Heft 2008 / II - Evangelische Landeskirche in Baden

Heft 2008 / II - Evangelische Landeskirche in Baden Heft 2008 / II - Evangelische Landeskirche in Baden

23.08.2013 Aufrufe

51. Jahrgang 2008 Heft II BEITRÄGE PÄDAGOGISCHER ARBEIT Gemeinschaft Evangelischer Erzieher in Baden Aus dem Inhalt Hartmut Rupp Wahrnehmen, erklären, deuten, erschließen – Kirchenpädagogik heute Claus Günzler Zeiterfahrung und Persönlichkeitsbildung – Das schnelle Leben und seine Paradoxien – Lutz Mauermann E-Learning – Veränderte Lernbedingungen in der Mediengesellschaft Buchbesprechungen E 26078

51. Jahrgang<br />

<strong>2008</strong><br />

<strong>Heft</strong> <strong>II</strong><br />

BEITRÄGE<br />

PÄDAGOGISCHER<br />

ARBEIT<br />

Geme<strong>in</strong>schaft<br />

<strong>Evangelische</strong>r Erzieher <strong>in</strong> <strong>Baden</strong><br />

Aus dem Inhalt<br />

Hartmut Rupp<br />

Wahrnehmen, erklären, deuten, erschließen –<br />

Kirchenpädagogik heute<br />

Claus Günzler<br />

Zeiterfahrung und Persönlichkeitsbildung<br />

– Das schnelle Leben und se<strong>in</strong>e Paradoxien –<br />

Lutz Mauermann<br />

E-Learn<strong>in</strong>g – Veränderte Lernbed<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>in</strong> der Mediengesellschaft<br />

Buchbesprechungen<br />

E 26078


Zum Geleit<br />

Die Pfaffen zu Rom machten e<strong>in</strong> Concilium gegen Kaiser Leo,<br />

der die Bilder verbot,<br />

und beschlossen, dass die Bilder s<strong>in</strong>d der Laien Bücher.<br />

Das wäre wohl wahr,<br />

wenn man wahrhaftige Historien oder Geschichten malte.<br />

Wer weiß schon etwas von Johannes Bugenhagen, e<strong>in</strong>em der Wittenberger<br />

Reformatoren, dessen Todestag sich <strong>in</strong> diesem Jahr zum 450. Mal jährt! Er<br />

war Mitstreiter Luthers und Pfarrer an der Wittenberger Stadtkirche, darüber<br />

h<strong>in</strong>aus aber der Reformator der gesamten norddeutschen Küstenregion,<br />

was ihm den Ehrennamen „Doktor Pommeranus“ e<strong>in</strong>brachte.<br />

Weite Teile dieses Gebietes standen unter dänischer Herrschaft, so dass uns<br />

e<strong>in</strong>e Reihe von Briefen mit König Christian <strong>II</strong>I. erhalten s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> denen er<br />

sich auch für praktische Belange der Reformation e<strong>in</strong>setzt: Wer theologisch<br />

ausgebildete evangelische Pfarrer haben möchte, muss auch etwas für deren<br />

Ausbildung tun. Bugenhagen setzt sich immer wieder für soziale Belange e<strong>in</strong>,<br />

bittet um Unterstützung für Studenten, vermittelt Theologen und Juristen an<br />

Geme<strong>in</strong>den und Kanzleien, die für e<strong>in</strong>e dem Evangelium gemäße Verkündigung<br />

und Kirchenordnung sorgen sollen.<br />

Aber auch <strong>in</strong> anderen praktischen Fragen der Reformation, die weit über das<br />

Organisatorische h<strong>in</strong>aus gehen und <strong>in</strong> die Tiefe theologischer Fragestellungen<br />

reichen, bittet ihn König Christian um Rat.<br />

So tragen Bugenhagens Briefe gelegentlich auch Züge e<strong>in</strong>es theologischen Gutachtens,<br />

etwa der Brief vom 28. Dezember 1537, aus dem das E<strong>in</strong>gangszitat<br />

stammt. Es geht dabei nicht nur um längst überwundene Streitpunkte früherer<br />

Jahrhunderte. Den Auffassungen und Begründungen der Reformatoren können<br />

auch für den Umgang mit heutigen Fragestellungen Kriterien entnommen<br />

werden.<br />

Am augenfälligsten ist dies im Blick auf Kirchenpädagogik, e<strong>in</strong>e verhältnismäßig<br />

junge religionspädagogischen Diszipl<strong>in</strong>. Kann Bugenhagens Kriterium<br />

für legitime und bedenkliche Bilder <strong>in</strong> Kirchen nicht auch als pädagogischhermeneutische<br />

Leitfrage bei der Betrachtung bildlicher Darstellungen <strong>in</strong><br />

Kirchen, seien es Symbole oder Abbildungen, dienen?<br />

Und welche prägende Rolle spielen bildliche Darstellungen <strong>in</strong> unserer heutigen<br />

Medienwelt? Informieren sie? Illustrieren sie? Inspirieren sie? Und <strong>in</strong>wieweit<br />

kommt dabei Wirklichkeit zur Sprache, <strong>in</strong>wieweit tiefere Wahrheit,<br />

vordergründige Realität oder unbewusste oder bewusste Verzerrung?<br />

Die Fragestellungen der Reformation s<strong>in</strong>d aktueller als uns oft bewusst ist.<br />

Dr. Hans Maaß


HARTMUT RUPP<br />

Wahrnehmen, erklären, deuten, erschließen –<br />

Kirchenpädagogik heute *<br />

1. Die Wiederentdeckung des Kirchenraumes<br />

„Kirchen dienen der christlichen Geme<strong>in</strong>de zum Gottesdienst. Dazu s<strong>in</strong>d sie<br />

gebaut. Aber sie s<strong>in</strong>d mehr: Sie haben e<strong>in</strong>e Ausstrahlungskraft weit über die<br />

Geme<strong>in</strong>den h<strong>in</strong>aus, denen sie angehören. . . . Jeder Kirchenraum . . . kann Zugänge<br />

zum Glauben und neue Erfahrungen mit der Wirklichkeit erschließen.“.<br />

So formulierte die EKD-Synode <strong>in</strong> ihrer Verlautbarung zum Kirchenraum<br />

<strong>in</strong> Leipzig am 25. Mai 2003. 1 Hier wird nachvollzogen, was viele Geme<strong>in</strong>den<br />

schon länger entdeckt haben: e<strong>in</strong> neues Interesse an Kirchenräumen.<br />

E<strong>in</strong>e funktionale Betrachtung des Kirchenraumes als bloßes Gehäuse für<br />

Gottesdienste, wie sie für den Protestantismus kennzeichnend ist 2 , wird offenkundig<br />

dem Kirchenraum und den ihn Begehenden nicht (mehr) gerecht.<br />

Nach Jugendstudien nehmen Kirchen e<strong>in</strong>e Spitzenposition unter den affektiv<br />

stark besetzten Orten e<strong>in</strong>. 3 Dieses Interesse zeigt sich auch an der Resakralisierung<br />

von Geme<strong>in</strong>dezentren 4 , an den Widerständen bei Verkaufs- oder<br />

Abrissplänen oder an dem Drängen auf offene Kirchen, das bis h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die<br />

Touristikverbände reicht.<br />

Diese Wiederentdeckung des Kirchenraums ist vielschichtig. Da gibt es<br />

„schlendernde Passanten“, die die Unterhaltung suchen, „Erlebnishungrige“,<br />

die mystische Erlebnisse erwarten, „kunsthistorisch Interessierte“, die<br />

kunstgeschichtliche Exkurse mögen und „religiös Bewegte“, die auch e<strong>in</strong><br />

Gebet im Kirchenraum schätzen. Erkennbar sprechen Kirchenräume auch<br />

religiös Neutrale und religiös Distanzierte an. 5<br />

H<strong>in</strong>ter diesem Interesse s<strong>in</strong>d unterschiedliche Motive zu erkennen. Dazu<br />

zählt e<strong>in</strong>mal der Wunsch nach heimatlicher Geborgenheit <strong>in</strong> unübersichtlichen<br />

und hektischen Zeiten 6 , die Suche nach e<strong>in</strong>em „begreifbaren“ S<strong>in</strong>n, der<br />

Überdruss an e<strong>in</strong>er allzu abstrakten Verkündigungssprache und das Unbehagen<br />

an der Gleichgültigkeit protestantischer Theologie gegenüber den „Äußerlichkeiten“<br />

des Glaubens. 7<br />

Dem gewachsenen Interesse am Kirchenraum auf Seiten von Begehenden<br />

entspricht auf Seiten der Theologie e<strong>in</strong> neues Verständnis des Kirchengebäudes,<br />

* Vorgetragen bei der Tagung der GEE „Heilige Räume“ Kirchengebäude ganzheitlich entdecken<br />

und erfahren, am 16./17.06.2007 <strong>in</strong> Mosbach-Neckarelz<br />

1


die Erkenntnis der Räumlichkeit göttlicher Offenbarung, die Erweiterung<br />

der Hermeneutik um s<strong>in</strong>nliche Wahrnehmung, aber auch die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> das<br />

Schw<strong>in</strong>den alltagskultureller Überlieferungen. Kirchengebäude werden als<br />

„sichtbare Zeichen“ gesehen, „dass Gott unter den Menschen Wohnung<br />

nimmt“ 8 . Kirchengebäude, der Kirchenraum und se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung „erzählen<br />

vom Glauben“ 9 . Zur Entdeckung kam, dass Gott <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Inkarnation selbst<br />

räumliche Gestalt gew<strong>in</strong>nt 10 und auch das gesprochene Wort leiblich-räumliche<br />

Dimensionen hat 11 , das zudem durch räumliche Kontexte Deutung<br />

erfährt. Leiblich-s<strong>in</strong>nliche Wahrnehmung durch Hören, Sehen, Fühlen,<br />

Riechen, Tasten, Schmecken ist Voraussetzung für das Verstehen und damit<br />

Grundlage von Erfahrung und Erkenntnis. 12 Worte, die der Wahrnehmung<br />

entgegenstehen, haben es schwer verstanden zu werden. 13 In dem Maße, wie<br />

es nicht mehr zu e<strong>in</strong>er selbstverständlichen Nutzung religiöser Orte und<br />

Symbole kommt und diese <strong>in</strong> Gefahr stehen, zu unverständlichen Relikten<br />

e<strong>in</strong>er museal gewordenen Vergangenheit zu werden, bedarf es e<strong>in</strong>er bewussten<br />

und deshalb auch didaktisch <strong>in</strong>szenierten Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der sichtbaren<br />

Gestalt christlichen Glaubens im Kirchenraum. 14 Die ganze Entwicklung<br />

wird man schließlich auch als Reflex auf die Ablösung der Kategorie der Zeit<br />

durch die des Raumes <strong>in</strong> der Theologie ansehen können. 15<br />

2. Eigenart und Ziele der Kirchenpädagogik<br />

In Unterscheidung zu e<strong>in</strong>er monologischen, ganz auf Sprechen, Hören und<br />

Sehen abgestellten historisch-genetischen Kirchenführung geht es Kirchenpädagogik<br />

um e<strong>in</strong>e ganzheitliche, aktive und erfahrungsorientierte Erschließung<br />

des Kirchenraumes. 16 Dabei ist „Ganzheitlichkeit“ sowohl personal als auch<br />

<strong>in</strong>haltlich und darüber h<strong>in</strong>aus auch methodisch zu bestimmen. Es geht um<br />

den E<strong>in</strong>bezug von „Kopf, Herz und Hand“ sowie aller S<strong>in</strong>ne, es geht um<br />

das Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Perspektiven auf den Raum (wie<br />

Stadtgeschichte, Kunst- und Architekturgeschichte, Frömmigkeitsgeschichte,<br />

Semiotik, Theologiegeschichte, Liturgik) sowie den E<strong>in</strong>satz von dialogischen,<br />

partizipativen, erkundenden, kreativen und produktionsorientierten Lernverfahren<br />

sowie Formen „liturgischen Lernens“. 17 Die Abfolge der Verben<br />

„wahrnehmen, erklären, deuten, erschließen“ ist durchaus didaktisch geme<strong>in</strong>t. 18<br />

Aus dem Entdecken und Beschreiben entsteht die Suche nach H<strong>in</strong>tergründen<br />

und der Entwurf von S<strong>in</strong>ndeutungen, was zu e<strong>in</strong>em „s<strong>in</strong>nen-vollen“<br />

Aneignungsprozess führt, der auch S<strong>in</strong>gen, Beten, Schreiben, Malen und<br />

Predigen kennt.<br />

Leitend ist der Ansatz e<strong>in</strong>er konstruktivistischen Didaktik 19 , die davon ausgeht,<br />

dass bedeutungsvolles Lernen zwar anregende und strukturierte Lernwelten<br />

braucht, sich aber <strong>in</strong> subjektiver Konstruktion vollzieht und auf Ko-<br />

2


Konstruktion angewiesen ist. „E<strong>in</strong>druck“ und „Ausdruck“ s<strong>in</strong>d die Pole e<strong>in</strong>es<br />

solchen aneignenden Lernens.<br />

Ziel e<strong>in</strong>er solchen Erschließung ist die persönliche Begegnung mit dem im<br />

Kirchenraum zum Ausdruck kommenden christlichen Glauben. 20 Diese Begegnung<br />

bezieht eigenes Leben auf Phänomene christlicher Religion und<br />

diese Phänomene auf eigenes Leben. Es handelt sich also um e<strong>in</strong>en wechselseitigen<br />

Erschließungsprozess, wie er für e<strong>in</strong>e kategoriale Bildung (W. Klafki)<br />

kennzeichnend ist. Kirchenpädagogik darf deshalb als Teilbereich religiöser<br />

Bildung bezeichnet werden.<br />

Diese Begegnung kann, je nach Ausrichtung, Bereitschaft und Intensität zu<br />

e<strong>in</strong>er Alphabetisierung, zu e<strong>in</strong>er spirituellen Erfahrung oder zu e<strong>in</strong>er Beheimatung<br />

<strong>in</strong> dem Kirchenraum führen.<br />

Alphabetisierung zielt auf die Fähigkeit, den Text der Kirchenarchitektur<br />

und des Kirchenraumes lesen, zum anderen aber auch auf die Fähigkeit, über<br />

eigene Wahrnehmungen <strong>in</strong> diesem Raum sprechen zu können. Davon auszugehen<br />

ist, dass diese Alphabetisierung e<strong>in</strong>e wichtige Voraussetzung dafür<br />

ist, die Möglichkeiten religiösen Lebens <strong>in</strong> diesem Raum wahrnehmen zu<br />

können. 21 Sie kann zu e<strong>in</strong>em neuen Interesse an dem christlichen Glauben<br />

führen. Darüber h<strong>in</strong>aus kann e<strong>in</strong>e solche Alphabetisierung Zugänge zu<br />

wichtigen Gehalten des „kollektiven Gedächtnisses“ (Maurice Halbwachs)<br />

eröffnen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gegenwartsorientierten Lebensweise verschüttet s<strong>in</strong>d.<br />

Kirchengebäude und Kirchenräume erzählen von den Lebensdeutungen<br />

früherer Generationen, von ihren Sehnsüchten und Bedürfnissen, von ihren<br />

Konflikten und Kämpfen, von dem, was für sie heilig und wichtig war, aber<br />

auch von dem, wovon sie sich abgegrenzt haben. Kirchen erzählen auch<br />

von Versagen und Schuld. Man denke an die Darstellung von Synagoge und<br />

Kirche. Zur E<strong>in</strong>sicht kann werden, dass alles Leben von dem Leben anderer<br />

lebt und sich dem Lebenswerk Verstorbener verdankt. 22<br />

Spirituelle Erfahrungen werden dort möglich, wo es an unterschiedlichen<br />

geistlichen Orten des Kirchenraumes, wie der Schwelle, dem Prozessionsweg,<br />

e<strong>in</strong>em Kirchenfenster, e<strong>in</strong>em Grabste<strong>in</strong>, dem Altar, dem Kreuz, dem<br />

Taufste<strong>in</strong> zu Berührungen zwischen dem christlichen Zeugnis und der<br />

Person des Begehenden kommt und diese von e<strong>in</strong>em verändernden Geist<br />

erfasst wird. Methoden dazu f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> der liturgischen Tradition der<br />

Kirche: Pilgerschritt, Leibübungen, Bildmeditation, Schriftauslegung,<br />

Predigt, Psalmodieren, Herzensgebet, Bekreuzigen, das Murmeln von<br />

Schriftversen, Gebete mit Körperhaltungen. Dazu gehört aber auch das<br />

Gespräch über eigene Erfahrung und die Entdeckung von Gottes Handeln<br />

im eigenen Leben. 23<br />

3


Zur Beheimatung kommt es dort, wo Teilnehmende mit dem Raum der gottesdienstlichen<br />

Geme<strong>in</strong>de vertraut werden und diesen sich als „ihre“ Heimat<br />

aneignen. Dies geschieht dann, wenn der Raum als Gottesdienstraum selber<br />

<strong>in</strong> Gebrauch genommen wird, z. B. durch Kanzellesen, Orgelspielen oder<br />

Glockenläuten, wenn der Raum mit eigenen Werken ausgestaltet wird oder<br />

sogar e<strong>in</strong>mal so umgestaltet und vorgestellt wird, wie er eigenen Vorstellungen<br />

entspricht.<br />

3. Die Entwicklung der Kirchenpädagogik und ihre Typen<br />

Die Anfänge der Kirchenpädagogik liegen am Ende der 80iger Jahre des<br />

vergangenen Jahrhunderts und s<strong>in</strong>d mit evangelischen Frauen verbunden.<br />

Christiane Kürschner (Hannover) und Inge Hansen (Hamburg) suchten <strong>in</strong><br />

Aufnahme der reformpädagogisch <strong>in</strong>spirierten Museumspädagogik 24 sowie<br />

Ansätzen aus England 25 mit religiös unkundigen K<strong>in</strong>dern die sichtbaren<br />

Zeichen der christlichen Religion im Kirchenraum zu erschließen. Anfang der<br />

90iger Jahre nahm das Geme<strong>in</strong>dekolleg der VELKD <strong>in</strong> Celle diese Impulse<br />

auf und <strong>in</strong>tegrierte sie <strong>in</strong> das Projekt „Kirchen erzählen vom Glauben“. Man<br />

versprach sich davon e<strong>in</strong>e durchaus missionarisch verstandene „Öffnung der<br />

Kirchen“. Seit 1993 werden von dort alljährlich Kurse zur Wahrnehmung<br />

und Deutung von Kirchenräumen angeboten. Auch das Comenius-Institut<br />

der EKD hat sich bald dieser Thematik angenommen. 26 2000 wurde auf<br />

Initiative von Erika Grünewald (Hamburg) der „Bundesverband Kirchenpädagogik“<br />

gegründet, um die vielfältigen bundesweiten Erfahrungen zu<br />

bündeln und allen Menschen zugänglich zu machen, die auf diesem Gebiet<br />

tätig s<strong>in</strong>d.<br />

Es war Christian Möller, der 1990 <strong>in</strong> Heidelberg diesen Ansatz aufnahm und<br />

so <strong>in</strong> das Programm der Praktischen Theologie <strong>in</strong>tegrierte. 27 Zwischenzeitlich<br />

haben verschiedene Vertreter der Praktischen Theologie, wie Christian<br />

Grethle<strong>in</strong>, Klaus Razschok, Manfred Josuttis, Gottfried Adam, Wolf-Eckhart<br />

Fail<strong>in</strong>g oder Horst Schwebel, die Kirchenpädagogik als Gegenstandsbereich<br />

der Praktischen Theologie entdeckt. In kirchlichen Verlautbarungen 28 wird die<br />

Kirchenpädagogik als neue Chance kirchlicher Verkündigung gesehen.<br />

In den zurückliegenden Jahren stieg das Interesse an Kirchenpädagogik<br />

sprunghaft an. Aus e<strong>in</strong>em nur für K<strong>in</strong>der entwickelten Ansatz wurde e<strong>in</strong><br />

breites Angebot für verschiedene Lebensalter und für ganz unterschiedliche<br />

Interessen. Auch die katholische Kirche hat zwischenzeitlich dieses Arbeitsfeld<br />

für ihre Arbeit entdeckt. Träger s<strong>in</strong>d nicht nur engagierte Geme<strong>in</strong>den<br />

oder Religionspädagogische Institute, sondern immer mehr auch die Kirchliche<br />

Erwachsenenbildung. An geschichtlich bedeutsamen Kirchen werden heute<br />

auch Kirchenpädagog<strong>in</strong>nen angestellt (Köln, Freiburg). Es erhebt sich die<br />

4


Frage, ob vom Amt des „Kirchenführers“ gesprochen werden kann. 29 Was<br />

anfänglich auf feste Geme<strong>in</strong>degruppen oder auf Schulklassen bzw. auf K<strong>in</strong>der<br />

und Jugendliche begrenzt war, richtet sich zwischenzeitlich auch auf Touristen<br />

und macht den Stadtführungen Konkurrenz. Dies kann soweit gehen, dass<br />

Stadtführungen ihrerseits zwischenzeitlich Führungen zu „magischen Orten“<br />

anbieten oder andererseits Kirchengeme<strong>in</strong>den ihre Kirchenräume für Stadtführungen<br />

verschließen (so z.B. <strong>in</strong> Speyer). Abzusehen ist, dass sich neben<br />

der „Kirchen“-Pädagogik auch e<strong>in</strong>e „Friedhofs“-Pädagogik und sogar e<strong>in</strong>e<br />

„Moschee“-Pädagogik 30 entwickelt.<br />

Die fortschreitende Entwicklung hat zur Ausbildung verschiedener Typen<br />

e<strong>in</strong>er kirchen-pädagogischen Erschließung geführt.<br />

Es lassen sich vier Grundformen unterscheiden:<br />

(1) die <strong>in</strong>dividuelle Kirchenerkundung mit Hilfe e<strong>in</strong>es Erkundungsbogens<br />

oder e<strong>in</strong>es Detektivspiels, die zu e<strong>in</strong>er differenzierten Wahrnehmung des<br />

Kirchenraumes anleitet und sich für K<strong>in</strong>der- und Jugendgruppen 31 , aber<br />

auch für Passanten sowie kunsthistorisch Interessierte eignet,<br />

(2) die auf Wahrnehmung und Gespräch abgestellte Kirchenführung, die<br />

sich vornehmlich an Erwachsene richtet, sowohl Passanten als auch kunsthistorisch<br />

Interessierte ansprechen kann und e<strong>in</strong>e Weiterentwicklung der<br />

historisch-genetischen Kirchenführung darstellt,<br />

(3) die spirituelle Erfahrung ermöglichende geistliche Führung 32 , <strong>in</strong> der nache<strong>in</strong>ander,<br />

betrachtend, schreitend, s<strong>in</strong>gend, musizierend, betend, meditierend<br />

Orte und Elemente des Kirchenraumes aufgesucht, deren religiöser Gehalt<br />

erschlossen und dabei auch persönliche Lebenserfahrungen und -fragen<br />

thematisiert werden – e<strong>in</strong> Ansatz, der sich vor allem für Erlebnishungrige<br />

und religiös Bewegte eignen dürfte und<br />

(4) die ganzheitliche, aktive Kirchenerschließung, die auf e<strong>in</strong>e vielfältige<br />

spielerische Wahrnehmung (E<strong>in</strong>druck), auf kreative Gestaltung (Ausdruck)<br />

sowie das Gespräch Wert legt und für K<strong>in</strong>der- und Jugendgruppen sowie<br />

kunsthistorisch Interessierte geeignet ist.<br />

Innerhalb dieser Typen gibt es unterschiedliche Akzentsetzungen. So kann<br />

mehr auf den Baustil und kunstgeschichtliche Aspekte Wert gelegt werden,<br />

auf die liturgische Bedeutung der Gegenstände oder auf die Zeichen des<br />

christlichen Glaubens. 33 Da kann stärker auf Information, auf Erleben, auf<br />

praktisches Nachvollziehen oder auf Umgestaltung geachtet werden. 34 Auf<br />

katholischer Seite wird <strong>in</strong>tensiv über „mystagogische“ Kirchenführungen<br />

nachgedacht, die <strong>in</strong> der Begegnung mit dem Kirchenraum Spuren Gottes <strong>in</strong><br />

dem eigenen Leben entdecken lassen wollen.<br />

5


Diese Grundformen bilden den H<strong>in</strong>tergrund für spezielle Konzepte. So<br />

haben sich vielerorts thematische Kirchenerschließungen entwickelt, bei<br />

denen man sich auf bestimmte Themen wie den Baustil, den Zusammenhang<br />

von Klang und Raum, das Licht oder die Glasfenster ausrichtet.<br />

Bei kunstgeschichtlich Interessierten f<strong>in</strong>den synästhetische Raum<strong>in</strong>szenierungen<br />

viel Aufmerksamkeit. Hier werden E<strong>in</strong>zelelemente des Kirchenraumes<br />

<strong>in</strong> den Mittelpunkt gestellt und durch Musik, Poesie, Schauspiel, Meditation,<br />

Gespräch differenziert erschlossen. In den Schulen gibt es Projektunterricht<br />

zum Kirchenraum, <strong>in</strong> denen Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler arbeitsteilig besondere<br />

Aspekte des Kirchenraumes herausarbeiten, diese dokumentieren und die<br />

Ergebnisse dann präsentieren. In Städten entwickeln sich kirchenpädagogische<br />

Wanderungen, <strong>in</strong> denen nache<strong>in</strong>ander verschiedene Kirchen unter unterschiedlichen<br />

Gesichtspunkten erschlossen werden. E<strong>in</strong>en Sonderbereich bilden<br />

„offene Kirchen„ wie sie derzeit auch im evangelischen Raum gefordert werden.<br />

Diese verlangen e<strong>in</strong>e spezifische Präparierung des Kirchenraumes, damit es<br />

auch für Passanten zu e<strong>in</strong>er persönlichen Begegnung mit dem Kirchenraum<br />

kommen kann. 35<br />

4. Die Streitfrage: S<strong>in</strong>d Kirchen heilige Räume?<br />

Für die katholische Theologie und Kirche s<strong>in</strong>d Kirchen zweifelsfrei „heilige“<br />

Räume. In ihr ist die Gegenwart Gottes s<strong>in</strong>nlich erfahrbar, denn sie zeigt<br />

sich im eucharistischen Brot, das außerhalb der Messe im Tabernakel aufbewahrt<br />

wird. Der Kirchenraum ist deshalb auch dann heilig, wenn ke<strong>in</strong>e<br />

Messe gefeiert wird und verlangt deshalb une<strong>in</strong>geschränkten Respekt. 36 In<br />

der Kirchen- und Altarweihe wird dieser Raum aus der Welt ausgegrenzt<br />

und durch „energetische Aufladung“ für die Begegnung mit Gott präpariert. 37<br />

<strong>Evangelische</strong> Theologie tut sich damit schwer und so durchzieht die (evangelische)<br />

Kirchenpädagogik die Frage, ob Kirchen heilige Räume seien.<br />

Letztlich geht es dabei um die Frage, wie Kirchenräume überhaupt zu verstehen<br />

und wie die Reaktionen der Kirchenbesucher auf den Kirchenraum<br />

e<strong>in</strong>zuordnen s<strong>in</strong>d. Handelt es sich um bloß subjektive Gefühle oder um Resonanzen<br />

auf die Gegenwart Gottes im Kirchenraum?<br />

Zwei Positionen stehen sich <strong>in</strong> der gegenwärtigen Diskussion konträr gegenüber.<br />

Horst Schwebel <strong>in</strong>sistiert im Anschluss an Luther 38 darauf, dass sich<br />

der Kirchenraum zur Gottesbeziehung „neutral“ verhalte. „Als Gebäude ist<br />

e<strong>in</strong> Kirchengebäude e<strong>in</strong> Gebäude wie jedes andere auch, ohne dass es e<strong>in</strong>e besondere<br />

Heiligkeit oder Sakralität hätte. Se<strong>in</strong>en Wert erhält das Kirchengebäude<br />

e<strong>in</strong>zig über das, was dar<strong>in</strong> geschieht.“ 39 Nach Manfred Josuttis h<strong>in</strong>gegen<br />

„residieren“ <strong>in</strong> Kirchenräumen „göttliche Atmosphären“. Hier kommt es – auch<br />

außerhalb des Gottesdienstes – zur Begegnung mit der Macht des Heiligen. 40<br />

6


E<strong>in</strong>e vermittelnde Position nimmt Klaus Razschok e<strong>in</strong>. Auch für ihn lässt<br />

der Kirchenraum Gottes Wirken verspüren, doch dieses Wirken ist verwoben<br />

mit menschlichem Leben und Handeln. Kirchenräume enthalten „göttliche<br />

Spuren“, doch diese s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>gelagert <strong>in</strong> die Spuren der gottesdienstlichen<br />

Geme<strong>in</strong>de. 41 Jeder Abendmahlskelch lässt etwas von der Begegnung mit<br />

Christus erkennen. Diese Spuren lassen sich auch außerhalb des Gottesdienstes<br />

entdecken.<br />

Versteht man heilige Räume als Räume, die zu Gott gehören und diesem<br />

Gott entsprechen, so öffnet sich noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> anderes Verständnis des<br />

Kirchenraumes. Es s<strong>in</strong>d dann solche Räume, die <strong>in</strong> ihrer Gestalt von dem<br />

Evangelium Jesu Christi erzählen und auf <strong>in</strong>direkte, gleichnishafte Weise auf<br />

die Gegenwart Gottes <strong>in</strong> der Verkündigung des geschriebenen Wortes Gottes<br />

h<strong>in</strong>weisen. Wohl handelt es sich stets um menschlich-geschichtliche Gestaltungen,<br />

doch sie haben an der Predigt von dem dreie<strong>in</strong>igen Gott Anteil<br />

und s<strong>in</strong>d von diesem affiziert. Diese Predigt ist auch dann wahrzunehmen,<br />

wenn gerade ke<strong>in</strong> Gottesdienst stattf<strong>in</strong>det.<br />

So „predigt“ die Ostung des Kirchenraumes von Christus als dem Licht der<br />

Welt. Sie richtet die E<strong>in</strong>tretenden auf die aufgehende Sonne aus und stellt<br />

ihnen so die christliche Orientierung vor Augen. Sie fordert ihn auf, die<br />

„Nacht“ h<strong>in</strong>ter sich zurück zu lassen, nimmt ihn h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> „das Schiff, das<br />

sich Geme<strong>in</strong>de nennt“ und verheißt ihm e<strong>in</strong> Leben im Licht. Der enge E<strong>in</strong>gang<br />

lässt den Innenraum als weit erleben und er<strong>in</strong>nert so daran, dass Gott me<strong>in</strong>e<br />

Füße auf weiten Raum stellen (Ps 31,9) will. Auf symbolische Weise wird<br />

Aufatmen und die Befreiung von e<strong>in</strong>engender Angst wahrgenommen. Der<br />

Platz <strong>in</strong> den Kirchenbänken richtet die Sitzenden auf Kanzel, Abendmahl,<br />

Taufe und Kreuz aus und nimmt ihn so <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e christliche Lebensorientierung<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Der Sitzplatz <strong>in</strong> der Bankreihe bestimmt jeden e<strong>in</strong>zelnen als Glied <strong>in</strong><br />

der Geme<strong>in</strong>schaft der Getauften. An diesen Beispielen zeigt sich, dass diese<br />

Verkündigung nicht nur ohne Worte spricht, sondern die ganze Körperhaltung<br />

bestimmt und so symbolisch christliches Leben e<strong>in</strong>übt.<br />

Diese Sicht des Kirchenraumes f<strong>in</strong>det ihre Entsprechung <strong>in</strong> den Empfehlungen<br />

des Ev. Kirchenbautages <strong>in</strong> Wolfenbüttel vom 12. April 1991: „Durch die<br />

gegenwärtige Gestaltung und Ausstattung soll die Begegnung der Geme<strong>in</strong>de<br />

mit dem lebendigen Gott zum Ausdruck kommen.“ 42<br />

Diese besondere Eigenschaft der Kirchenräume machen diese zu „sonderbaren“<br />

Räumen. Sie gehören nach Michel Foucault zu den „Heterotopien“ 43 ,<br />

die zu den alltäglichen Räumen <strong>in</strong> Beziehung stehen, sich aber von diesen<br />

unterscheiden, wie schon an ihrer äußeren Gestalt deutlich wird. Sie nehmen<br />

auf, was <strong>in</strong> den alltäglichen Lebensräumen geschieht, setzen dieses jedoch <strong>in</strong><br />

Beziehung zu dem Gott Jesu Christi und bewirken so e<strong>in</strong>e Unterbrechung. 44<br />

7


Von daher wird verständlich, dass es <strong>in</strong> dem Kirchenraum Alltäglichkeiten<br />

gibt, die jedoch ganz anders ausfallen. Da gibt es e<strong>in</strong>en Tisch, um den herum<br />

jedoch niemand sitzt. Da wird gegessen und getrunken, gesessen und geschritten,<br />

doch alles wird <strong>in</strong> Anspruch genommen als H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>ndeutung,<br />

die gel<strong>in</strong>gendes Leben verspricht. Indem Kirchenpädagogik hilft<br />

die Zeichen des Glaubens im Kirchenraum zu lesen, hilft sie auch das eigene<br />

Leben noch e<strong>in</strong>mal anders wahrzunehmen.<br />

Anmerkungen<br />

1 Zit. nach. Hartmut Rupp (Hg.), Handbuch der Kirchenpädagogik, 2006, 318-320. Auch auf<br />

katholischer Seite wird dies zwischenzeitlich so gesehen: „Künstlerisch wertvolle Kirchen<br />

wecken das Interesse vieler Menschen, selbst wenn ihnen der Glaube fremd geworden ist.“<br />

Erzbischof Zollitzsch, am 13. März 2006 <strong>in</strong> der Katholischen Akademie Freiburg.<br />

2 Ausschlaggebend dafür war Luther, der bei der E<strong>in</strong>weihung der Schlosskirche <strong>in</strong> Torgau 1544<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Predigt zu Luk 14,1ff. formulierte: „Wir sollen itzt dis newe Haus e<strong>in</strong>segnen und weihen<br />

unserm HERrn JHesu CHRisto, Welches mir nicht alle<strong>in</strong> gebürt und zustehet, sonden ir sollt<br />

auch zugleich an den Sprengel und reuchfas greifen, auff das dis newe Haus dah<strong>in</strong> gericht werde,<br />

das nichts anders dar<strong>in</strong> geschehe, denn das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch se<strong>in</strong> heiliges<br />

Wort und wir widerumb mit jm reden durch Gebet und Lobgesang.“ Vgl. WA 49, 588–592<br />

3 He<strong>in</strong>er Barz, Religion ohne Institution Teil <strong>II</strong>, 1992, 58<br />

4 Wolf-Eckart Fail<strong>in</strong>g, Die e<strong>in</strong>geräumte Welt und die Transzendenzen Gottes, <strong>in</strong>: W.E. Fail<strong>in</strong>g,<br />

H.G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 1998, 91–122, dort 94f.<br />

5 Nach e<strong>in</strong>er nicht repräsentativen Befragung von Karol<strong>in</strong>e Exner, Redaktion Katholische Kirche<br />

beim SWR, mitgeteilt bei e<strong>in</strong>er Tagung der Katholischen Akademie Freiburg am 13.3.2006<br />

6 So H. Barz a.a.O.<br />

7 Offenkundig zögern Protestanten bei der Vorstellung e<strong>in</strong>er „Verleiblichung des Heils“ mitzumachen,<br />

der e<strong>in</strong>er sakramental orientierten katholischen Theologie ungleich leichter fällt. Hier<br />

mag e<strong>in</strong>e Skepsis wirken, die am Bilderverbot und an der Gegenwart des lebendigen Gottes<br />

Maß nimmt. Doch hier könnte auch die so oft beklagte Flucht <strong>in</strong> die Innerlichkeit wirken.<br />

8 Wolfgang Huber, Kirchen <strong>in</strong> der Zeitenwende, 1995, 286<br />

9 So das Motto e<strong>in</strong>er Initiative des Geme<strong>in</strong>dekollegs der VELKD <strong>in</strong> Celle<br />

10 Wolf-Eckart Fail<strong>in</strong>g a.a.O. 97<br />

11 Christoph Bizer hält fest: „ . . .das im Buch der heiligen Texte aufgeschriebene göttliche Wort<br />

wird durch die Stimme hallend gemacht, raumbildend, so dass sich die Herantretenden an der<br />

Grenze zu e<strong>in</strong>em Raum der Spiritualität bef<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> dem der Heilige Geist Gottes wirksam<br />

ist.“ In: ders., Wahrnehmungen – sprachlich gestaltet – zum Wahrnehmen, <strong>in</strong>: Th. Klie,<br />

S. Leonhard (Hrsg.), Schauplatz Religion. Grundzüge e<strong>in</strong>er Performativen Religionspädagogik<br />

2003<br />

12 Die Sprache er<strong>in</strong>nert an die Leiblichkeit des Denkens, denn Begriffe wachsen aus Begreifen,<br />

Verstehen er<strong>in</strong>nert an Stehen, Ause<strong>in</strong>andersetzung an Setzen, Erfahrung an Fahren und Bildung<br />

an Bilden. Vgl. R. Degen, Den Räumen Raum geben, JRP 18, 2002, 115–123, dort 119<br />

13 Dies ist z. B. der Fall, wenn das Beträufeln des Getauften mit Wasser als „ Ersäufen“ bzw. Sterben<br />

und Auferstehen gedeutet oder e<strong>in</strong> sargähnlicher Holzkasten als „Tisch des Herrn“ bezeichnet<br />

wird.<br />

14 Zu den didaktischen Pr<strong>in</strong>zipien der Kirchenpädagogik vgl. H. Rupp ( Hg.), Handbuch der<br />

Kirchenpädagogik 2006, 229–235<br />

8


15 Sehr deutlich markiert dies Jürgen Moltmann an se<strong>in</strong>er eigenen theologischen Entwicklung,<br />

vgl. J. Moltmann, Gott und Raum, <strong>in</strong>: ders./C. Rivuzumwami (Hg.), Wo ist Gott? Gottesräume<br />

– Lebensräume, 2002, 29–41<br />

16 Vgl. Thesen zur Kirchenpädagogik <strong>in</strong>: kirchenPÄDAGOGIK, Zeitschrift des Bundesverbandes<br />

Kirchenpädagogik 1/2002, 24f.<br />

17 Modelle „liturgischen Lernens“ entwerfen Bärbel Husmann und Thomas Klie <strong>in</strong>: dies.,<br />

Gestalteter Glaube, 2005; vgl. auch Christoph Bizer, „Liturgie und Didaktik“ <strong>in</strong>: JRP 5, 1989,<br />

83–111<br />

18 Mit diesen Begriffen werden <strong>in</strong> dem Handbuch für Kirchenpädagogik hg. H. Rupp, 2006<br />

sowohl das Kirchengebäude als auch der Kirchenraum und se<strong>in</strong>e Elemente erarbeitet und sollen<br />

e<strong>in</strong>e wahrnehmungsorientierte Erschließung des Kirchenraumes eröffnen.<br />

19 Vgl. Hans Mendl (Hg), Konstruktivistische Religionspädagogik, 2005<br />

20 Roland Degen, e<strong>in</strong> Wegbereiter der Kirchenpädagogik, formuliert: „Kirchenerkundungen erreichen<br />

dort ihr Ziel, wo ohne, dass dies zu erzeugen ist – die Lebensgeschichte des Individuums<br />

und die <strong>in</strong>haltliche Überlieferung des Raumes sich spannend und spannungsvoll begegnen.“<br />

Roland Degen, „Echt stark hier!“ Kirchenräume erschließen. Aufgaben – Typen-Kriterien, <strong>in</strong>:<br />

R. Degen, I. Hansen, Lernort Kirchenraum 1998, 5–22, dort 18.<br />

21 Wolfgang Huber, Kirche <strong>in</strong> der Zeitenwende, 1995, 284 stellt fest: „Die Fähigkeit den ,Text‘<br />

der Kirchenarchitektur und der im Raum aufbewahrten Kunstwerke zu ,lesen‘, ist e<strong>in</strong>e wichtige<br />

Voraussetzung dafür, die Möglichkeiten zur Begegnung <strong>in</strong> diesem Raum wahrzunehmen.<br />

Kirchenraumpädagogik ist deshalb als e<strong>in</strong>e wichtige Aufgabe entdeckt worden, deren Chancen<br />

über das Maß bisheriger Realisierung weit h<strong>in</strong>ausgehen. Nur wenn Kirchenräume subjektiv<br />

,gelesen‘ werden können, fördern die Kirchenräume diejenigen Primärerfahrungen, die gerade<br />

<strong>in</strong> ihnen auf unvergleichliche Weise möglich s<strong>in</strong>d.“<br />

22 So Dieter Nestle, Gottes Haus und Gottes Acker. Die Geme<strong>in</strong>schaft von Lebenden und Toten<br />

<strong>in</strong> der Kirche <strong>in</strong>: Christian Möller u.a. (Hg.), Dieter Nestle . . ., dass es die Elenden hören und<br />

sich freuen, 2004, 125–133.<br />

23 Epitaphe z.B. erzählen von Tod und Hoffnung und können eigene Hoffnungs- und Todesbilder<br />

ansprechen.<br />

24 Vgl. Klaus Weschenfelder, Wolfgang Zacharias, Handbuch Museumspädagogik, 1992<br />

25 Vgl. Ruth Görnandt, Was ist Kirchenpädagogik? Entstehung – Gegenstand – Arbeitsweise, <strong>in</strong>:<br />

kirchenPÄDAGOGIK 1/2202,5–11<br />

26 E<strong>in</strong>e Folge war die Herausgabe des materialreichen und anregenden Aufsatzbandes von<br />

R. Degen, I. Hansen (Hg.), Lernort Kirchenraum 1998<br />

27 Christian Möller, Die Predigt der Ste<strong>in</strong>e. Zur Ästhetik der Kirche, <strong>in</strong>: J. Seim/L. Steiger (Hg.),<br />

Lobet Gott. Beiträge zur theologischen Ästhetik, FS Rudolf Bohren, 1990,171–178<br />

28 Vgl. z.B. EKD und VEF (Hg.), Gestaltung und Kritik zum Verhältnis von Protestantismus<br />

und Kultur im neuen Jahrhundert, 1999<br />

29 In den östlichen Kirchen hat sich zwischenzeitlich schon das Amt des „Kirchenwächters“ ausgebildet.<br />

30 E<strong>in</strong>e erste Publikation liegt vor: Ali-Özgür Özdil, Wenn Moscheen sich öffnen. Moscheepädagogik<br />

<strong>in</strong> Deutschland – E<strong>in</strong>e praktische E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> den Islam, 2002<br />

31 Viele Kirchen haben sog. „K<strong>in</strong>derkirchenführer“ entwickelt, e<strong>in</strong>zelne Kirche wie die Marktkirche<br />

<strong>in</strong> Hannover ansprechend gestaltete „Erkundungsbögen“.<br />

32 Birgit Neumann, Antje Rösener, Kirchenpädagogik. Kirchen öffnen, entdecken und verstehen.<br />

E<strong>in</strong> Arbeitsbuch, 2003, 72–76 sprechen von „spirituellen Kirchenführungen“; H. Rupp, Handbuch<br />

der Kirchenpädagogik, 2006, 250–260 von e<strong>in</strong>er „geistlichen Raumerschließung“.<br />

33 Ganz auf die Zeichen des christlichen Glaubens im Kirchenraum konzentriert sich Friedemann<br />

Fichtl, Der Teufel sitzt im Chorgestühl, 2002<br />

9


34 Roland Degen unterscheidet den „baukundlichen“, den „katechetischen“, den „handlungsorientierten“,<br />

den „symboldidaktischen“ den „Neues gestaltenden“ Typus vgl. „Echt stark hier!“<br />

Kirchenräume erschließen. Aufgaben – Typen – Kriterien, <strong>in</strong>: R. Degen, I. Hansen, Lernort<br />

Kirchenraum 1998, 5–22, dort 10-19. Die katholische Religionspädagog<strong>in</strong> Monika Scheidler,<br />

TU Dresden, unterscheidet liturgisch-katechetischen von spirituell-symboldidaktischen,<br />

kreativen und „mystagogischen“ Führungen.<br />

35 Vgl. H. Rupp, Handbuch der Kirchenpädagogik 2006, 264–269<br />

36 Vgl. Deutsche Bischöfe – Liturgiekommission, Räume der Stille. Gedanken zur Bewahrung<br />

e<strong>in</strong>es bedrohten Gutes <strong>in</strong> unserer Zeit, 14.2.2003, S. 22<br />

37 So Manfred Josuttis <strong>in</strong>: ders., Religion als Handwerk, 2002, 132. Josuttis sieht auch <strong>in</strong> den<br />

Lesungen, Gebeten und der Predigt bei e<strong>in</strong>er evangelischen Kirchene<strong>in</strong>weihung e<strong>in</strong>e solche<br />

Ausgrenzung und Aufladung<br />

38 Bei der E<strong>in</strong>weihung der Schlosskirche <strong>in</strong> Torgau formuliert er: „Nicht das man daraus e<strong>in</strong><br />

sondere Kirchen mache, als were sie besser denn andere heuser, do man gottes Wort predigt.<br />

Fiele aber die not fur, das man nicht wollte oder kündte hier<strong>in</strong> zusamen komen, so möchte<br />

man wol draussen beim Brunnen oder sonst wo predigen . . .“.a.a.O.<br />

39 H. Schwebel, Die Kirche und ihr Raum, <strong>in</strong>: S. Glockz<strong>in</strong>-Bever, H. Schwebel (Hg.), Kirchen<br />

Raum Pädagogik, 2002, 9–30 dort 14f<br />

40 Vgl. Manfred Josuttis, Der Weg <strong>in</strong>s Leben, 1991, 66–79. sowie M. Josuttis, Vom Umgang mit<br />

heiligen Räumen <strong>in</strong>: Th. Klie (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses<br />

Lernen 1998, 34-43. Josuttis schließt sich dem Philosophen Hermann Schmitz an, der Kirchenräume<br />

als Stätten der Kultur göttlicher Gefühle sieht, wobei diese objektiv-räumlich verstanden<br />

werden müssen vgl. ders., System der Philosophie. Der Raum, Vierter Teil, 1995, 80f.<br />

41 Vgl. K. Razschok, Spuren im Kirchenraum, Pastoraltheologie 4,2000, 142–157; vgl. auch<br />

K. Razschok, Der Feier Raum geben <strong>in</strong>: Th. Klie a.a.O. 112–135<br />

42 Zit. nach H. Rupp (Hg.), Handbuch der Kirchenpädagogik 2006, 315<br />

43 Vgl. Michel Foucault, Andere Räume, <strong>in</strong>: K. Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute<br />

oder Perspektiven e<strong>in</strong>er anderen Ästhetik, 2002, 34–46<br />

44 „Kirchenräume s<strong>in</strong>d heute weith<strong>in</strong> optische Unterbrechungen <strong>in</strong>mitten Verkehr, Geschäft und<br />

Politik; auch kann ihre Andersartigkeit sie zu Gegenräumen machen.“ R. Degen, Den Räumen<br />

Raum geben, JRP 18,2002, 122<br />

10


CLAUS GÜNZLER<br />

Zeiterfahrung und Persönlichkeitsbildung *<br />

– Das schnelle Leben und se<strong>in</strong>e Paradoxien –<br />

Es hat <strong>in</strong> den letzten Jahren vielerlei Kritik an der Schule gegeben, vor allem<br />

durch die PISA-Studien, <strong>in</strong> denen hochmögende Analysten uns wissen lassen,<br />

<strong>in</strong> welchen Sektoren die Leistungen unserer Schüler h<strong>in</strong>ter dem <strong>in</strong>ternationalen<br />

Standard zurückbleiben. Als Therapie wird dann e<strong>in</strong>e breite Palette neuer<br />

Kompetenzen def<strong>in</strong>iert, an denen wir die Schulpraxis schleunigst ausrichten<br />

müssten, wenn wir global konkurrenzfähig bleiben wollten. Kurzum, Bildungskritik<br />

und – <strong>in</strong> ihrem Schlepptau – Bildungspolitik haben es mit der Bildung<br />

plötzlich sehr eilig, wollen möglichst direkt e<strong>in</strong>e neue Qualität generieren und<br />

setzen dabei auf e<strong>in</strong>e methodisch-organisatorische Neuausrichtung der Schule.<br />

Solchem Pragmatismus lässt sich nur schwerlich widersprechen, denn er geht<br />

ja von realen Defekten aus, doch ihm ist auch e<strong>in</strong> unübersehbarer Mangel an<br />

die Stirn geschrieben: Die Reflexivität bleibt zugunsten schneller Reformen<br />

auf der Strecke. Module und Kompetenzen sollen jetzt leisten, was die alten<br />

Lerngegenstände und Bildungsziele nicht mehr schaffen, und an Bildungsstandards<br />

glaubt man dann messen zu können, was sich bisher nur schätzen<br />

ließ. Da stellt sich die Doppelfrage: Kann das Tempo der Neustrukturierung<br />

die gründliche Fundierung ersetzen? Und ist das bisherige Verständnis von<br />

Bildung an sich selbst gescheitert oder an dem Zeitgeist, <strong>in</strong> dessen Zeichen es<br />

sich bewähren musste. Solchen Fragen möchte ich hier nachgehen und habe<br />

mit dem Term<strong>in</strong>us ,Zeitgeist‘ schon das Schlüsselphänomen benannt, das<br />

sich als H<strong>in</strong>tergrund vieler Lern- und Leistungsprobleme kaum übersehen<br />

lässt: die Frage nach dem Umgang mit der Zeit.<br />

Bildung, Tempo und Zeitparadoxien<br />

An Schule und Hochschule machen wir die Erfahrung, dass immer mehr<br />

K<strong>in</strong>der und Jugendliche sich immer weniger auf e<strong>in</strong> gründliches, kont<strong>in</strong>uierliches<br />

Lernen konzentrieren können und freimütig bekennen, sie hätten<br />

dazu e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong>e Zeit. Der Term<strong>in</strong>druck sche<strong>in</strong>t unwiderstehlich zu se<strong>in</strong><br />

und sieht ununterbrochen Aktivitäten vor, deren persönlicher Reiz die Schule<br />

zum Randphänomen relativiert. Deshalb werden auch die s<strong>in</strong>nvollsten<br />

Hausaufgaben h<strong>in</strong>ausgeschoben, fallen schließlich dem Vergessen anheim,<br />

* Vorgetragen bei der Tagung der GEE „Schule, Zeitgeist, Lebenswelt – Bildung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er diffusen<br />

Realität, am 5./6.Mai 2007 <strong>in</strong> Falkau<br />

11


und die Gruppe der hochmotivierten, leistungsorientierten Schüler mutiert<br />

vom maßgeblichen Regelfall zur bemitleidenswerten M<strong>in</strong>derheit. Es ist ke<strong>in</strong>eswegs<br />

abwegig, hier mit neuen schulorganisatorischen Vorzeichen zu reagieren,<br />

also die Ganztagsschule e<strong>in</strong>zuführen und sie an Bildungsstandards auszurichten,<br />

doch dies löst das Problem nicht <strong>in</strong> der Sache, sondern nur im äußeren<br />

Rahmen: Zwar wird der Spielraum für die Beliebigkeit der Zeitnutzung<br />

enger und der Anspruch des Unterrichts strenger, aber bleibende Wirkung<br />

kann dies nur haben, wenn der Umgang mit der Zeit nicht nur reguliert, sondern<br />

auch thematisiert, also als fächerübergreifende erzieherische Aufgabe <strong>in</strong> den<br />

Schulalltag aller Klassenstufen <strong>in</strong>tegriert wird. Ich werde später darauf zurückkommen,<br />

möchte aber schon hier betonen, dass der Umgang mit der Zeit<br />

e<strong>in</strong>e unausweichliche Herausforderung darstellt, wenn die Schule nicht nur<br />

Kompetenzen vermitteln, sondern auch der Förderung von stabilen Persönlichkeiten<br />

verpflichtet bleiben soll.<br />

Diese alte Aufgabe ist heutzutage e<strong>in</strong> Unterfangen, das so unzeitgemäß wie<br />

ke<strong>in</strong> anderes ersche<strong>in</strong>t, denn es weckt den Verdacht der Donquichotterie, mit<br />

pädagogischen Mitteln gegen das schnelle Leben, gegen den Geschw<strong>in</strong>digkeitsrausch<br />

der Gegenwart anzuarbeiten. Zeit wird uns seit etwa zwei Jahrzehnten<br />

mit wachsender Exklusivität als Tempo auferlegt, das heißt, es darf<br />

ke<strong>in</strong>e ruhig fließende Zeit geben, sondern alle Zeite<strong>in</strong>heiten müssen m<strong>in</strong>utiös<br />

mit immer neuer Aktivität gefüllt, vor dem Absturz <strong>in</strong> die Monotonie bewahrt<br />

werden, und so ersche<strong>in</strong>t es wenig attraktiv, sich e<strong>in</strong>er Aufgabe stetig und<br />

beharrlich über längere Zeitphasen zu widmen. Letzteres ist unbestritten die<br />

Bed<strong>in</strong>gung für qualifizierte Leistungen, doch es fällt immer schwerer, diesen<br />

Weg zu gehen, wenn von überall her die Abwechslung lockt.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs gibt es auch Hoffnung, und diese wurzelt <strong>in</strong> den Zeitparadoxien,<br />

die das schnelle Leben mit wachsender Schärfe aufwirft. Diese Paradoxien<br />

werden uns zunehmend bewusst und verleihen der Frage nach dem S<strong>in</strong>n des<br />

dom<strong>in</strong>ierenden Zeitverständnisses e<strong>in</strong>e neue Brisanz. Ich möchte dies an<br />

e<strong>in</strong>igen wenigen Beispielen skizzieren und schicke voraus, dass der Zeitgew<strong>in</strong>n,<br />

den wir der modernen Technik verdanken, beachtlich ist, also die<br />

Zweckmäßigkeit des technischen Fortschritts nicht bezweifelt werden kann.<br />

Zugleich aber bedeutet Zeitgew<strong>in</strong>n stets auch Zeitverlust, denn die modernen<br />

Geräte s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Handwerkszeug, sondern komplizierte Systeme,<br />

die es mühselig zu erschließen und dann sorgfältig zu warten gilt, das heißt, sie<br />

s<strong>in</strong>d gefräßige Zeitdiebe. Wenn die Kosten-Nutzen-Rechnung aufgehen soll,<br />

muss der Zeitgew<strong>in</strong>n den Zeitverlust deutlich überwiegen, doch dies gel<strong>in</strong>gt<br />

bestenfalls <strong>in</strong> hochgerüsteten Betrieben mit entsprechendem Fachpersonal,<br />

nicht aber im privaten Alltag. Hier neutralisiert der Zeitaufwand den Zeitgew<strong>in</strong>n<br />

und verschl<strong>in</strong>gt letztlich Zeit, die für wichtigere D<strong>in</strong>ge des Lebens<br />

zur Verfügung stehen müsste, so auch für das gründliche Lernen.<br />

12


Vor zwei Jahrzehnten gab es e<strong>in</strong> vergleichbares Problem <strong>in</strong> dieser Zuspitzung<br />

noch nicht: Fernseher und Waschmasch<strong>in</strong>e ließen sich spontan bedienen, das<br />

Telefon war <strong>in</strong> sich evident, auch den Wecker konnte man ohne <strong>in</strong>terpretatorisches<br />

Experimentieren stellen, das Wechseln des Staubsaugerbeutels bedurfte<br />

ke<strong>in</strong>er Literaturhilfe, und alle sechs bis acht Wochen galt es beim Auto Luft<br />

und Öl zu kontrollieren. Demgemäß waren die Gebrauchsanleitungen<br />

knapp und klar, man brauchte noch ke<strong>in</strong>en Platz für reichbestückte ,Manual‘-<br />

Bibliotheken, musste ke<strong>in</strong>e Open-End-Abende an Hotl<strong>in</strong>es verbr<strong>in</strong>gen und<br />

hatte viel Zeit für anderes. Wer diese überschaubare Zeit erlebt hat, muss<br />

deshalb heute nicht zum Nostalgiker werden, sondern kann sich durchaus<br />

der neuen Technologien bedienen, doch er wird kaum bereit se<strong>in</strong>, sich den<br />

technischen Zeitdieben auszuliefern, und sollte dar<strong>in</strong> auch die Jüngeren stärken,<br />

die diesen Vergleich nicht ziehen können. Es geht also um den lebensdienlichen<br />

Umgang mit der Zeit, <strong>in</strong> der Gesellschaft <strong>in</strong>sgesamt, besonders<br />

aber <strong>in</strong> Elternhaus und Schule, denn hier entscheidet es sich, ob wir die<br />

Technologien nötigen, sich unserem Zeitanspruch anzupassen, oder ob wir als<br />

willfährige Opfer vor dem Herstellerdruck kapitulieren.<br />

Derzeit s<strong>in</strong>d wir von der humanen Hoheit über den Technikgebrauch noch<br />

weit entfernt, passen unseren Lebensstil e<strong>in</strong>er hochkomplexen Technik an,<br />

anstatt e<strong>in</strong>e Technik nach unseren Maßen zu fordern, und oft bemerken wir<br />

die Zeitparadoxien gar nicht mehr, weil sie selbstverständlich ersche<strong>in</strong>en.<br />

Das schnelle Leben nötigt uns zum Denken <strong>in</strong> M<strong>in</strong>uten, und zugleich stehen<br />

wir voller Gleichmut <strong>in</strong> Schlangen vor Post-, Bahn- und Bankschaltern,<br />

nehmen apathisch jährlich rund 60 Stunden Autobahnstau h<strong>in</strong>, <strong>in</strong>vestieren<br />

lange Abende <strong>in</strong> das Downloaden, Updaten, Nachladen, Umstecken usw.<br />

und „kommunizieren“ <strong>in</strong> aller Eile nach dem Signalton mit irgendwelchen<br />

Anrufbeantwortern. Plausibel ist das nicht, doch man hat sich daran gewöhnt,<br />

und deshalb richten wir nun auch das Bildungswesen nach diesen Erfahrungen<br />

aus: Reflexionsbere<strong>in</strong>igte Kurzstudiengänge präparieren den Unifunktionsbediener<br />

für Multifunktionsgeräte, und das Turbogymnasium soll den<br />

Abiturientennachschub beschleunigen, wobei <strong>in</strong> beiden Fällen offen bleibt,<br />

<strong>in</strong>wieweit das erhöhte Tempo Lücken erzeugt, die durch zeitaufwändige<br />

Zusatzpensen ausgeglichen werden müssen und so die gewonnene Zeit wieder<br />

absorbieren. Mit anderen Worten: Wie <strong>in</strong> allen Bereichen der heutigen<br />

Gesellschaft kommt es neuerd<strong>in</strong>gs auch im Bildungswesen darauf an, dass<br />

Reformen – so e<strong>in</strong>e zeittypische Vokabel – „zeitnah“ realisiert werden, also<br />

schnell, umgehend und direkt, und demgegenüber tritt die sorgfältige<br />

Abschätzung der Langzeitfolgen als theoretischer Ballast zurück. Wenn e<strong>in</strong>e<br />

Reform dann erste Widersprüche aufwirft, wird sie eben zeitnah durch<br />

e<strong>in</strong>e Reform der Reform „optimiert“, und so kann denn die Innovationsgeschw<strong>in</strong>digkeit<br />

permanent aufrechterhalten werden.<br />

13


Für das Bildungswesen bedeutet dies e<strong>in</strong>en Vorzeichenwechsel von grundsätzlichem<br />

Gewicht, denn hier hat man stets nach entwicklungsgemäßen<br />

Rhythmen gesucht, also niemals auf das Tempo gesetzt, während just dieses<br />

heutzutage zum maßgeblichen Faktor geworden ist. Die Zeit als Tempo begünstigt<br />

zwangsläufig den schnellen Wandel zu Lasten der stabilisierenden<br />

Konstanz, durchkreuzt immerfort mit allerneuesten Neuigkeiten das ruhige<br />

Heranreifen <strong>in</strong>nerer Orientierungen und nötigt die Schule dazu, die langfristige<br />

Aufgabe der Persönlichkeitsbildung zugunsten der Vermittlung<br />

aktueller Brauchbarkeiten zurückzustellen. Ohne Frage aber prägt die Zeiterfahrung<br />

unsere Selbstdeutung, also die Art und Weise, wie wir uns selbst<br />

verstehen und unser Leben gestalten. Deshalb erzeugt sie bei verschiedenen<br />

Generationen sehr unterschiedliche Lebenshorizonte, und dies gilt auch für die<br />

derzeit Heranwachsenden im Vergleich mit den Erwachsenen. Das jeweilige<br />

Zeitverständnis setzt also die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen für Bildung und Erziehung,<br />

und so müssen wir die Frage nach der Zeit <strong>in</strong> ihren maßgeblichen Entwicklungsetappen<br />

zurückverfolgen, wenn wir die gegenwärtige Situation orten wollen.<br />

Das möchte ich nunmehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em knappen Rekurs tun.<br />

Exemplarisches zur Geschichte des Zeitverständnisses<br />

In der Antike lag die durchschnittliche Lebenserwartung deutlich unter<br />

30 Jahren, wobei zu berücksichtigen ist, dass die hohe Säugl<strong>in</strong>gs- und<br />

K<strong>in</strong>dersterblichkeit e<strong>in</strong>en maßgeblichen Anteil daran hatte. Wer die K<strong>in</strong>derjahre<br />

überstanden hatte und als junger Erwachsener von Krieg und Seuche<br />

verschont blieb, konnte durchaus 50 Jahre und älter werden, doch der Mehrheit<br />

wurde dies nicht zuteil, das heißt, alte Menschen waren nicht der Regelfall,<br />

schon gar nicht mit der Gesundheit und Eigenständigkeit, wie sie heute<br />

üblich geworden ist. So lag es nahe, dass man bei der Zeit vor allem an die<br />

kurze Lebenszeit dachte, und Hippokrates (circa 460–370), der Begründer<br />

der wissenschaftlichen Mediz<strong>in</strong>, fasste diese Erfahrung <strong>in</strong> die berühmte<br />

Formel „Vita brevis, ars longa“. Das Leben – so wollte er damit sagen – ist<br />

zu kurz, um die ärztliche Kunst vollständig zu erlernen.<br />

Das Motiv der Lebenskürze prägte für fast zweie<strong>in</strong>halb Jahrtausende das<br />

menschliche Zeitbewusstse<strong>in</strong>, und erst das 20. Jahrhundert hat dann durch<br />

riesige Fortschritte <strong>in</strong> Hygiene, Ernährung und Mediz<strong>in</strong> die allgeme<strong>in</strong>en<br />

Lebensumstände so umfassend verbessert, dass die Lebenserwartung heute<br />

bei 80 Jahren angekommen ist. Aus dem vormaligen Privileg ist gewissermaßen<br />

e<strong>in</strong> demokratischer Anspruch und deshalb e<strong>in</strong> demographischer<br />

Faktor geworden. Dies hat die Zeiterfahrung tiefgreifend verändert und die<br />

Frage nach dem Umgang mit der Zeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en neuen Bezugsrahmen gestellt,<br />

doch auch schon <strong>in</strong> der Antike vollzog sich <strong>in</strong> kritischer Absetzung von<br />

Hippokrates e<strong>in</strong> Wandel <strong>in</strong> der Deutung der Zeit. Die Stoiker wollten den<br />

14


Respekt vor der Lebenskürze nicht dem bloßen Hoffen und Bangen überlassen,<br />

setzten sich beherzt vom „Vita brevis, ars longa“-Motiv ab, und Seneca (4–65)<br />

erklärt dann <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift „Von der Kürze des Lebens“:<br />

„Wir haben nicht zuwenig Zeit; wir vergeuden zuviel davon.“ 1<br />

Das Leben – so me<strong>in</strong>t er – sei lang genug, wenn man es nur zu nutzen wisse,<br />

und nutzen könne man es, <strong>in</strong>dem man die Zeit sammele und bewahre. Im<br />

Zeichen der antiken Lebenserwartung kl<strong>in</strong>gt dies heroisch, ja trotzig, doch<br />

es wird damit e<strong>in</strong> Programm formuliert, das durchaus <strong>in</strong> die Zukunft weist,<br />

denn mit zunehmender Lebensdauer steigert sich auch der Anspruch, die<br />

verliehene Zeit verantwortlich zu füllen, und dieses Postulat trifft nicht zuletzt<br />

unsere alternde Gegenwartsgesellschaft. Ob kurzes oder langes Leben,<br />

für Seneca bietet sich jedem Menschen die Chance, die ihm gegebene Zeit <strong>in</strong><br />

produktiver Weise zu gestalten, und so urteilt er denn:<br />

„Nichts ist schändlicher, als wenn e<strong>in</strong> Greis mit nichts anderem beweisen<br />

kann, dass er lange gelebt hat, als mit der Zahl se<strong>in</strong>er Jahre.“ 2<br />

Dieser Appell zum aktiv-verantwortlichen Umgang mit der Zeit ist e<strong>in</strong>e<br />

bemerkenswerte ethische Errungenschaft, doch er entwickelt das antike<br />

Zeitverständnis nicht essentiell weiter, denn Seneca begreift wie se<strong>in</strong>e antiken<br />

Vorgänger die Zeit weiterh<strong>in</strong> als objektive Macht, die allem Leben e<strong>in</strong>en<br />

Zeitpunkt des Entstehens und e<strong>in</strong>en Zeitpunkt des Vergehens, also e<strong>in</strong>e<br />

bestimmte Dauer vorgibt, und während dieser Dauer gilt es jedes neue<br />

Jetzt vernünftig, ergo tugendhaft, zu meistern. Das Leitmotiv ist die jedem<br />

Menschen zugewiesene Zeitdauer, <strong>in</strong> der Regel also die Lebenskürze, und<br />

die führt zu e<strong>in</strong>em Leben im Präsens, das heißt, <strong>in</strong> jedem neuen Augenblick<br />

muss jedermann das, was auf ihn zukommt, eigenbestimmt und pr<strong>in</strong>zipienbewusst<br />

beantworten. Das menschliche Leben verläuft also <strong>in</strong> der Zeit als<br />

objektivem Rahmen, wird aber noch nicht <strong>in</strong> der ihm eigenen zeitlichen<br />

Struktur, <strong>in</strong> der subjektiven Verflechtung von Gegenwart, Vergangenheit<br />

und Zukunft erfasst. Dass es auch e<strong>in</strong>e subjektive Zeit gibt, dass es unser<br />

Zeitbewusstse<strong>in</strong> ist, welches über unseren Umgang mit der Zeit entscheidet,<br />

und dass wir ke<strong>in</strong>eswegs nur Spielball e<strong>in</strong>er verme<strong>in</strong>tlich objektiven Zeit s<strong>in</strong>d,<br />

ist e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>sicht, die erstmals August<strong>in</strong>us (353–430) gew<strong>in</strong>nt. Er fundiert die<br />

Zeitstruktur im menschlichen Ich und wird damit zum <strong>in</strong>spirierenden Vorläufer<br />

der modernen Zeitforschung. 3<br />

In Buch XI se<strong>in</strong>er „Confessiones“ erörtert August<strong>in</strong>us die Frage nach der Zeit<br />

<strong>in</strong> ihrer ganzen Vielschichtigkeit, ist sich der Schwierigkeit der Problematik<br />

vollauf bewusst und bekennt:<br />

„Was also ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich<br />

e<strong>in</strong>em Fragenden es erklären, weiß ich es nicht. Aber zuversichtlich behaupte<br />

15


ich zu wissen, dass es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verg<strong>in</strong>ge, und<br />

nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit,<br />

wenn nichts seiend wäre.“ 4<br />

In detaillierten Analysen prüft er dann die Dreiheit von Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft, fragt, <strong>in</strong> welchem S<strong>in</strong>n hier von drei Zeiten gesprochen<br />

werden könne, und kommt zu dem klaren Befund:<br />

„Es s<strong>in</strong>d diese Zeiten e<strong>in</strong>e Dreiheit <strong>in</strong> der Seele, und anderswo sehe ich sie<br />

nicht: und zwar ist da Gegenwart von Vergangenem, nämlich Er<strong>in</strong>nerung;<br />

Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augensche<strong>in</strong>; Gegenwart von<br />

Künftigem, nämlich Erwartung.“ 5<br />

Die Untersuchung mündet dann <strong>in</strong> die Aussage:<br />

„In dir, me<strong>in</strong> Geist, messe ich die Zeiten.“ 6<br />

Damit ist die Schlüsselrolle des menschlichen Zeitbewusstse<strong>in</strong>s begrifflich<br />

klar erfasst: Die Vergangenheit ,ist‘ nicht und die Zukunft auch nicht, denn<br />

die e<strong>in</strong>e ist abgelaufene Zeit, die andere noch bevorstehende Zeit, also handelt<br />

es sich hier nicht um Seiendes. Wohl aber können wir uns die Vergangenheit<br />

vergegenwärtigen (memoria) oder uns der Zukunft mit Erwartung (expectatio)<br />

zuwenden, doch beides tun wir <strong>in</strong> der Gegenwart, das heißt, es ist unsere<br />

jetzige Anschauung (contuitus), die das Früher und das Später <strong>in</strong> sich here<strong>in</strong>holt.<br />

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt es also nicht als eigenständige<br />

Zeitwelten, sondern nur, <strong>in</strong>sofern sie sich unser Zeitbewusstse<strong>in</strong> im jeweiligen<br />

Jetzt vergegenwärtigt, und diese Vergegenwärtigung ist unverzichtbar, wenn es<br />

uns auf e<strong>in</strong>e unverkürzte Zeiterfahrung ankommt. Seneca hatte das noch nicht<br />

denken können, weil er die Zeit als e<strong>in</strong>e naturhafte, äußere Macht auffasste,<br />

bei August<strong>in</strong>us dagegen verlagert sich der Akzent auf den subjektabhängigen<br />

Charakter der Zeit, auf das menschliche Ich als die Instanz, die das Jetzt immer<br />

von neuem zum Früher und zum Später h<strong>in</strong> überschreitet, so Vergangenheit<br />

und Zukunft <strong>in</strong> sich aufnimmt und dies auch tun muss, wenn es sich nicht<br />

dem puren Jetzt ausliefern will. Damit ändert sich nichts an der Tatsache, dass<br />

jedem Menschenleben e<strong>in</strong>e bestimmte Dauer beschieden ist, doch die zeitliche<br />

Strukturierung dieser je eigenen Zeitphase wird zur Sache des <strong>in</strong>dividuellen<br />

Zeitbewusstse<strong>in</strong>s.<br />

Die von August<strong>in</strong>us eröffnete Perspektive bestimmt von nun an die Frage<br />

nach der Zeit, wobei vor allem der Gedanke des messenden und schöpferischen<br />

Geistes die Denker an der Wende zur Moderne prägt, so etwa Nikolaus<br />

Cusanus (1401–1464), der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em „Liber de Mente“ den Term<strong>in</strong>us ,mens‘<br />

vom Term<strong>in</strong>us ,mensura‘ herleitet 7 und den Maß setzenden Geist als Schöpfer<br />

aller Zeite<strong>in</strong>teilungen (Stunden, Monate, Jahre etc.) sieht, mith<strong>in</strong> die Zeit als<br />

16


Funktion des Geistes und nicht als e<strong>in</strong>e äußere Realität begreift. 8 Diese<br />

Überzeugung, dass die Zeit zwar e<strong>in</strong> realer Faktor <strong>in</strong> unserem Leben ist,<br />

aber <strong>in</strong> ihrer Wirkung zugleich maßgeblich von unserem Zeitbewusstse<strong>in</strong> bestimmt<br />

wird, prägt das Denken bis heute. Niemand bestreitet, dass wir<br />

grundsätzlich imstande s<strong>in</strong>d, unseren Umgang mit der Zeit zu regulieren,<br />

etwa zu entscheiden, welchen Tribut wir dem Druck der Uhr entrichten und<br />

welchen Lebensanteil wir dem personal so bedeutsamen Wechselspiel zwischen<br />

dem Blick zurück und dem Blick nach vorne zubilligen wollen. Wir können<br />

entscheiden, ob wir e<strong>in</strong> Leben im puren Jetzt führen oder dem Früher und<br />

Später e<strong>in</strong>en festen Ort <strong>in</strong> unserem Lebensverständnis e<strong>in</strong>räumen wollen.<br />

Doch warum nutzen wir diese Chance unter modernen Bed<strong>in</strong>gungen immer<br />

weniger?<br />

Zu den ersten Diagnostikern, die diese Frage aufwerfen, zählt Goethe. Aus dem<br />

18. Jahrhundert herkommend, wittert er zu Beg<strong>in</strong>n des 19. Jahrhunderts e<strong>in</strong>e<br />

gravierende Veränderung der Zeiterfahrung durch die frühe Industrialisierung,<br />

sieht se<strong>in</strong>e eigene Zeit zu Ende gehen und warnt vor der Mischung aus Geschw<strong>in</strong>digkeit<br />

und Mittelmäßigkeit, die <strong>in</strong> der Fortschrittsgesellschaft die<br />

ruhige Entwicklung der Jugend bedrohe. In Briefen aus dem Jahr 1825 beklagt<br />

er, dass „junge Leute viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen“<br />

würden, dass die Geschw<strong>in</strong>digkeit nur noch „e<strong>in</strong>e mittlere Kultur“<br />

zulasse und echte Begabungen an der Entwicklung h<strong>in</strong>dere. 9 Dieses Zusammenspiel<br />

von Schnelligkeit, Zeitstrudel und Mittelmäßigkeit verdichtet er im<br />

Adjektiv „veloziferisch“, kennzeichnet also das frühe 19. Jahrhundert als e<strong>in</strong>e<br />

teuflisch schnelle Zeit und umreißt deren Risiko folgendermaßen:<br />

„Für das größte Unheil unsrer Zeit, die nichts reif werden lässt, muss ich halten,<br />

dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im<br />

Tage vertut, und so immer aus der Hand <strong>in</strong> den Mund lebt, ohne irgend etwas<br />

vor sich zu br<strong>in</strong>gen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten,<br />

e<strong>in</strong> guter Kopf könnte wohl noch e<strong>in</strong>s und das andere <strong>in</strong>terpolieren.<br />

Dadurch wird alles, was e<strong>in</strong> jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, <strong>in</strong>s<br />

Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum<br />

Zeitvertreib der übrigen; und so spr<strong>in</strong>gt’s von Haus zu Haus, von Stadt<br />

zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles<br />

veloziferisch.“ 10<br />

Aus der Perspektive unserer heutigen Wissens- und Informationsgesellschaft<br />

nimmt sich die Welt, die Goethe vor fast zweihundert Jahren diagnostiziert hat,<br />

geradezu gemächlich aus, doch dies ändert nichts an der Tatsache, dass der<br />

Begriff des Veloziferischen e<strong>in</strong>e Strukturschwäche der modernen Fortschrittsgesellschaft<br />

aufdeckt, e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Automatismus, der se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss<br />

<strong>in</strong>zwischen bis <strong>in</strong> alle Verästelungen des Lebensalltags h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> ausgedehnt hat<br />

17


und so allen heranwachsenden Generationen e<strong>in</strong> Zeitverständnis auferlegt,<br />

das die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Schule konterkariert. Dieser<br />

Siegeszug des Geschw<strong>in</strong>digkeitsideals hat se<strong>in</strong>en bisherigen Höhepunkt zwar<br />

erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts erreicht, also lange nach Goethe, aber<br />

gerade dadurch bestätigt er umso markanter das Risiko, vor dem dieser gewarnt<br />

hat: die Gefährdung der Humanität durch e<strong>in</strong>e Zeiterfahrung, die den<br />

E<strong>in</strong>zelnen ständig von sich selbst ablenkt, anstatt ihn zu sich selbst f<strong>in</strong>den zu<br />

lassen. Damit s<strong>in</strong>d wir wieder <strong>in</strong> der Gegenwart angekommen, und ich<br />

möchte mich jetzt der Frage zuwenden, warum es die Schule so schwer hat,<br />

ihrem Auftrag gerecht zu werden, ganz gleich, wie sie organisiert ist, und unabhängig<br />

davon, ob sie nach alter Weise Sachzusammenhänge erschließen oder<br />

reformfreudig streng umrissene Module übermitteln will. Allen derartigen<br />

Fragen liegt nämlich e<strong>in</strong> weitaus tiefer reichendes Problem voraus: die Frage<br />

nach dem Umgang mit der Zeit. Sie ist maßgeblich an der Selbst- und<br />

Lebensdeutung jedes E<strong>in</strong>zelnen beteiligt und lässt sich heutzutage nicht<br />

ernsthaft erörtern, ohne die Multimediawelt zu berücksichtigen, die uns täglich<br />

unentr<strong>in</strong>nbar umflutet.<br />

Die Medialisierung des Alltags als Verflüchtigung der Zeiterfahrung<br />

Die Euphorie, die <strong>in</strong> den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts den Aufbruch <strong>in</strong><br />

die Multimediawelt begleitet hat, wird seit sechs bis acht Jahren zunehmend<br />

durch kritische Stimmen relativiert. Diese attestieren den neuen Medien e<strong>in</strong>e<br />

desorientierende Wirkung auf den Lebensalltag, und zwar vor allem bei denjenigen,<br />

die im Zeichen der digitalen Technologien heranwachsen. Niemand<br />

bezweifelt den professionellen Nutzen des globalen Informationstempos für<br />

Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Verkehr usw., doch als Kehrseite der damit<br />

erzielten Fortschrittsbeschleunigung tritt mehr und mehr e<strong>in</strong>e eklatante<br />

Verkümmerung der Zeiterfahrung <strong>in</strong> der Alltagswelt zu Tage, eben damit<br />

aber e<strong>in</strong> bedrohliches Risiko für den klaren und stetigen Weg zur stabilen<br />

Persönlichkeit.<br />

Verschiedene Studien erblicken die Ursache für diesen Wandel der Zeiterfahrung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Veränderung der Wahrnehmung 11 , und zwar <strong>in</strong> der zunehmenden Verselbständigung<br />

des Sehens und Hörens gegenüber der Sprache und dem Denken.<br />

Die neuen Medien, ob Handy, Internet, Playstation oder kommerzialisiertes<br />

Fernsehen, s<strong>in</strong>d deswegen neu, weil sie im Unterschied zum Buch, zum Film,<br />

zur Diaserie oder zum programmatischen Fernsehen vergangener Jahrzehnte<br />

nahezu ausschließlich auf das Hören und Sehen setzen, also die sprachliche<br />

Verarbeitung der Hör- und Sehimpulse ausklammern. Sprache aber ist das<br />

Medium, das uns das folgerichtige Denken ermöglicht, systematische Zusammenhänge<br />

stiftet, uns zur aktiven Ause<strong>in</strong>andersetzung mit komplexen<br />

Sachverhalten befähigt und so zu e<strong>in</strong>er eigenen Lebens- und Weltdeutung<br />

18


gelangen lässt. 12 Wenn also die Sprache medial vernachlässigt, auf modische<br />

Allerweltsfloskeln reduziert und damit ihrer Differenziertheit beraubt wird,<br />

dann wird dem E<strong>in</strong>zelnen das Mittel genommen, vom Sehen und Hören zum<br />

Denken zu gelangen, also das, was er sieht und hört, zu orten, den Stellenwert<br />

se<strong>in</strong>er Wahrnehmung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en größeren Zusammenhang zu stellen. Wer<br />

diese Fähigkeit mitbr<strong>in</strong>gt, kann durch den medialen Zauber nicht ernsthaft<br />

verunsichert werden, doch wer Sprache und Urteilsfähigkeit erst noch entwickeln<br />

soll, benötigt e<strong>in</strong>e extrem robuste Veranlagung zum Selbstdenken,<br />

wenn er nicht dem Spiel der audiovisuellen Reize erliegen soll.<br />

Die Medialisierung des Alltags, <strong>in</strong>sbesondere die digitale Hochrüstung des<br />

K<strong>in</strong>derzimmers, b<strong>in</strong>det K<strong>in</strong>der und Jugendliche, die ihr ohne Erwachsenenhilfe<br />

ausgesetzt s<strong>in</strong>d, an e<strong>in</strong>e unaufhörliche Kette der Seh- und Hörimpulse,<br />

konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf das jeweilige Jetzt und br<strong>in</strong>gt sie damit<br />

um die Chance, sich sprachlich das Früher und das Später zu erschließen<br />

und so Maßstäbe für die Beurteilung des Jetzt zu entwickeln. Nicht Rückblick<br />

und Vorblick, sondern der Dauerdruck der Jetzt-Ansprüche bestimmt den<br />

Lebensrhythmus der Betroffenen und unterläuft eben jenes Zeitverständnis,<br />

das seit August<strong>in</strong>us als wesentliche Dimension des Menschse<strong>in</strong>s verstanden<br />

wird. Die digitalisierte Kultur lebt vom Jetzt und signalisiert immerfort<br />

„Bleib’ dran!“, „Log’ dich e<strong>in</strong>“, „Klick’ hier!“, „Bestell’ sofort!“, das heißt, die<br />

Zeit wird gleichsam punktualisiert, zu e<strong>in</strong>er Abfolge von Jetzt-Erfahrungen<br />

verdünnt; Distanz und Nachdenklichkeit ersche<strong>in</strong>en da eher als Spielverderber.<br />

Offenbar hat es die moderne Gesellschaft weith<strong>in</strong> noch nicht gelernt, den<br />

digitalen Fortschritt <strong>in</strong>telligent zu nutzen, anstatt naiv an se<strong>in</strong>er schillernden<br />

Oberfläche hängen zu bleiben. Deshalb missverstehen viele die Multimediawelt<br />

als e<strong>in</strong>e Art digitales Dop<strong>in</strong>g, reihen e<strong>in</strong> Jetzt-Erlebnis an das andere,<br />

haben für das geduldige Arbeiten an komplexen Aufgaben nie Zeit und lernen<br />

so das volle Spektrum der Zeiterfahrung gar nicht erst kennen.<br />

Folgerichtig verliert die Schule dramatisch an E<strong>in</strong>fluss, denn sie muss Arbeitshaltungen<br />

e<strong>in</strong>fordern, die Beharrlichkeit und Ausdauer voraussetzen, also<br />

das pure Jetzt <strong>in</strong> Frage stellen, und deshalb ist sie für das schnelle Leben<br />

wahrlich ke<strong>in</strong>e „coole location“. Für den immer noch stattlichen Anteil lernwilliger<br />

Schüler macht es dieser Zeitgeist zusehends schwieriger, sich selbst<br />

treu zu bleiben, denn ihnen entgeht nicht, dass das allgeme<strong>in</strong>e Anspruchsniveau<br />

s<strong>in</strong>kt und <strong>in</strong>tensiver Arbeitsaufwand eigentlich nicht vonnöten ist.<br />

Mit anderen Worten: Der Lebenshorizont der künftigen Erwachsenen wie<br />

auch ihre persönliche Stabilität sche<strong>in</strong>t der pädagogischen Praxis mehr und<br />

mehr zu entgleiten.<br />

Diese Diagnose zu stellen, bedeutet allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>eswegs, den diagnostizierten<br />

Sachverhalt unwidersprochen h<strong>in</strong>zunehmen, und dafür gibt es e<strong>in</strong> grund-<br />

19


legendes Argument, das weit über die Schule h<strong>in</strong>ausreicht: Wie die Geschichte<br />

zeigt, haben Kulturen immer dann als menschenfreundlich gegolten,<br />

wenn sie den E<strong>in</strong>zelnen weder auf das Gestern fixieren noch im Heute aufgehen<br />

lassen noch e<strong>in</strong>em verme<strong>in</strong>tlichen Morgen opfern, sondern ihm die Freiheit<br />

lassen, se<strong>in</strong>e eigene Zeiterfahrung zu machen und produktiv zu verarbeiten.<br />

Deshalb kann es sich unsere moderne Gesellschaft um ihrer eigenen Zukunft<br />

willen nicht leisten, ihren Nachwuchs auf e<strong>in</strong> Leben im Jetzt e<strong>in</strong>zuschwören<br />

und ihm damit Orientierungsmöglichkeiten vorzuenthalten, die er benötigt,<br />

um das Jetzt zu relativieren und langfristige Ziele für den eigenen Platz <strong>in</strong> der<br />

Gesellschaft zu entwickeln. Anders gesagt: Im Sog der Multimedia-Dynamik<br />

leisten wir uns derzeit die Paradoxie, das schnelle Leben zu begünstigen und<br />

zugleich auf e<strong>in</strong>e hochqualifizierte Zukunftsgesellschaft zu hoffen.<br />

Dies kann so nicht bleiben, und wenn nicht alle Zeichen trügen, drängen<br />

gleich mehrere Widersprüche die moderne Gesellschaft zu e<strong>in</strong>em ernsthaften<br />

Bewusstse<strong>in</strong>swandel, zuallererst die massiven Ant<strong>in</strong>omien zwischen Klima<br />

und Energieverbrauch, Klima und Mobilität usw., sodann aber auch diejenige<br />

zwischen schnellem Leben und tragfähiger Bildung. Immerh<strong>in</strong> ist die Schulreife<br />

der E<strong>in</strong>schulungsjahrgänge neuerd<strong>in</strong>gs zum öffentlichen Thema geworden,<br />

und so wird es wohl bald bundesweit Sprachtests bei den Vierjährigen geben,<br />

um vorliegende Defekte bis zur E<strong>in</strong>schulung ausgleichen zu können. Dies<br />

wird der Spracherziehung <strong>in</strong> der Schule höhere Ansprüche ermöglichen,<br />

bei Ausländern wie bei Inländern, und wenn sich dann die alte Erkenntnis<br />

wieder durchsetzt, dass ohne die Beherrschung der Muttersprache auch das<br />

Fremdsprachenlernen nicht wirklich gel<strong>in</strong>gen kann, wird das die Sprachkultur<br />

an unseren Schulen nachhaltig fördern. Vor allem aber eröffnet e<strong>in</strong>e<br />

Verfe<strong>in</strong>erung der Sprachkultur dem Denken neue Spielräume, denn wo die<br />

Sprache konsequent gepflegt wird, da wird Vergangenes vergegenwärtigt und<br />

Zukünftiges konstruiert, da bilden also das Früher und das Später unausweichliche<br />

Bezugspunkte, und e<strong>in</strong>e bessere Prophylaxe gegen das schnelle<br />

Leben im Jetzt gibt es nicht.<br />

Heute fehlt es der Schulpolitik noch an str<strong>in</strong>genten Konzepten, weil sie<br />

selbst dem Spiel der kurzfristigen Lösungen zum Opfer gefallen ist, doch die<br />

Not der Zeit wird hier e<strong>in</strong>e grundsätzliche Neuorientierung erzw<strong>in</strong>gen. Deshalb<br />

sollten wir <strong>in</strong> der Spracherziehung unnachgiebiger werden, nicht vor<br />

dem allzu lockeren Zeitgeist kapitulieren, sondern von der E<strong>in</strong>schulung bis<br />

zum Schulabschluss auf e<strong>in</strong>em korrekten Sprachgebrauch bestehen, auch<br />

wenn dies die eiligen Genießer der Multimediawelt zunächst langweilt. Derartiges<br />

lässt sich relativ gut ertragen, obschon stets e<strong>in</strong> Risiko bleibt, denn<br />

schon <strong>in</strong> Platons Höhlengleichnis werden Lehrende von lifestyle-geprägten<br />

Schattenexistenzen gelegentlich sogar getötet. 13 Auch Goethe bietet <strong>in</strong> diesem<br />

20


Punkt ke<strong>in</strong>en Ausweg: Er empfiehlt ganz unmittelbar die Natur als Gegenwelt<br />

zum Veloziferischen, doch auch diese ist längst von der hastigen Mobilität<br />

gezeichnet, und so bedarf es wiederum der Sprache und des Denkens, um die<br />

Natur bewusst dort zu suchen, wo sie noch ihren eigenen Rhythmus ausstrahlt.<br />

Es gibt also ke<strong>in</strong>e Alternative zur Sprachkultur.<br />

Dies alles hat nichts mit e<strong>in</strong>er radikalen Absage an die elektronischen Medien<br />

zu tun, denn die wäre völlig s<strong>in</strong>nlos und widerspräche dem Auftrag der<br />

Schule, K<strong>in</strong>der auf das reale Leben vorzubereiten. Es geht vielmehr darum, die<br />

medialen Erfahrungen und Gewohnheiten sprachlich d<strong>in</strong>gfest zu machen und<br />

auf ihre Lebensdienlichkeit h<strong>in</strong> zu prüfen, also gewissermaßen die Banalität zu<br />

vertiefen, damit orientierende Maßstäbe erkennbar werden. Diese pädagogische<br />

Aufgabe wird die gesamte Schullaufbahn begleiten müssen, und sie setzt voraus,<br />

dass die Bildungsarbeit vom Tempodruck befreit wird. Hier könnte die<br />

Ganztagsschule e<strong>in</strong>e organisatorische Plattform bieten, sofern sie den Nachmittag<br />

qualifizierten Sozialberufen anvertraut und nicht dem Eduta<strong>in</strong>ment ausliefert.<br />

Wenn <strong>in</strong> dieser Weise e<strong>in</strong> Rückgew<strong>in</strong>n des verlorenen Sprachniveaus<br />

gel<strong>in</strong>gt, wird das zwangsläufig bei K<strong>in</strong>dern und Eltern zu e<strong>in</strong>em vertieften<br />

Zeitverständnis führen, das heißt, die persönliche Entwicklung wird wieder<br />

<strong>in</strong> ruhigeren Bahnen verlaufen.<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund stehen die Chancen gut, die Multimediawelt mit<br />

ihren eigenen Mitteln zu domestizieren, also die Fähigkeit zu wecken, sie so<br />

selbstbewusst zu handhaben, dass sie das Nützliche hergibt, ohne mit dem<br />

medialen Zauber Erfolg zu haben. Das E-Learn<strong>in</strong>g ersche<strong>in</strong>t mir hier als e<strong>in</strong><br />

zukunftsträchtiger Weg, den Reiz der digitalen Technik <strong>in</strong> ihrer Tiefenstruktur<br />

zugänglich zu machen, das heißt, den Lernenden e<strong>in</strong> Medium, mit dem er von<br />

Hause aus zu spielen gewohnt ist, als e<strong>in</strong>e hilfreiche Erkenntnisquelle entdecken<br />

zu lassen. Gel<strong>in</strong>gen kann dies, wie gesagt, nur dann, wenn es im Rahmen<br />

e<strong>in</strong>er ernsthaft geförderten Sprachkultur geschieht, und diese wiederum<br />

bereichert nicht nur das E-Learn<strong>in</strong>g, sondern alle Schulfächer <strong>in</strong>sgesamt und<br />

darüber h<strong>in</strong>aus auch die Leistungsfähigkeit der künftigen Berufsfelder.<br />

Wirtschaftler verfallen also e<strong>in</strong>em Trugschluss, wenn sie die Schule nach<br />

ökonomischen Gesichtspunkten auf schnell erwerbbare Kompetenzen ausrichten<br />

wollen, denn der kurzfristige Zeitgew<strong>in</strong>n erweist sich langfristig als<br />

Zeitverlust, weil im Bildungsgang grundlegende Fähigkeiten zu kurz gekommen<br />

s<strong>in</strong>d und später durch Fortbildungskurse nur bruchstückhaft ausgeglichen<br />

werden können. Wirtschaftlich kann nur e<strong>in</strong>e unwirtschaftliche<br />

Schule arbeiten, was nicht heißt, dass sie Zeit und Ressourcen vergeudet, aber<br />

doch, dass sie dem Weg der Bildung se<strong>in</strong>e Zeit lässt, ihn also nicht <strong>in</strong> Zeite<strong>in</strong>heiten<br />

zwängt, die den bleibenden Ertrag gefährden. Das wirtschaftliche<br />

Handeln kann neben allen anderen Formen des Handelns nur e<strong>in</strong> Thema der<br />

21


Schule se<strong>in</strong>, ke<strong>in</strong>eswegs aber das Leitmotiv, dem sich alle anderen Ansprüche<br />

unterzuordnen haben. Wenn wir denkfähige Leistungs- und Verantwortungsträger<br />

<strong>in</strong> die Gesellschaft entlassen wollen, braucht die Schule ihre Zeit,<br />

andernfalls wird es nur zu braven Funktionsträgern reichen, die nie wirklich<br />

mit sich selbst zufrieden s<strong>in</strong>d.<br />

Fazit<br />

Der Umgang mit der Zeit macht e<strong>in</strong>en Dreh- und Angelpunkt <strong>in</strong> der Entwicklung<br />

e<strong>in</strong>er Gesellschaft aus, und jede Gesellschaft kann selbst entscheiden,<br />

wie sie hier verfahren will, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Ohne<br />

Frage ist dabei der Zeitgew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong> Faktor, der sich nicht ungestraft ignorieren<br />

lässt, und deshalb wird sich die Geschw<strong>in</strong>digkeit <strong>in</strong> der Arbeitswelt weiter<br />

erhöhen. Dies kann aber nicht das exklusive Modell für die gesamte Breite<br />

des Lebens se<strong>in</strong>, sondern wir brauchen ganz im Gegenteil <strong>in</strong> vielen Bereichen<br />

e<strong>in</strong>e Verlangsamung des Lebenstempos, e<strong>in</strong>e Entschleunigung, um die Beschleunigung<br />

der Arbeitswelt auf Dauer verkraften zu können. Derzeit verlängert<br />

die atemberaubende Schnelligkeit der Multimediawelt den Zeitdruck<br />

<strong>in</strong> Lebensbereiche h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> denen man eigentlich von ihm loskommen<br />

sollte, und b<strong>in</strong>det so die Aufmerksamkeit wiederum an fremde Rhythmen,<br />

anstatt die eigene Gestaltung der Zeit freizugeben. Hier s<strong>in</strong>d Korrekturen<br />

notwendig, welche die Gesellschaft wollen muss, und dabei fällt der Schule<br />

e<strong>in</strong>e wichtige Rolle zu. Persönlichkeitsbildung heißt heute zuallererst, <strong>in</strong> den<br />

Heranwachsenden das Gespür für e<strong>in</strong>en lebensfreundlichen Rhythmus zu<br />

wecken, sie zu e<strong>in</strong>em Leben <strong>in</strong> Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anzuregen,<br />

und dies ist über e<strong>in</strong>e wieder erstarkende Sprachbildung durchaus<br />

möglich. Wenn wir den naiven Allround-User an sich selbst er<strong>in</strong>nern, se<strong>in</strong>e<br />

Selbstachtung so weit provozieren können, dass er nicht mehr das willfährige<br />

Werkzeug der großen Trends se<strong>in</strong> will, dann haben wir viel erreicht. Er wird<br />

dann das Motiv des Immer-Dabeise<strong>in</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e „Immer dann, wenn“-Direktive<br />

umwandeln können, also prüfen, wann die Multimediawelt eigenen Zeitaufwand<br />

lohnt und wann nicht. In neuem Kontext taucht hier Kants altes<br />

Postulat wieder auf: „Habe Mut, dich de<strong>in</strong>es eigenen Verstandes zu bedienen!“<br />

14 Hartmut von Hentig fasst dasselbe pädagogisch und def<strong>in</strong>iert<br />

„Bildung als e<strong>in</strong> Mittel, die Menschen gegen die Korruption des Denkens<br />

und Wollens zu stärken.“ 15 Solche Richtl<strong>in</strong>ien können wir nicht zugunsten<br />

e<strong>in</strong>er ökonomisch imprägnierten Schule preisgeben.<br />

Anmerkungen<br />

1 Seneca: Vom glückseligen Leben und andere Schriften, Reclam 7790, Stuttgart 1984, 115.<br />

2 Ebd. 39.<br />

22


3 Vgl. hierzu O.F. Bollnow: Das richtige Verhältnis zur Zeit <strong>in</strong> philosophischer Sicht. In: Universitas<br />

24. Jg., 1969, 243–254. Als gründliche und klare E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> das Denken Bollnows<br />

empfiehlt sich die Studie von Gottfried Schüz: Lebensganzheit und Wesensoffenheit des<br />

Menschen – Otto Friedrich Bollnows hermeneutische Anthropologie, Würzburg 2001, hier<br />

vor allem 252-288.<br />

4 August<strong>in</strong>us: Confessiones, Late<strong>in</strong>isch und Deutsch, hrsg. v. J. Bernhart, München 2 1960, 626–665.<br />

5 Ebd. 643.<br />

6 Ebd. 661.<br />

7 Nikolaus Cusanus: Liber de Mente, c. 3, abgedruckt <strong>in</strong>: E. Cassirer: Individuum und Kosmos<br />

<strong>in</strong> der Philosophie der Renaissance, 7. Aufl., Darmstadt 1994, 220.<br />

8 Vgl. Cassirer, a.a.O. 44.<br />

9 Brief an C.F. Zelter vom 6. Juni 1825. In: Goethe, Briefe, hrsg. v. K.R. Mandelkow (Hamburger<br />

Ausgabe), Bd. 4, Hamburg 1967, 146. Vgl. zu dieser Thematik die fasz<strong>in</strong>ierende Studie von<br />

Manfred Osten: ,Alles veloziferisch‘ oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit – Zur<br />

Modernität e<strong>in</strong>es Klassikers im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2003.<br />

10 Brief an G.H.L. Nicolovius von Ende November 1825, a. a. O., 159.<br />

11 Siehe beispielhaft J. Rekus: Auf dem Weg zur Klick-Schule? In: engagement – zeitschrift für<br />

erziehung und schule, Jg. 2001, vor allem 91–97, 121–130.<br />

12 Siehe ebd. 124–126 (Beitrag von V. Ladenth<strong>in</strong>).<br />

13 Siehe hierzu C. Günzler: Platons Höhlengleichnis. In: P. Müller (Hrsg.), Geschichten s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong><br />

Kleid der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2007, 71–84.<br />

14 Kant: Was ist Aufklärung? In: Ausgewählte kle<strong>in</strong>e Schriften, Hamburg 1965, 1.<br />

15 H.v. Hentig: Die Schule neu denken, München/Wien 1993, 90.<br />

23


LUTZ MAUERMANN<br />

E-Learn<strong>in</strong>g – Veränderte Lernbed<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>in</strong> der Mediengesellschaft *<br />

Vorbemerkung<br />

Die nachfolgenden Ausführungen verfolgen e<strong>in</strong> dreifaches Ziel: Erstens versuchen<br />

sie e<strong>in</strong>e knappe E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die gegenwärtig an den Hochschulen<br />

vorf<strong>in</strong>dbaren Angebote für elektronisch gestütztes Lernen zu geben und die<br />

<strong>in</strong> diesem Kontext geprägten neuen Begriffe zu erläutern. Zweitens sollen<br />

am Beispiel der Universität Augsburg die Lernchancen beleuchtet werden,<br />

die sich durch die Neuen Medien, speziell durch das Internet bieten. Drittens<br />

sollen e<strong>in</strong>ige Probleme und Grenzen aufgewiesen werden, die mit den veränderten<br />

Lernbed<strong>in</strong>gungen verknüpft s<strong>in</strong>d.<br />

These 1: Internet und digitale Medientechnologien s<strong>in</strong>d feste Bestandteile<br />

der Alltagskultur heutiger Schüler<strong>in</strong>nen, Schüler, Student<strong>in</strong>nen und<br />

Studenten.<br />

E<strong>in</strong>e Onl<strong>in</strong>e-Studie von ARD und ZDF 1 hat erbracht, dass im Jahre 2006<br />

annähernd 60 % der deutschen Bevölkerung das Internet nutzen. 1997 war<br />

es noch e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit von unter 10 %. Die Nutzung hängt ab von demographischen<br />

Merkmalen:<br />

Wer nutzt das Internet? 49 % aller Frauen gaben 2006 an, <strong>in</strong>nerhalb der letzten<br />

vier Wochen onl<strong>in</strong>e gewesen zu se<strong>in</strong>; bei den Männern waren es rund 66 %.<br />

Häufigster Internet-Nutzer ist die Altergruppe der 14-19-jährigen mit 96 %.<br />

Bei den 20–29-jährigen s<strong>in</strong>d es 86 %, die angaben, <strong>in</strong> den letzten Wochen im<br />

Internet gewesen zu se<strong>in</strong>; bei den 30–39-jährigen s<strong>in</strong>d es 77 %, bei den 40–49jährigen<br />

70 %; bei den 50-59-jährigen 58 % und bei den über 60-jährigen 19 %.<br />

In Ausbildung bef<strong>in</strong>dliche Personen nutzen das Internet mit 96 % mehr als<br />

Berufstätige (72 %) und Rentner bzw. Nicht-Berufstätige (27 %).<br />

Wie lange? Wer an e<strong>in</strong>em durchschnittlichen Tag <strong>in</strong>s Netz geht, verbr<strong>in</strong>gt,<br />

über alle Zugriffe addiert, knapp zwei Stunden (119 M<strong>in</strong>uten) mit Internetangeboten.<br />

Erwartungsgemäß s<strong>in</strong>d die nutzungs<strong>in</strong>tensivste Gruppe die 14-19jährigen<br />

(155 M<strong>in</strong>uten) gefolgt von den 20-29-jährigen (145 M<strong>in</strong>uten). Mit<br />

Surfen, multimedialen Anwendungen, Chats, Downloads und Computer-<br />

* Vorgetragen bei der Tagung der GEE „Schule, Zeitgeist, Lebenswelt – Bildung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er diffusen<br />

Realität“ am 5./6. Mai 2007 <strong>in</strong> Falkau<br />

24


spielen greifen junge Internetanwender häufiger als andere Altersgruppen<br />

auf besonders zeit<strong>in</strong>tensive Angebote zu. Der Zugang zum Internet der ab<br />

50-jährigen ist eher <strong>in</strong>formations- und kommunikationsorientiert und damit<br />

auch rationaler. Sie s<strong>in</strong>d zwar mit e<strong>in</strong>er durchschnittlichen Häufigkeit von<br />

4,6 „Internettagen“ je Woche nicht seltener im Netz als Jugendliche (4,7 Tage),<br />

jedoch wesentlich kürzer: Die tägliche Verweildauer im Netz beläuft sich bei<br />

den 50–59-jährigen auf 96 M<strong>in</strong>uten, bei den ab 60-jährigen auf 79 M<strong>in</strong>uten 2 .<br />

Was wird genutzt? M<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal wöchentlich wird der Onl<strong>in</strong>e-Anschluss<br />

von 78 % aller 1084 befragten Personen für das Versenden oder Empfangen<br />

von E-Mails genutzt. In der Reihenfolge der Häufigkeit ihrer Nennung<br />

folgen Suchmasch<strong>in</strong>en (75 %), Angebote suchen (50 %), e<strong>in</strong>fach so im Internet<br />

surfen (45 %), Homebank<strong>in</strong>g (35 %), Download von Dateien (21 %),<br />

Gesprächsforen, Newsgroups, Chats (20 %), Onl<strong>in</strong>eauktionen (18 %),<br />

Onl<strong>in</strong>eshopp<strong>in</strong>g (12 %), Audiodateien anhören (12 %), Computerspiele<br />

(12 %), live Internet-Radio hören (11 %). Andere Anwendungsmöglichkeiten<br />

wie Buch- oder CD-Bestellungen, Videos ansehen, Kartenservice,<br />

Kontakt-/Partnerbörsen, Gew<strong>in</strong>nspiele oder live Internet-Fernsehen werden<br />

von weniger als 10 % der Befragten genannt 3 .<br />

Welche Onl<strong>in</strong>e-Inhalte? Aufgesucht werden häufig bis gelegentlich Web-Seiten<br />

mit Nachrichten (Geschehen <strong>in</strong> Deutschland, Ausland) von 45 % der Befragten.<br />

Weitere gesuchte Inhalte s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Reihenfolge der Häufigkeit ihrer<br />

Nennung Informationen aus Wissenschaft, Forschung, Bildung (42 %), Freizeit<strong>in</strong>formationen/Veranstaltungstipps<br />

(40 %), aktuelle Regionalnachrichten/<br />

-<strong>in</strong>formationen (38 %), aktuelle Service<strong>in</strong>formationen (Wetter, Verkehr) (37 %),<br />

Informationen aus dem Kulturbereich (36 %), Verbraucher- und Ratgeber<strong>in</strong>formationen<br />

(31 %), Sport<strong>in</strong>formationen (29 %), Informationen zu Wirtschaft<br />

und Börse (21 %) und Unterhaltungsangebote (Comedy, Spiele) (7 %) 4 .<br />

Das Medium Internet ist <strong>in</strong>zwischen beliebter als das frühere Leitmedium<br />

Fernsehen, da es nicht nur den Zugriff auf Text-, Audio- und Video<strong>in</strong>formationen<br />

bietet, sondern auch Interaktionen ermöglicht.<br />

These 2: Die pädagogisch motivierte Nutzung dieser Medien für Lernen und<br />

Lehren erweist sich an den Hochschulen zunehmend als tauglich<br />

und ertragreich.<br />

Medienverbundsysteme werden schon seit längerem für selbstorganisiertes<br />

Lernen genutzt: Funkkollegs, Telekollegs, Schulfunk, Schulfernsehen, Sprachlabore<br />

u.ä. spielen seit mehr als 50 Jahren e<strong>in</strong>e gewisse Rolle <strong>in</strong>nerhalb schulischer<br />

und außerschulischer Lehr-, Lern-Arrangements, wenngleich auch ke<strong>in</strong>e<br />

herausragende. Dafür war bisher die Interaktivität zwischen dem Lernenden<br />

25


und dem vermittelten Lerngegenstand zu ger<strong>in</strong>g (vergleichbar mit e<strong>in</strong>er Vorlesung<br />

oder Demonstration und anschließenden Lernaufgaben) oder oft zu<br />

schwerfällig (man denke nur an das H<strong>in</strong>- und Herspulen von audiovisuellen<br />

Aufzeichnungsbändern, wenn bestimmte Lehrsequenzen benötigt oder wiederholt<br />

werden sollten).<br />

Erst mit dem Aufkommen des Computers und se<strong>in</strong>er massenhaften Verbreitung<br />

gewann elektronisch gestütztes Lernen (CUU, CBT) an Bedeutung. Die<br />

neuen Möglichkeiten der Digitalisierung und anschließenden Bearbeitung<br />

von Texten, Bildern, Grafiken, Tönen und Filmen sowie ungeahnt umfangreiche<br />

und preiswerte Speichermöglichkeiten machten dieses neue Werkzeug<br />

zum attraktiven Alleskönner – auch im Dienste der Gestaltung von Lernwelten.<br />

Durch die Verbreitung des Internets Ende der 90er Jahre erwuchsen<br />

weitere Chancen für elektronisch gestütztes Lernen. Die Wissensbestände<br />

der Menschheit ersche<strong>in</strong>en plötzlich weltweit austausch- und verfügbar. Für<br />

deren pädagogisch begründete Nutzung hat sich mittlerweile der Begriff<br />

„E-Learn<strong>in</strong>g“ etabliert. Unter E-Learn<strong>in</strong>g (englisch electronic learn<strong>in</strong>g –<br />

elektronisch unterstütztes Lernen), auch E-Lernen genannt, werden – nach<br />

e<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition von Michael Kerres 5 – alle Formen von Lernen verstanden,<br />

bei denen digitale Medien für die Präsentation und Distribution von Lernmaterialien<br />

und/oder zur Unterstützung zwischenmenschlicher Kommunikation<br />

zum E<strong>in</strong>satz kommen. Wir haben <strong>in</strong> den vergangenen 10 Jahren<br />

vielfältige staatliche Initiativen erlebt, die diese Entwicklung fördern<br />

sollen („Schulen ans Netz“, „neue Medien <strong>in</strong> der Bildung“ und „Notebook-<br />

University“).<br />

In den Lernalltag der Schulen und Hochschulen, <strong>in</strong> die <strong>in</strong>ternetbasierte<br />

Kommunikation haben sich neue Phänomene und Begriffe <strong>in</strong>tegriert, von<br />

denen vor e<strong>in</strong>em Jahrzehnt nicht oder noch kaum die Rede war.<br />

Man errichtet e<strong>in</strong> „virtuelles Klassenzimmer“ (Virtual Classroom), <strong>in</strong>dem man<br />

das Internet als Kommunikationsmedium nutzt, um geographisch getrennte<br />

Schüler und Lehrer mite<strong>in</strong>ander zu verb<strong>in</strong>den. Videokonferenzanlagen werden<br />

e<strong>in</strong>gesetzt, um mit Sem<strong>in</strong>ar- und Arbeitsgruppen an unterschiedlichen Orten<br />

gleichzeitig zu kommunizieren und zu lernen (Tele-Teach<strong>in</strong>g).<br />

Bei netzbasierten Lernangeboten (Web Based Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g – WBT) werden<br />

Lerne<strong>in</strong>heiten nicht auf Datenträgern (z.B. auf CD-Rom, DVD, USB-Stick<br />

oder externem Plattenspeicher) verbreitet, sondern können von e<strong>in</strong>em Webserver<br />

onl<strong>in</strong>e über das Internet oder e<strong>in</strong> Intranet abgerufen werden. In den<br />

Lernprozess lassen sich E-Mails, News, Chats und Diskussionsforen e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>den,<br />

so dass sich vielfältige weiterführende Möglichkeiten der Kommunikation<br />

und Interaktion des Lernenden mit dem Lehrer oder e<strong>in</strong>em Tutor<br />

bzw. den Mitlernenden.<br />

26


Für die Zusammenarbeit an e<strong>in</strong>er Lernaufgabe e<strong>in</strong>er Gruppe von Personen über<br />

das Internet hat sich der Begriff „Web Based Collaboration“ e<strong>in</strong>gebürgert.<br />

Haben die Nutzer die Möglichkeit, über e<strong>in</strong> Netzwerk geme<strong>in</strong>sam Skizzen<br />

zu erstellen und zu betrachten, dann verwenden sie e<strong>in</strong> Whiteboard. Dazu<br />

stehen sowohl Mal- als auch Textwerkzeuge zu Verfügung, wodurch das<br />

Whiteboard zur virtuellen Tafel oder Flipchart wird. Das wohl bekannteste<br />

Ergebnis weltweiter webbasierter Zusammenarbeit dürfte Wikipedia se<strong>in</strong>,<br />

die ständig wachsende Enzyklopädie im Internet.<br />

Jedes Jahr im Herbst veranstaltet die 1991 gegründete Gesellschaft für<br />

Medien <strong>in</strong> der Wissenschaft (GMW) e<strong>in</strong>en Kongress, wobei Hochschullehrer<br />

und Hochschullehrer<strong>in</strong>nen ihre Konzepte mediengestützten Lehrens und<br />

Lernens vorstellen. E-Learn<strong>in</strong>g war das beherrschende Thema der letzten<br />

beiden Kongresse <strong>in</strong> Rostock (2005) 6 und Zürich (2006) 7 . Auch die nächste<br />

GMW-Jahrestagung Mitte September 2007 <strong>in</strong> Hamburg 8 wird wieder e<strong>in</strong><br />

bee<strong>in</strong>druckendes Zeugnis abgeben, welche Fortschritte die Hochschulen bei<br />

der Implementation von elektronischen Lernplattformen vorzuweisen haben.<br />

Der Wettbewerbsdruck ist beträchtlich. Internationalisierung der Studiengänge<br />

(der so genannte Bologna-Prozess), wachsende Studierendenzahlen,<br />

knappe materielle und personelle Ressourcen zw<strong>in</strong>gen die Hochschulen,<br />

nach neuen Wegen zu suchen, diesen Herausforderungen gerecht zu werden.<br />

Um e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck zu vermitteln, was nun konkret E-Learn<strong>in</strong>g an der Hochschule<br />

se<strong>in</strong> kann, werden nachfolgend e<strong>in</strong>ige Beispiele aus der Universität<br />

Augsburg, dem Arbeitsplatz des Autors dieses Beitrages, vorgeführt.<br />

Beispiel 1: Die Studierenden melden sich über e<strong>in</strong>e Lernplattform (StudIP)<br />

für e<strong>in</strong> bestimmtes Sem<strong>in</strong>ar an.<br />

https://digicampus.uni-augusburg.de/studip/<strong>in</strong>dex.php<br />

Beispiel 2: Über e<strong>in</strong> Content Management System (CMS) werden alle<br />

relevanten Informationen und Texte bereitgestellt und verwaltet (s. Bildschirmdarstellung<br />

nächste Seite).<br />

Beispiel 3: Vorlesungen werden als Videostream jederzeit und an beliebigen<br />

Orten über das Netz abrufbar.<br />

http://www.knowledgebay.de<br />

Beispiel 4: Videokonferenzen ermöglichen Studiengänge, die von unterschiedlichen<br />

Universitätsstandorten aus geme<strong>in</strong>sam betreut werden.<br />

http://www.philso.uni-augsburg.de/<strong>in</strong>stitute/videolabor/aktuelles/videokonferenz.html<br />

27


Beispiel 5: Studierende erwerben Medienkompetenz durch die Produktion<br />

von elektronisch verfügbaren Lern- und Informationsmedien.<br />

• Blickpunkt Campus – e<strong>in</strong> halbstündiges Fernsehmagaz<strong>in</strong> für das Regionalfernsehen<br />

http://www.philso.uni-augsburg.de/de/<strong>in</strong>stitute/videolabor/blickpunkt/<br />

• Hörspiel für K<strong>in</strong>der<br />

http://www.detekteisuni.com/<br />

Während der GMW-Tagungen werden seit 2001 jedes Mal Preisgelder <strong>in</strong><br />

Höhe von <strong>in</strong>sgesamt 100.000 für mediendidaktische Innovationen an den<br />

Universitäten und Fachhochschulen Deutschlands, Österreichs und der<br />

Schweiz vergeben. Wofür s<strong>in</strong>d die letztjährigen Preisträger<strong>in</strong>nen und Preisträger<br />

ausgezeichnet worden? Beworben hatten sich 105 E-Learn<strong>in</strong>g-<br />

Projekte aus Deutschland (70), Österreich (17) und der Schweiz (18). Die<br />

beiden Hauptpreise g<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> die Schweiz. Für die Universität Zürich gewann<br />

e<strong>in</strong> Bachelor-Lehrgang im Bereich Corporate F<strong>in</strong>ance. Der Lehrgang ruht<br />

auf drei didaktischen Pfeilern 9 :<br />

Selbststudium: Die Studierenden erlernen den Stoff über konventionelle<br />

Lehrmittel (Buch) als auch über elektronische Medien (Internet, Flash-<br />

Animationen, Excel-Übungen). Die Betreuung wird durch fachliche Foren<br />

gewährleistet.<br />

Präsenzveranstaltungen: Der Dozent geht auf die wichtigsten Themen e<strong>in</strong>,<br />

verknüpft diese mite<strong>in</strong>ander und schafft e<strong>in</strong>en Praxisbezug. Die Vorlesungs-<br />

28


aufzeichnung (u.a. als Video-Podcast 10 ) gewährleistet die zeitliche und örtliche<br />

Flexibilität.<br />

Praktische Übungen: In praxisnahen Gruppenübungen, welche e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss<br />

auf die Benotung haben, wird der Wissenstransfer von theoretischen<br />

Modellen <strong>in</strong> die Realität vollzogen.<br />

Video-Podcast-Versionen der Vorlesungen ermöglichen es, deren Aufzeichnung<br />

immer und überall mitzunehmen und anzusehen. Im WS 05/06 waren<br />

450 Kursteilnehmer e<strong>in</strong>geschrieben. Sie wurden von 25 Onl<strong>in</strong>e-Coaches<br />

betreut, um die Gruppenübungen zu lösen sowie <strong>in</strong>haltliche Fragen zu klären.<br />

Die Studierenden wirkten mit an e<strong>in</strong>em eigenen Wiki 11 mit den e<strong>in</strong>schlägigen<br />

Begriffen aus der F<strong>in</strong>anzwelt.<br />

Der zweite Preis g<strong>in</strong>g an die Universität St. Gallen für die Entwicklung und<br />

Implementierung mediengestützten Selbststudiums 12 . Dort verbr<strong>in</strong>gen die<br />

Studierenden seit der Umstellung auf e<strong>in</strong>e Bologna-konforme Lehre mit<br />

Bachelor- und Masterabschlüssen 25 % weniger Zeit <strong>in</strong> Vorlesungen, sondern<br />

erarbeiten im begleiteten Selbststudium Lern<strong>in</strong>halte vermehrt aktiv und selbstständig.<br />

Dabei werden sie von den Lehrenden auf vielfältige Weise unterstützt.<br />

E-Learn<strong>in</strong>g spielt dabei e<strong>in</strong>e zentrale Rolle.<br />

These 3: E-Learn<strong>in</strong>g bedeutet schnelleren Wissenszugriff und Wissenstransfer<br />

und begünstigt selbstorganisiertes, eigenverantwortliches Lernen.<br />

Niemand mit Internetzugang möchte heute mehr auf Google oder Wikipedia<br />

oder andere Dienstleistungen im Web verzichten. Als universelles Nachschlage<strong>in</strong>strument<br />

lässt sich das Netz ähnlich e<strong>in</strong>er Bibliothek für die Informationssuche<br />

nutzen. Werden Kurse für die Aus- und Weiterbildung im Internet<br />

angeboten, dann kann zeit- und ortsunabhängig („just <strong>in</strong> time“, „on demand“)<br />

gelernt werden. Bedürfnisse der Lernenden können berücksichtigt werden.<br />

Lernabläufe lassen sich <strong>in</strong>dividualisieren, die Lernkontrolle kann unmittelbar<br />

selbst vorgenommen werden. E-Learn<strong>in</strong>g erfolgt im Gegensatz zu traditionellen<br />

Lehrmitteln <strong>in</strong>teraktiv, wodurch traditionelle l<strong>in</strong>eare Denk- und Lernkonzepte<br />

aufgebrochen und flexiblere, netzwerkartige Konzepte verwirklicht werden<br />

können (z.B. per Wiki und anderen Internetforen). Kooperatives Lernen und<br />

Arbeiten werden ermöglicht – auch bei räumlicher Distanz der Partner<strong>in</strong>nen<br />

und Partner und zeitversetzter Lern- und Arbeitsphasen. Durch die E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />

von Grafiken, Simulationen, Bild-, Ton- und Videodokumenten werden<br />

Lerngegenstände veranschaulicht und leichter gelernt. E-Learn<strong>in</strong>g bedeutet<br />

größten Teils e<strong>in</strong>e andere Art zu lernen: Es f<strong>in</strong>det weniger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er logischen<br />

und regel-basierten Organisationsform statt, als vielmehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von<br />

Computerspielen vertrauten „Trial-and-Error“-Modus. Die Studierenden<br />

führen häufig mehrere Aktivitäten simultan durch („Multitask<strong>in</strong>g“) und haben<br />

29


damit weniger Schwierigkeiten als mit der Konzentration auf E<strong>in</strong>zelaufgaben.<br />

Weil die Studierenden viel Zeit vor dem Computer verbr<strong>in</strong>gen, fällt ihnen<br />

das Tippen auf der Tastatur leichter als das handschriftliche Schreiben e<strong>in</strong>es<br />

Textes. Stets mit anderen verbunden zu se<strong>in</strong>, ist den Studierenden sehr wichtig.<br />

Hierzu wird e<strong>in</strong>e breite Palette von <strong>in</strong>formations- und kommunikationstechnologischen<br />

Geräten (Handy, Notebook, usw.) genutzt. Wegen der ubiquitären<br />

Verfügbarkeit von Angeboten im Internet erwarten die Studierenden schnelle<br />

Reaktionszeiten und haben wenig Geduld mit Verzögerungen 13 .<br />

These 4: Die Wahrnehmung der Chancen von E-Learn<strong>in</strong>g für die Erweiterung<br />

<strong>in</strong>dividueller Kompetenzen ist abhängig vom sozioökonomischen<br />

Status der Lernenden.<br />

ARD und ZDF haben 2006 auch e<strong>in</strong>e Offl<strong>in</strong>e-Studie <strong>in</strong> Auftrag gegeben, um<br />

die Nichtnutzer des Internets unter die Lupe zu nehmen 14 . Nichtnutzer<br />

(Offl<strong>in</strong>er) s<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong>en niedrigeren Bildungsabschluss gekennzeichnet:<br />

Von den Offl<strong>in</strong>ern haben 71 % e<strong>in</strong>en Volksschul-/ Hauptschulabschluss,<br />

23 % e<strong>in</strong>e weiterführende Schule besucht. Nur 2 % der Personen ohne<br />

Onl<strong>in</strong>enutzung haben Abitur, knapp 5 % e<strong>in</strong> Studium vorzuweisen. Will<br />

man e<strong>in</strong>e Zwei-Klassen-Gesellschaft von Nutzern und Nicht-Nutzern vermeiden,<br />

müssten Maßnahmen getroffen werden, dieser Ungleichheit der<br />

Chancen entgegen zu arbeiten, etwa durch Angebote der Schulen oder durch<br />

staatliche Initiativen, wie sie Frankreich im Juli 2006 gestartet hat: Im Rahmen<br />

e<strong>in</strong>er Public-Private-Partnership zwischen Regierung und Netzanbietern<br />

wird Familien mit ger<strong>in</strong>gen f<strong>in</strong>anziellen Mitteln, Senioren und ärmeren<br />

Haushalten e<strong>in</strong> Paket bestehend aus e<strong>in</strong>em preiswerten hochwertigen PC<br />

mit Breitbandzugang angeboten, damit sie privat die moderne Informationstechnik<br />

nutzen können 15 . E<strong>in</strong>e wichtige kompensatorische Rolle kommt den<br />

Schulen zu. Diese Erziehungs- und Bildungs<strong>in</strong>stitutionen werden – wie so oft –<br />

e<strong>in</strong>e Chancenausgleichsfunktion übernehmen müssen, wenn die familiären<br />

Gegebenheiten den K<strong>in</strong>dern e<strong>in</strong>e Nutzung der neuen Kulturtechnik des<br />

Umgangs mit Computer und Internet nicht bieten können.<br />

These 5: (Hochschul-)Lehrer<strong>in</strong>nen und (Hochschul-)Lehrer brauchen<br />

Unterstützung, damit sie E-Learn<strong>in</strong>g-Angebote für den Unterricht<br />

lernwirksam e<strong>in</strong>setzen können.<br />

Technologische Neuentwicklungen bee<strong>in</strong>flussen unsere Lebens- und Arbeitsgewohnheiten.<br />

Für viele bedeutet Wandel zunächst e<strong>in</strong>mal Verunsicherung, die<br />

sich bis zur Angst auswachsen kann, der Angst, den neuen Herausforderungen<br />

nicht mehr gewachsen zu se<strong>in</strong>. Ob das die Bedienung des Computers oder<br />

des Handys oder das Programmieren des Videorecorders oder des DVD-<br />

Brenners oder des neuen GPS-Navigationsgeräts im Auto betrifft: der Um-<br />

30


gang damit muss gelernt werden, wenn man vom Segen dieser Neuerungen<br />

profitieren will. Bei den Neuen Medien ist deren souveräne Nutzung oft e<strong>in</strong>e<br />

Sache des Alters. K<strong>in</strong>der und Jugendliche wachsen damit auf, haben den Nutzen<br />

der neuen Systeme schnell durchschaut und bewältigen deren Gebrauch <strong>in</strong><br />

kürzester Zeit über Versuch-Irrtum-Lernen. Während im „handl<strong>in</strong>g“ die<br />

Jüngeren den Älteren meistens überlegen und auf Hilfe kaum noch angewiesen<br />

s<strong>in</strong>d, wird sich die Arbeit der Pädagogen eher auf den s<strong>in</strong>nvollen Gebrauch<br />

der Medien und das Lern- und Wissensmanagement konzentrieren müssen.<br />

An der Universität <strong>in</strong> Augsburg s<strong>in</strong>d wir dabei, mit Fördermitteln der DFG<br />

e<strong>in</strong> IT-Servicezentrum aufbauen, das quer durch alle Fakultäten, zentralen<br />

E<strong>in</strong>richtungen und die Verwaltung e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tegriertes Informationsmanagement<br />

ermöglicht. E<strong>in</strong> Teilprojekt davon („Präsentieren <strong>in</strong> Forschung und Lehre“)<br />

wird vom Videolabor und von der Professur für Medienpädagogik durchgeführt.<br />

Dar<strong>in</strong> versuchen wir u.a. die Dozent<strong>in</strong>nen und Dozenten nicht nur<br />

fit für den Umgang mit den Präsentationsgeräten zu machen sondern auch<br />

zu ermutigen, E-Learn<strong>in</strong>g-Elemente <strong>in</strong> das Lehren und Lernen e<strong>in</strong>zubauen.<br />

Dieses Programm dient dem Aufbau und der Erweiterung e<strong>in</strong>er speziellen<br />

E-Kompetenz 16 .<br />

These 6: E-Learn<strong>in</strong>g wird die traditionellen Bildungsformen nicht ersetzen.<br />

Noch vor wenigen Jahren galt E-Learn<strong>in</strong>g als die Bildungsform des 21. Jahrhunderts.<br />

Mittlerweile weiß man, dass E-Learn<strong>in</strong>g die traditionellen Bildungsformen<br />

nicht ersetzen kann. Es ist lediglich als e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Unterstützung<br />

im Lernprozess zu sehen. Durch Komb<strong>in</strong>ation verschiedener medialer Vermittlungsformen<br />

(„hybride Lernarrangements“, „Blended Learn<strong>in</strong>g“) kann<br />

Lernen optimiert werden. Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer brauchen also nicht zu<br />

befürchten, arbeitslos zu werden. Die Präsentation der Lern<strong>in</strong>halte wird<br />

vielfach noch von technischen und nicht von didaktischen Faktoren<br />

bestimmt, weil Pädagogen erst <strong>in</strong> den letzten Jahren stärker im E-Learn<strong>in</strong>g-<br />

Bereich arbeiten. Chat-Rooms, Blogs, Internetforen, SMS- und E-Mail-<br />

Kommunikation funktionieren mit reduzierter S<strong>in</strong>nlichkeit, beschränkt auf<br />

Auge und Ohr. Sie werden e<strong>in</strong>em ganzheitlichen menschlichen Leben und<br />

Erleben mit allen S<strong>in</strong>nen nur unzureichend gerecht. Deshalb werden wir<br />

nach wie vor Orte brauchen, <strong>in</strong> denen soziale Kontakte „face to face“ geknüpft<br />

werden können; <strong>in</strong> denen Naturerlebnisse möglich s<strong>in</strong>d; <strong>in</strong> denen der<br />

virtuellen Bewegungsarmut Motorik entgegen gesetzt wird; <strong>in</strong> denen der<br />

Mensch Liebe, Geborgenheit und Solidarität erfährt, aber auch Konflikt und<br />

Frustration zu bewältigen lernt. Dass Familie, Schule und Hochschule diese<br />

Orte bleiben, sollte weiterh<strong>in</strong> – neben allen Bemühungen um elektronisch<br />

gestütztes Lernen und Lehren – permanentes Ziel aller Pädagog<strong>in</strong>nen und<br />

Pädagogen se<strong>in</strong>.<br />

31


Anmerkungen<br />

1 Eimeren, B. v. & Frees, B.: ARD/ZDF-Onl<strong>in</strong>e-Studie 2006: Schnelle Zugänge, neue Anwendungen,<br />

neue Nutzer? Media Perspektiven, <strong>Heft</strong> 8/2006, S. 402–415<br />

2 Eimeren & Frees, a.a.O., S. 411f.<br />

3 Eimeren & Frees, a.a.O., S. 406<br />

4 Eimeren & Frees, a.a.O., S. 407<br />

5 Kerres, M.: Multimediale und telemediale Lernumgebungen. Konzeption und Entwicklung.<br />

München 2001<br />

6 Kongressthema <strong>in</strong> Rostock: „Auf zu neuen Ufern! E-Learn<strong>in</strong>g heute und morgen“ – Tagungsband<br />

unter diesem Titel herausgegeben von Tavangarian, D. & Nölt<strong>in</strong>g, K. als Band 34 der<br />

Reihe Medien <strong>in</strong> der Wissenschaft beim Waxmann Verlag Münster 2005<br />

7 Kongressthema <strong>in</strong> Zürich: „E-Learn<strong>in</strong>g – alltagstaugliche Innovation?“ – Tagungsband unter<br />

diesem Titel herausgegeben von Seiler Schiedt, E., Käl<strong>in</strong>, S. & Sengstag, C. als Band 38 der<br />

Reihe Medien <strong>in</strong> der Wissenschaft beim Waxmann Verlag Münster 2006<br />

8 Kongressthema: „Studieren neu erf<strong>in</strong>den – Hochschule neu denken“. 13.-15. September 2007<br />

an der Universität Hamburg<br />

9 http://www.get<strong>in</strong>volved.unizh.ch<br />

10 Podcast, Def<strong>in</strong>ition aus Wissen Media Verlag vom 24.7.2006: Kunstwort aus iPod (e<strong>in</strong> MP3-<br />

Player der Firma Apple) und englisch broadcast<strong>in</strong>g = Rundfunk. Podcast<strong>in</strong>g: Verfahren zur<br />

Verbreitung von Audio- (Audio-Podcast) und Videodateien (Video-Podcast) über das Internet,<br />

bei dem der Download auf den PC und die Übertragung auf z.B. e<strong>in</strong>en MP3-Player mit<br />

Hilfe spezieller Programme (Podcatcher, Podcast<strong>in</strong>g-Clients oder Feed-Reader) automatisierbar<br />

ist. Die radio- bzw. fernsehähnlichen Beiträge und Sendungen werden von sog. Podcastern<br />

wie u.a. Hörfunk- und Fernsehsendern, Tageszeitungen und Privatpersonen angeboten. Der<br />

Konsument kann Podcasts über spezielle Feed-Dateien (deutsch „Speisung“) abonnieren,<br />

speichern und zu jeder beliebigen Zeit abspielen.<br />

11 Wiki, Def . aus Wiktionary vom 2.5.2007: e<strong>in</strong>e im World Wide Web oder auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em privaten<br />

Intranet verfügbare Sammlung von Webseiten, die auf Grund bestimmter Wiki-Software vom<br />

Betrachter geändert werden können, und die sofort <strong>in</strong> veränderter Form für jeden abrufbar s<strong>in</strong>d.<br />

12 http://www.selbststudium.unisg.ch<br />

13 vgl. Sporer, T.: Studieren heute – Wie sieht die Lehre und das Studium der Zukunft aus? Referat<br />

bei der UTB Programmkonferenz am 13.3.2007 <strong>in</strong> Frankfurt/M.<br />

14 Gerhards, M. & Mende, A.: Offl<strong>in</strong>er: Vorbehalte und E<strong>in</strong>stiegsbarrieren gegenüber dem Internet<br />

bleiben bestehen. Media Perspektiven, 8/2006, S. 416–430<br />

15 Gerhards, M. & Mende, A.: a.a.O., S. 430<br />

16 Auch hier s<strong>in</strong>d uns die Schweizer Hochschulen voraus. Die Eidgenössische Technische Hochschule<br />

Zürich besitzt e<strong>in</strong> eigenes E-Learn<strong>in</strong>g-Kompetenzzentrum (NET – Network for Educational<br />

Technology), deren Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeiter den Dozierenden alle erforderlichen<br />

Starthilfen für die Nutzung von E-Learn<strong>in</strong>g bieten. E<strong>in</strong> Leitfaden („Roadmap to E-Learn<strong>in</strong>g“)<br />

zeigt Handlungsschritte auf wie die Dozierenden ihre Lehrveranstaltungen durch E-Learn<strong>in</strong>g<br />

bereichern können. Adresse: http://www.net.ethz.ch<br />

32<br />

Dieses <strong>Heft</strong> hat e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>geren Umfang, da das nächste <strong>Heft</strong> wegen<br />

der zusammengehörenden Aufsätze stärker werden muss.


Buchbesprechungen<br />

[Hrsg.] Hartmut Rupp<br />

HANDBUCH DER KIRCHEN-<br />

PÄDAGOGIK<br />

Kirchenräume wahrnehmen, deuten<br />

und erschließen<br />

Gebunden, 328 S., mit vielen farbigen Bildern,<br />

Calwer Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 3-7668-<br />

3960-8<br />

Jahrelange Erfahrungen des Herausgebers und<br />

se<strong>in</strong>er zahlreichen MitarbeiterInnen stehen h<strong>in</strong>ter<br />

diesem Buch. Es ist <strong>in</strong> drei große <strong>in</strong>haltliche<br />

Abschnitte gegliedert: Das Kirchengebäude<br />

und se<strong>in</strong>e Elemente – Der Kirchenraum und<br />

se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung – Die Kirchenerschließung<br />

und ihre Methoden. E<strong>in</strong> Anhang mit e<strong>in</strong>em<br />

aufschlussreichen Überblick über Kirchenbau-<br />

Konzeptionen schließt das Werk ab.<br />

Die e<strong>in</strong>zelnen Kapitel s<strong>in</strong>d nach dem im Vorwort<br />

dargelegten Pr<strong>in</strong>zip „wahrnehmen, erklären,<br />

deuten, erschließen“ aufgebaut, <strong>in</strong> denen sich<br />

für Rupp die vierfache mittelalterliche Schriftauslegung<br />

spiegelt. Zahlreiche hervorragende<br />

Aufnahmen unterschiedlichster Kirchengebäude,<br />

ihrer Innengestaltung und liturgischen Geräte<br />

und Gegenstände dienen der Veranschaulichung<br />

und stellen darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>en Augenschmaus<br />

dar, der alle<strong>in</strong> schon das Buch zu e<strong>in</strong>em Genuss<br />

macht.<br />

Die e<strong>in</strong>zelnen Unterkapitel beg<strong>in</strong>nen jeweils<br />

mit anschaulichen H<strong>in</strong>weisen auf generelle<br />

Merkmale etwa e<strong>in</strong>es Kirchengebäudes, e<strong>in</strong>es<br />

Turms, e<strong>in</strong>er Orgel usw. Sie stellen zugleich<br />

e<strong>in</strong>e Hilfe für Unterrichtende dar, worauf sie<br />

e<strong>in</strong>e Klasse gegebenenfalls aufmerksam machen<br />

sollten, falls deren Beobachtungsfähigkeit<br />

nicht genügend geschult ist. Unter „Erklären“<br />

werden meist historische Informationen zur Entwicklungsgeschichte<br />

geboten, unter „Deuten“<br />

H<strong>in</strong>weise zur Bedeutung des jeweils behandelten<br />

Gegenstands. „Erschließen“ gibt altersspezifisch<br />

methodische Anregungen, die vom Betreten,<br />

Umrunden, Besteigen bis zum Zeichnen, Messen<br />

und Meditieren reichen.<br />

Zahlreiche optische Beispiele unterschiedlichster<br />

Typen machen die Gestaltungsvielfalt deutlich.<br />

Sie reichen vom Speyerer und Kölner Dom oder<br />

der Trierer Basilika bis zu dem bunkerartigen<br />

ökumenischen Kirchenzentrum <strong>in</strong> Freiburg-<br />

Rieselfeld, von gedrungenen Vierungstürmen<br />

bis zu modernen Glockenträgern, von mittelalterlichen<br />

Kirchenfenstern bis zu Chagall und<br />

Schreiter. Ähnlich weit ist der Spannungsbogen<br />

bei den Beispielen der Innenausstattung.<br />

Am wenigsten können die Abschnitte „Deuten“<br />

verallgeme<strong>in</strong>ert werden; sie stellen jeweils<br />

persönliche Auffassungen des betreffenden<br />

Bearbeiters dar. Die dabei genannten biblischen<br />

Bezüge wirken oft gekünstelt, da es etwa <strong>in</strong><br />

neutestamentlicher Zeit noch ke<strong>in</strong>e Kirchen gab.<br />

So muss der Verfasser bei den Kirchenfenstern<br />

z.B. auf die Lichtsymbolik zurückgreifen, bei<br />

Kirchendecken auf Gottessymbolik als Schutz.<br />

Wohltuend heben sich davon Artikel ab, die<br />

nur sparsame biblische Bezüge etwa auf die<br />

Säulen <strong>in</strong> Salomos Tempel oder die Bedeutung<br />

von Türen <strong>in</strong> biblischen Geschichten enthalten.<br />

Doch stehen auch sie <strong>in</strong> der Gefahr der Über<strong>in</strong>terpretation.<br />

Dass allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> Bearbeiter<br />

noch den Begriff „Spätjudentum“ verwenden<br />

kann, zeigt, dass er den Diskussionsstand der<br />

letzten dreißig Jahre nicht kennt.<br />

Im Abschnitt Kirchenraum besticht gleich das<br />

erste Kapitel über Raumkonzeptionen durch die<br />

das Gesagte hervorragend erschließenden Innenaufnahmen.<br />

Doch ist auch hier das „Deuten“<br />

mit Vorsicht zu genießen. Bei der zutreffenden<br />

Beschreibung der Kirche als Langhaus sollte auch<br />

bedacht werden, dass mittelalterliche Kirchen<br />

ke<strong>in</strong>e Bänke hatten, sondern Prozessionen im<br />

Innern dienten. Was die Gläubigen bei Hochaltar<br />

und Lettner von der Lichtsymbolik der<br />

aufgehenden Sonne wahrnahmen, sollte zum<strong>in</strong>dest<br />

gefragt werden. Bei modernen evangelischen<br />

Kirchen fallen diese Elemente zum Teil<br />

völlig weg. Beim Artikel über den Altar fragt<br />

man sich, was mit „ersten Christen“ geme<strong>in</strong>t ist,<br />

wenn von e<strong>in</strong>em tragbaren Tisch mit weißem<br />

Le<strong>in</strong>tuch die Rede ist. (Auch der Verfasser<br />

des Artikels Grabmal sollte stattdessen von<br />

Christen der ersten Jahrhunderte sprechen.)<br />

Ausgesprochen falsch ist allerd<strong>in</strong>gs, wenn der<br />

hebräische Begriff misbeach mit Verbrennen <strong>in</strong><br />

Verb<strong>in</strong>dung gebracht wird. Warum fragt man<br />

33


nicht Fachleute? Bei der Def<strong>in</strong>ition der Kanzel<br />

als „Demonstrationstribüne für Redner, die für<br />

e<strong>in</strong>e bestimmte Überzeugung e<strong>in</strong>treten“, wünscht<br />

man sich auch bei manchen heutigen Predigern<br />

mehr Überzeugungsgewissheit. Andererseits<br />

sollte bedacht werden, dass im ausgehenden<br />

Mittelalter vor allem die „Prädikanten“, theologisch<br />

Gebildete, die nicht unbed<strong>in</strong>gt Priester<br />

waren, die Kanzeln nutzten; auch die Verwandtschaft<br />

zum Professorenkatheder sollte<br />

für evangelische Kirchen (sichtbar <strong>in</strong> vielen<br />

Waldenserkirchen) nicht übersehen werden.<br />

Hilfreich ist die ausführliche Deutung der vielfältigen<br />

„S<strong>in</strong>nzeichen“ und der Farbsymbolik<br />

<strong>in</strong> Kirchen. Bei den „Formen“ wäre e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er<br />

H<strong>in</strong>weis, dass der Chor vieler mittelalterlicher<br />

Kirchen leicht abgew<strong>in</strong>kelt ist – als Zeichen des<br />

geneigten Hauptes des Gekreuzigten, aufschlussreich.<br />

Dass sich das didaktische Pr<strong>in</strong>zip „Das tun,<br />

was dorth<strong>in</strong> gehört“ nicht konsequent durchhalten<br />

lässt, macht etwa der H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e<br />

Taufer<strong>in</strong>nerung am Taufste<strong>in</strong> deutlich. Dass das<br />

Berühren des Altarkreuzes andere E<strong>in</strong>drücke<br />

als das Betrachten vermittelt, kann man auch<br />

umkehren und dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Profanierung sehen.<br />

Generell wird Ganzheitlichkeit aller S<strong>in</strong>ne<br />

weith<strong>in</strong> auch von der Persönlichkeitsstruktur<br />

und Sozialisation abhängen. Doch bleibt dieses<br />

Kapitel nicht bei grundsätzlichen Erwägungen<br />

stehen, sondern stellt verschiedene Modelle<br />

e<strong>in</strong>er Kirchenerschließung vor – bis h<strong>in</strong> zu<br />

ganz praktischen Anregungen sowie Liedern,<br />

Tänzen und Bewegungsmeditationen, die sich<br />

auch unabhängig von Kirchenerkundungen<br />

verwenden lassen.<br />

Dr. Hans Maaß<br />

Igal Avidan<br />

ISRAEL<br />

E<strong>in</strong> Staat sucht sich selbst, 216 S., geb., He<strong>in</strong>rich<br />

Hugendubel Verlag, Kreuzl<strong>in</strong>gen/München<br />

<strong>2008</strong>, ISBN 978-3-7205-3046-0<br />

Avidan, e<strong>in</strong> versierter Journalist, schreibt <strong>in</strong><br />

flüssiger, gut lesbarer Sprache und zeigt Problematiken<br />

des Staates Israel anhand anschaulicher<br />

Beispiele und Szenen auf. Der Titel des Buches<br />

ist vielsagend, br<strong>in</strong>gt er doch zum Ausdruck,<br />

dass dieser Staat nach 60 Jahren immer noch<br />

nicht zur Ruhe gekommen ist, nicht nur aufgrund<br />

äußerer Bedrohungen, sondern auch<br />

34<br />

<strong>in</strong>folge politischer Entscheidungen <strong>in</strong> der Vergangenheit<br />

und <strong>in</strong>nerer Unsicherheit über<br />

den Weg <strong>in</strong> die Zukunft. Schonungslos, aber<br />

nicht e<strong>in</strong>seitig stellt er die Probleme dar. Die<br />

e<strong>in</strong>zelnen Kapitel enthalten jeweils Beispiele<br />

für bedenkliche, aber auch hoffnungsvolle Entwicklungen<br />

und Ansätze.<br />

So hat es zwar auch Vertreibungen arabischer<br />

Bevölkerung aus israelischem Gebiet und Zerstörung<br />

von Dörfern gegeben, Avidan gibt aber<br />

auch den Bericht e<strong>in</strong>es Arabers wieder, der mit<br />

se<strong>in</strong>er Familie 1948 se<strong>in</strong>en Ort nach Aufrufen<br />

arabischer Führer verlassen hatte, „damit die<br />

siegreichen arabischen Armeen die Juden ausrotten<br />

könnten.“ Mit Staunen liest man, dass<br />

e<strong>in</strong> kämpferisches Lied jener Tage von dem<br />

heutigen „Friedensaktivisten“ Uri Avnery<br />

stammt – e<strong>in</strong> Beispiel für Israels Suche nach<br />

sich selbst. Recht ausführlich geht Avidan auch<br />

auf die Thesen der neuen Historiker e<strong>in</strong> und<br />

das Umdenken e<strong>in</strong>es Teils <strong>in</strong>folge der zweiten<br />

Intifada: „Damals kämpften sie, um die israelische<br />

Besatzung loszuwerden, jetzt kämpfen sie,<br />

um Israel loszuwerden“, zitiert er B. Morris, der<br />

nachträglich die Vertreibung arabischer Bevölkerung<br />

als tragisch, aber notwendig bezeichnete.<br />

Ausführlich wird das Problem der Rückkehr<br />

der Flüchtl<strong>in</strong>ge und die verschiedenen Lösungsansätze<br />

dargestellt und e<strong>in</strong>e „begrenzte Rückkehr<br />

ohne Rückkehrrecht“ als „Zauberformel“<br />

bezeichnet. Auch <strong>in</strong> dieser Frage ist Israel auf<br />

der Suche. Erfreulich ist die Tatsache, dass es<br />

gelungen ist, <strong>in</strong> Israel Schulbücher e<strong>in</strong>zuführen,<br />

die auch die Sicht der Paläst<strong>in</strong>enser darstellen,<br />

ohne billige Lösungen zu propagieren.<br />

Die unterschiedliche Sicht <strong>in</strong>nerhalb der israelischen<br />

Gesellschaft bezüglich der seit 1967<br />

besetzten Gebiete und zur E<strong>in</strong>igung auf die<br />

Grenzen zweier Staaten, machen am Beispiel<br />

der „grünen L<strong>in</strong>ie“ zwei Anzeigen deutlich, die<br />

am gleichen Tag <strong>in</strong> israelischen Zeitungen erschienen<br />

s<strong>in</strong>d. Überhaupt wird die Problematik<br />

der mit den unterschiedlichsten Grenzziehungen<br />

verbundenen Schwierigkeiten ausführlich an<br />

konkreten Beispielen dargestellt: Räumung von<br />

S<strong>in</strong>ai und Gaza, Zaun und Mauer. Durchweg<br />

zeichnet sich das Buch dadurch aus, dass die<br />

verschiedenen Fragen nicht theoretisch erörtert,<br />

sondern an E<strong>in</strong>zelschicksalen veranschaulicht<br />

werden. Dadurch wird Lebensnähe erreicht,<br />

doch stellt sich auch jeweils die Frage, wie<br />

exemplarisch diese tatsächlich s<strong>in</strong>d. Am Beispiel<br />

geschilderter Schwierigkeiten e<strong>in</strong>er Kon-


version kennt der Rezensent auch gegenteilige<br />

Beispiele.<br />

Erfreulich ist die begriffliche Unterscheidung<br />

zwischen Arabern und Paläst<strong>in</strong>ensern, erhellend<br />

die Darstellung der Schwierigkeiten des<br />

Zusammenlebens unterschiedlicher religiöser<br />

jüdischer Gruppen etwa <strong>in</strong> dem Dorf Yavne’el,<br />

die e<strong>in</strong>e friedliche Lösung gefunden haben, oder<br />

<strong>in</strong> Jerusalem. Am Beispiel der Personalausweise<br />

wird die Problematik der „Volkszugehörigkeit“,<br />

die von „Staatsangehörigkeit“ unterschieden<br />

wird, deutlich. Avidan berichtet auch von e<strong>in</strong>er<br />

bisher erfolglosen Initiative, die Angabe der<br />

„Nation“ aus dem Personalausweis zu streichen.<br />

Ke<strong>in</strong>e Problematik wird ausgespart, auch nicht<br />

die Frage künstlicher Befruchtung. Die<br />

Zukunftsperspektive Israels wird sich nach<br />

Avidan daran entscheiden, wie Israel „mit den<br />

eigenen M<strong>in</strong>derheiten umgeht“.<br />

Ke<strong>in</strong> bequemes, aber zum Nachdenken anregendes<br />

Buch, das gerade uns Deutsche<br />

vor vorschnellen Antworten und Lösungsvorschlägen<br />

bewahren kann.<br />

Dr. Hans Maaß<br />

Yvonne Domhardt, Esther Orlow,<br />

Eva Pruschy [Hrsg.]<br />

KOL ISCHA<br />

Jüdische Frauen lesen die Tora<br />

geb., 277 S., Chronos Verlag, Zürich 2007,<br />

ISBN 978-3-0340-0788-7<br />

Anhand der 54 Wochenabschnitte der Tora<br />

legen sehr unterschiedliche jüdische Frauen die<br />

Tora aus. Denn jüdischen Frauen steht mehr<br />

und mehr die Möglichkeit offen, „sich mit den<br />

religiösen Quellen, <strong>in</strong>sbesondere der Tora und<br />

dem Talmud, <strong>in</strong>tellektuell ause<strong>in</strong>anderzusetzen“.<br />

Das Buch „versteht sich als Experiment an<br />

und mit Texten“. Es bietet manche orig<strong>in</strong>elle<br />

E<strong>in</strong>sichten und Aussagen, wobei allerd<strong>in</strong>gs<br />

manchmal mehr Belegstellen dafür zu wünschen<br />

wären. Dabei ist nicht verwunderlich, dass e<strong>in</strong>zelne<br />

Ausleger<strong>in</strong>nen z. T. ihre Spezialthemen <strong>in</strong><br />

den Texten wiederentdecken. Aber auch auffällige<br />

Übersetzungsformulierungen regen zum<br />

Nachdenken an, wenn es etwa heißt „und Gott<br />

machte Schabbat aus se<strong>in</strong>er ganzen Arbeit, die<br />

er gemacht hatte.“<br />

Die Spannweite der e<strong>in</strong>zelnen Beiträge entspricht<br />

der Breite der Berufsfelder der Mitarbeiter<strong>in</strong>nen,<br />

von Rabb<strong>in</strong>er<strong>in</strong>nen bis zu Literaturhistoriker<strong>in</strong>nen,<br />

Hochschulprofessor<strong>in</strong>nen, Universitätsassistent<strong>in</strong>nen<br />

bis Sozialarbeiter<strong>in</strong>nen. So f<strong>in</strong>den<br />

sich Beiträge, die sich an der rabb<strong>in</strong>ischen<br />

Tradition orientieren, neben geradezu feuilletonistisch<br />

wirkenden, aber deshalb nicht weniger<br />

anregenden. Sachliche Erklärungen stehen neben<br />

bes<strong>in</strong>nlichen Texten.<br />

Nicht alle exegetischen „Perlen“ können hier<br />

vorgetragen werden; doch ist bei Noah die<br />

Überlegung anregend, wie wenig selbstverständlich<br />

es ist, dass die Nachkommen e<strong>in</strong>es Gerechten<br />

„m<strong>in</strong>destens ebenso gottesfürchtig“ s<strong>in</strong>d!<br />

Und wie ernüchternd ist bei Abraham und Sara<br />

der H<strong>in</strong>weis, dass sich die Begründung „de<strong>in</strong>etwegen“<br />

ebenso gut mit „auf de<strong>in</strong>e Kosten“<br />

übersetzen lässt! E<strong>in</strong> andermal wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

größeren Abschnitt sche<strong>in</strong>bar nicht zusammenhängender<br />

Erzählungen „sehen“ als Leitwort<br />

entdeckt. Tiefs<strong>in</strong>nig ist auch die Deutung der<br />

Vergewaltigung D<strong>in</strong>as, der Tochter Jakobs. Dass<br />

sich e<strong>in</strong>e Psycholog<strong>in</strong> mit Josefs Träumen befasst,<br />

verwundert nicht. Überhaupt verstehen<br />

es die Verfasser<strong>in</strong>nen, den erzählenden Texten<br />

z. T. Tiefendimensionen abzugew<strong>in</strong>nen, die<br />

man <strong>in</strong> üblichen Kommentaren nicht f<strong>in</strong>det.<br />

Schwieriger erweist sich der Umgang mit<br />

Listen und Vorschriften; aber auch dies wird<br />

z. T. gut gemeistert. Orig<strong>in</strong>ell ist die Idee, die<br />

Erklärung der Rechtsregelungen <strong>in</strong> 2.Mose <strong>in</strong><br />

die Form e<strong>in</strong>es Briefs zu kleiden. Listen über<br />

Landverteilung und Asylstädte werden als<br />

Ausdruck von Sehnsucht verstanden. Manche<br />

Passagen wirken apologetisch. Dies ist allerd<strong>in</strong>gs<br />

ke<strong>in</strong> Verdikt; denn gerade sie greifen<br />

Probleme auf, die bei jeder Beschäftigung mit<br />

entsprechenden Texten unausweichlich entstehen.<br />

Ethische Grunde<strong>in</strong>stellungen – wie etwa Vorbehalte<br />

des Judentums gegenüber Eiferern –<br />

werden ebenso ausgesprochen wie die erzieherische<br />

Funktion von Geboten sowie der<br />

Gerechtigkeit.<br />

Oft – z. B. beim Sündenbock – kommt auch die<br />

Tiefenpsychologie zuhilfe; der Abschluss des<br />

3. Mose wird als „Geburt des Über-Ichs“<br />

bezeichnet. Und wer von uns käme auf den<br />

Gedanken, <strong>in</strong> Namenslisten etwas Identitätsstiftendes<br />

zu entdecken oder <strong>in</strong> den Bestimmungen<br />

bei Ehebruchverdacht e<strong>in</strong>e Maßnahme<br />

gegen Eifersucht?<br />

Es gibt auch Betrachtungen, die aus typischer<br />

Frauensicht geschrieben s<strong>in</strong>d, ohne jedoch<br />

militant fem<strong>in</strong>istisch zu se<strong>in</strong>, z. B. die Reflexionen<br />

35


über die Zizit, die „Schaufäden“. E<strong>in</strong>e andere<br />

Auslegung relativiert die patriarchalische<br />

Gesellschaft und stellt die darauf beruhenden<br />

Ordnungen zur Diskussion. Besonders <strong>in</strong>teressant<br />

ist das generationsübergreifende Gespräch<br />

e<strong>in</strong>er Mutter und Tochter über die Bedeutung<br />

der Gebote für jüdische Identität. Im abschließenden<br />

Kapitel wird gefragt, ob Frauen<br />

<strong>in</strong> das mosaische Führungsmodell passen.<br />

Nicht alles ist auf Anhieb verständlich; auch<br />

Schwierigkeiten, mit den sich manche Autor<strong>in</strong>nen<br />

plagten, werden sichtbar. Dennoch: wer<br />

sich künftig mit Erzählungen und Geboten der<br />

Tora befasst, sollte sich von diesem Buch Anregungen<br />

geben lassen.<br />

Dr. Hans Maaß<br />

Björn Krondorfer u.a.<br />

MIT BLICK AUF DIE TÄTER<br />

Fragen an die deutsche Theologie<br />

nach 1945<br />

kart., 317 S., Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh<br />

2006, ISBN 3-579-05227-4<br />

E<strong>in</strong> thematisch weit gespanntes Unternehmen.<br />

Nach e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>führung von Norbert Reck<br />

untersucht Björn Krondorfer die Frage nach<br />

„Nationalsozialismus und Holocaust <strong>in</strong> Autobiographien<br />

protestantischer Theologen. Reck<br />

fragt dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er etwas anderen Perspektive<br />

ach „Nationalsozialismus, Holocaust und<br />

Schuld <strong>in</strong> den Augen dreier katholischer Generationen;<br />

abschließend wendet sich Kathar<strong>in</strong>a<br />

von Kellenbach unter dem Thema „Schuld und<br />

Vergebung“ dem Thema e<strong>in</strong>er „deutschen Praxis<br />

christlicher Versöhnung“ zu.<br />

Neu an diesem Ansatz ist die Def<strong>in</strong>ition des<br />

Begriffs „Täterschaft“ als „Gesamtheit der<br />

Taten, Worte, Handlungen und Unterlassungen,<br />

die zum Zustandekommen und langjährigen<br />

Funktionieren des nationalsozialistischen Gesellschaftsprojekts<br />

beigetragen haben.“ Damit erweitert<br />

sich der „Täterkreis“ erheblich gegenüber<br />

üblichen Betrachtungen; auch der Begriff<br />

„Schuld“ gew<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong>e neue Dimension. Sie<br />

erschöpft sich nicht nur im Handeln oder<br />

Wegschauen, sondern drückt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

gesellschaftlichen Gesamtdenken aus, an dem<br />

auch Theologen, wohl ohne es zu wollen und<br />

zu wissen, Anteil hatten. Nicht beschuldigen<br />

will das Buch, aber aufmerksam machen.<br />

36<br />

Die Beschäftigung mit Autobiographien ist<br />

e<strong>in</strong> Teil der „Er<strong>in</strong>nerungsarbeit“. Es geht um<br />

die Spannung „zwischen soziologischer Beschreibung<br />

von Gruppenzugehörigkeit und<br />

kritischer Beurteilung persönlichen Handelns“.<br />

Krondorfer verwendet <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

den soziologischen Begriff „Kohorten“.<br />

Er geht mit Macuse davon aus, dass sich das<br />

Bewusstse<strong>in</strong> und Weltverständnis e<strong>in</strong>er Gruppe<br />

zwischen 16 und 26 Jahren bildet und später<br />

nicht mehr verändert. Dies erklärt manches,<br />

was bei älteren Kollegen trotz gegenteiliger<br />

Beteuerungen zu beobachten ist. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

kann man über se<strong>in</strong>e Abgrenzungen e<strong>in</strong>zelner<br />

Kohorten des 20. Jh. (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />

Tabelle) geteilter Me<strong>in</strong>ung se<strong>in</strong>. Zwischen den<br />

Geburtsjahren 1929 und 1944 klafft dabei e<strong>in</strong>e<br />

Lücke. Vermutlich ist diese Gruppe, mit unterschiedlichen<br />

Erlebnissen während des 2. Weltkriegs<br />

am schwersten zu charakterisieren. Ganz<br />

anders dagegen die Generation, die den verlorenen<br />

1. Weltkrieg <strong>in</strong> ihren entscheidenden<br />

Lebensjahren erlebte. Sie zeigt sogar für das<br />

Aufkommen des Nationalsozialismus Verständnis,<br />

selbst wenn sie ihn nicht billigt.<br />

Die sog. 1933er-Kohorte f<strong>in</strong>det sogar entschuldigende<br />

Worte oder gesteht, dass ihr das<br />

Überleben bzw. Durchlavieren wichtiger war als<br />

Pr<strong>in</strong>zipientreue. Wohltuend sticht von anderen<br />

Voten die Stimme von He<strong>in</strong>z Tödt ab, der zur<br />

nächsten Generation gehört wie Jörg Z<strong>in</strong>k, der,<br />

allerd<strong>in</strong>gs ohne Zweifel oder Reue erkennen<br />

zu lassen, mitteilt, die Sorge se<strong>in</strong>er Klasse sei<br />

gewesen, „der Krieg mit se<strong>in</strong>en phantastischen<br />

Abenteuern könnte zu Ende se<strong>in</strong>, ehe wir an<br />

ihm hätten teilnehmen können.“ Kritische<br />

Fragen an das Verhalten von Eltern und Großeltern<br />

stellt erst die Nachkriegsgeneration.<br />

Dennoch können nicht alle E<strong>in</strong>stellungen mit<br />

diesem Modell erklärt werden. Auch Traditionen<br />

der eigenen Sozialisation <strong>in</strong> Familie und Milieu<br />

spielen e<strong>in</strong>e Rolle. Unreflektierte theologische<br />

Motive können allerd<strong>in</strong>gs sogar zu Solidarisierungen<br />

mit Tätern führen. Oft ist auch die<br />

Grenze zum Selbstmitleid nicht scharf zu ziehen.<br />

Mir wird daran klar, warum ich während me<strong>in</strong>er<br />

eigenen Studienzeit zu manchen Theologen<br />

ke<strong>in</strong>en Bezug f<strong>in</strong>den konnte. Dies wird etwa<br />

im Blick auf Thielicke durch e<strong>in</strong>e begeisterte<br />

Student<strong>in</strong> bestätigt, die nur zu kritisieren hat,<br />

dass er gelegentlich arrogant gewesen sei, sowie<br />

durch Krondorfers Feststellung, dass er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Lebenser<strong>in</strong>nerungen („Zu Gast auf e<strong>in</strong>em schönen<br />

Stern“!) nicht analysiere, sondern <strong>in</strong>szeniere.


Erschütternd ist auch die Feststellung: „Weil<br />

Theologen dieser Kohorte mehrheitlich nicht<br />

imstande waren, sich als Teil des Problems zu<br />

begreifen, konnten sie nach 1945 auch ke<strong>in</strong>e<br />

Theologie angesichts der Opfer [. . .] entwickeln.“<br />

Stattdessen befassen sie sich mit der Darstellung<br />

ihrer Rolle <strong>in</strong> der Bekennenden Kirche und <strong>in</strong>strumentalisieren<br />

dazu sogar e<strong>in</strong>zelne humanitäre<br />

Verhaltensweisen gegenüber Juden (Künneth);<br />

andere erwähnen Juden überhaupt nicht,<br />

Thielicke bedient sich unbemerkt antisemitischer<br />

Begrifflichkeit bei der Schilderung se<strong>in</strong>er<br />

sche<strong>in</strong>bar judenfreundlichen E<strong>in</strong>stellung.<br />

Auch führende katholische Theologen reflektieren<br />

die Nazijahre unter dem Gesichtspunkt<br />

des Leidens des deutschen Volkes. Schuld wird<br />

als Abfall von Gott, als Nihilismus o.ä., nicht<br />

als Versündigung an den Opfern verstanden.<br />

Wenn der Dogmatiker Schmaus noch 1963<br />

schreiben konnte, „Mit der Ankunft des Neuen<br />

Bundes ist der Alte Bund veraltet. Die christliche<br />

Offenbarung h<strong>in</strong>gegen ist ewig jung“,<br />

steht er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Strom theologischer Judenfe<strong>in</strong>dlichkeit,<br />

der seit dem 2. Jh. (!) lebendig war,<br />

und zeigt, warum ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>neren Abwehrkräfte<br />

gegen das Nazi-Unrecht mobilisiert werden<br />

konnten. Auch Guard<strong>in</strong>i geht es um den<br />

Rechtsbruch als Pr<strong>in</strong>zip, nicht um die Juden als<br />

Verfolgte. Auch Eugen Kogon, selbst jüdischer<br />

Abstammung, stellt fest, dass das deutsche Volk<br />

nicht gegen dieses Unrecht aufstehen konnte,<br />

weil es bis dah<strong>in</strong> noch gar nicht als Verantwortungsträger<br />

existiert habe. E<strong>in</strong>e seltsame<br />

Exkulpation! J.B. Metz stellt dagegen den Riss<br />

zwischen se<strong>in</strong>er traditionell geprägten K<strong>in</strong>dheit<br />

und se<strong>in</strong>en späteren theologischen E<strong>in</strong>sichten<br />

dar. Die zitierten Kirchenhistoriker dieser<br />

Generation haben offensichtlich früher als ihre<br />

gleichaltrigen evangelischen Kollegen e<strong>in</strong>e Wende<br />

vollzogen. Oder liegt es nur an der Auswahl der<br />

Zitate, die Norbert Reck hier getroffen hat?<br />

Nach dem Muster des katholischen Bußritus,<br />

„Herzliche Reue“, „Mündliche Beichte“,<br />

„Genugtuende Werke“ untersucht Kathar<strong>in</strong>a<br />

von Kellenbach im Schlussteil die Frage „Schuld<br />

und Vergebung <strong>in</strong> der deutschen Praxis christlicher<br />

Vergebung“. Auch die hier ausgewählten<br />

Beispiele zeigen, wie erschreckend unfähig<br />

zum Schulde<strong>in</strong>geständnis viele sche<strong>in</strong>bar nur<br />

<strong>in</strong>direkt Verwickelte waren. Fragwürdig ist<br />

auch das pathetisch kl<strong>in</strong>gende Schlusswort<br />

e<strong>in</strong>es Verurteilten, der das Urteil des Gerichts<br />

„aus der Hand [s]e<strong>in</strong>es höchsten Richters“<br />

annimmt, also nicht zu se<strong>in</strong>er irdischen Verantwortung<br />

stehen kann. Aber wer von uns<br />

würde nicht nach ähnlichen Strohalmen greifen?<br />

E<strong>in</strong> Buch, das sehr nachdenklich macht und<br />

sicher falsch gelesen wird, wenn es der „Entlarvung“<br />

anderer dient statt der Bes<strong>in</strong>nung auf<br />

die <strong>in</strong> uns selbst schlummernden Denkmuster.<br />

Dr. Hans Maaß<br />

Geza Vermes<br />

DIE GEBURT JESU<br />

Geschichte und Legende. 151 S., geb., Landkarte<br />

und Stichwortregister. Primus Verlag,<br />

Darmstadt 2007, ISBN 978-3-89678-348-6<br />

Von der christlichen Tradition des Weihnachtsfestes<br />

fragt Vermes zu den Quellen zurück, von<br />

denen nur Matthäus und Lukas Geburts- bzw.<br />

K<strong>in</strong>dheitsgeschichten überliefern, und stellt ihre<br />

Unterschiede heraus, aber auch die kirchlichen<br />

Korrekturen, mit denen diese ausgeglichen<br />

werden sollten. Spätere harmonisierende Interpretationen<br />

werden e<strong>in</strong>er ebenso kritischen<br />

Sicht unterzogen.<br />

Bei der Frage nach Jesu Abstammung verweist<br />

er auf die bewusst an das Alte Testament angelehnte<br />

Darstellung des Matthäus und erklärt<br />

die Erwähnung der Frauen damit, dass damit<br />

die Beziehung des Juden zu Nichtjuden herausgestellt<br />

werden solle. Trotz der Knappheit<br />

s<strong>in</strong>d sowohl die H<strong>in</strong>weise auf die Quellen und<br />

Textgeschichte als auch die Vergleiche zwischen<br />

Matthäus und Lukas erhellend. Für die Genauigkeit<br />

se<strong>in</strong>er Darstellung spricht, dass er<br />

auch Sonderüberlieferungen wie den Codey<br />

Syrus S<strong>in</strong>aiticus heranzieht, <strong>in</strong> dem Josef als der<br />

natürliche Vater Jesu gilt. Zur besseren Vergleichsmöglichkeit<br />

druckt er beide Stammbäume<br />

synoptisch nebene<strong>in</strong>ander und stellt<br />

heraus, dass der lukanische Stammbaum nicht<br />

über Salomo führt. Er zitiert jedoch nicht nur<br />

frühchristliche Versuche, diese Abweichungen<br />

zu erklären, sondern verweist auch auf e<strong>in</strong>e<br />

ähnliche jüdische Tradition bezüglich des<br />

R. Hillel.<br />

Über wundersame Geburten im Alten Testament<br />

und Judentum kommt er auf die „Metapher vom<br />

Gott, der Menschenk<strong>in</strong>der »zeugt«, die schon<br />

für die Könige Judas vor der Babylonischen<br />

Gefangenschaft galt. Wenn hier der Begriff<br />

„jüdische Könige“ verwendet wird, dürfte es sich<br />

37


um e<strong>in</strong>en Übersetzungsfehler handeln. Auch<br />

„wundersame Geburten <strong>in</strong> der heidnischen<br />

Welt“ werden genannt und die Überlegung angestellt,<br />

<strong>in</strong>wieweit die „Vergöttlichung großer<br />

historischer Figuren“ auch Heiden, vielleicht<br />

sogar hellenistische Juden bee<strong>in</strong>flussten, die<br />

zum Christentum übertraten. Selbst Parallelen<br />

bei den Nabatäern und Philo kommen zu<br />

Wort. Man spürt auf Schritt und Tritt, hier ist<br />

e<strong>in</strong> solide arbeitender Historiker mit breitem<br />

Wissensspektrum am Werk, aber auch e<strong>in</strong> sensibler<br />

Textausleger. Dies wird vor allem an der<br />

Interpretation der matthäischen Erzählung von<br />

Josefs Traum deutlich – bis h<strong>in</strong> zur ausführlichen<br />

rechtsgeschichtlichen Darstellung der<br />

Absicht Josefs, sich von Maria zu trennen.<br />

Niemand sollte <strong>in</strong> Unterricht oder Predigt über<br />

diesen Text se<strong>in</strong>e Interpretationen übergehen!<br />

Dasselbe gilt auch für die gründliche text- und<br />

dogmengeschichtliche Behandlung des Problems<br />

„Jungfrauengeburt“. Aufschlussreich ist im<br />

Blick auf Lukas vor allem der H<strong>in</strong>weis auf<br />

unterschiedene Arten von „Jungfräulichkeit“<br />

im rabb<strong>in</strong>ischen Judentum. Die Recherche über<br />

Jesu Geburtsjahr führt Vermes wortreich, vermutlich<br />

nur für Sachkenner auf Anhieb verständlich.<br />

Was konstitutiv zum christlichen<br />

Weihnachtsfest gehört, bezeichnet Vermes als<br />

„zurückhaltende Geburtsgeschichte bei Lukas“<br />

und als „unspektakuläres ländliches Ereignis“.<br />

Den Stern von Bethlehem sieht er selbstverständlich<br />

im Zusammenhang mit dem Bileam-<br />

Spruch Num 24,17 und se<strong>in</strong>er messianischen<br />

Deutung <strong>in</strong> Qumran und anderen Dokumenten<br />

jener Zeit, aber auch an den damals verbreiteten<br />

Glauben an zeichenhafte Bedeutung von<br />

Himmelsersche<strong>in</strong>ungen.<br />

Die Szene des herodianischen K<strong>in</strong>dermords<br />

schreibt er e<strong>in</strong>erseits der Erzählkunst des<br />

Matthäus zu, zeichnet sie aber andererseits<br />

auch <strong>in</strong> das zeitgeschichtliche Bild des Herodes<br />

e<strong>in</strong>, ohne die strukturelle Parallele zu der K<strong>in</strong>dheitsgeschichte<br />

des Mose zu übersehen. Dabei<br />

verweist er auch auf rabb<strong>in</strong>ische „Er<strong>in</strong>nerungen“<br />

an e<strong>in</strong>e Tätigkeit Jesu <strong>in</strong> Ägypten. Im weiteren<br />

Verlauf geht er der Frage nach, wie Jesus nach<br />

Lukas und Matthäus jeweils nach Galiläa<br />

kommt, und woher die Erzählung vom zwölfjährigen<br />

Jesus stammt. Ob er allerd<strong>in</strong>gs die<br />

Absicht der „K<strong>in</strong>dheitsevangelien“ richtig<br />

erfasst hat, wenn er ihnen nur den Zweck zugesteht,<br />

e<strong>in</strong>e Aura des Wunderbaren zu schaffen,<br />

mag dah<strong>in</strong>gestellt bleiben. Alles <strong>in</strong> allem e<strong>in</strong><br />

38<br />

lesenswertes Buch, sei es als Information oder<br />

als Repetition.<br />

Dr. Hans Maaß<br />

Joseph Ratz<strong>in</strong>ger/Benedikt XVI.<br />

JESUS VON NAZARETH<br />

Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur<br />

Verklärung; 447 S., geb., Verlag Herder, Freiburg<br />

2007, ISBN 978-3-451-29861-5<br />

Nach e<strong>in</strong>er apokryphen Überlieferung soll<br />

Jesus e<strong>in</strong>mal gesagt haben, „wenn du weißt,<br />

was du tust, selig bist du“. In entsprechender<br />

Abwandlung gilt dies auch für die Lektüre<br />

dieses Buches: Das Urteil wird davon abhängen,<br />

was man von diesem Buch erwartet.<br />

Der Titel „Jesus von Nazareth“ legt e<strong>in</strong>e historische<br />

Untersuchung zur Person, Botschaft<br />

und Geschichte Jesu nahe. Dies ist es nicht,<br />

sondern eher e<strong>in</strong>e weith<strong>in</strong> sehr sensible und<br />

fe<strong>in</strong>fühlige Explikation e<strong>in</strong>es bestimmten Jesusbildes.<br />

Insofern könnte der Titel auch lauten<br />

„Jesus von Joseph Ratz<strong>in</strong>ger“. Dies weiß er<br />

auch. Die durch die historisch-kritische Jesusforschung<br />

entstandene Situation hält er für<br />

„dramatisch für den Glauben, weil se<strong>in</strong> eigentlicher<br />

Bezugspunkt unsicher wird“. Er betont<br />

ausdrücklich, dass se<strong>in</strong>e Darstellung ke<strong>in</strong> „lehramtlicher<br />

Akt ist“ und stellt es „jedermann frei,<br />

mir zu widersprechen“, und bittet „die Leser<strong>in</strong>nen<br />

und Leser nur um jenen Vorschuss an<br />

Sympathie, ohne den es ke<strong>in</strong> verstehen gibt.“<br />

Nach diesen Vorreden des Verfassers muss der<br />

Rezensent feststellen, das Buch zeugt nicht nur<br />

von Belesenheit, sondern enthält e<strong>in</strong>e Fülle<br />

meditativer Passagen, die des Nachdenkens<br />

bzw. des <strong>in</strong>neren Nachvollziehens wert s<strong>in</strong>d.<br />

Dazu tragen auch se<strong>in</strong>e bildhafte Sprache und<br />

der oft predigtartige Stil bei, der oft den E<strong>in</strong>druck<br />

erweckt, als lese man für diese Gesamtdarstellung<br />

bearbeitete Predigten.<br />

Der Wert dieser spirituellen Aussagen muss<br />

aber auch an Ratz<strong>in</strong>gers eigener Vorgabe<br />

gemessen werden: „Wenn wir diese Geschichte<br />

wegschieben, wird der christliche Glaube als<br />

solcher aufgehoben“. E<strong>in</strong>e Hauptproblematik<br />

se<strong>in</strong>es geschichtswissenschaftlich nicht verifizierbaren<br />

Jesusbildes besteht dar<strong>in</strong>, dass er zwischen<br />

Jesu eigener Botschaft und der kirchlichen<br />

Botschaft von Jesus unterscheidet, sondern die<br />

Verkündigung Jesu immer wieder vom Bekennt-


nis der frühen Kirche her <strong>in</strong>terpretiert. Damit<br />

wird es fast unvermeidlich, dass er Jesus vom<br />

Judentum abhebt, ob es um die Charakterisierung<br />

der Pharisäer geht oder die Bezeichnung<br />

der Bergpredigt als „neue Tora“, die aus Jesu<br />

„E<strong>in</strong>tauchen <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>schaft mit dem Vater“<br />

kommt, während Mose „se<strong>in</strong>e Tora nur aus dem<br />

E<strong>in</strong>tauchen <strong>in</strong> das Gottesdunkel des Berges“<br />

br<strong>in</strong>gen konnte. Von dem amerikanischen<br />

Rabb<strong>in</strong>er Jacob Neusner übernimmt er die<br />

Sicht der Unvere<strong>in</strong>barkeit der Botschaft Jesu<br />

mit dem Judentum, wofür dieser ihm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Rezension <strong>in</strong> der Jerusalem Post auch volle<br />

Zustimmung zollt. Dass er die Qumranfrömmigkeit<br />

nicht aus eigenem Quellenstudium kennt,<br />

ist ihm nicht anzulasten; dann sollte er aber mit<br />

darauf bezogenen Urteilen vorsichtiger se<strong>in</strong>.<br />

S<strong>in</strong>n und Intention des Vater Unsers deutet er<br />

von mönchischer Gebetspraxis her, warum nicht<br />

vor allem aus dem zeitgenössischen jüdischen<br />

Kontext, warum nicht von jüdischen Gebeten<br />

her, <strong>in</strong> denen Gott als „unser Vater“ angerufen<br />

wird? Dass die Jünger Jesu „gleichsam im<br />

Gebet gezeugt“ wurden, kann er nur aufgrund<br />

symbolischer Deutung des Berges sagen.<br />

Es bleibt, wie anfangs gesagt, e<strong>in</strong> gemischtes<br />

Gefühl. Als Andachtsbuch s<strong>in</strong>d viele Passagen<br />

durchaus wertvoll, als geschichtlich verlässliche<br />

Auskunft über Jesus dagegen nicht.<br />

Dr. Hans Maaß<br />

Mart<strong>in</strong> Koschorke<br />

JESUS WAR NIE IN BETHLEHEM<br />

140 S., geb., Wissenschaftliche Buchgesellschaft,<br />

Darmstadt 2007. ISBN 978-3-534-20488-5<br />

Das Buch ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er oft saloppen Sprache und<br />

h<strong>in</strong>sichtlich des Aufbaus <strong>in</strong> journalistischem Stil<br />

geschrieben, den man bei e<strong>in</strong>er Veröffentlichung<br />

der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft so nicht<br />

erwarten würde. Die Argumentation verläuft oft<br />

nicht l<strong>in</strong>ear str<strong>in</strong>gent, sondern konzentrisch.<br />

Neben teilweise eigenwilligen Übersetzungen<br />

stehen psychologisierende Deutungen sowie<br />

gewaltsame Modernisierungsversuche und<br />

Anachronismen (etwa die Bezeichnung der<br />

Schriftgelehrten <strong>in</strong> Mk 3 als die „zuständigen<br />

psychiatrischen Fachautoritäten“, die Jesus<br />

kritisieren, weil er „nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Studienabschluss“<br />

hatte! Der reiche Kornbauer aus<br />

Lk 12 wird zu „e<strong>in</strong>em Unternehmer, der <strong>in</strong> der<br />

Computerbranche tätig war“). Vieles ist zu undifferenziert<br />

und unpräzise dargestellt, anderes<br />

falsch oder zum<strong>in</strong>dest fragwürdig (etwa die<br />

Menschensohn-Worte oder die Behauptung,<br />

vorehelicher Geschlechtsverkehr sei damals e<strong>in</strong>e<br />

„Straftat“ gewesen; auch hat Jesus wohl nicht<br />

e<strong>in</strong>e neue Zeit, sondern das Ende der Zeit angekündigt;<br />

außerdem gab es nie e<strong>in</strong> „judäischgaliläisches<br />

Bergland“; Judäa und Galiläa liegen<br />

bis heute geografisch weit ause<strong>in</strong>ander und gehörten<br />

damals zu unterschiedlichen politischen<br />

E<strong>in</strong>heiten).<br />

Grundsätzlich richtige Überlegungen zur Machtproblematik<br />

schlagen <strong>in</strong> Judenfe<strong>in</strong>dlichkeit um,<br />

wenn Koschorke (se<strong>in</strong>en eigenen?) modernen<br />

Kirchenfrust Jesus unterstellt und nicht bedenkt,<br />

dass das Diskutieren über die richtige<br />

Deutung und Umsetzung uralter biblischer<br />

Gebote zum Wesen des Judentums zu aller Zeit<br />

gehört und nichts mit Konflikt und Konfrontation<br />

zu tun hat.<br />

Als Beispiel e<strong>in</strong>er solchen hanebüchenen Vermischung<br />

von Anachronismus und historisch<br />

sachlichem Fehlurteil seien e<strong>in</strong>ige Sätze aus dem<br />

Kapitel mit dem nicht weniger fragwürdigen<br />

Titel „Das System kriegt Angst“ zitiert: „Die<br />

Kirche br<strong>in</strong>gt Jesus um. Warum? Warum muss<br />

Jesus sterben? Er tastet das Sabbatgebot nicht<br />

an. Im Gegenteil, er erfüllt es. Er erfüllt es<br />

wieder mit S<strong>in</strong>n. Er gibt ihm se<strong>in</strong>e ursprüngliche<br />

Bedeutung zurück, die e<strong>in</strong>er göttlichen Gabe<br />

an die Menschen.“ Damit wird unterstellt, das<br />

Judentum se<strong>in</strong>er Zeit habe den Sabbat s<strong>in</strong>nlos<br />

e<strong>in</strong>gehalten. Er verkennt, dass es bei Jesu<br />

Diskussion mit den Gelehrten um die Frage<br />

geht, wie dieser geme<strong>in</strong>sam anerkannte S<strong>in</strong>n am<br />

besten erfüllt wird, und nicht darum, dass er<br />

ihn der „Verfügungsgewalt der Traditionshüter“<br />

entreißt und wegen dieser Kompromisslosigkeit<br />

„mit se<strong>in</strong>em Leben bezahlen“ muss<br />

wie „viele nach ihm, die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Namen<br />

erstarrte kirchliche Überlieferung <strong>in</strong> Frage<br />

stellen.“ Dieses Beispiel mag für viele stehen.<br />

Ach so, was hat dies mit der Frage zu tun, ob<br />

Jesus jemals <strong>in</strong> Bethlehem war? Gar nichts! Der<br />

Titel soll nur Aufmerksamkeit erregen. Auf<br />

diese Frage geht er nur an wenigen Stellen e<strong>in</strong>,<br />

ohne sie aber gründlich zu diskutieren. Schon<br />

gar nicht bedenkt er, dass die Frage, ob Jesus <strong>in</strong><br />

Bethlehem geboren wurde, nichts mit der<br />

Frage zu tun hat, ob er jemals dort war.<br />

Dr. Hans Maaß<br />

39


Bill T. Arnold u.a.<br />

STUDIENBUCH ALTES UND<br />

NEUES TESTAMENT<br />

geb., 944 S., R. Brockhaus Verlag, Wuppertal<br />

2005, ISBN 3-417-24928-7<br />

„So macht das Bibelstudium richtig Spaß!“<br />

beansprucht auf der Rückseite des E<strong>in</strong>bandes<br />

das umfangreiche Werk, das außer dem zuerst<br />

genannten Autor Bryan E. Beyer, Walter E.<br />

Elwell und Robert W. Yarbrough, samt und<br />

sonders Lehrer an US-Hochschulen, erarbeiteten.<br />

Es ist die Zusammenfassung der bereits 2001 erschienenen<br />

Teilbände <strong>in</strong> deutscher Übersetzung.<br />

Als Zielgruppe haben sich die Herausgeber<br />

„Bibelschulanfänger vorgestellt“. Damit ist die<br />

geistliche Prägung klar umrissen. E<strong>in</strong>e Charakterisierung<br />

des Buches ist nicht e<strong>in</strong>fach, denn es<br />

vere<strong>in</strong>igt unterschiedlichste Elemente <strong>in</strong> sich.<br />

E<strong>in</strong>erseits wird z.B. klar herausgestellt, dass der<br />

biblische Kanon Ergebnis e<strong>in</strong>es Entscheidungsprozesses<br />

der frühen Kirche ist, andererseits<br />

wird er als das bezeichnet, „was <strong>in</strong> der Bibel<br />

gefordert wurde“ – e<strong>in</strong>e verkürzte Sicht <strong>in</strong><br />

doppelter H<strong>in</strong>sicht; denn weder besteht die<br />

Bibel nur aus „Forderungen“ noch s<strong>in</strong>d diese<br />

e<strong>in</strong>heitlich. Die altkirchlichen Kriterien für die<br />

Kanonizität e<strong>in</strong>er Schrift werden modifiziert<br />

und unkritisch wiedergegeben. Wer stellt etwa<br />

fest, ob e<strong>in</strong>e Schrift „für alle Menschen zu allen<br />

Zeiten geschrieben“ ist? Und wenn es so wäre,<br />

litte dann nicht ihre Unmittelbarkeit unter<br />

e<strong>in</strong>er abstrakten Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit? Daher<br />

werden z.B. Listen <strong>in</strong> den Mosebüchern übergangen<br />

und herausgegriffen, was den Autoren<br />

von überzeitlicher Bedeutung zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t.<br />

Andererseits schrecken sie nicht vor merkwürdigen<br />

apologetischen Erklärungen zurück,<br />

etwa wenn sie mit Recht feststellen, dass die<br />

Zahlenangaben über die Größe Israels bei<br />

Exodus und Wüstenzug e<strong>in</strong>e absolute Übervölkerung<br />

zum Ausdruck brächten. Ihre Lösung:<br />

die Angaben s<strong>in</strong>d nicht als Zahlen zu verstehen,<br />

sondern als Bezeichnungen für „soziale . . .<br />

oder militärische E<strong>in</strong>heiten“ ohne Aussage über<br />

deren tatsächliche Größe. Die hohen Lebensalter<br />

der Generationen vor der S<strong>in</strong>tflut erklären<br />

sie damit, „dass die Auswirkung der Sünde erst<br />

allmählich zunahm“. Dass damit aber die<br />

Begründung der S<strong>in</strong>tflut h<strong>in</strong>fällig wird, nehmen<br />

sie ebenso wenig wahr wie die Tatsache, dass<br />

das Stichwort „Sünde“ <strong>in</strong> dem Kapitel über den<br />

40<br />

angeblichen „Sündenfall“ gar nicht vorkommt.<br />

Bedenklich ist auch, dass <strong>in</strong> vielen als Sachartikel<br />

aufgenommenen Fremdtexten (etwa<br />

zum Ursprung des Bösen) biblische Aussagen<br />

harmonisiert und daher ihrer eigentlichen Spitze<br />

beraubt werden. Dies hängt mit ihren Kriterien<br />

der Kanonizität zusammen.<br />

Dem konservativ-biblizistischen Ansatz entspricht<br />

auch der Umgang mit literarkritischen<br />

und überlieferungsgeschichtlichen Fragen. So<br />

ist es erfreulich, dass z.B. die Frage nach der<br />

E<strong>in</strong>heitlichkeit des Jesajabuches gestellt und <strong>in</strong><br />

ihren Grundzügen richtig dargestellt wird, auch<br />

wenn die Autoren dann doch zu dem Ergebnis<br />

kommen, dass e<strong>in</strong>iges für die These spreche,<br />

das ganze Buch stamme von Jesaja selbst.<br />

Damit wird Prophetie <strong>in</strong> den Bereich der Hellseherei<br />

gerückt. Bei den Gottesknechtsliedern<br />

werden zwar verschiedene Deutungen vorgestellt,<br />

aber die christologisch-messianische<br />

Deutung aufgrund der neutestamentlichen<br />

Rezeption für „zw<strong>in</strong>gend“ gehalten.<br />

Bei diesen für das Werk charakteristischen Beispielen<br />

für das Alte Testament muss es aus<br />

Platzgründen bleiben, damit auch das Positive<br />

noch zu Wort kommt. Grundsätzlich gut ist<br />

zwar die Tatsache, dass Arbeitsaufträge zur<br />

Erschließung biblischer Texte dienen sollen<br />

(Auflösungen im Anhang). Viele s<strong>in</strong>d jedoch<br />

suggestiv gestellt. Hervorragend s<strong>in</strong>d dagegen<br />

die vielen Wiedergaben historischer Stätten<br />

und Funde sowie zeitgenössischer Lebensverhältnisse<br />

sowie der Abdruck historischer Textdokumente.<br />

Entsprechendes gilt für das Neue Testament.<br />

Besonders gut wiedergegeben ist etwa die Tafel,<br />

die Unbefugten das Betreten des Jerusalemer<br />

Tempels untersagte. Rätselhaft bleibt allerd<strong>in</strong>gs,<br />

warum für die Taufstelle des Johannes e<strong>in</strong> derart<br />

idyllischer Bildausschnitt gewählt wurde,<br />

der nichts vom „Jordan <strong>in</strong> der Wüste“ erkennen<br />

lässt.<br />

Der eigentlichen Darstellung der Botschaft<br />

Jesu und der Besprechung neutestamentlicher<br />

Schriften wird e<strong>in</strong> Kapitel „Der Vordere Orient<br />

zur Zeit Jesu“ vorangestellt. Soweit es sich um<br />

historische Fakten handelt, trifft die Darstellung<br />

zu, der Abschnitt „Der jüdische Glaube<br />

zur Zeit Jesu“ enthält jedoch unzutreffende<br />

tendenziöse Feststellungen, etwa wenn es heißt,<br />

dass „Jesus für die geistlichen Führer e<strong>in</strong>e Bedrohung<br />

darstellte“, weil er e<strong>in</strong>e abweichende


Lebensweise praktizierte. Denn für alle <strong>in</strong> den<br />

Evangelien genannten Streitfragen lässt sich aus<br />

dem Talmud nachweisen, dass noch Jahrhunderte<br />

danach <strong>in</strong>nerhalb des Judentums<br />

darüber diskutiert bzw. dieselbe Position wie von<br />

Jesus vertreten wurde. Solche Unterstellungen<br />

schüren den uralten Vorwurf jüdischer Schuld<br />

am Tod Jesu. Entsprechend heißt es dann auch,<br />

Judas habe „mit den religiösen Führern bereits<br />

e<strong>in</strong> Komplott gegen Jesus geschmiedet.“ Dies<br />

geht noch über die Darstellung der Evangelien<br />

h<strong>in</strong>aus, statt die judenfe<strong>in</strong>dlichen Tendenzen <strong>in</strong><br />

ihnen zu korrigieren. Dies kann aufgrund der<br />

theologischen Forschung der Nachkriegszeit<br />

nicht mehr vertreten werden.<br />

Überhaupt zeigen die Autoren e<strong>in</strong>en merkwürdigen<br />

Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen.<br />

Aus der formgeschichtlichen E<strong>in</strong>sicht,<br />

dass die Form der Überlieferungen der<br />

Verkündigungssituation entspreche, wird gefolgert,<br />

dass Jesus selbst verschiedene Akzente<br />

setzte. So werden aus synoptischen Varianten<br />

additive Variationen. Die geme<strong>in</strong>same Akzeptanz<br />

des Alten Testaments wird vorausgesetzt,<br />

christliche theologische Interpretationen als<br />

Jesu Korrektur dessen verstanden, „was über<br />

die Jahre an Missverständnissen aufgekommen<br />

war.“ Verräterisch ist auch, dass unter der Überschrift<br />

von Jesu Botschaft im Text von „der<br />

Lehre“ <strong>in</strong> „Bezug zu se<strong>in</strong>er eigenen Person“ die<br />

Rede ist. Die Autoren haben offensichtlich<br />

gespürt, dass es sich dabei nicht mehr um<br />

Botschaft, sondern um Lehre handelt, wollen<br />

diese aber nicht der Geme<strong>in</strong>de zugestehen,<br />

sondern für Jesus selbst e<strong>in</strong>fordern. Dies wird<br />

dann konsequent z.B. im Blick auf „die Rolle<br />

Jesu im Reich Gottes“ durchgeführt. Dass ausgerechnet<br />

e<strong>in</strong> Text aus dem 1. Clemensbrief,<br />

e<strong>in</strong>em Dokument der römischen Geme<strong>in</strong>de aus<br />

e<strong>in</strong>deutig nachapostolischer Zeit, mit kynischstoischer<br />

Morallehre als „Die Ethik Jesu auf<br />

den Punkt gebracht“ angeführt wird, kann<br />

nur Kopfschütteln erzeugen, ebenso dass das<br />

Nicänische Glaubensbekenntnis als „Lehre Jesu“<br />

und nicht als Bekenntnis zu Jesus bezeichnet<br />

wird. Abenteuerlich ist die Hermeneutik der<br />

Autoren, dass „das Neue Testament die<br />

Geschichte von Jesus so erzählen will, wie sie<br />

(im Alten Testament) vorausgesagt wurde.“<br />

Damit wird e<strong>in</strong> erwünschtes Ergebnis bereits<br />

als Voraussetzung vorweggenommen! Was die<br />

Abbildung e<strong>in</strong>er Archäolog<strong>in</strong> bei der Freilegung<br />

e<strong>in</strong>es römischen Säulenkapitells zur<br />

Erforschung des Neuen Testaments beitragen<br />

soll, bleibt ebenso rätselhaft wie die Abbildung<br />

der Kapelle auf dem „Berg der Seligpreisungen“,<br />

die Mussol<strong>in</strong>i zur Ehre des italienischen Volkes<br />

erbauen ließ. Mehr ist über die Evangelien<br />

nicht zu erfahren. Statt ihre theologische Sicht<br />

des Lebens und Wirkens Jesu als christliche<br />

Glaubenszeugnisse darzustellen, beschäftigt man<br />

sich apologetisch mit Konzepten moderner<br />

Theologie.<br />

Ach so! Wussten Sie schon, dass Paulus auch<br />

etwas zum Umweltschutz gesagt hatte, zu<br />

Treibhauseffekt, Müllbergen, Ozonloch usw.?<br />

Ich auch nicht. Ich weiß es immer noch nicht,<br />

obwohl ich den entsprechenden Abschnitt<br />

mehrmals gelesen habe. Dass die Schöpfung<br />

Gott gehört, dass wir sie nicht anbeten sollen<br />

und die Art, wie wir mit ihr umgehen, etwas<br />

über unser Verhältnis zu Gott aussagt, weiß ich<br />

allerd<strong>in</strong>gs bereits aus dem Alten Testament! E<strong>in</strong><br />

„regelmäßiges Gebet zu Umweltthemen“ kann<br />

auch etwas Gefährliches se<strong>in</strong>, wenn es nämlich<br />

umweltgemäßes Handeln ersetzt.<br />

Dr. Hans Maaß<br />

INHALT<br />

Hartmut Rupp Wahrnehmen, erklären, deuten, erschließen –<br />

Kirchenpädagogik heute 1<br />

Claus Günzler Zeiterfahrung und Persönlichkeitsbildung<br />

– Das schnelle Leben und se<strong>in</strong>e Paradoxien – 11<br />

Lutz Mauermann E-Learn<strong>in</strong>g – Veränderte Lernbed<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>in</strong> der Mediengesellschaft 24<br />

Buchbesprechungen 33


Der Bezug der Zeitschrift Beiträge Pädagogischer Arbeit ist kostenlos. Sie ist e<strong>in</strong>e<br />

Gabe an die Freunde unserer Arbeit und wird durch Spenden f<strong>in</strong>anziert, auf die<br />

wir zur Sicherstellung des Ersche<strong>in</strong>ens dr<strong>in</strong>gend angewiesen s<strong>in</strong>d.<br />

Wir danken allen, die unsere Arbeit mittragen und durch ihre Spenden mithelfen,<br />

Druck und Versand der Zeitschrift zu ermöglichen. Seit e<strong>in</strong>igen Jahren kamen<br />

noch Personalkosten h<strong>in</strong>zu.<br />

Um unsere Arbeit nicht e<strong>in</strong>schränken zu müssen, s<strong>in</strong>d wir allerd<strong>in</strong>gs auf höhere<br />

Spendene<strong>in</strong>nahmen angewiesen. Erstmals lagen diese Spenden im Jahr 2003<br />

unter unseren Selbstkosten! Damit ist unsere Arbeit mittelfristig gefährdet.<br />

Wir bitten daher alle Empfänger unserer Zeitschrift um Überprüfung, ob sie ihren bisherigen<br />

Spendenbeitrag erhöhen oder sich neu unter die Spender e<strong>in</strong>reihen können.<br />

Der Fördervere<strong>in</strong> ist steuerlich als geme<strong>in</strong>nützig anerkannt. Der beiliegende Überweisungsträger<br />

erleichtert Ihnen die Zahlung und gilt für Spendenbeträge bis<br />

100,00 p als Beleg zur Vorlage beim F<strong>in</strong>anzamt. Für höhere Spenden wird durch<br />

die Geschäftsstelle e<strong>in</strong>e Spendenbesche<strong>in</strong>igung ausgestellt. Helfen Sie uns bitte,<br />

unsere Arbeit <strong>in</strong> gewohnter Weise fortzusetzen.<br />

BEITRÄGE PÄDAGOGISCHER ARBEIT ISSN 0005 - 8157<br />

Herausgeber: Geme<strong>in</strong>schaft <strong>Evangelische</strong>r Erzieher <strong>in</strong> <strong>Baden</strong>,<br />

Leitender Arbeitskreis:<br />

Christiane Eilers, Lehrer<strong>in</strong>, 79110 Freiburg<br />

Prof. Dr. Peter Müller, 76332 Bad Herrenalb<br />

Rosemarie H<strong>in</strong>derer, Sonderschullehrer<strong>in</strong>, 70563 Stuttgart<br />

Manfred Kuhn, Kirchenrat, 69151 Neckergemünd<br />

Dr. Hans Maaß, Kirchenrat i. R., 76187 Karlsruhe<br />

He<strong>in</strong>z Mitschele, Lehrer, 77886 Lauf (stellvertr. Sprecher der GEE)<br />

Esther Richter, Rektor<strong>in</strong>, 75059 Zaisenhausen<br />

Thomas Schwarz, Schuldekan, Karlsbad<br />

Renate Süß, SAD’<strong>in</strong>, 76297 Stutensee, (Sprecher<strong>in</strong> der GEE)<br />

Schriftleiter: Kirchenrat i. R. Dr. Hans Maaß<br />

Hertzstraße 180 a, 76187 Karlsruhe, Telefon: 0721/ 751357<br />

Zuschriften und Anfragen an die Geschäftsstelle der GEE,<br />

Postfach 22 69, 76010 Karlsruhe, Telefon: 0721/ 9175 - 410, Fax: 0721/ 9175 - 559,<br />

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Ersche<strong>in</strong>ungsweise: jährlich 4 <strong>Heft</strong>e; H<strong>in</strong>weise auf Tagungen usw. sowie Überweisungsträger<br />

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BLZ 520 604 10.<br />

Herstellung:<br />

Mediengestaltung und Hausdruckerei im <strong>Evangelische</strong>n Oberkirchenrat<br />

Mitarbeiter<br />

dieses <strong>Heft</strong>es: Prof. Dr. Hartmut Rupp, Spessartstraße 7, 68753 Waghäusel-Kirrlach<br />

Prof. Dr. Claus Günzler, Freiburger Straße 7 A, 76337 Waldbronn<br />

Dr. Lutz Mauermann, Schlesierstraße 19, 86343 Königsbrunn

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