>in</strong> diesem<br />
20
Punkt ke<strong>in</strong>en Ausweg: Er empfiehlt ganz unmittelbar die Natur als Gegenwelt<br />
zum Veloziferischen, doch auch diese ist längst von der hastigen Mobilität<br />
gezeichnet, und so bedarf es wiederum der Sprache und des Denkens, um die<br />
Natur bewusst dort zu suchen, wo sie noch ihren eigenen Rhythmus ausstrahlt.<br />
Es gibt also ke<strong>in</strong>e Alternative zur Sprachkultur.<br />
Dies alles hat nichts mit e<strong>in</strong>er radikalen Absage an die elektronischen Medien<br />
zu tun, denn die wäre völlig s<strong>in</strong>nlos und widerspräche dem Auftrag der<br />
Schule, K<strong>in</strong>der auf das reale Leben vorzubereiten. Es geht vielmehr darum, die<br />
medialen Erfahrungen und Gewohnheiten sprachlich d<strong>in</strong>gfest zu machen und<br />
auf ihre Lebensdienlichkeit h<strong>in</strong> zu prüfen, also gewissermaßen die Banalität zu<br />
vertiefen, damit orientierende Maßstäbe erkennbar werden. Diese pädagogische<br />
Aufgabe wird die gesamte Schullaufbahn begleiten müssen, und sie setzt voraus,<br />
dass die Bildungsarbeit vom Tempodruck befreit wird. Hier könnte die<br />
Ganztagsschule e<strong>in</strong>e organisatorische Plattform bieten, sofern sie den Nachmittag<br />
qualifizierten Sozialberufen anvertraut und nicht dem Eduta<strong>in</strong>ment ausliefert.<br />
Wenn <strong>in</strong> dieser Weise e<strong>in</strong> Rückgew<strong>in</strong>n des verlorenen Sprachniveaus<br />
gel<strong>in</strong>gt, wird das zwangsläufig bei K<strong>in</strong>dern und Eltern zu e<strong>in</strong>em vertieften<br />
Zeitverständnis führen, das heißt, die persönliche Entwicklung wird wieder<br />
<strong>in</strong> ruhigeren Bahnen verlaufen.<br />
Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund stehen die Chancen gut, die Multimediawelt mit<br />
ihren eigenen Mitteln zu domestizieren, also die Fähigkeit zu wecken, sie so<br />
selbstbewusst zu handhaben, dass sie das Nützliche hergibt, ohne mit dem<br />
medialen Zauber Erfolg zu haben. Das E-Learn<strong>in</strong>g ersche<strong>in</strong>t mir hier als e<strong>in</strong><br />
zukunftsträchtiger Weg, den Reiz der digitalen Technik <strong>in</strong> ihrer Tiefenstruktur<br />
zugänglich zu machen, das heißt, den Lernenden e<strong>in</strong> Medium, mit dem er von<br />
Hause aus zu spielen gewohnt ist, als e<strong>in</strong>e hilfreiche Erkenntnisquelle entdecken<br />
zu lassen. Gel<strong>in</strong>gen kann dies, wie gesagt, nur dann, wenn es im Rahmen<br />
e<strong>in</strong>er ernsthaft geförderten Sprachkultur geschieht, und diese wiederum<br />
bereichert nicht nur das E-Learn<strong>in</strong>g, sondern alle Schulfächer <strong>in</strong>sgesamt und<br />
darüber h<strong>in</strong>aus auch die Leistungsfähigkeit der künftigen Berufsfelder.<br />
Wirtschaftler verfallen also e<strong>in</strong>em Trugschluss, wenn sie die Schule nach<br />
ökonomischen Gesichtspunkten auf schnell erwerbbare Kompetenzen ausrichten<br />
wollen, denn der kurzfristige Zeitgew<strong>in</strong>n erweist sich langfristig als<br />
Zeitverlust, weil im Bildungsgang grundlegende Fähigkeiten zu kurz gekommen<br />
s<strong>in</strong>d und später durch Fortbildungskurse nur bruchstückhaft ausgeglichen<br />
werden können. Wirtschaftlich kann nur e<strong>in</strong>e unwirtschaftliche<br />
Schule arbeiten, was nicht heißt, dass sie Zeit und Ressourcen vergeudet, aber<br />
doch, dass sie dem Weg der Bildung se<strong>in</strong>e Zeit lässt, ihn also nicht <strong>in</strong> Zeite<strong>in</strong>heiten<br />
zwängt, die den bleibenden Ertrag gefährden. Das wirtschaftliche<br />
Handeln kann neben allen anderen Formen des Handelns nur e<strong>in</strong> Thema der<br />
21
Schule se<strong>in</strong>, ke<strong>in</strong>eswegs aber das Leitmotiv, dem sich alle anderen Ansprüche<br />
unterzuordnen haben. Wenn wir denkfähige Leistungs- und Verantwortungsträger<br />
<strong>in</strong> die Gesellschaft entlassen wollen, braucht die Schule ihre Zeit,<br />
andernfalls wird es nur zu braven Funktionsträgern reichen, die nie wirklich<br />
mit sich selbst zufrieden s<strong>in</strong>d.<br />
Fazit<br />
Der Umgang mit der Zeit macht e<strong>in</strong>en Dreh- und Angelpunkt <strong>in</strong> der Entwicklung<br />
e<strong>in</strong>er Gesellschaft aus, und jede Gesellschaft kann selbst entscheiden,<br />
wie sie hier verfahren will, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Ohne<br />
Frage ist dabei der Zeitgew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong> Faktor, der sich nicht ungestraft ignorieren<br />
lässt, und deshalb wird sich die Geschw<strong>in</strong>digkeit <strong>in</strong> der Arbeitswelt weiter<br />
erhöhen. Dies kann aber nicht das exklusive Modell für die gesamte Breite<br />
des Lebens se<strong>in</strong>, sondern wir brauchen ganz im Gegenteil <strong>in</strong> vielen Bereichen<br />
e<strong>in</strong>e Verlangsamung des Lebenstempos, e<strong>in</strong>e Entschleunigung, um die Beschleunigung<br />
der Arbeitswelt auf Dauer verkraften zu können. Derzeit verlängert<br />
die atemberaubende Schnelligkeit der Multimediawelt den Zeitdruck<br />
<strong>in</strong> Lebensbereiche h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> denen man eigentlich von ihm loskommen<br />
sollte, und b<strong>in</strong>det so die Aufmerksamkeit wiederum an fremde Rhythmen,<br />
anstatt die eigene Gestaltung der Zeit freizugeben. Hier s<strong>in</strong>d Korrekturen<br />
notwendig, welche die Gesellschaft wollen muss, und dabei fällt der Schule<br />
e<strong>in</strong>e wichtige Rolle zu. Persönlichkeitsbildung heißt heute zuallererst, <strong>in</strong> den<br />
Heranwachsenden das Gespür für e<strong>in</strong>en lebensfreundlichen Rhythmus zu<br />
wecken, sie zu e<strong>in</strong>em Leben <strong>in</strong> Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anzuregen,<br />
und dies ist über e<strong>in</strong>e wieder erstarkende Sprachbildung durchaus<br />
möglich. Wenn wir den naiven Allround-User an sich selbst er<strong>in</strong>nern, se<strong>in</strong>e<br />
Selbstachtung so weit provozieren können, dass er nicht mehr das willfährige<br />
Werkzeug der großen Trends se<strong>in</strong> will, dann haben wir viel erreicht. Er wird<br />
dann das Motiv des Immer-Dabeise<strong>in</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e „Immer dann, wenn“-Direktive<br />
umwandeln können, also prüfen, wann die Multimediawelt eigenen Zeitaufwand<br />
lohnt und wann nicht. In neuem Kontext taucht hier Kants altes<br />
Postulat wieder auf: „Habe Mut, dich de<strong>in</strong>es eigenen Verstandes zu bedienen!“<br />
14 Hartmut von Hentig fasst dasselbe pädagogisch und def<strong>in</strong>iert<br />
„Bildung als e<strong>in</strong> Mittel, die Menschen gegen die Korruption des Denkens<br />
und Wollens zu stärken.“ 15 Solche Richtl<strong>in</strong>ien können wir nicht zugunsten<br />
e<strong>in</strong>er ökonomisch imprägnierten Schule preisgeben.<br />
Anmerkungen<br />
1 Seneca: Vom glückseligen Leben und andere Schriften, Reclam 7790, Stuttgart 1984, 115.<br />
2 Ebd. 39.<br />
22
3 Vgl. hierzu O.F. Bollnow: Das richtige Verhältnis zur Zeit <strong>in</strong> philosophischer Sicht. In: Universitas<br />
24. Jg., 1969, 243–254. Als gründliche und klare E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> das Denken Bollnows<br />
empfiehlt sich die Studie von Gottfried Schüz: Lebensganzheit und Wesensoffenheit des<br />
Menschen – Otto Friedrich Bollnows hermeneutische Anthropologie, Würzburg 2001, hier<br />
vor allem 252-288.<br />
4 August<strong>in</strong>us: Confessiones, Late<strong>in</strong>isch und Deutsch, hrsg. v. J. Bernhart, München 2 1960, 626–665.<br />
5 Ebd. 643.<br />
6 Ebd. 661.<br />
7 Nikolaus Cusanus: Liber de Mente, c. 3, abgedruckt <strong>in</strong>: E. Cassirer: Individuum und Kosmos<br />
<strong>in</strong> der Philosophie der Renaissance, 7. Aufl., Darmstadt 1994, 220.<br />
8 Vgl. Cassirer, a.a.O. 44.<br />
9 Brief an C.F. Zelter vom 6. Juni 1825. In: Goethe, Briefe, hrsg. v. K.R. Mandelkow (Hamburger<br />
Ausgabe), Bd. 4, Hamburg 1967, 146. Vgl. zu dieser Thematik die fasz<strong>in</strong>ierende Studie von<br />
Manfred Osten: ,Alles veloziferisch‘ oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit – Zur<br />
Modernität e<strong>in</strong>es Klassikers im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2003.<br />
10 Brief an G.H.L. Nicolovius von Ende November 1825, a. a. O., 159.<br />
11 Siehe beispielhaft J. Rekus: Auf dem Weg zur Klick-Schule? In: engagement – zeitschrift für<br />
erziehung und schule, Jg. 2001, vor allem 91–97, 121–130.<br />
12 Siehe ebd. 124–126 (Beitrag von V. Ladenth<strong>in</strong>).<br />
13 Siehe hierzu C. Günzler: Platons Höhlengleichnis. In: P. Müller (Hrsg.), Geschichten s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong><br />
Kleid der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2007, 71–84.<br />
14 Kant: Was ist Aufklärung? In: Ausgewählte kle<strong>in</strong>e Schriften, Hamburg 1965, 1.<br />
15 H.v. Hentig: Die Schule neu denken, München/Wien 1993, 90.<br />
23
LUTZ MAUERMANN<br />
E-Learn<strong>in</strong>g – Veränderte Lernbed<strong>in</strong>gungen<br />
<strong>in</strong> der Mediengesellschaft *<br />
Vorbemerkung<br />
Die nachfolgenden Ausführungen verfolgen e<strong>in</strong> dreifaches Ziel: Erstens versuchen<br />
sie e<strong>in</strong>e knappe E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die gegenwärtig an den Hochschulen<br />
vorf<strong>in</strong>dbaren Angebote für elektronisch gestütztes Lernen zu geben und die<br />
<strong>in</strong> diesem Kontext geprägten neuen Begriffe zu erläutern. Zweitens sollen<br />
am Beispiel der Universität Augsburg die Lernchancen beleuchtet werden,<br />
die sich durch die Neuen Medien, speziell durch das Internet bieten. Drittens<br />
sollen e<strong>in</strong>ige Probleme und Grenzen aufgewiesen werden, die mit den veränderten<br />
Lernbed<strong>in</strong>gungen verknüpft s<strong>in</strong>d.<br />
These 1: Internet und digitale Medientechnologien s<strong>in</strong>d feste Bestandteile<br />
der Alltagskultur heutiger Schüler<strong>in</strong>nen, Schüler, Student<strong>in</strong>nen und<br />
Studenten.<br />
E<strong>in</strong>e Onl<strong>in</strong>e-Studie von ARD und ZDF 1 hat erbracht, dass im Jahre 2006<br />
annähernd 60 % der deutschen Bevölkerung das Internet nutzen. 1997 war<br />
es noch e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit von unter 10 %. Die Nutzung hängt ab von demographischen<br />
Merkmalen:<br />
Wer nutzt das Internet? 49 % aller Frauen gaben 2006 an, <strong>in</strong>nerhalb der letzten<br />
vier Wochen onl<strong>in</strong>e gewesen zu se<strong>in</strong>; bei den Männern waren es rund 66 %.<br />
Häufigster Internet-Nutzer ist die Altergruppe der 14-19-jährigen mit 96 %.<br />
Bei den 20–29-jährigen s<strong>in</strong>d es 86 %, die angaben, <strong>in</strong> den letzten Wochen im<br />
Internet gewesen zu se<strong>in</strong>; bei den 30–39-jährigen s<strong>in</strong>d es 77 %, bei den 40–49jährigen<br />
70 %; bei den 50-59-jährigen 58 % und bei den über 60-jährigen 19 %.<br />
In Ausbildung bef<strong>in</strong>dliche Personen nutzen das Internet mit 96 % mehr als<br />
Berufstätige (72 %) und Rentner bzw. Nicht-Berufstätige (27 %).<br />
Wie lange? Wer an e<strong>in</strong>em durchschnittlichen Tag <strong>in</strong>s Netz geht, verbr<strong>in</strong>gt,<br />
über alle Zugriffe addiert, knapp zwei Stunden (119 M<strong>in</strong>uten) mit Internetangeboten.<br />
Erwartungsgemäß s<strong>in</strong>d die nutzungs<strong>in</strong>tensivste Gruppe die 14-19jährigen<br />
(155 M<strong>in</strong>uten) gefolgt von den 20-29-jährigen (145 M<strong>in</strong>uten). Mit<br />
Surfen, multimedialen Anwendungen, Chats, Downloads und Computer-<br />
* Vorgetragen bei der Tagung der GEE „Schule, Zeitgeist, Lebenswelt – Bildung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er diffusen<br />
Realität“ am 5./6. Mai 2007 <strong>in</strong> Falkau<br />
24
spielen greifen junge Internetanwender häufiger als andere Altersgruppen<br />
auf besonders zeit<strong>in</strong>tensive Angebote zu. Der Zugang zum Internet der ab<br />
50-jährigen ist eher <strong>in</strong>formations- und kommunikationsorientiert und damit<br />
auch rationaler. Sie s<strong>in</strong>d zwar mit e<strong>in</strong>er durchschnittlichen Häufigkeit von<br />
4,6 „Internettagen“ je Woche nicht seltener im Netz als Jugendliche (4,7 Tage),<br />
jedoch wesentlich kürzer: Die tägliche Verweildauer im Netz beläuft sich bei<br />
den 50–59-jährigen auf 96 M<strong>in</strong>uten, bei den ab 60-jährigen auf 79 M<strong>in</strong>uten 2 .<br />
Was wird genutzt? M<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal wöchentlich wird der Onl<strong>in</strong>e-Anschluss<br />
von 78 % aller 1084 befragten Personen für das Versenden oder Empfangen<br />
von E-Mails genutzt. In der Reihenfolge der Häufigkeit ihrer Nennung<br />
folgen Suchmasch<strong>in</strong>en (75 %), Angebote suchen (50 %), e<strong>in</strong>fach so im Internet<br />
surfen (45 %), Homebank<strong>in</strong>g (35 %), Download von Dateien (21 %),<br />
Gesprächsforen, Newsgroups, Chats (20 %), Onl<strong>in</strong>eauktionen (18 %),<br />
Onl<strong>in</strong>eshopp<strong>in</strong>g (12 %), Audiodateien anhören (12 %), Computerspiele<br />
(12 %), live Internet-Radio hören (11 %). Andere Anwendungsmöglichkeiten<br />
wie Buch- oder CD-Bestellungen, Videos ansehen, Kartenservice,<br />
Kontakt-/Partnerbörsen, Gew<strong>in</strong>nspiele oder live Internet-Fernsehen werden<br />
von weniger als 10 % der Befragten genannt 3 .<br />
Welche Onl<strong>in</strong>e-Inhalte? Aufgesucht werden häufig bis gelegentlich Web-Seiten<br />
mit Nachrichten (Geschehen <strong>in</strong> Deutschland, Ausland) von 45 % der Befragten.<br />
Weitere gesuchte Inhalte s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Reihenfolge der Häufigkeit ihrer<br />
Nennung Informationen aus Wissenschaft, Forschung, Bildung (42 %), Freizeit<strong>in</strong>formationen/Veranstaltungstipps<br />
(40 %), aktuelle Regionalnachrichten/<br />
-<strong>in</strong>formationen (38 %), aktuelle Service<strong>in</strong>formationen (Wetter, Verkehr) (37 %),<br />
Informationen aus dem Kulturbereich (36 %), Verbraucher- und Ratgeber<strong>in</strong>formationen<br />
(31 %), Sport<strong>in</strong>formationen (29 %), Informationen zu Wirtschaft<br />
und Börse (21 %) und Unterhaltungsangebote (Comedy, Spiele) (7 %) 4 .<br />
Das Medium Internet ist <strong>in</strong>zwischen beliebter als das frühere Leitmedium<br />
Fernsehen, da es nicht nur den Zugriff auf Text-, Audio- und Video<strong>in</strong>formationen<br />
bietet, sondern auch Interaktionen ermöglicht.<br />
These 2: Die pädagogisch motivierte Nutzung dieser Medien für Lernen und<br />
Lehren erweist sich an den Hochschulen zunehmend als tauglich<br />
und ertragreich.<br />
Medienverbundsysteme werden schon seit längerem für selbstorganisiertes<br />
Lernen genutzt: Funkkollegs, Telekollegs, Schulfunk, Schulfernsehen, Sprachlabore<br />
u.ä. spielen seit mehr als 50 Jahren e<strong>in</strong>e gewisse Rolle <strong>in</strong>nerhalb schulischer<br />
und außerschulischer Lehr-, Lern-Arrangements, wenngleich auch ke<strong>in</strong>e<br />
herausragende. Dafür war bisher die Interaktivität zwischen dem Lernenden<br />
25
und dem vermittelten Lerngegenstand zu ger<strong>in</strong>g (vergleichbar mit e<strong>in</strong>er Vorlesung<br />
oder Demonstration und anschließenden Lernaufgaben) oder oft zu<br />
schwerfällig (man denke nur an das H<strong>in</strong>- und Herspulen von audiovisuellen<br />
Aufzeichnungsbändern, wenn bestimmte Lehrsequenzen benötigt oder wiederholt<br />
werden sollten).<br />
Erst mit dem Aufkommen des Computers und se<strong>in</strong>er massenhaften Verbreitung<br />
gewann elektronisch gestütztes Lernen (CUU, CBT) an Bedeutung. Die<br />
neuen Möglichkeiten der Digitalisierung und anschließenden Bearbeitung<br />
von Texten, Bildern, Grafiken, Tönen und Filmen sowie ungeahnt umfangreiche<br />
und preiswerte Speichermöglichkeiten machten dieses neue Werkzeug<br />
zum attraktiven Alleskönner – auch im Dienste der Gestaltung von Lernwelten.<br />
Durch die Verbreitung des Internets Ende der 90er Jahre erwuchsen<br />
weitere Chancen für elektronisch gestütztes Lernen. Die Wissensbestände<br />
der Menschheit ersche<strong>in</strong>en plötzlich weltweit austausch- und verfügbar. Für<br />
deren pädagogisch begründete Nutzung hat sich mittlerweile der Begriff<br />
„E-Learn<strong>in</strong>g“ etabliert. Unter E-Learn<strong>in</strong>g (englisch electronic learn<strong>in</strong>g –<br />
elektronisch unterstütztes Lernen), auch E-Lernen genannt, werden – nach<br />
e<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition von Michael Kerres 5 – alle Formen von Lernen verstanden,<br />
bei denen digitale Medien für die Präsentation und Distribution von Lernmaterialien<br />
und/oder zur Unterstützung zwischenmenschlicher Kommunikation<br />
zum E<strong>in</strong>satz kommen. Wir haben <strong>in</strong> den vergangenen 10 Jahren<br />
vielfältige staatliche Initiativen erlebt, die diese Entwicklung fördern<br />
sollen („Schulen ans Netz“, „neue Medien <strong>in</strong> der Bildung“ und „Notebook-<br />
University“).<br />
In den Lernalltag der Schulen und Hochschulen, <strong>in</strong> die <strong>in</strong>ternetbasierte<br />
Kommunikation haben sich neue Phänomene und Begriffe <strong>in</strong>tegriert, von<br />
denen vor e<strong>in</strong>em Jahrzehnt nicht oder noch kaum die Rede war.<br />
Man errichtet e<strong>in</strong> „virtuelles Klassenzimmer“ (Virtual Classroom), <strong>in</strong>dem man<br />
das Internet als Kommunikationsmedium nutzt, um geographisch getrennte<br />
Schüler und Lehrer mite<strong>in</strong>ander zu verb<strong>in</strong>den. Videokonferenzanlagen werden<br />
e<strong>in</strong>gesetzt, um mit Sem<strong>in</strong>ar- und Arbeitsgruppen an unterschiedlichen Orten<br />
gleichzeitig zu kommunizieren und zu lernen (Tele-Teach<strong>in</strong>g).<br />
Bei netzbasierten Lernangeboten (Web Based Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g – WBT) werden<br />
Lerne<strong>in</strong>heiten nicht auf Datenträgern (z.B. auf CD-Rom, DVD, USB-Stick<br />
oder externem Plattenspeicher) verbreitet, sondern können von e<strong>in</strong>em Webserver<br />
onl<strong>in</strong>e über das Internet oder e<strong>in</strong> Intranet abgerufen werden. In den<br />
Lernprozess lassen sich E-Mails, News, Chats und Diskussionsforen e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>den,<br />
so dass sich vielfältige weiterführende Möglichkeiten der Kommunikation<br />
und Interaktion des Lernenden mit dem Lehrer oder e<strong>in</strong>em Tutor<br />
bzw. den Mitlernenden.<br />
26
Für die Zusammenarbeit an e<strong>in</strong>er Lernaufgabe e<strong>in</strong>er Gruppe von Personen über<br />
das Internet hat sich der Begriff „Web Based Collaboration“ e<strong>in</strong>gebürgert.<br />
Haben die Nutzer die Möglichkeit, über e<strong>in</strong> Netzwerk geme<strong>in</strong>sam Skizzen<br />
zu erstellen und zu betrachten, dann verwenden sie e<strong>in</strong> Whiteboard. Dazu<br />
stehen sowohl Mal- als auch Textwerkzeuge zu Verfügung, wodurch das<br />
Whiteboard zur virtuellen Tafel oder Flipchart wird. Das wohl bekannteste<br />
Ergebnis weltweiter webbasierter Zusammenarbeit dürfte Wikipedia se<strong>in</strong>,<br />
die ständig wachsende Enzyklopädie im Internet.<br />
Jedes Jahr im Herbst veranstaltet die 1991 gegründete Gesellschaft für<br />
Medien <strong>in</strong> der Wissenschaft (GMW) e<strong>in</strong>en Kongress, wobei Hochschullehrer<br />
und Hochschullehrer<strong>in</strong>nen ihre Konzepte mediengestützten Lehrens und<br />
Lernens vorstellen. E-Learn<strong>in</strong>g war das beherrschende Thema der letzten<br />
beiden Kongresse <strong>in</strong> Rostock (2005) 6 und Zürich (2006) 7 . Auch die nächste<br />
GMW-Jahrestagung Mitte September 2007 <strong>in</strong> Hamburg 8 wird wieder e<strong>in</strong><br />
bee<strong>in</strong>druckendes Zeugnis abgeben, welche Fortschritte die Hochschulen bei<br />
der Implementation von elektronischen Lernplattformen vorzuweisen haben.<br />
Der Wettbewerbsdruck ist beträchtlich. Internationalisierung der Studiengänge<br />
(der so genannte Bologna-Prozess), wachsende Studierendenzahlen,<br />
knappe materielle und personelle Ressourcen zw<strong>in</strong>gen die Hochschulen,<br />
nach neuen Wegen zu suchen, diesen Herausforderungen gerecht zu werden.<br />
Um e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck zu vermitteln, was nun konkret E-Learn<strong>in</strong>g an der Hochschule<br />
se<strong>in</strong> kann, werden nachfolgend e<strong>in</strong>ige Beispiele aus der Universität<br />
Augsburg, dem Arbeitsplatz des Autors dieses Beitrages, vorgeführt.<br />
Beispiel 1: Die Studierenden melden sich über e<strong>in</strong>e Lernplattform (StudIP)<br />
für e<strong>in</strong> bestimmtes Sem<strong>in</strong>ar an.<br />
https://digicampus.uni-augusburg.de/studip/<strong>in</strong>dex.php<br />
Beispiel 2: Über e<strong>in</strong> Content Management System (CMS) werden alle<br />
relevanten Informationen und Texte bereitgestellt und verwaltet (s. Bildschirmdarstellung<br />
nächste Seite).<br />
Beispiel 3: Vorlesungen werden als Videostream jederzeit und an beliebigen<br />
Orten über das Netz abrufbar.<br />
http://www.knowledgebay.de<br />
Beispiel 4: Videokonferenzen ermöglichen Studiengänge, die von unterschiedlichen<br />
Universitätsstandorten aus geme<strong>in</strong>sam betreut werden.<br />
http://www.philso.uni-augsburg.de/<strong>in</strong>stitute/videolabor/aktuelles/videokonferenz.html<br />
27
Beispiel 5: Studierende erwerben Medienkompetenz durch die Produktion<br />
von elektronisch verfügbaren Lern- und Informationsmedien.<br />
• Blickpunkt Campus – e<strong>in</strong> halbstündiges Fernsehmagaz<strong>in</strong> für das Regionalfernsehen<br />
http://www.philso.uni-augsburg.de/de/<strong>in</strong>stitute/videolabor/blickpunkt/<br />
• Hörspiel für K<strong>in</strong>der<br />
http://www.detekteisuni.com/<br />
Während der GMW-Tagungen werden seit 2001 jedes Mal Preisgelder <strong>in</strong><br />
Höhe von <strong>in</strong>sgesamt 100.000 für mediendidaktische Innovationen an den<br />
Universitäten und Fachhochschulen Deutschlands, Österreichs und der<br />
Schweiz vergeben. Wofür s<strong>in</strong>d die letztjährigen Preisträger<strong>in</strong>nen und Preisträger<br />
ausgezeichnet worden? Beworben hatten sich 105 E-Learn<strong>in</strong>g-<br />
Projekte aus Deutschland (70), Österreich (17) und der Schweiz (18). Die<br />
beiden Hauptpreise g<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> die Schweiz. Für die Universität Zürich gewann<br />
e<strong>in</strong> Bachelor-Lehrgang im Bereich Corporate F<strong>in</strong>ance. Der Lehrgang ruht<br />
auf drei didaktischen Pfeilern 9 :<br />
Selbststudium: Die Studierenden erlernen den Stoff über konventionelle<br />
Lehrmittel (Buch) als auch über elektronische Medien (Internet, Flash-<br />
Animationen, Excel-Übungen). Die Betreuung wird durch fachliche Foren<br />
gewährleistet.<br />
Präsenzveranstaltungen: Der Dozent geht auf die wichtigsten Themen e<strong>in</strong>,<br />
verknüpft diese mite<strong>in</strong>ander und schafft e<strong>in</strong>en Praxisbezug. Die Vorlesungs-<br />
28
aufzeichnung (u.a. als Video-Podcast 10 ) gewährleistet die zeitliche und örtliche<br />
Flexibilität.<br />
Praktische Übungen: In praxisnahen Gruppenübungen, welche e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss<br />
auf die Benotung haben, wird der Wissenstransfer von theoretischen<br />
Modellen <strong>in</strong> die Realität vollzogen.<br />
Video-Podcast-Versionen der Vorlesungen ermöglichen es, deren Aufzeichnung<br />
immer und überall mitzunehmen und anzusehen. Im WS 05/06 waren<br />
450 Kursteilnehmer e<strong>in</strong>geschrieben. Sie wurden von 25 Onl<strong>in</strong>e-Coaches<br />
betreut, um die Gruppenübungen zu lösen sowie <strong>in</strong>haltliche Fragen zu klären.<br />
Die Studierenden wirkten mit an e<strong>in</strong>em eigenen Wiki 11 mit den e<strong>in</strong>schlägigen<br />
Begriffen aus der F<strong>in</strong>anzwelt.<br />
Der zweite Preis g<strong>in</strong>g an die Universität St. Gallen für die Entwicklung und<br />
Implementierung mediengestützten Selbststudiums 12 . Dort verbr<strong>in</strong>gen die<br />
Studierenden seit der Umstellung auf e<strong>in</strong>e Bologna-konforme Lehre mit<br />
Bachelor- und Masterabschlüssen 25 % weniger Zeit <strong>in</strong> Vorlesungen, sondern<br />
erarbeiten im begleiteten Selbststudium Lern<strong>in</strong>halte vermehrt aktiv und selbstständig.<br />
Dabei werden sie von den Lehrenden auf vielfältige Weise unterstützt.<br />
E-Learn<strong>in</strong>g spielt dabei e<strong>in</strong>e zentrale Rolle.<br />
These 3: E-Learn<strong>in</strong>g bedeutet schnelleren Wissenszugriff und Wissenstransfer<br />
und begünstigt selbstorganisiertes, eigenverantwortliches Lernen.<br />
Niemand mit Internetzugang möchte heute mehr auf Google oder Wikipedia<br />
oder andere Dienstleistungen im Web verzichten. Als universelles Nachschlage<strong>in</strong>strument<br />
lässt sich das Netz ähnlich e<strong>in</strong>er Bibliothek für die Informationssuche<br />
nutzen. Werden Kurse für die Aus- und Weiterbildung im Internet<br />
angeboten, dann kann zeit- und ortsunabhängig („just <strong>in</strong> time“, „on demand“)<br />
gelernt werden. Bedürfnisse der Lernenden können berücksichtigt werden.<br />
Lernabläufe lassen sich <strong>in</strong>dividualisieren, die Lernkontrolle kann unmittelbar<br />
selbst vorgenommen werden. E-Learn<strong>in</strong>g erfolgt im Gegensatz zu traditionellen<br />
Lehrmitteln <strong>in</strong>teraktiv, wodurch traditionelle l<strong>in</strong>eare Denk- und Lernkonzepte<br />
aufgebrochen und flexiblere, netzwerkartige Konzepte verwirklicht werden<br />
können (z.B. per Wiki und anderen Internetforen). Kooperatives Lernen und<br />
Arbeiten werden ermöglicht – auch bei räumlicher Distanz der Partner<strong>in</strong>nen<br />
und Partner und zeitversetzter Lern- und Arbeitsphasen. Durch die E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />
von Grafiken, Simulationen, Bild-, Ton- und Videodokumenten werden<br />
Lerngegenstände veranschaulicht und leichter gelernt. E-Learn<strong>in</strong>g bedeutet<br />
größten Teils e<strong>in</strong>e andere Art zu lernen: Es f<strong>in</strong>det weniger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er logischen<br />
und regel-basierten Organisationsform statt, als vielmehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von<br />
Computerspielen vertrauten „Trial-and-Error“-Modus. Die Studierenden<br />
führen häufig mehrere Aktivitäten simultan durch („Multitask<strong>in</strong>g“) und haben<br />
29
damit weniger Schwierigkeiten als mit der Konzentration auf E<strong>in</strong>zelaufgaben.<br />
Weil die Studierenden viel Zeit vor dem Computer verbr<strong>in</strong>gen, fällt ihnen<br />
das Tippen auf der Tastatur leichter als das handschriftliche Schreiben e<strong>in</strong>es<br />
Textes. Stets mit anderen verbunden zu se<strong>in</strong>, ist den Studierenden sehr wichtig.<br />
Hierzu wird e<strong>in</strong>e breite Palette von <strong>in</strong>formations- und kommunikationstechnologischen<br />
Geräten (Handy, Notebook, usw.) genutzt. Wegen der ubiquitären<br />
Verfügbarkeit von Angeboten im Internet erwarten die Studierenden schnelle<br />
Reaktionszeiten und haben wenig Geduld mit Verzögerungen 13 .<br />
These 4: Die Wahrnehmung der Chancen von E-Learn<strong>in</strong>g für die Erweiterung<br />
<strong>in</strong>dividueller Kompetenzen ist abhängig vom sozioökonomischen<br />
Status der Lernenden.<br />
ARD und ZDF haben 2006 auch e<strong>in</strong>e Offl<strong>in</strong>e-Studie <strong>in</strong> Auftrag gegeben, um<br />
die Nichtnutzer des Internets unter die Lupe zu nehmen 14 . Nichtnutzer<br />
(Offl<strong>in</strong>er) s<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong>en niedrigeren Bildungsabschluss gekennzeichnet:<br />
Von den Offl<strong>in</strong>ern haben 71 % e<strong>in</strong>en Volksschul-/ Hauptschulabschluss,<br />
23 % e<strong>in</strong>e weiterführende Schule besucht. Nur 2 % der Personen ohne<br />
Onl<strong>in</strong>enutzung haben Abitur, knapp 5 % e<strong>in</strong> Studium vorzuweisen. Will<br />
man e<strong>in</strong>e Zwei-Klassen-Gesellschaft von Nutzern und Nicht-Nutzern vermeiden,<br />
müssten Maßnahmen getroffen werden, dieser Ungleichheit der<br />
Chancen entgegen zu arbeiten, etwa durch Angebote der Schulen oder durch<br />
staatliche Initiativen, wie sie Frankreich im Juli 2006 gestartet hat: Im Rahmen<br />
e<strong>in</strong>er Public-Private-Partnership zwischen Regierung und Netzanbietern<br />
wird Familien mit ger<strong>in</strong>gen f<strong>in</strong>anziellen Mitteln, Senioren und ärmeren<br />
Haushalten e<strong>in</strong> Paket bestehend aus e<strong>in</strong>em preiswerten hochwertigen PC<br />
mit Breitbandzugang angeboten, damit sie privat die moderne Informationstechnik<br />
nutzen können 15 . E<strong>in</strong>e wichtige kompensatorische Rolle kommt den<br />
Schulen zu. Diese Erziehungs- und Bildungs<strong>in</strong>stitutionen werden – wie so oft –<br />
e<strong>in</strong>e Chancenausgleichsfunktion übernehmen müssen, wenn die familiären<br />
Gegebenheiten den K<strong>in</strong>dern e<strong>in</strong>e Nutzung der neuen Kulturtechnik des<br />
Umgangs mit Computer und Internet nicht bieten können.<br />
These 5: (Hochschul-)Lehrer<strong>in</strong>nen und (Hochschul-)Lehrer brauchen<br />
Unterstützung, damit sie E-Learn<strong>in</strong>g-Angebote für den Unterricht<br />
lernwirksam e<strong>in</strong>setzen können.<br />
Technologische Neuentwicklungen bee<strong>in</strong>flussen unsere Lebens- und Arbeitsgewohnheiten.<br />
Für viele bedeutet Wandel zunächst e<strong>in</strong>mal Verunsicherung, die<br />
sich bis zur Angst auswachsen kann, der Angst, den neuen Herausforderungen<br />
nicht mehr gewachsen zu se<strong>in</strong>. Ob das die Bedienung des Computers oder<br />
des Handys oder das Programmieren des Videorecorders oder des DVD-<br />
Brenners oder des neuen GPS-Navigationsgeräts im Auto betrifft: der Um-<br />
30
gang damit muss gelernt werden, wenn man vom Segen dieser Neuerungen<br />
profitieren will. Bei den Neuen Medien ist deren souveräne Nutzung oft e<strong>in</strong>e<br />
Sache des Alters. K<strong>in</strong>der und Jugendliche wachsen damit auf, haben den Nutzen<br />
der neuen Systeme schnell durchschaut und bewältigen deren Gebrauch <strong>in</strong><br />
kürzester Zeit über Versuch-Irrtum-Lernen. Während im „handl<strong>in</strong>g“ die<br />
Jüngeren den Älteren meistens überlegen und auf Hilfe kaum noch angewiesen<br />
s<strong>in</strong>d, wird sich die Arbeit der Pädagogen eher auf den s<strong>in</strong>nvollen Gebrauch<br />
der Medien und das Lern- und Wissensmanagement konzentrieren müssen.<br />
An der Universität <strong>in</strong> Augsburg s<strong>in</strong>d wir dabei, mit Fördermitteln der DFG<br />
e<strong>in</strong> IT-Servicezentrum aufbauen, das quer durch alle Fakultäten, zentralen<br />
E<strong>in</strong>richtungen und die Verwaltung e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tegriertes Informationsmanagement<br />
ermöglicht. E<strong>in</strong> Teilprojekt davon („Präsentieren <strong>in</strong> Forschung und Lehre“)<br />
wird vom Videolabor und von der Professur für Medienpädagogik durchgeführt.<br />
Dar<strong>in</strong> versuchen wir u.a. die Dozent<strong>in</strong>nen und Dozenten nicht nur<br />
fit für den Umgang mit den Präsentationsgeräten zu machen sondern auch<br />
zu ermutigen, E-Learn<strong>in</strong>g-Elemente <strong>in</strong> das Lehren und Lernen e<strong>in</strong>zubauen.<br />
Dieses Programm dient dem Aufbau und der Erweiterung e<strong>in</strong>er speziellen<br />
E-Kompetenz 16 .<br />
These 6: E-Learn<strong>in</strong>g wird die traditionellen Bildungsformen nicht ersetzen.<br />
Noch vor wenigen Jahren galt E-Learn<strong>in</strong>g als die Bildungsform des 21. Jahrhunderts.<br />
Mittlerweile weiß man, dass E-Learn<strong>in</strong>g die traditionellen Bildungsformen<br />
nicht ersetzen kann. Es ist lediglich als e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Unterstützung<br />
im Lernprozess zu sehen. Durch Komb<strong>in</strong>ation verschiedener medialer Vermittlungsformen<br />
(„hybride Lernarrangements“, „Blended Learn<strong>in</strong>g“) kann<br />
Lernen optimiert werden. Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer brauchen also nicht zu<br />
befürchten, arbeitslos zu werden. Die Präsentation der Lern<strong>in</strong>halte wird<br />
vielfach noch von technischen und nicht von didaktischen Faktoren<br />
bestimmt, weil Pädagogen erst <strong>in</strong> den letzten Jahren stärker im E-Learn<strong>in</strong>g-<br />
Bereich arbeiten. Chat-Rooms, Blogs, Internetforen, SMS- und E-Mail-<br />
Kommunikation funktionieren mit reduzierter S<strong>in</strong>nlichkeit, beschränkt auf<br />
Auge und Ohr. Sie werden e<strong>in</strong>em ganzheitlichen menschlichen Leben und<br />
Erleben mit allen S<strong>in</strong>nen nur unzureichend gerecht. Deshalb werden wir<br />
nach wie vor Orte brauchen, <strong>in</strong> denen soziale Kontakte „face to face“ geknüpft<br />
werden können; <strong>in</strong> denen Naturerlebnisse möglich s<strong>in</strong>d; <strong>in</strong> denen der<br />
virtuellen Bewegungsarmut Motorik entgegen gesetzt wird; <strong>in</strong> denen der<br />
Mensch Liebe, Geborgenheit und Solidarität erfährt, aber auch Konflikt und<br />
Frustration zu bewältigen lernt. Dass Familie, Schule und Hochschule diese<br />
Orte bleiben, sollte weiterh<strong>in</strong> – neben allen Bemühungen um elektronisch<br />
gestütztes Lernen und Lehren – permanentes Ziel aller Pädagog<strong>in</strong>nen und<br />
Pädagogen se<strong>in</strong>.<br />
31
Anmerkungen<br />
1 Eimeren, B. v. & Frees, B.: ARD/ZDF-Onl<strong>in</strong>e-Studie 2006: Schnelle Zugänge, neue Anwendungen,<br />
neue Nutzer? Media Perspektiven, <strong>Heft</strong> 8/2006, S. 402–415<br />
2 Eimeren & Frees, a.a.O., S. 411f.<br />
3 Eimeren & Frees, a.a.O., S. 406<br />
4 Eimeren & Frees, a.a.O., S. 407<br />
5 Kerres, M.: Multimediale und telemediale Lernumgebungen. Konzeption und Entwicklung.<br />
München 2001<br />
6 Kongressthema <strong>in</strong> Rostock: „Auf zu neuen Ufern! E-Learn<strong>in</strong>g heute und morgen“ – Tagungsband<br />
unter diesem Titel herausgegeben von Tavangarian, D. & Nölt<strong>in</strong>g, K. als Band 34 der<br />
Reihe Medien <strong>in</strong> der Wissenschaft beim Waxmann Verlag Münster 2005<br />
7 Kongressthema <strong>in</strong> Zürich: „E-Learn<strong>in</strong>g – alltagstaugliche Innovation?“ – Tagungsband unter<br />
diesem Titel herausgegeben von Seiler Schiedt, E., Käl<strong>in</strong>, S. & Sengstag, C. als Band 38 der<br />
Reihe Medien <strong>in</strong> der Wissenschaft beim Waxmann Verlag Münster 2006<br />
8 Kongressthema: „Studieren neu erf<strong>in</strong>den – Hochschule neu denken“. 13.-15. September 2007<br />
an der Universität Hamburg<br />
9 http://www.get<strong>in</strong>volved.unizh.ch<br />
10 Podcast, Def<strong>in</strong>ition aus Wissen Media Verlag vom 24.7.2006: Kunstwort aus iPod (e<strong>in</strong> MP3-<br />
Player der Firma Apple) und englisch broadcast<strong>in</strong>g = Rundfunk. Podcast<strong>in</strong>g: Verfahren zur<br />
Verbreitung von Audio- (Audio-Podcast) und Videodateien (Video-Podcast) über das Internet,<br />
bei dem der Download auf den PC und die Übertragung auf z.B. e<strong>in</strong>en MP3-Player mit<br />
Hilfe spezieller Programme (Podcatcher, Podcast<strong>in</strong>g-Clients oder Feed-Reader) automatisierbar<br />
ist. Die radio- bzw. fernsehähnlichen Beiträge und Sendungen werden von sog. Podcastern<br />
wie u.a. Hörfunk- und Fernsehsendern, Tageszeitungen und Privatpersonen angeboten. Der<br />
Konsument kann Podcasts über spezielle Feed-Dateien (deutsch „Speisung“) abonnieren,<br />
speichern und zu jeder beliebigen Zeit abspielen.<br />
11 Wiki, Def . aus Wiktionary vom 2.5.2007: e<strong>in</strong>e im World Wide Web oder auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em privaten<br />
Intranet verfügbare Sammlung von Webseiten, die auf Grund bestimmter Wiki-Software vom<br />
Betrachter geändert werden können, und die sofort <strong>in</strong> veränderter Form für jeden abrufbar s<strong>in</strong>d.<br />
12 http://www.selbststudium.unisg.ch<br />
13 vgl. Sporer, T.: Studieren heute – Wie sieht die Lehre und das Studium der Zukunft aus? Referat<br />
bei der UTB Programmkonferenz am 13.3.2007 <strong>in</strong> Frankfurt/M.<br />
14 Gerhards, M. & Mende, A.: Offl<strong>in</strong>er: Vorbehalte und E<strong>in</strong>stiegsbarrieren gegenüber dem Internet<br />
bleiben bestehen. Media Perspektiven, 8/2006, S. 416–430<br />
15 Gerhards, M. & Mende, A.: a.a.O., S. 430<br />
16 Auch hier s<strong>in</strong>d uns die Schweizer Hochschulen voraus. Die Eidgenössische Technische Hochschule<br />
Zürich besitzt e<strong>in</strong> eigenes E-Learn<strong>in</strong>g-Kompetenzzentrum (NET – Network for Educational<br />
Technology), deren Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeiter den Dozierenden alle erforderlichen<br />
Starthilfen für die Nutzung von E-Learn<strong>in</strong>g bieten. E<strong>in</strong> Leitfaden („Roadmap to E-Learn<strong>in</strong>g“)<br />
zeigt Handlungsschritte auf wie die Dozierenden ihre Lehrveranstaltungen durch E-Learn<strong>in</strong>g<br />
bereichern können. Adresse: http://www.net.ethz.ch<br />
32<br />
Dieses <strong>Heft</strong> hat e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>geren Umfang, da das nächste <strong>Heft</strong> wegen<br />
der zusammengehörenden Aufsätze stärker werden muss.
Buchbesprechungen<br />
[Hrsg.] Hartmut Rupp<br />
HANDBUCH DER KIRCHEN-<br />
PÄDAGOGIK<br />
Kirchenräume wahrnehmen, deuten<br />
und erschließen<br />
Gebunden, 328 S., mit vielen farbigen Bildern,<br />
Calwer Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 3-7668-<br />
3960-8<br />
Jahrelange Erfahrungen des Herausgebers und<br />
se<strong>in</strong>er zahlreichen MitarbeiterInnen stehen h<strong>in</strong>ter<br />
diesem Buch. Es ist <strong>in</strong> drei große <strong>in</strong>haltliche<br />
Abschnitte gegliedert: Das Kirchengebäude<br />
und se<strong>in</strong>e Elemente – Der Kirchenraum und<br />
se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung – Die Kirchenerschließung<br />
und ihre Methoden. E<strong>in</strong> Anhang mit e<strong>in</strong>em<br />
aufschlussreichen Überblick über Kirchenbau-<br />
Konzeptionen schließt das Werk ab.<br />
Die e<strong>in</strong>zelnen Kapitel s<strong>in</strong>d nach dem im Vorwort<br />
dargelegten Pr<strong>in</strong>zip „wahrnehmen, erklären,<br />
deuten, erschließen“ aufgebaut, <strong>in</strong> denen sich<br />
für Rupp die vierfache mittelalterliche Schriftauslegung<br />
spiegelt. Zahlreiche hervorragende<br />
Aufnahmen unterschiedlichster Kirchengebäude,<br />
ihrer Innengestaltung und liturgischen Geräte<br />
und Gegenstände dienen der Veranschaulichung<br />
und stellen darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>en Augenschmaus<br />
dar, der alle<strong>in</strong> schon das Buch zu e<strong>in</strong>em Genuss<br />
macht.<br />
Die e<strong>in</strong>zelnen Unterkapitel beg<strong>in</strong>nen jeweils<br />
mit anschaulichen H<strong>in</strong>weisen auf generelle<br />
Merkmale etwa e<strong>in</strong>es Kirchengebäudes, e<strong>in</strong>es<br />
Turms, e<strong>in</strong>er Orgel usw. Sie stellen zugleich<br />
e<strong>in</strong>e Hilfe für Unterrichtende dar, worauf sie<br />
e<strong>in</strong>e Klasse gegebenenfalls aufmerksam machen<br />
sollten, falls deren Beobachtungsfähigkeit<br />
nicht genügend geschult ist. Unter „Erklären“<br />
werden meist historische Informationen zur Entwicklungsgeschichte<br />
geboten, unter „Deuten“<br />
H<strong>in</strong>weise zur Bedeutung des jeweils behandelten<br />
Gegenstands. „Erschließen“ gibt altersspezifisch<br />
methodische Anregungen, die vom Betreten,<br />
Umrunden, Besteigen bis zum Zeichnen, Messen<br />
und Meditieren reichen.<br />
Zahlreiche optische Beispiele unterschiedlichster<br />
Typen machen die Gestaltungsvielfalt deutlich.<br />
Sie reichen vom Speyerer und Kölner Dom oder<br />
der Trierer Basilika bis zu dem bunkerartigen<br />
ökumenischen Kirchenzentrum <strong>in</strong> Freiburg-<br />
Rieselfeld, von gedrungenen Vierungstürmen<br />
bis zu modernen Glockenträgern, von mittelalterlichen<br />
Kirchenfenstern bis zu Chagall und<br />
Schreiter. Ähnlich weit ist der Spannungsbogen<br />
bei den Beispielen der Innenausstattung.<br />
Am wenigsten können die Abschnitte „Deuten“<br />
verallgeme<strong>in</strong>ert werden; sie stellen jeweils<br />
persönliche Auffassungen des betreffenden<br />
Bearbeiters dar. Die dabei genannten biblischen<br />
Bezüge wirken oft gekünstelt, da es etwa <strong>in</strong><br />
neutestamentlicher Zeit noch ke<strong>in</strong>e Kirchen gab.<br />
So muss der Verfasser bei den Kirchenfenstern<br />
z.B. auf die Lichtsymbolik zurückgreifen, bei<br />
Kirchendecken auf Gottessymbolik als Schutz.<br />
Wohltuend heben sich davon Artikel ab, die<br />
nur sparsame biblische Bezüge etwa auf die<br />
Säulen <strong>in</strong> Salomos Tempel oder die Bedeutung<br />
von Türen <strong>in</strong> biblischen Geschichten enthalten.<br />
Doch stehen auch sie <strong>in</strong> der Gefahr der Über<strong>in</strong>terpretation.<br />
Dass allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> Bearbeiter<br />
noch den Begriff „Spätjudentum“ verwenden<br />
kann, zeigt, dass er den Diskussionsstand der<br />
letzten dreißig Jahre nicht kennt.<br />
Im Abschnitt Kirchenraum besticht gleich das<br />
erste Kapitel über Raumkonzeptionen durch die<br />
das Gesagte hervorragend erschließenden Innenaufnahmen.<br />
Doch ist auch hier das „Deuten“<br />
mit Vorsicht zu genießen. Bei der zutreffenden<br />
Beschreibung der Kirche als Langhaus sollte auch<br />
bedacht werden, dass mittelalterliche Kirchen<br />
ke<strong>in</strong>e Bänke hatten, sondern Prozessionen im<br />
Innern dienten. Was die Gläubigen bei Hochaltar<br />
und Lettner von der Lichtsymbolik der<br />
aufgehenden Sonne wahrnahmen, sollte zum<strong>in</strong>dest<br />
gefragt werden. Bei modernen evangelischen<br />
Kirchen fallen diese Elemente zum Teil<br />
völlig weg. Beim Artikel über den Altar fragt<br />
man sich, was mit „ersten Christen“ geme<strong>in</strong>t ist,<br />
wenn von e<strong>in</strong>em tragbaren Tisch mit weißem<br />
Le<strong>in</strong>tuch die Rede ist. (Auch der Verfasser<br />
des Artikels Grabmal sollte stattdessen von<br />
Christen der ersten Jahrhunderte sprechen.)<br />
Ausgesprochen falsch ist allerd<strong>in</strong>gs, wenn der<br />
hebräische Begriff misbeach mit Verbrennen <strong>in</strong><br />
Verb<strong>in</strong>dung gebracht wird. Warum fragt man<br />
33
nicht Fachleute? Bei der Def<strong>in</strong>ition der Kanzel<br />
als „Demonstrationstribüne für Redner, die für<br />
e<strong>in</strong>e bestimmte Überzeugung e<strong>in</strong>treten“, wünscht<br />
man sich auch bei manchen heutigen Predigern<br />
mehr Überzeugungsgewissheit. Andererseits<br />
sollte bedacht werden, dass im ausgehenden<br />
Mittelalter vor allem die „Prädikanten“, theologisch<br />
Gebildete, die nicht unbed<strong>in</strong>gt Priester<br />
waren, die Kanzeln nutzten; auch die Verwandtschaft<br />
zum Professorenkatheder sollte<br />
für evangelische Kirchen (sichtbar <strong>in</strong> vielen<br />
Waldenserkirchen) nicht übersehen werden.<br />
Hilfreich ist die ausführliche Deutung der vielfältigen<br />
„S<strong>in</strong>nzeichen“ und der Farbsymbolik<br />
<strong>in</strong> Kirchen. Bei den „Formen“ wäre e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er<br />
H<strong>in</strong>weis, dass der Chor vieler mittelalterlicher<br />
Kirchen leicht abgew<strong>in</strong>kelt ist – als Zeichen des<br />
geneigten Hauptes des Gekreuzigten, aufschlussreich.<br />
Dass sich das didaktische Pr<strong>in</strong>zip „Das tun,<br />
was dorth<strong>in</strong> gehört“ nicht konsequent durchhalten<br />
lässt, macht etwa der H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e<br />
Taufer<strong>in</strong>nerung am Taufste<strong>in</strong> deutlich. Dass das<br />
Berühren des Altarkreuzes andere E<strong>in</strong>drücke<br />
als das Betrachten vermittelt, kann man auch<br />
umkehren und dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Profanierung sehen.<br />
Generell wird Ganzheitlichkeit aller S<strong>in</strong>ne<br />
weith<strong>in</strong> auch von der Persönlichkeitsstruktur<br />
und Sozialisation abhängen. Doch bleibt dieses<br />
Kapitel nicht bei grundsätzlichen Erwägungen<br />
stehen, sondern stellt verschiedene Modelle<br />
e<strong>in</strong>er Kirchenerschließung vor – bis h<strong>in</strong> zu<br />
ganz praktischen Anregungen sowie Liedern,<br />
Tänzen und Bewegungsmeditationen, die sich<br />
auch unabhängig von Kirchenerkundungen<br />
verwenden lassen.<br />
Dr. Hans Maaß<br />
Igal Avidan<br />
ISRAEL<br />
E<strong>in</strong> Staat sucht sich selbst, 216 S., geb., He<strong>in</strong>rich<br />
Hugendubel Verlag, Kreuzl<strong>in</strong>gen/München<br />
<strong>2008</strong>, ISBN 978-3-7205-3046-0<br />
Avidan, e<strong>in</strong> versierter Journalist, schreibt <strong>in</strong><br />
flüssiger, gut lesbarer Sprache und zeigt Problematiken<br />
des Staates Israel anhand anschaulicher<br />
Beispiele und Szenen auf. Der Titel des Buches<br />
ist vielsagend, br<strong>in</strong>gt er doch zum Ausdruck,<br />
dass dieser Staat nach 60 Jahren immer noch<br />
nicht zur Ruhe gekommen ist, nicht nur aufgrund<br />
äußerer Bedrohungen, sondern auch<br />
34<br />
<strong>in</strong>folge politischer Entscheidungen <strong>in</strong> der Vergangenheit<br />
und <strong>in</strong>nerer Unsicherheit über<br />
den Weg <strong>in</strong> die Zukunft. Schonungslos, aber<br />
nicht e<strong>in</strong>seitig stellt er die Probleme dar. Die<br />
e<strong>in</strong>zelnen Kapitel enthalten jeweils Beispiele<br />
für bedenkliche, aber auch hoffnungsvolle Entwicklungen<br />
und Ansätze.<br />
So hat es zwar auch Vertreibungen arabischer<br />
Bevölkerung aus israelischem Gebiet und Zerstörung<br />
von Dörfern gegeben, Avidan gibt aber<br />
auch den Bericht e<strong>in</strong>es Arabers wieder, der mit<br />
se<strong>in</strong>er Familie 1948 se<strong>in</strong>en Ort nach Aufrufen<br />
arabischer Führer verlassen hatte, „damit die<br />
siegreichen arabischen Armeen die Juden ausrotten<br />
könnten.“ Mit Staunen liest man, dass<br />
e<strong>in</strong> kämpferisches Lied jener Tage von dem<br />
heutigen „Friedensaktivisten“ Uri Avnery<br />
stammt – e<strong>in</strong> Beispiel für Israels Suche nach<br />
sich selbst. Recht ausführlich geht Avidan auch<br />
auf die Thesen der neuen Historiker e<strong>in</strong> und<br />
das Umdenken e<strong>in</strong>es Teils <strong>in</strong>folge der zweiten<br />
Intifada: „Damals kämpften sie, um die israelische<br />
Besatzung loszuwerden, jetzt kämpfen sie,<br />
um Israel loszuwerden“, zitiert er B. Morris, der<br />
nachträglich die Vertreibung arabischer Bevölkerung<br />
als tragisch, aber notwendig bezeichnete.<br />
Ausführlich wird das Problem der Rückkehr<br />
der Flüchtl<strong>in</strong>ge und die verschiedenen Lösungsansätze<br />
dargestellt und e<strong>in</strong>e „begrenzte Rückkehr<br />
ohne Rückkehrrecht“ als „Zauberformel“<br />
bezeichnet. Auch <strong>in</strong> dieser Frage ist Israel auf<br />
der Suche. Erfreulich ist die Tatsache, dass es<br />
gelungen ist, <strong>in</strong> Israel Schulbücher e<strong>in</strong>zuführen,<br />
die auch die Sicht der Paläst<strong>in</strong>enser darstellen,<br />
ohne billige Lösungen zu propagieren.<br />
Die unterschiedliche Sicht <strong>in</strong>nerhalb der israelischen<br />
Gesellschaft bezüglich der seit 1967<br />
besetzten Gebiete und zur E<strong>in</strong>igung auf die<br />
Grenzen zweier Staaten, machen am Beispiel<br />
der „grünen L<strong>in</strong>ie“ zwei Anzeigen deutlich, die<br />
am gleichen Tag <strong>in</strong> israelischen Zeitungen erschienen<br />
s<strong>in</strong>d. Überhaupt wird die Problematik<br />
der mit den unterschiedlichsten Grenzziehungen<br />
verbundenen Schwierigkeiten ausführlich an<br />
konkreten Beispielen dargestellt: Räumung von<br />
S<strong>in</strong>ai und Gaza, Zaun und Mauer. Durchweg<br />
zeichnet sich das Buch dadurch aus, dass die<br />
verschiedenen Fragen nicht theoretisch erörtert,<br />
sondern an E<strong>in</strong>zelschicksalen veranschaulicht<br />
werden. Dadurch wird Lebensnähe erreicht,<br />
doch stellt sich auch jeweils die Frage, wie<br />
exemplarisch diese tatsächlich s<strong>in</strong>d. Am Beispiel<br />
geschilderter Schwierigkeiten e<strong>in</strong>er Kon-
version kennt der Rezensent auch gegenteilige<br />
Beispiele.<br />
Erfreulich ist die begriffliche Unterscheidung<br />
zwischen Arabern und Paläst<strong>in</strong>ensern, erhellend<br />
die Darstellung der Schwierigkeiten des<br />
Zusammenlebens unterschiedlicher religiöser<br />
jüdischer Gruppen etwa <strong>in</strong> dem Dorf Yavne’el,<br />
die e<strong>in</strong>e friedliche Lösung gefunden haben, oder<br />
<strong>in</strong> Jerusalem. Am Beispiel der Personalausweise<br />
wird die Problematik der „Volkszugehörigkeit“,<br />
die von „Staatsangehörigkeit“ unterschieden<br />
wird, deutlich. Avidan berichtet auch von e<strong>in</strong>er<br />
bisher erfolglosen Initiative, die Angabe der<br />
„Nation“ aus dem Personalausweis zu streichen.<br />
Ke<strong>in</strong>e Problematik wird ausgespart, auch nicht<br />
die Frage künstlicher Befruchtung. Die<br />
Zukunftsperspektive Israels wird sich nach<br />
Avidan daran entscheiden, wie Israel „mit den<br />
eigenen M<strong>in</strong>derheiten umgeht“.<br />
Ke<strong>in</strong> bequemes, aber zum Nachdenken anregendes<br />
Buch, das gerade uns Deutsche<br />
vor vorschnellen Antworten und Lösungsvorschlägen<br />
bewahren kann.<br />
Dr. Hans Maaß<br />
Yvonne Domhardt, Esther Orlow,<br />
Eva Pruschy [Hrsg.]<br />
KOL ISCHA<br />
Jüdische Frauen lesen die Tora<br />
geb., 277 S., Chronos Verlag, Zürich 2007,<br />
ISBN 978-3-0340-0788-7<br />
Anhand der 54 Wochenabschnitte der Tora<br />
legen sehr unterschiedliche jüdische Frauen die<br />
Tora aus. Denn jüdischen Frauen steht mehr<br />
und mehr die Möglichkeit offen, „sich mit den<br />
religiösen Quellen, <strong>in</strong>sbesondere der Tora und<br />
dem Talmud, <strong>in</strong>tellektuell ause<strong>in</strong>anderzusetzen“.<br />
Das Buch „versteht sich als Experiment an<br />
und mit Texten“. Es bietet manche orig<strong>in</strong>elle<br />
E<strong>in</strong>sichten und Aussagen, wobei allerd<strong>in</strong>gs<br />
manchmal mehr Belegstellen dafür zu wünschen<br />
wären. Dabei ist nicht verwunderlich, dass e<strong>in</strong>zelne<br />
Ausleger<strong>in</strong>nen z. T. ihre Spezialthemen <strong>in</strong><br />
den Texten wiederentdecken. Aber auch auffällige<br />
Übersetzungsformulierungen regen zum<br />
Nachdenken an, wenn es etwa heißt „und Gott<br />
machte Schabbat aus se<strong>in</strong>er ganzen Arbeit, die<br />
er gemacht hatte.“<br />
Die Spannweite der e<strong>in</strong>zelnen Beiträge entspricht<br />
der Breite der Berufsfelder der Mitarbeiter<strong>in</strong>nen,<br />
von Rabb<strong>in</strong>er<strong>in</strong>nen bis zu Literaturhistoriker<strong>in</strong>nen,<br />
Hochschulprofessor<strong>in</strong>nen, Universitätsassistent<strong>in</strong>nen<br />
bis Sozialarbeiter<strong>in</strong>nen. So f<strong>in</strong>den<br />
sich Beiträge, die sich an der rabb<strong>in</strong>ischen<br />
Tradition orientieren, neben geradezu feuilletonistisch<br />
wirkenden, aber deshalb nicht weniger<br />
anregenden. Sachliche Erklärungen stehen neben<br />
bes<strong>in</strong>nlichen Texten.<br />
Nicht alle exegetischen „Perlen“ können hier<br />
vorgetragen werden; doch ist bei Noah die<br />
Überlegung anregend, wie wenig selbstverständlich<br />
es ist, dass die Nachkommen e<strong>in</strong>es Gerechten<br />
„m<strong>in</strong>destens ebenso gottesfürchtig“ s<strong>in</strong>d!<br />
Und wie ernüchternd ist bei Abraham und Sara<br />
der H<strong>in</strong>weis, dass sich die Begründung „de<strong>in</strong>etwegen“<br />
ebenso gut mit „auf de<strong>in</strong>e Kosten“<br />
übersetzen lässt! E<strong>in</strong> andermal wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
größeren Abschnitt sche<strong>in</strong>bar nicht zusammenhängender<br />
Erzählungen „sehen“ als Leitwort<br />
entdeckt. Tiefs<strong>in</strong>nig ist auch die Deutung der<br />
Vergewaltigung D<strong>in</strong>as, der Tochter Jakobs. Dass<br />
sich e<strong>in</strong>e Psycholog<strong>in</strong> mit Josefs Träumen befasst,<br />
verwundert nicht. Überhaupt verstehen<br />
es die Verfasser<strong>in</strong>nen, den erzählenden Texten<br />
z. T. Tiefendimensionen abzugew<strong>in</strong>nen, die<br />
man <strong>in</strong> üblichen Kommentaren nicht f<strong>in</strong>det.<br />
Schwieriger erweist sich der Umgang mit<br />
Listen und Vorschriften; aber auch dies wird<br />
z. T. gut gemeistert. Orig<strong>in</strong>ell ist die Idee, die<br />
Erklärung der Rechtsregelungen <strong>in</strong> 2.Mose <strong>in</strong><br />
die Form e<strong>in</strong>es Briefs zu kleiden. Listen über<br />
Landverteilung und Asylstädte werden als<br />
Ausdruck von Sehnsucht verstanden. Manche<br />
Passagen wirken apologetisch. Dies ist allerd<strong>in</strong>gs<br />
ke<strong>in</strong> Verdikt; denn gerade sie greifen<br />
Probleme auf, die bei jeder Beschäftigung mit<br />
entsprechenden Texten unausweichlich entstehen.<br />
Ethische Grunde<strong>in</strong>stellungen – wie etwa Vorbehalte<br />
des Judentums gegenüber Eiferern –<br />
werden ebenso ausgesprochen wie die erzieherische<br />
Funktion von Geboten sowie der<br />
Gerechtigkeit.<br />
Oft – z. B. beim Sündenbock – kommt auch die<br />
Tiefenpsychologie zuhilfe; der Abschluss des<br />
3. Mose wird als „Geburt des Über-Ichs“<br />
bezeichnet. Und wer von uns käme auf den<br />
Gedanken, <strong>in</strong> Namenslisten etwas Identitätsstiftendes<br />
zu entdecken oder <strong>in</strong> den Bestimmungen<br />
bei Ehebruchverdacht e<strong>in</strong>e Maßnahme<br />
gegen Eifersucht?<br />
Es gibt auch Betrachtungen, die aus typischer<br />
Frauensicht geschrieben s<strong>in</strong>d, ohne jedoch<br />
militant fem<strong>in</strong>istisch zu se<strong>in</strong>, z. B. die Reflexionen<br />
35
über die Zizit, die „Schaufäden“. E<strong>in</strong>e andere<br />
Auslegung relativiert die patriarchalische<br />
Gesellschaft und stellt die darauf beruhenden<br />
Ordnungen zur Diskussion. Besonders <strong>in</strong>teressant<br />
ist das generationsübergreifende Gespräch<br />
e<strong>in</strong>er Mutter und Tochter über die Bedeutung<br />
der Gebote für jüdische Identität. Im abschließenden<br />
Kapitel wird gefragt, ob Frauen<br />
<strong>in</strong> das mosaische Führungsmodell passen.<br />
Nicht alles ist auf Anhieb verständlich; auch<br />
Schwierigkeiten, mit den sich manche Autor<strong>in</strong>nen<br />
plagten, werden sichtbar. Dennoch: wer<br />
sich künftig mit Erzählungen und Geboten der<br />
Tora befasst, sollte sich von diesem Buch Anregungen<br />
geben lassen.<br />
Dr. Hans Maaß<br />
Björn Krondorfer u.a.<br />
MIT BLICK AUF DIE TÄTER<br />
Fragen an die deutsche Theologie<br />
nach 1945<br />
kart., 317 S., Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh<br />
2006, ISBN 3-579-05227-4<br />
E<strong>in</strong> thematisch weit gespanntes Unternehmen.<br />
Nach e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>führung von Norbert Reck<br />
untersucht Björn Krondorfer die Frage nach<br />
„Nationalsozialismus und Holocaust <strong>in</strong> Autobiographien<br />
protestantischer Theologen. Reck<br />
fragt dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er etwas anderen Perspektive<br />
ach „Nationalsozialismus, Holocaust und<br />
Schuld <strong>in</strong> den Augen dreier katholischer Generationen;<br />
abschließend wendet sich Kathar<strong>in</strong>a<br />
von Kellenbach unter dem Thema „Schuld und<br />
Vergebung“ dem Thema e<strong>in</strong>er „deutschen Praxis<br />
christlicher Versöhnung“ zu.<br />
Neu an diesem Ansatz ist die Def<strong>in</strong>ition des<br />
Begriffs „Täterschaft“ als „Gesamtheit der<br />
Taten, Worte, Handlungen und Unterlassungen,<br />
die zum Zustandekommen und langjährigen<br />
Funktionieren des nationalsozialistischen Gesellschaftsprojekts<br />
beigetragen haben.“ Damit erweitert<br />
sich der „Täterkreis“ erheblich gegenüber<br />
üblichen Betrachtungen; auch der Begriff<br />
„Schuld“ gew<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong>e neue Dimension. Sie<br />
erschöpft sich nicht nur im Handeln oder<br />
Wegschauen, sondern drückt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
gesellschaftlichen Gesamtdenken aus, an dem<br />
auch Theologen, wohl ohne es zu wollen und<br />
zu wissen, Anteil hatten. Nicht beschuldigen<br />
will das Buch, aber aufmerksam machen.<br />
36<br />
Die Beschäftigung mit Autobiographien ist<br />
e<strong>in</strong> Teil der „Er<strong>in</strong>nerungsarbeit“. Es geht um<br />
die Spannung „zwischen soziologischer Beschreibung<br />
von Gruppenzugehörigkeit und<br />
kritischer Beurteilung persönlichen Handelns“.<br />
Krondorfer verwendet <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />
den soziologischen Begriff „Kohorten“.<br />
Er geht mit Macuse davon aus, dass sich das<br />
Bewusstse<strong>in</strong> und Weltverständnis e<strong>in</strong>er Gruppe<br />
zwischen 16 und 26 Jahren bildet und später<br />
nicht mehr verändert. Dies erklärt manches,<br />
was bei älteren Kollegen trotz gegenteiliger<br />
Beteuerungen zu beobachten ist. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
kann man über se<strong>in</strong>e Abgrenzungen e<strong>in</strong>zelner<br />
Kohorten des 20. Jh. (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />
Tabelle) geteilter Me<strong>in</strong>ung se<strong>in</strong>. Zwischen den<br />
Geburtsjahren 1929 und 1944 klafft dabei e<strong>in</strong>e<br />
Lücke. Vermutlich ist diese Gruppe, mit unterschiedlichen<br />
Erlebnissen während des 2. Weltkriegs<br />
am schwersten zu charakterisieren. Ganz<br />
anders dagegen die Generation, die den verlorenen<br />
1. Weltkrieg <strong>in</strong> ihren entscheidenden<br />
Lebensjahren erlebte. Sie zeigt sogar für das<br />
Aufkommen des Nationalsozialismus Verständnis,<br />
selbst wenn sie ihn nicht billigt.<br />
Die sog. 1933er-Kohorte f<strong>in</strong>det sogar entschuldigende<br />
Worte oder gesteht, dass ihr das<br />
Überleben bzw. Durchlavieren wichtiger war als<br />
Pr<strong>in</strong>zipientreue. Wohltuend sticht von anderen<br />
Voten die Stimme von He<strong>in</strong>z Tödt ab, der zur<br />
nächsten Generation gehört wie Jörg Z<strong>in</strong>k, der,<br />
allerd<strong>in</strong>gs ohne Zweifel oder Reue erkennen<br />
zu lassen, mitteilt, die Sorge se<strong>in</strong>er Klasse sei<br />
gewesen, „der Krieg mit se<strong>in</strong>en phantastischen<br />
Abenteuern könnte zu Ende se<strong>in</strong>, ehe wir an<br />
ihm hätten teilnehmen können.“ Kritische<br />
Fragen an das Verhalten von Eltern und Großeltern<br />
stellt erst die Nachkriegsgeneration.<br />
Dennoch können nicht alle E<strong>in</strong>stellungen mit<br />
diesem Modell erklärt werden. Auch Traditionen<br />
der eigenen Sozialisation <strong>in</strong> Familie und Milieu<br />
spielen e<strong>in</strong>e Rolle. Unreflektierte theologische<br />
Motive können allerd<strong>in</strong>gs sogar zu Solidarisierungen<br />
mit Tätern führen. Oft ist auch die<br />
Grenze zum Selbstmitleid nicht scharf zu ziehen.<br />
Mir wird daran klar, warum ich während me<strong>in</strong>er<br />
eigenen Studienzeit zu manchen Theologen<br />
ke<strong>in</strong>en Bezug f<strong>in</strong>den konnte. Dies wird etwa<br />
im Blick auf Thielicke durch e<strong>in</strong>e begeisterte<br />
Student<strong>in</strong> bestätigt, die nur zu kritisieren hat,<br />
dass er gelegentlich arrogant gewesen sei, sowie<br />
durch Krondorfers Feststellung, dass er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />
Lebenser<strong>in</strong>nerungen („Zu Gast auf e<strong>in</strong>em schönen<br />
Stern“!) nicht analysiere, sondern <strong>in</strong>szeniere.
Erschütternd ist auch die Feststellung: „Weil<br />
Theologen dieser Kohorte mehrheitlich nicht<br />
imstande waren, sich als Teil des Problems zu<br />
begreifen, konnten sie nach 1945 auch ke<strong>in</strong>e<br />
Theologie angesichts der Opfer [. . .] entwickeln.“<br />
Stattdessen befassen sie sich mit der Darstellung<br />
ihrer Rolle <strong>in</strong> der Bekennenden Kirche und <strong>in</strong>strumentalisieren<br />
dazu sogar e<strong>in</strong>zelne humanitäre<br />
Verhaltensweisen gegenüber Juden (Künneth);<br />
andere erwähnen Juden überhaupt nicht,<br />
Thielicke bedient sich unbemerkt antisemitischer<br />
Begrifflichkeit bei der Schilderung se<strong>in</strong>er<br />
sche<strong>in</strong>bar judenfreundlichen E<strong>in</strong>stellung.<br />
Auch führende katholische Theologen reflektieren<br />
die Nazijahre unter dem Gesichtspunkt<br />
des Leidens des deutschen Volkes. Schuld wird<br />
als Abfall von Gott, als Nihilismus o.ä., nicht<br />
als Versündigung an den Opfern verstanden.<br />
Wenn der Dogmatiker Schmaus noch 1963<br />
schreiben konnte, „Mit der Ankunft des Neuen<br />
Bundes ist der Alte Bund veraltet. Die christliche<br />
Offenbarung h<strong>in</strong>gegen ist ewig jung“,<br />
steht er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Strom theologischer Judenfe<strong>in</strong>dlichkeit,<br />
der seit dem 2. Jh. (!) lebendig war,<br />
und zeigt, warum ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>neren Abwehrkräfte<br />
gegen das Nazi-Unrecht mobilisiert werden<br />
konnten. Auch Guard<strong>in</strong>i geht es um den<br />
Rechtsbruch als Pr<strong>in</strong>zip, nicht um die Juden als<br />
Verfolgte. Auch Eugen Kogon, selbst jüdischer<br />
Abstammung, stellt fest, dass das deutsche Volk<br />
nicht gegen dieses Unrecht aufstehen konnte,<br />
weil es bis dah<strong>in</strong> noch gar nicht als Verantwortungsträger<br />
existiert habe. E<strong>in</strong>e seltsame<br />
Exkulpation! J.B. Metz stellt dagegen den Riss<br />
zwischen se<strong>in</strong>er traditionell geprägten K<strong>in</strong>dheit<br />
und se<strong>in</strong>en späteren theologischen E<strong>in</strong>sichten<br />
dar. Die zitierten Kirchenhistoriker dieser<br />
Generation haben offensichtlich früher als ihre<br />
gleichaltrigen evangelischen Kollegen e<strong>in</strong>e Wende<br />
vollzogen. Oder liegt es nur an der Auswahl der<br />
Zitate, die Norbert Reck hier getroffen hat?<br />
Nach dem Muster des katholischen Bußritus,<br />
„Herzliche Reue“, „Mündliche Beichte“,<br />
„Genugtuende Werke“ untersucht Kathar<strong>in</strong>a<br />
von Kellenbach im Schlussteil die Frage „Schuld<br />
und Vergebung <strong>in</strong> der deutschen Praxis christlicher<br />
Vergebung“. Auch die hier ausgewählten<br />
Beispiele zeigen, wie erschreckend unfähig<br />
zum Schulde<strong>in</strong>geständnis viele sche<strong>in</strong>bar nur<br />
<strong>in</strong>direkt Verwickelte waren. Fragwürdig ist<br />
auch das pathetisch kl<strong>in</strong>gende Schlusswort<br />
e<strong>in</strong>es Verurteilten, der das Urteil des Gerichts<br />
„aus der Hand [s]e<strong>in</strong>es höchsten Richters“<br />
annimmt, also nicht zu se<strong>in</strong>er irdischen Verantwortung<br />
stehen kann. Aber wer von uns<br />
würde nicht nach ähnlichen Strohalmen greifen?<br />
E<strong>in</strong> Buch, das sehr nachdenklich macht und<br />
sicher falsch gelesen wird, wenn es der „Entlarvung“<br />
anderer dient statt der Bes<strong>in</strong>nung auf<br />
die <strong>in</strong> uns selbst schlummernden Denkmuster.<br />
Dr. Hans Maaß<br />
Geza Vermes<br />
DIE GEBURT JESU<br />
Geschichte und Legende. 151 S., geb., Landkarte<br />
und Stichwortregister. Primus Verlag,<br />
Darmstadt 2007, ISBN 978-3-89678-348-6<br />
Von der christlichen Tradition des Weihnachtsfestes<br />
fragt Vermes zu den Quellen zurück, von<br />
denen nur Matthäus und Lukas Geburts- bzw.<br />
K<strong>in</strong>dheitsgeschichten überliefern, und stellt ihre<br />
Unterschiede heraus, aber auch die kirchlichen<br />
Korrekturen, mit denen diese ausgeglichen<br />
werden sollten. Spätere harmonisierende Interpretationen<br />
werden e<strong>in</strong>er ebenso kritischen<br />
Sicht unterzogen.<br />
Bei der Frage nach Jesu Abstammung verweist<br />
er auf die bewusst an das Alte Testament angelehnte<br />
Darstellung des Matthäus und erklärt<br />
die Erwähnung der Frauen damit, dass damit<br />
die Beziehung des Juden zu Nichtjuden herausgestellt<br />
werden solle. Trotz der Knappheit<br />
s<strong>in</strong>d sowohl die H<strong>in</strong>weise auf die Quellen und<br />
Textgeschichte als auch die Vergleiche zwischen<br />
Matthäus und Lukas erhellend. Für die Genauigkeit<br />
se<strong>in</strong>er Darstellung spricht, dass er<br />
auch Sonderüberlieferungen wie den Codey<br />
Syrus S<strong>in</strong>aiticus heranzieht, <strong>in</strong> dem Josef als der<br />
natürliche Vater Jesu gilt. Zur besseren Vergleichsmöglichkeit<br />
druckt er beide Stammbäume<br />
synoptisch nebene<strong>in</strong>ander und stellt<br />
heraus, dass der lukanische Stammbaum nicht<br />
über Salomo führt. Er zitiert jedoch nicht nur<br />
frühchristliche Versuche, diese Abweichungen<br />
zu erklären, sondern verweist auch auf e<strong>in</strong>e<br />
ähnliche jüdische Tradition bezüglich des<br />
R. Hillel.<br />
Über wundersame Geburten im Alten Testament<br />
und Judentum kommt er auf die „Metapher vom<br />
Gott, der Menschenk<strong>in</strong>der »zeugt«, die schon<br />
für die Könige Judas vor der Babylonischen<br />
Gefangenschaft galt. Wenn hier der Begriff<br />
„jüdische Könige“ verwendet wird, dürfte es sich<br />
37
um e<strong>in</strong>en Übersetzungsfehler handeln. Auch<br />
„wundersame Geburten <strong>in</strong> der heidnischen<br />
Welt“ werden genannt und die Überlegung angestellt,<br />
<strong>in</strong>wieweit die „Vergöttlichung großer<br />
historischer Figuren“ auch Heiden, vielleicht<br />
sogar hellenistische Juden bee<strong>in</strong>flussten, die<br />
zum Christentum übertraten. Selbst Parallelen<br />
bei den Nabatäern und Philo kommen zu<br />
Wort. Man spürt auf Schritt und Tritt, hier ist<br />
e<strong>in</strong> solide arbeitender Historiker mit breitem<br />
Wissensspektrum am Werk, aber auch e<strong>in</strong> sensibler<br />
Textausleger. Dies wird vor allem an der<br />
Interpretation der matthäischen Erzählung von<br />
Josefs Traum deutlich – bis h<strong>in</strong> zur ausführlichen<br />
rechtsgeschichtlichen Darstellung der<br />
Absicht Josefs, sich von Maria zu trennen.<br />
Niemand sollte <strong>in</strong> Unterricht oder Predigt über<br />
diesen Text se<strong>in</strong>e Interpretationen übergehen!<br />
Dasselbe gilt auch für die gründliche text- und<br />
dogmengeschichtliche Behandlung des Problems<br />
„Jungfrauengeburt“. Aufschlussreich ist im<br />
Blick auf Lukas vor allem der H<strong>in</strong>weis auf<br />
unterschiedene Arten von „Jungfräulichkeit“<br />
im rabb<strong>in</strong>ischen Judentum. Die Recherche über<br />
Jesu Geburtsjahr führt Vermes wortreich, vermutlich<br />
nur für Sachkenner auf Anhieb verständlich.<br />
Was konstitutiv zum christlichen<br />
Weihnachtsfest gehört, bezeichnet Vermes als<br />
„zurückhaltende Geburtsgeschichte bei Lukas“<br />
und als „unspektakuläres ländliches Ereignis“.<br />
Den Stern von Bethlehem sieht er selbstverständlich<br />
im Zusammenhang mit dem Bileam-<br />
Spruch Num 24,17 und se<strong>in</strong>er messianischen<br />
Deutung <strong>in</strong> Qumran und anderen Dokumenten<br />
jener Zeit, aber auch an den damals verbreiteten<br />
Glauben an zeichenhafte Bedeutung von<br />
Himmelsersche<strong>in</strong>ungen.<br />
Die Szene des herodianischen K<strong>in</strong>dermords<br />
schreibt er e<strong>in</strong>erseits der Erzählkunst des<br />
Matthäus zu, zeichnet sie aber andererseits<br />
auch <strong>in</strong> das zeitgeschichtliche Bild des Herodes<br />
e<strong>in</strong>, ohne die strukturelle Parallele zu der K<strong>in</strong>dheitsgeschichte<br />
des Mose zu übersehen. Dabei<br />
verweist er auch auf rabb<strong>in</strong>ische „Er<strong>in</strong>nerungen“<br />
an e<strong>in</strong>e Tätigkeit Jesu <strong>in</strong> Ägypten. Im weiteren<br />
Verlauf geht er der Frage nach, wie Jesus nach<br />
Lukas und Matthäus jeweils nach Galiläa<br />
kommt, und woher die Erzählung vom zwölfjährigen<br />
Jesus stammt. Ob er allerd<strong>in</strong>gs die<br />
Absicht der „K<strong>in</strong>dheitsevangelien“ richtig<br />
erfasst hat, wenn er ihnen nur den Zweck zugesteht,<br />
e<strong>in</strong>e Aura des Wunderbaren zu schaffen,<br />
mag dah<strong>in</strong>gestellt bleiben. Alles <strong>in</strong> allem e<strong>in</strong><br />
38<br />
lesenswertes Buch, sei es als Information oder<br />
als Repetition.<br />
Dr. Hans Maaß<br />
Joseph Ratz<strong>in</strong>ger/Benedikt XVI.<br />
JESUS VON NAZARETH<br />
Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur<br />
Verklärung; 447 S., geb., Verlag Herder, Freiburg<br />
2007, ISBN 978-3-451-29861-5<br />
Nach e<strong>in</strong>er apokryphen Überlieferung soll<br />
Jesus e<strong>in</strong>mal gesagt haben, „wenn du weißt,<br />
was du tust, selig bist du“. In entsprechender<br />
Abwandlung gilt dies auch für die Lektüre<br />
dieses Buches: Das Urteil wird davon abhängen,<br />
was man von diesem Buch erwartet.<br />
Der Titel „Jesus von Nazareth“ legt e<strong>in</strong>e historische<br />
Untersuchung zur Person, Botschaft<br />
und Geschichte Jesu nahe. Dies ist es nicht,<br />
sondern eher e<strong>in</strong>e weith<strong>in</strong> sehr sensible und<br />
fe<strong>in</strong>fühlige Explikation e<strong>in</strong>es bestimmten Jesusbildes.<br />
Insofern könnte der Titel auch lauten<br />
„Jesus von Joseph Ratz<strong>in</strong>ger“. Dies weiß er<br />
auch. Die durch die historisch-kritische Jesusforschung<br />
entstandene Situation hält er für<br />
„dramatisch für den Glauben, weil se<strong>in</strong> eigentlicher<br />
Bezugspunkt unsicher wird“. Er betont<br />
ausdrücklich, dass se<strong>in</strong>e Darstellung ke<strong>in</strong> „lehramtlicher<br />
Akt ist“ und stellt es „jedermann frei,<br />
mir zu widersprechen“, und bittet „die Leser<strong>in</strong>nen<br />
und Leser nur um jenen Vorschuss an<br />
Sympathie, ohne den es ke<strong>in</strong> verstehen gibt.“<br />
Nach diesen Vorreden des Verfassers muss der<br />
Rezensent feststellen, das Buch zeugt nicht nur<br />
von Belesenheit, sondern enthält e<strong>in</strong>e Fülle<br />
meditativer Passagen, die des Nachdenkens<br />
bzw. des <strong>in</strong>neren Nachvollziehens wert s<strong>in</strong>d.<br />
Dazu tragen auch se<strong>in</strong>e bildhafte Sprache und<br />
der oft predigtartige Stil bei, der oft den E<strong>in</strong>druck<br />
erweckt, als lese man für diese Gesamtdarstellung<br />
bearbeitete Predigten.<br />
Der Wert dieser spirituellen Aussagen muss<br />
aber auch an Ratz<strong>in</strong>gers eigener Vorgabe<br />
gemessen werden: „Wenn wir diese Geschichte<br />
wegschieben, wird der christliche Glaube als<br />
solcher aufgehoben“. E<strong>in</strong>e Hauptproblematik<br />
se<strong>in</strong>es geschichtswissenschaftlich nicht verifizierbaren<br />
Jesusbildes besteht dar<strong>in</strong>, dass er zwischen<br />
Jesu eigener Botschaft und der kirchlichen<br />
Botschaft von Jesus unterscheidet, sondern die<br />
Verkündigung Jesu immer wieder vom Bekennt-
nis der frühen Kirche her <strong>in</strong>terpretiert. Damit<br />
wird es fast unvermeidlich, dass er Jesus vom<br />
Judentum abhebt, ob es um die Charakterisierung<br />
der Pharisäer geht oder die Bezeichnung<br />
der Bergpredigt als „neue Tora“, die aus Jesu<br />
„E<strong>in</strong>tauchen <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>schaft mit dem Vater“<br />
kommt, während Mose „se<strong>in</strong>e Tora nur aus dem<br />
E<strong>in</strong>tauchen <strong>in</strong> das Gottesdunkel des Berges“<br />
br<strong>in</strong>gen konnte. Von dem amerikanischen<br />
Rabb<strong>in</strong>er Jacob Neusner übernimmt er die<br />
Sicht der Unvere<strong>in</strong>barkeit der Botschaft Jesu<br />
mit dem Judentum, wofür dieser ihm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Rezension <strong>in</strong> der Jerusalem Post auch volle<br />
Zustimmung zollt. Dass er die Qumranfrömmigkeit<br />
nicht aus eigenem Quellenstudium kennt,<br />
ist ihm nicht anzulasten; dann sollte er aber mit<br />
darauf bezogenen Urteilen vorsichtiger se<strong>in</strong>.<br />
S<strong>in</strong>n und Intention des Vater Unsers deutet er<br />
von mönchischer Gebetspraxis her, warum nicht<br />
vor allem aus dem zeitgenössischen jüdischen<br />
Kontext, warum nicht von jüdischen Gebeten<br />
her, <strong>in</strong> denen Gott als „unser Vater“ angerufen<br />
wird? Dass die Jünger Jesu „gleichsam im<br />
Gebet gezeugt“ wurden, kann er nur aufgrund<br />
symbolischer Deutung des Berges sagen.<br />
Es bleibt, wie anfangs gesagt, e<strong>in</strong> gemischtes<br />
Gefühl. Als Andachtsbuch s<strong>in</strong>d viele Passagen<br />
durchaus wertvoll, als geschichtlich verlässliche<br />
Auskunft über Jesus dagegen nicht.<br />
Dr. Hans Maaß<br />
Mart<strong>in</strong> Koschorke<br />
JESUS WAR NIE IN BETHLEHEM<br />
140 S., geb., Wissenschaftliche Buchgesellschaft,<br />
Darmstadt 2007. ISBN 978-3-534-20488-5<br />
Das Buch ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er oft saloppen Sprache und<br />
h<strong>in</strong>sichtlich des Aufbaus <strong>in</strong> journalistischem Stil<br />
geschrieben, den man bei e<strong>in</strong>er Veröffentlichung<br />
der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft so nicht<br />
erwarten würde. Die Argumentation verläuft oft<br />
nicht l<strong>in</strong>ear str<strong>in</strong>gent, sondern konzentrisch.<br />
Neben teilweise eigenwilligen Übersetzungen<br />
stehen psychologisierende Deutungen sowie<br />
gewaltsame Modernisierungsversuche und<br />
Anachronismen (etwa die Bezeichnung der<br />
Schriftgelehrten <strong>in</strong> Mk 3 als die „zuständigen<br />
psychiatrischen Fachautoritäten“, die Jesus<br />
kritisieren, weil er „nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Studienabschluss“<br />
hatte! Der reiche Kornbauer aus<br />
Lk 12 wird zu „e<strong>in</strong>em Unternehmer, der <strong>in</strong> der<br />
Computerbranche tätig war“). Vieles ist zu undifferenziert<br />
und unpräzise dargestellt, anderes<br />
falsch oder zum<strong>in</strong>dest fragwürdig (etwa die<br />
Menschensohn-Worte oder die Behauptung,<br />
vorehelicher Geschlechtsverkehr sei damals e<strong>in</strong>e<br />
„Straftat“ gewesen; auch hat Jesus wohl nicht<br />
e<strong>in</strong>e neue Zeit, sondern das Ende der Zeit angekündigt;<br />
außerdem gab es nie e<strong>in</strong> „judäischgaliläisches<br />
Bergland“; Judäa und Galiläa liegen<br />
bis heute geografisch weit ause<strong>in</strong>ander und gehörten<br />
damals zu unterschiedlichen politischen<br />
E<strong>in</strong>heiten).<br />
Grundsätzlich richtige Überlegungen zur Machtproblematik<br />
schlagen <strong>in</strong> Judenfe<strong>in</strong>dlichkeit um,<br />
wenn Koschorke (se<strong>in</strong>en eigenen?) modernen<br />
Kirchenfrust Jesus unterstellt und nicht bedenkt,<br />
dass das Diskutieren über die richtige<br />
Deutung und Umsetzung uralter biblischer<br />
Gebote zum Wesen des Judentums zu aller Zeit<br />
gehört und nichts mit Konflikt und Konfrontation<br />
zu tun hat.<br />
Als Beispiel e<strong>in</strong>er solchen hanebüchenen Vermischung<br />
von Anachronismus und historisch<br />
sachlichem Fehlurteil seien e<strong>in</strong>ige Sätze aus dem<br />
Kapitel mit dem nicht weniger fragwürdigen<br />
Titel „Das System kriegt Angst“ zitiert: „Die<br />
Kirche br<strong>in</strong>gt Jesus um. Warum? Warum muss<br />
Jesus sterben? Er tastet das Sabbatgebot nicht<br />
an. Im Gegenteil, er erfüllt es. Er erfüllt es<br />
wieder mit S<strong>in</strong>n. Er gibt ihm se<strong>in</strong>e ursprüngliche<br />
Bedeutung zurück, die e<strong>in</strong>er göttlichen Gabe<br />
an die Menschen.“ Damit wird unterstellt, das<br />
Judentum se<strong>in</strong>er Zeit habe den Sabbat s<strong>in</strong>nlos<br />
e<strong>in</strong>gehalten. Er verkennt, dass es bei Jesu<br />
Diskussion mit den Gelehrten um die Frage<br />
geht, wie dieser geme<strong>in</strong>sam anerkannte S<strong>in</strong>n am<br />
besten erfüllt wird, und nicht darum, dass er<br />
ihn der „Verfügungsgewalt der Traditionshüter“<br />
entreißt und wegen dieser Kompromisslosigkeit<br />
„mit se<strong>in</strong>em Leben bezahlen“ muss<br />
wie „viele nach ihm, die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Namen<br />
erstarrte kirchliche Überlieferung <strong>in</strong> Frage<br />
stellen.“ Dieses Beispiel mag für viele stehen.<br />
Ach so, was hat dies mit der Frage zu tun, ob<br />
Jesus jemals <strong>in</strong> Bethlehem war? Gar nichts! Der<br />
Titel soll nur Aufmerksamkeit erregen. Auf<br />
diese Frage geht er nur an wenigen Stellen e<strong>in</strong>,<br />
ohne sie aber gründlich zu diskutieren. Schon<br />
gar nicht bedenkt er, dass die Frage, ob Jesus <strong>in</strong><br />
Bethlehem geboren wurde, nichts mit der<br />
Frage zu tun hat, ob er jemals dort war.<br />
Dr. Hans Maaß<br />
39
Bill T. Arnold u.a.<br />
STUDIENBUCH ALTES UND<br />
NEUES TESTAMENT<br />
geb., 944 S., R. Brockhaus Verlag, Wuppertal<br />
2005, ISBN 3-417-24928-7<br />
„So macht das Bibelstudium richtig Spaß!“<br />
beansprucht auf der Rückseite des E<strong>in</strong>bandes<br />
das umfangreiche Werk, das außer dem zuerst<br />
genannten Autor Bryan E. Beyer, Walter E.<br />
Elwell und Robert W. Yarbrough, samt und<br />
sonders Lehrer an US-Hochschulen, erarbeiteten.<br />
Es ist die Zusammenfassung der bereits 2001 erschienenen<br />
Teilbände <strong>in</strong> deutscher Übersetzung.<br />
Als Zielgruppe haben sich die Herausgeber<br />
„Bibelschulanfänger vorgestellt“. Damit ist die<br />
geistliche Prägung klar umrissen. E<strong>in</strong>e Charakterisierung<br />
des Buches ist nicht e<strong>in</strong>fach, denn es<br />
vere<strong>in</strong>igt unterschiedlichste Elemente <strong>in</strong> sich.<br />
E<strong>in</strong>erseits wird z.B. klar herausgestellt, dass der<br />
biblische Kanon Ergebnis e<strong>in</strong>es Entscheidungsprozesses<br />
der frühen Kirche ist, andererseits<br />
wird er als das bezeichnet, „was <strong>in</strong> der Bibel<br />
gefordert wurde“ – e<strong>in</strong>e verkürzte Sicht <strong>in</strong><br />
doppelter H<strong>in</strong>sicht; denn weder besteht die<br />
Bibel nur aus „Forderungen“ noch s<strong>in</strong>d diese<br />
e<strong>in</strong>heitlich. Die altkirchlichen Kriterien für die<br />
Kanonizität e<strong>in</strong>er Schrift werden modifiziert<br />
und unkritisch wiedergegeben. Wer stellt etwa<br />
fest, ob e<strong>in</strong>e Schrift „für alle Menschen zu allen<br />
Zeiten geschrieben“ ist? Und wenn es so wäre,<br />
litte dann nicht ihre Unmittelbarkeit unter<br />
e<strong>in</strong>er abstrakten Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit? Daher<br />
werden z.B. Listen <strong>in</strong> den Mosebüchern übergangen<br />
und herausgegriffen, was den Autoren<br />
von überzeitlicher Bedeutung zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t.<br />
Andererseits schrecken sie nicht vor merkwürdigen<br />
apologetischen Erklärungen zurück,<br />
etwa wenn sie mit Recht feststellen, dass die<br />
Zahlenangaben über die Größe Israels bei<br />
Exodus und Wüstenzug e<strong>in</strong>e absolute Übervölkerung<br />
zum Ausdruck brächten. Ihre Lösung:<br />
die Angaben s<strong>in</strong>d nicht als Zahlen zu verstehen,<br />
sondern als Bezeichnungen für „soziale . . .<br />
oder militärische E<strong>in</strong>heiten“ ohne Aussage über<br />
deren tatsächliche Größe. Die hohen Lebensalter<br />
der Generationen vor der S<strong>in</strong>tflut erklären<br />
sie damit, „dass die Auswirkung der Sünde erst<br />
allmählich zunahm“. Dass damit aber die<br />
Begründung der S<strong>in</strong>tflut h<strong>in</strong>fällig wird, nehmen<br />
sie ebenso wenig wahr wie die Tatsache, dass<br />
das Stichwort „Sünde“ <strong>in</strong> dem Kapitel über den<br />
40<br />
angeblichen „Sündenfall“ gar nicht vorkommt.<br />
Bedenklich ist auch, dass <strong>in</strong> vielen als Sachartikel<br />
aufgenommenen Fremdtexten (etwa<br />
zum Ursprung des Bösen) biblische Aussagen<br />
harmonisiert und daher ihrer eigentlichen Spitze<br />
beraubt werden. Dies hängt mit ihren Kriterien<br />
der Kanonizität zusammen.<br />
Dem konservativ-biblizistischen Ansatz entspricht<br />
auch der Umgang mit literarkritischen<br />
und überlieferungsgeschichtlichen Fragen. So<br />
ist es erfreulich, dass z.B. die Frage nach der<br />
E<strong>in</strong>heitlichkeit des Jesajabuches gestellt und <strong>in</strong><br />
ihren Grundzügen richtig dargestellt wird, auch<br />
wenn die Autoren dann doch zu dem Ergebnis<br />
kommen, dass e<strong>in</strong>iges für die These spreche,<br />
das ganze Buch stamme von Jesaja selbst.<br />
Damit wird Prophetie <strong>in</strong> den Bereich der Hellseherei<br />
gerückt. Bei den Gottesknechtsliedern<br />
werden zwar verschiedene Deutungen vorgestellt,<br />
aber die christologisch-messianische<br />
Deutung aufgrund der neutestamentlichen<br />
Rezeption für „zw<strong>in</strong>gend“ gehalten.<br />
Bei diesen für das Werk charakteristischen Beispielen<br />
für das Alte Testament muss es aus<br />
Platzgründen bleiben, damit auch das Positive<br />
noch zu Wort kommt. Grundsätzlich gut ist<br />
zwar die Tatsache, dass Arbeitsaufträge zur<br />
Erschließung biblischer Texte dienen sollen<br />
(Auflösungen im Anhang). Viele s<strong>in</strong>d jedoch<br />
suggestiv gestellt. Hervorragend s<strong>in</strong>d dagegen<br />
die vielen Wiedergaben historischer Stätten<br />
und Funde sowie zeitgenössischer Lebensverhältnisse<br />
sowie der Abdruck historischer Textdokumente.<br />
Entsprechendes gilt für das Neue Testament.<br />
Besonders gut wiedergegeben ist etwa die Tafel,<br />
die Unbefugten das Betreten des Jerusalemer<br />
Tempels untersagte. Rätselhaft bleibt allerd<strong>in</strong>gs,<br />
warum für die Taufstelle des Johannes e<strong>in</strong> derart<br />
idyllischer Bildausschnitt gewählt wurde,<br />
der nichts vom „Jordan <strong>in</strong> der Wüste“ erkennen<br />
lässt.<br />
Der eigentlichen Darstellung der Botschaft<br />
Jesu und der Besprechung neutestamentlicher<br />
Schriften wird e<strong>in</strong> Kapitel „Der Vordere Orient<br />
zur Zeit Jesu“ vorangestellt. Soweit es sich um<br />
historische Fakten handelt, trifft die Darstellung<br />
zu, der Abschnitt „Der jüdische Glaube<br />
zur Zeit Jesu“ enthält jedoch unzutreffende<br />
tendenziöse Feststellungen, etwa wenn es heißt,<br />
dass „Jesus für die geistlichen Führer e<strong>in</strong>e Bedrohung<br />
darstellte“, weil er e<strong>in</strong>e abweichende
Lebensweise praktizierte. Denn für alle <strong>in</strong> den<br />
Evangelien genannten Streitfragen lässt sich aus<br />
dem Talmud nachweisen, dass noch Jahrhunderte<br />
danach <strong>in</strong>nerhalb des Judentums<br />
darüber diskutiert bzw. dieselbe Position wie von<br />
Jesus vertreten wurde. Solche Unterstellungen<br />
schüren den uralten Vorwurf jüdischer Schuld<br />
am Tod Jesu. Entsprechend heißt es dann auch,<br />
Judas habe „mit den religiösen Führern bereits<br />
e<strong>in</strong> Komplott gegen Jesus geschmiedet.“ Dies<br />
geht noch über die Darstellung der Evangelien<br />
h<strong>in</strong>aus, statt die judenfe<strong>in</strong>dlichen Tendenzen <strong>in</strong><br />
ihnen zu korrigieren. Dies kann aufgrund der<br />
theologischen Forschung der Nachkriegszeit<br />
nicht mehr vertreten werden.<br />
Überhaupt zeigen die Autoren e<strong>in</strong>en merkwürdigen<br />
Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen.<br />
Aus der formgeschichtlichen E<strong>in</strong>sicht,<br />
dass die Form der Überlieferungen der<br />
Verkündigungssituation entspreche, wird gefolgert,<br />
dass Jesus selbst verschiedene Akzente<br />
setzte. So werden aus synoptischen Varianten<br />
additive Variationen. Die geme<strong>in</strong>same Akzeptanz<br />
des Alten Testaments wird vorausgesetzt,<br />
christliche theologische Interpretationen als<br />
Jesu Korrektur dessen verstanden, „was über<br />
die Jahre an Missverständnissen aufgekommen<br />
war.“ Verräterisch ist auch, dass unter der Überschrift<br />
von Jesu Botschaft im Text von „der<br />
Lehre“ <strong>in</strong> „Bezug zu se<strong>in</strong>er eigenen Person“ die<br />
Rede ist. Die Autoren haben offensichtlich<br />
gespürt, dass es sich dabei nicht mehr um<br />
Botschaft, sondern um Lehre handelt, wollen<br />
diese aber nicht der Geme<strong>in</strong>de zugestehen,<br />
sondern für Jesus selbst e<strong>in</strong>fordern. Dies wird<br />
dann konsequent z.B. im Blick auf „die Rolle<br />
Jesu im Reich Gottes“ durchgeführt. Dass ausgerechnet<br />
e<strong>in</strong> Text aus dem 1. Clemensbrief,<br />
e<strong>in</strong>em Dokument der römischen Geme<strong>in</strong>de aus<br />
e<strong>in</strong>deutig nachapostolischer Zeit, mit kynischstoischer<br />
Morallehre als „Die Ethik Jesu auf<br />
den Punkt gebracht“ angeführt wird, kann<br />
nur Kopfschütteln erzeugen, ebenso dass das<br />
Nicänische Glaubensbekenntnis als „Lehre Jesu“<br />
und nicht als Bekenntnis zu Jesus bezeichnet<br />
wird. Abenteuerlich ist die Hermeneutik der<br />
Autoren, dass „das Neue Testament die<br />
Geschichte von Jesus so erzählen will, wie sie<br />
(im Alten Testament) vorausgesagt wurde.“<br />
Damit wird e<strong>in</strong> erwünschtes Ergebnis bereits<br />
als Voraussetzung vorweggenommen! Was die<br />
Abbildung e<strong>in</strong>er Archäolog<strong>in</strong> bei der Freilegung<br />
e<strong>in</strong>es römischen Säulenkapitells zur<br />
Erforschung des Neuen Testaments beitragen<br />
soll, bleibt ebenso rätselhaft wie die Abbildung<br />
der Kapelle auf dem „Berg der Seligpreisungen“,<br />
die Mussol<strong>in</strong>i zur Ehre des italienischen Volkes<br />
erbauen ließ. Mehr ist über die Evangelien<br />
nicht zu erfahren. Statt ihre theologische Sicht<br />
des Lebens und Wirkens Jesu als christliche<br />
Glaubenszeugnisse darzustellen, beschäftigt man<br />
sich apologetisch mit Konzepten moderner<br />
Theologie.<br />
Ach so! Wussten Sie schon, dass Paulus auch<br />
etwas zum Umweltschutz gesagt hatte, zu<br />
Treibhauseffekt, Müllbergen, Ozonloch usw.?<br />
Ich auch nicht. Ich weiß es immer noch nicht,<br />
obwohl ich den entsprechenden Abschnitt<br />
mehrmals gelesen habe. Dass die Schöpfung<br />
Gott gehört, dass wir sie nicht anbeten sollen<br />
und die Art, wie wir mit ihr umgehen, etwas<br />
über unser Verhältnis zu Gott aussagt, weiß ich<br />
allerd<strong>in</strong>gs bereits aus dem Alten Testament! E<strong>in</strong><br />
„regelmäßiges Gebet zu Umweltthemen“ kann<br />
auch etwas Gefährliches se<strong>in</strong>, wenn es nämlich<br />
umweltgemäßes Handeln ersetzt.<br />
Dr. Hans Maaß<br />
INHALT<br />
Hartmut Rupp Wahrnehmen, erklären, deuten, erschließen –<br />
Kirchenpädagogik heute 1<br />
Claus Günzler Zeiterfahrung und Persönlichkeitsbildung<br />
– Das schnelle Leben und se<strong>in</strong>e Paradoxien – 11<br />
Lutz Mauermann E-Learn<strong>in</strong>g – Veränderte Lernbed<strong>in</strong>gungen<br />
<strong>in</strong> der Mediengesellschaft 24<br />
Buchbesprechungen 33
Der Bezug der Zeitschrift Beiträge Pädagogischer Arbeit ist kostenlos. Sie ist e<strong>in</strong>e<br />
Gabe an die Freunde unserer Arbeit und wird durch Spenden f<strong>in</strong>anziert, auf die<br />
wir zur Sicherstellung des Ersche<strong>in</strong>ens dr<strong>in</strong>gend angewiesen s<strong>in</strong>d.<br />
Wir danken allen, die unsere Arbeit mittragen und durch ihre Spenden mithelfen,<br />
Druck und Versand der Zeitschrift zu ermöglichen. Seit e<strong>in</strong>igen Jahren kamen<br />
noch Personalkosten h<strong>in</strong>zu.<br />
Um unsere Arbeit nicht e<strong>in</strong>schränken zu müssen, s<strong>in</strong>d wir allerd<strong>in</strong>gs auf höhere<br />
Spendene<strong>in</strong>nahmen angewiesen. Erstmals lagen diese Spenden im Jahr 2003<br />
unter unseren Selbstkosten! Damit ist unsere Arbeit mittelfristig gefährdet.<br />
Wir bitten daher alle Empfänger unserer Zeitschrift um Überprüfung, ob sie ihren bisherigen<br />
Spendenbeitrag erhöhen oder sich neu unter die Spender e<strong>in</strong>reihen können.<br />
Der Fördervere<strong>in</strong> ist steuerlich als geme<strong>in</strong>nützig anerkannt. Der beiliegende Überweisungsträger<br />
erleichtert Ihnen die Zahlung und gilt für Spendenbeträge bis<br />
100,00 p als Beleg zur Vorlage beim F<strong>in</strong>anzamt. Für höhere Spenden wird durch<br />
die Geschäftsstelle e<strong>in</strong>e Spendenbesche<strong>in</strong>igung ausgestellt. Helfen Sie uns bitte,<br />
unsere Arbeit <strong>in</strong> gewohnter Weise fortzusetzen.<br />
BEITRÄGE PÄDAGOGISCHER ARBEIT ISSN 0005 - 8157<br />
Herausgeber: Geme<strong>in</strong>schaft <strong>Evangelische</strong>r Erzieher <strong>in</strong> <strong>Baden</strong>,<br />
Leitender Arbeitskreis:<br />
Christiane Eilers, Lehrer<strong>in</strong>, 79110 Freiburg<br />
Prof. Dr. Peter Müller, 76332 Bad Herrenalb<br />
Rosemarie H<strong>in</strong>derer, Sonderschullehrer<strong>in</strong>, 70563 Stuttgart<br />
Manfred Kuhn, Kirchenrat, 69151 Neckergemünd<br />
Dr. Hans Maaß, Kirchenrat i. R., 76187 Karlsruhe<br />
He<strong>in</strong>z Mitschele, Lehrer, 77886 Lauf (stellvertr. Sprecher der GEE)<br />
Esther Richter, Rektor<strong>in</strong>, 75059 Zaisenhausen<br />
Thomas Schwarz, Schuldekan, Karlsbad<br />
Renate Süß, SAD’<strong>in</strong>, 76297 Stutensee, (Sprecher<strong>in</strong> der GEE)<br />
Schriftleiter: Kirchenrat i. R. Dr. Hans Maaß<br />
Hertzstraße 180 a, 76187 Karlsruhe, Telefon: 0721/ 751357<br />
Zuschriften und Anfragen an die Geschäftsstelle der GEE,<br />
Postfach 22 69, 76010 Karlsruhe, Telefon: 0721/ 9175 - 410, Fax: 0721/ 9175 - 559,<br />
E-Mail: gee@ekiba.de, Internet: www.ekiba.de/gee<br />
Ersche<strong>in</strong>ungsweise: jährlich 4 <strong>Heft</strong>e; H<strong>in</strong>weise auf Tagungen usw. sowie Überweisungsträger<br />
als Beilagen.<br />
Bankverb<strong>in</strong>dung:<br />
Spendenkonto des Fördervere<strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft <strong>Evangelische</strong>r Erzieher <strong>in</strong> <strong>Baden</strong> e.V.<br />
Konto-Nr. 0 500 011 bei der EKK Karlsruhe (Evang. Kreditgenossenschaft Karlsruhe),<br />
BLZ 520 604 10.<br />
Herstellung:<br />
Mediengestaltung und Hausdruckerei im <strong>Evangelische</strong>n Oberkirchenrat<br />
Mitarbeiter<br />
dieses <strong>Heft</strong>es: Prof. Dr. Hartmut Rupp, Spessartstraße 7, 68753 Waghäusel-Kirrlach<br />
Prof. Dr. Claus Günzler, Freiburger Straße 7 A, 76337 Waldbronn<br />
Dr. Lutz Mauermann, Schlesierstraße 19, 86343 Königsbrunn