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Vortrag von Lutz Niethammer - Kulturen

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<strong>Lutz</strong> <strong>Niethammer</strong><br />

Erfahrungsgeschichtliche Erwägungen<br />

zur Konstruktion Europas<br />

Antrittsvorlesung an der Universität Wien am 7. Oktober 2008<br />

Franz Vranitzky Chair for European Studies<br />

Magnifizenz, Herr Vorsitzender, Frau Dekanin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,<br />

liebe Studierende, meine Damen und Herren, sehr verehrter Herr Altbundeskanzler<br />

Vranitzky,<br />

seit 35 Jahren bin ich nun Professor und vieles an dieser Berufserfahrung habe ich als<br />

Geschenk erfahren. Dass ich schon mit jungen Jahren einen Lehrstuhl bekam, dass ich viele<br />

Forschungsteams anleiten konnte, dass mir im größeren Teil dieser Zeit auch akademische<br />

Leitungsaufgaben <strong>von</strong> der Fachgruppen- bis zur Rektoratsebene und bis zur Gründung eines<br />

Advanced Study Instituts anvertraut wurden, dass ich bisher in acht Staaten Europas bei<br />

Fellowships oder Gastprofessuren meinen Gesichtskreis erweitern konnte, dass ich nicht nur<br />

Studenten beraten durfte (was mir ohnehin das liebste an meinem Beruf ist), sondern auch<br />

gelegentlich Regierungen, Kultureinrichtungen und neuerdings sogar Unternehmen. Und als<br />

ein besonderes Geschenk empfand ich die Überwindung des Kalten Krieges und die innere<br />

Öffnung Europas und Deutschlands und dass ich in meinem Bereich an ihr mitwirken durfte.<br />

Aber jetzt geschieht mir etwas Neues, was ich als eine besondere Ehre empfinde, nämlich<br />

dass ich selbst als Geschenk fungiere darf, besser als Teil eines Geschenkpakets einer<br />

wirtschaftlichen Sponsorengruppe an den letzten großen Bundeskanzler Österreichs aus<br />

Anlass seines 70. Geburtstages und mithin auch als Teil eines Geschenks an diese Universität<br />

und ihre Studenten. Und etwas schöneres und zugleich herausfordernderes kann sich ein<br />

alter Professor eigentlich kaum vorstellen, als dass dieses Geschenk eines named chair for<br />

European Studies auch dem Namenspatron angemessen ist, der sein Land aus den<br />

Peinlichkeiten der Ära Waldheim heraus und mit überzeugender Würde und Mehrheit in die<br />

Europäische Integration hineingeführt hat, ein international und kulturell umsichtiger<br />

Wirtschafts- und Sozialpolitiker, der Österreich zu modernisieren und seiner geschichtlichen<br />

Besinnung den Beistand der Regierung zu verleihen verstand und der als ein<br />

sozialdemokratischer Politiker und Bankier mit Prinzipien und ohne Pleiten in Erinnerung<br />

geblieben ist. Er hat jüngst seine Nachfolger in der SPÖ vor der populistischen Anbiederung<br />

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an den nationalistischen Sumpf in Teilen der Publizistik und der Parteien beim Spiel mit der<br />

Europapolitik gewarnt und er hat vor zehn Tagen leider wieder einmal recht behalten.<br />

Und damit wäre ich nun eigentlich beim Thema. Aber ich will es nicht mit Blick auf diese<br />

Aktualität politikwissenschaftlich traktieren, zumal ich kein Politologe bin und es mir auch<br />

als Auswärtigem nicht ansteht, die österreichische Binnenpolitik zu kommentieren. Vielmehr<br />

will ich dem Krisenthema Europa und Nation eine historisch längerfristig angelegte<br />

Betrachtung widmen. Denn das österreichische Schlamassel ist ja nur eines unter vielen.<br />

Zugleich möchte ich mit dieser Betrachtung auch einen Rahmen für die beiden<br />

Lehrveranstaltungen skizzieren, die ich in diesem und dem folgenden Semester im Rahmen<br />

des „Franz-Vranitzky-Lehrstuhls für Europäische Studien“ anbieten will: nämlich einmal<br />

(und das zum ersten Mal im Master-Studiengang European Studies) ein historischsozialwissenschaftliches<br />

Forschungsseminar zur Erfahrungsgeschichte, genauer zu den<br />

nationalen Erfahrungsräumen und europäischen Erwartungshorizonten derzeit<br />

fortgeschrittener Studenten, stellvertretend für die kommende Generation Europas. Und<br />

zum zweiten eine Vorlesung in der Geschichte, die Oliver Rathkolb und ich gemeinsam für<br />

zwei Semester angelegt haben, über „Schlüsselbegriffe des 20. Jahrhunderts“. Sie soll – und<br />

das nicht nur für angehende Zeithistoriker – eine doppelte Orientierungsfunktion<br />

entwickeln: auf der einen Seite wollen wir begriffliche Schneisen durch die europäische<br />

Geschichte des letzten Jahrhunderts schlagen und damit Überblicke und Zusammenhänge<br />

einer Periode eröffnen, die sowohl die schlimmsten Erschütterungen und Katastrophen der<br />

Zivilisationsgeschichte überhaupt als auch einige der besonders zukunftsträchtigen Projekte<br />

eines solidarischen Zusammenlebens in Frieden und Freiheit erfahrbar gemacht hat.<br />

Orientierung soll diese Vorlesung darüber hinaus aber noch in einem anderen Sinn geben: sie<br />

wird keine begriffliche Dogmatik entfalten, sondern begriffsgeschichtlich der Entstehung und<br />

dem semantischen Wandel dieser Leitinstrumente unseres sozialen und politischen Denkens,<br />

dem was sie je und je fassen und aufschließen konnten und auch dem, was sie verbergen und<br />

der Debatte entziehen sollten, nachspüren. Unsere Erfahrungsbestände müssen durch den<br />

Filter einer historischen Reflexion unserer Verständigungskategorien hindurch, wenn aus<br />

ihnen sinnvolle Erwägungen über künftige Orientierungs- und Handlungsoptionen werden<br />

sollen.<br />

A Krise und Kritik der Konstruktion Europas<br />

Annäherung an die europäische Krise<br />

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Europa hat die Krise, wieder mal. Zuletzt wurde sie dadurch sichtbar, dass ein komplizierter<br />

multilateraler Staatsvertrag nach der Osterweiterung <strong>von</strong> NATO und EU im Kern die<br />

Einflussmacht <strong>von</strong> mittlerweile 27 nationalen Regierungen auf die europäische Integration<br />

neu bestimmen sollte, dass diese prosaische Aufgabe unter der pathetischen Formel einer<br />

europäischen Verfassung versteckt wurde und dass der Fake <strong>von</strong> Nizza prompt in zwei der<br />

traditionell am engsten mit dem politischen Projekt Europa verbundenen Nationalstaaten,<br />

Frankreich und Holland, in Referenden niedergestimmt wurde. Daraufhin wurde unter<br />

österreichischer Führung die europäische Verfassung wieder dekonstruiert, um<br />

Nachbesserungswünsche Italiens und Polens zusätzlich kompliziert und so vertrickst, dass<br />

fast keine Volksabstimmung zur Ratifizierung mehr notwendig war und also alles in<br />

trockenen Tüchern schien – ja, bis auf ein kleines gälisches Dorf, das sich gegen die ganze<br />

Folgewalze der Römischen Verträge auflehnte und erneut den Übergang zu einer halbwegs<br />

arbeitsfähigen Brüsseler Struktur aufhielt. Das ermunterte vielerorts nationale Populisten,<br />

nunmehr <strong>von</strong> der EU jene Demokratie einzuklagen, die sie eigentlich gar nicht mögen,<br />

weshalb sie das Ganze mit viel xenophoben Kraftausdrücken garnieren mussten. Die<br />

europäische Integration bockt wieder einmal an der Hürde zur Justierung des Verhältnisses<br />

zwischen den Nationalstaaten und ihrem kontinentalen Vereinigungswerk.<br />

Blickt man auf die fünf oder sechs Jahrzehnte europäischer Integration seit den römischen<br />

Verträgen 1957 bzw. dem Marshallplan 1947 zurück, so ist das allerdings nichts Neues,<br />

sondern die bewährte Sollbruchstelle in einem der weltweit vielversprechendsten und<br />

zugleich auf denkbar unsystematische Weise vorankommenden politischen Projekte unserer<br />

Zeit, das man deshalb nur historisch verstehen kann. Dieses wiederkehrende Thema kann<br />

man am besten anhand eines Leitmotivs verstehen, das der britische Europa-Historiker Alan<br />

Milward aus der Gründungsphase der europäischen Integration in der Nachkriegszeit im<br />

Zuge der Zuspitzung des Kalten Krieges herauspräpariert hat: ihre Motive wurzeln in der<br />

Erfahrung der Krisen und Kriege des Nationalismus und Imperialismus Europas, deren<br />

innere Zerstörungspotentiale durch die Bildung einer kontinentweiten Gemeinwohlsphäre<br />

überwunden werden sollte, die primär zur Überwindung der extremen Not und der<br />

zerrütteten internationalen Arbeitsteilung nach dem Zweiten Weltkrieg dienen, aber auch<br />

den Bedürfnissen der Moderne nach großräumigen Strukturen der Produktion, der<br />

Vermarktung und überhaupt des Austauschs gerecht werden sollten. In der Nachkriegskrise<br />

waren die Nationalstaaten (oder was <strong>von</strong> ihnen noch übrig war oder gerade wieder irgendwie<br />

auf die Beine kam) <strong>von</strong> Aufgaben solcher Größenordnung völlig überfordert und ihre<br />

Repräsentanten griffen nach dieser transzendierenden Perspektive wie nach einem<br />

Rettungsring. Aber als ihre Realisierung mithilfe der USA, die dem alten Kontinent die<br />

speziellere Aussicht eines Juniorpartner als „United States of Europe“ eröffnen wollten, im<br />

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Rahmen <strong>von</strong> Marshallplan und OEEC, NATO, Europarat und Gemeinschaft für Kohle und<br />

Stahl begann, ließ der Leidensdruck der Nationalstaaten nach, sie begannen sich zu<br />

konsolidieren und der föderalistische Impuls verblasste hinter der Restauration nationaler<br />

politischer <strong>Kulturen</strong> und ihren ererbten, oftmals imperialen Problemen.<br />

Dennoch hat der Integrationsprozess nicht aufgehört, sondern hat sich in neuen Krisen,<br />

neuen inter-, trans- und supranationalen Lösungsstufen und dialektischen Entlastungen und<br />

Konsolidierungen der nationalen Strukturen in immer neuen Partnerkonstellationen<br />

fortgesetzt, so dass am Ende jedes Problem des alten Kontinents eine andere Geografie und<br />

institutionelle Hülle seiner tentativen Lösung bekam: die NATO und die EWG, Schengen<br />

oder der EURO usw. Und dazwischen wurden über die Jahrzehnte immer wieder<br />

Konsolidierungsversuche dieses ebenso flexiblen wie unsystematischen<br />

Integrationswachstums unternommen, die oft auf den ersten Blick so aussahen, als zielten sie<br />

auf einen kontinentalen Bundesstaat. In Wahrheit waren sie zumindest seit dem coup des<br />

états 1976 aber im Ergebnis immer so konstruiert, dass trotz Gerichtshof, Kommission und<br />

Parlament der Europäische Rat, d. h. die Chefs und Regierungsvertreter der Nationalstaaten,<br />

als staatenbündische Grundlage der ganzen Veranstaltung das Sagen behielt. Das war auch<br />

die Voraussetzung der Lösungsmöglichkeit der letzten großen Herausforderung, der weithin<br />

als alternativlos empfundenen Ost-Erweiterung um jene Staaten, die gerade erst ihre<br />

nationale Freiheit aus dem sowjetischen Imperium gewonnen hatten. Sie wollten nicht in ein<br />

neues unentrinnbares, übermächtiges Bündnis und doch drängte sie ihr Schutzbedürfnis,<br />

ihre Aufbau- und Austauschinteressen und oft auch die traditionelle Orientierung ihrer<br />

Nationalkultur zurück nach (West)-Europa. Die Westeuropäer hatten sich ab kurz vor dem<br />

Abtritt der Sowjetunion eine Vertiefung der westeuropäischen Integration vorgenommen.<br />

Der Slogan der 90er Jahre, Erweiterung und Vertiefung, sollte sich als Illusion der<br />

Jahrhundertwende herausstellen, die sich im Fake einer Europäischen Verfassung und dem<br />

Vertrag <strong>von</strong> Nizza ausformte, und alsbald der Konsolidierung der neuen Nationalstaaten<br />

anheimfiel. Mit dem Vertrag <strong>von</strong> Lissabon hat sich diese Illusion verzogen und mit dem<br />

irischen Nein steht auch diese Desillusionierung noch zur Nachbesserung an.<br />

Nach dem dialektischen Leitmotiv der europäischen Integration sind wir derzeit im Rezitativ<br />

nationaler Restauration, bis zur nächsten Herausforderung, sei es nun durch einen<br />

wachsenden overspill der amerikanischen Finanzkrise, eine Krise um die Ukraine oder den<br />

Iran oder was auch immer – im Zuge der Ausbildung einer multipolaren und risikoreichen<br />

Welt wird es an Herausforderungen nicht fehlen. In der nationalen Gegenbewegung<br />

vermischen sich Protest gegen undurchschaubare Übermacht mit xenophober Abwehr,<br />

romantische Sinnsuche und die Benutzung Europas als Ersatzschlachtfeld gerade auch im<br />

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Kampf gegen versteinerte Herrschaftsverhältnisse in der Nation. Hier hat man noch die<br />

sichtbare Macht des Protests und durch die verweigerte Zustimmung auf nationaler Ebene<br />

wird die größere Maschine aufgehalten. Denn in Bezug auf Europa weiß der einzelne nicht,<br />

ob die Prozesse über ihn hinweg gehen oder ob seine Stimme noch etwas bewirkt. Nur bis zur<br />

nationalen Ebene reicht bei den meisten die Erfahrbarkeit demokratischer Praxis.<br />

Sozialwissenschaftler lehren uns auch aus neuesten Umfragen, dass Europa nach wie vor<br />

hauptsächlich ein Projekt <strong>von</strong> Eliten sei, während seine Völker weitgehend der Tradition des<br />

Nationalstaats verhaftet bleiben und sich nur dann näher mit dem Welttheater einlassen,<br />

wenn es in der Muttersprache gegeben wird und auf der vertrauten Kleinkunstbühne<br />

nationaler Medien menschelt. Aber in diesem an sich nicht unvertrauten Bild gibt es etwas<br />

Neues: das Engagement am Projekt Europa korreliert quer durch Europa neuerdings mit<br />

Alter (und mit Konsens in den Eliten), während Protest in nationalen Kontexten sich wohl<br />

nicht nur in diesem Lande verjüngt und verbreitert. Das gibt zu denken und das wollen wir<br />

hier tun, auch wenn die Dialektik des Nationalen im Europäischen Integrationsprozess nicht<br />

so überraschend anmutet, sondern die Regel ist. Denn dieser Prozess ist, seit er<br />

realgeschichtlich vorangekommen ist, nie völlig aus dem Paradigma der Nation<br />

herausgetreten oder gar zu ihrem Antipoden geworden, sondern hat es entlastet, zivilisiert,<br />

als Spielraum der Demokratie wieder ermöglicht. Aber dieser Spielraum ist auch ein wenig<br />

Kasperltheater, andere würden vielleicht sagen: ein ideologischer Raum in einer postnationalen<br />

Konstellation, als hier vielfach (allerdings mit abnehmender Resonanz im<br />

Publikum, aber immer noch mit aufgeregter Medienbegleitung) ein Schattenboxen um<br />

Kompetenzen stattfindet, die auf dieser Ebene praktisch nicht mehr verfügbar oder durch<br />

De-Regulierung für staatliche Akteure überhaupt nicht mehr greifbar sind, es sei denn durch<br />

Austritt aus der EU – aber diesen Test auf die Ernsthaftigkeit des nationalen Schattenboxens<br />

hat noch keiner versucht.<br />

Kritik vorherrschender approaches: Struktur und Identität<br />

Um der Krise Europas abzuhelfen, die wie gesagt so alt ist wie die europäische Integration,<br />

aber nach der Wiedervereinigung Europas, nach Fortschritten in der Erfahrbarkeit der<br />

Integration z.B. durch den Euro und im Zuge der Wahrnehmung der Globalisierung der<br />

Medien, der Finanzströme, der Migration und des Verbrechens eine neue Qualität<br />

angenommen hat, hat die Wissenschaft im Wesentlichen zwei begriffliche Instrumente und<br />

auch diese sind so alt wie die Integrationspolitik selbst.<br />

Das strukturelle Paradigma gilt der Unüberwindlichkeit nationalstaatlicher Souveränität. Im<br />

Ergebnis erscheint es euroskeptisch, weil es auf die Beharrungskraft der nationalen,<br />

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staatenbündischen Struktur Europas bei der Suche nach einem supranationalen Bundesstaat<br />

abhebt. Folgt man der Analyse dieses Strukturgegensatzes, so liegt aller Jammer Europas<br />

darin begründet, dass die Nationen des alten Kontinents den selbstüberwindenden<br />

qualitativen Sprung in die Supranationalität des Kontinents nicht schaffen, ja bei Strafe ihrer<br />

Selbstentleibung zu verhindern suchen. Die einen (meist Kontinentaleuropäer) fordern einen<br />

qualitativen Sprung, manchmal im Risorgimento-Stil sogar als Sehnsucht nach dem<br />

Gewaltstreich eines europäischen Bismarck gefasst. Andere (meist anglo-amerikanische<br />

Atlantiker und Exponenten <strong>von</strong> Amerikas „Neuem Europa“ in Ostmitteleuropa) analysieren<br />

befriedigt, dass es zu einem solchen Sprung nicht kommen wird, Europa in seiner Struktur<br />

gouvernementaler Regierungskonferenzen verharrt und eine kopflose Großmacht bleibt. Als<br />

wesentlicher Grund für die Unüberwindlichkeit der staatenbündischen Grundstruktur<br />

erscheinen einerseits divergierende nationale Interessen, andererseits die strukturelle<br />

Verankerung der Demokratie im nationalen Raum, in dem die Völker Europas fast<br />

durchgehend der (außer in Großbritannien und Estland) fast ebenso durchgehenden<br />

europäischen Aufgeschlossenheit ihrer Eliten mit deutlicher Skepsis gegenüberstehen, weil<br />

sie <strong>von</strong> weiterer Supranationalität eine weitere Beschneidung ihrer<br />

Mitwirkungsmöglichkeiten befürchten. Man könnte es auch so sagen: in den Krisen Europas<br />

macht seine Integration Fortschritte, aber diese Fortschritte entlasten die Nationalstaaten<br />

des alten Kontinents <strong>von</strong> ihren unlösbaren Aufgaben und ermöglichen ihnen den Fortgang<br />

des nationalen Theaters.<br />

Das andere derzeit besonders wichtige Paradigma der Europaforschung ist eher<br />

kulturwissenschaftlich informiert, hebt programmatisch auf die Konstruktion einer<br />

europäischen Identität ab und argumentiert mit den Grenzen des alten Kontinents, der dabei<br />

als eine eher homogene Größe unterstellt wird. Traditionell wird dabei als Inhalt das<br />

christliche Abendland bemüht und einer der Pioniere der europäischen Bewegung, Denis de<br />

Rougemont, wollte sogar die Achtung vor der Frau in der mittelalterlichen Courtoisie und<br />

Minne als wesentliches Unterscheidungsmerkmal Europas erkennen, was allerdings den<br />

Ausgriff der Gender-Studies auf die außereuropäische Geschichte nicht überlebt hat. Andere<br />

haben weniger weit hergeholte Identitätsmerkmale vorgeschlagen: so hat beispielsweise<br />

Hartmut Kaelble aus globalen Vergleichen die Sozialstaatlichkeit als Besonderheit Europas<br />

heraus präpariert; allerdings kam diese Identitätsbestimmung kurz bevor der Begriff Reform<br />

in fast allen europäischen Nationen mit dem Abbau des Sozialstaats identifiziert wurde.<br />

Kollektive Identität wird durch Differenz und Alterität im Verhältnis zu einem äußeren<br />

Anderen konstituiert und lässt sich am besten dann als Gemeinschaft imaginieren, wenn man<br />

gut eurozentrisch sowohl <strong>von</strong> der inneren Differenz Europas als auch <strong>von</strong> der<br />

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Vielgestaltigkeit seiner äußeren Partner und Gegner absieht, <strong>von</strong> denen viele gemeinsame<br />

Traditionen mit Europa teilen. Das Problem einer solchen Identitätsbestimmung Europas<br />

beginnt freilich schon im Innern, gehört doch der Leitslogan der europäischen Bewegung<br />

„Einheit in der Vielheit“ zum immer wieder aufgerufenen Pathos des alten Kontinents.<br />

Insofern sperrt sich Europa <strong>von</strong> alters her <strong>von</strong> innen heraus gegenüber einer Bestimmung<br />

seines Wesens, während seine Abgrenzung nach außen – nicht zuletzt als Folge seines<br />

Ausgriffs auf die Beherrschung der Welt in der Neuzeit – einer ähnlichen Diffusion seiner<br />

Kriterien unterliegt.<br />

B Das Potential erfahrungsgeschichtlicher Erwägung<br />

Auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Strukturdilemma und den<br />

Identitätskonstruktionen Europas möchte ich nun vorschlagen, vom ausgetrampelten Pfad<br />

herkömmlicher Definitionen, was Europa vom Rest der Welt unterscheide und wieweit es<br />

deshalb reiche, abzuweichen, also <strong>von</strong> Begriffsbestimmungen, die <strong>von</strong> ihrem konstruktiven<br />

Nutzen zur Unterscheidung und Abgrenzung her gedacht sind. Aber es geht mir dabei nicht<br />

darum, solchen Konstruktivismus durch Essentialismus zu ersetzen, also willkürliche und<br />

meist normativ gemeinte Wesensbestimmungen dessen, was Europa oder was ein<br />

Nationalstaat sei, wie sich ein Bundesstaat vom Staatenbund unterscheide und wohin<br />

deshalb die Reise gehen müsse. Die Geschichte der europäischen Integration ist voller<br />

Definitionskonstrukte und Wesensprogramme, aber stattgefunden hat etwas anderes. Wie<br />

könnte man realistischer werden?<br />

Man könnte sich zunächst dafür interessieren, warum die föderalistische Traditionsbildung,<br />

der Ziel- und Werttransfer in Bezug auf den Ausweg Europa aus seiner nationalstaatlichen<br />

Struktur <strong>von</strong> der älteren an die jüngere Generation und <strong>von</strong> den Eliten an die Massen an<br />

Wirksamkeit nachgelassen hat. Ich nenne das eine erfahrungsgeschichtliche Fragestellung.<br />

Sie ist empirisch ausgerichtet, aber bezweckt nicht genaue Mess- und Manipulierbarkeit <strong>von</strong><br />

Einstellungen, sondern ein typologisches Verständnis subjektiver Verlaufslogiken, wie sich<br />

aus bestimmbaren Erfahrungsräumen künftige Wahrnehmungsmuster, die Empfänglichkeit<br />

für Wertpräferenzen und ganze kulturelle Erwartungshorizonte aufbauen. Diese Leitbegriffe<br />

verleugnen nicht den Einfluss der Ideen- und Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks;<br />

dennoch hat Erfahrungsgeschichte als empirische Bemühung in der Zeitgeschichte noch eine<br />

andere Herkunft.<br />

„Erfahrungsgeschichte“ ist ein historisch-methodologischer Begriff, der viel <strong>von</strong> den<br />

wissenschaftlichen Ansätzen linker Kollegen vor allem in England, Frankreich und Italien<br />

gelernt hatte, bevor wir ihn vor 25 Jahren einführten. Das Wort ist heute in Deutschland<br />

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erstaunlich weit verbreitet, hat sich aber weitgehend <strong>von</strong> diesen Vorgeschichten gelöst und<br />

eine sehr vage Bedeutung angenommen, die auf irgendeine Berücksichtigung <strong>von</strong> Mentalität<br />

und Subjektivität der ‚kleinen Leute’ in der Geschichtsschreibung hinausläuft. Damals war<br />

mit Erfahrungsgeschichte etwas zugleich Spezifischeres und Allgemeineres gemeint. Der<br />

orthodoxe Marxismus und besonders seine sowjetischen Uminterpreten hatten in ihrer<br />

abgehobenen Theorie kultureller Widerspiegelung der Produktionsverhältnisse die Dynamik<br />

und Eigengesetzlichkeit kollektiver Lernprozesse völlig versäumt. Bei seinen westlichen<br />

Gegnern weste ein elitärer Essentialismus des Geistes, der die sozialen Rahmungen unserer<br />

Prägungen und Wahrnehmungen leugnete oder verachtete. Inmitten des Abenteuers einer<br />

neuen Praxis <strong>von</strong> Alltagsgeschichte und Oral History suchten wir nach Begriffen, die fähig<br />

wären, die Anregungen <strong>von</strong> Existentialismus, Strukturalismus und der Neuen Linken, <strong>von</strong><br />

Jean-Paul Sartre, Edward Thompson, Pierre Bourdieu und anderen Mitsuchenden<br />

aufzunehmen und den Bereich der Erfahrung der Vergangenheit, der unsere künftigen<br />

Wahrnehmungen und Handlungen strukturiert, zugleich zu einem empirischen und<br />

dynamischen zu machen. Was machst Du aus dem, was die Verhältnisse aus Dir gemacht<br />

haben, hatte Sartre gefragt. Thompson hatte hinzugefügt: Gibt es denn eine gesellschaftlich<br />

wirksame Klasse, ohne dass man ihren drive aus ihren kollektiven Erfahrungen<br />

rekonstruieren könnte? Wir mussten also nach Erfahrungen fragen, die stark genug waren,<br />

auch unter veränderten Bedingungen künftige Wahrnehmungen zu strukturierten. Nachdem<br />

die Geschichtsphilosophie ins Abseits geführt oder sich als Wunschkonstruktion<br />

herausgestellt hatte, sollte Geschichte immanent geschichtlich erklärt werden. Mit anderen<br />

Worten: der Erwartungshorizont, in dem sich Handlungsimpulse erst ausbilden können, war<br />

weder in den Spiegelkabinetten der Produktionsverhältnisse noch in jenen des absoluten<br />

Geistes zu suchen, sondern in der empirischen Historizität jeweiliger Erfahrung. Blieb<br />

natürlich die Frage, ob man diese überhaupt und in welchen exemplarischen Zurichtungen<br />

und Annäherungen man sie erforschen könnte.<br />

In mehreren größeren Oral-History-Untersuchungen, die freilich nicht dem hier zur Debatte<br />

stehenden Thema gegenwärtiger europäischer Erwartungen, sondern der<br />

Erfahrungsgeschichte deutscher Arbeiter im Nationalsozialismus und in der deutschen<br />

Zweistaatlichkeit, dann einer sich vorbereitenden Krise in der DDR und später dem<br />

Werttransfer zwischen den Kindern der DDR (zuweilen auch „68er Ost“ genannt) und den<br />

sog. Mauerfall-Kindern und deren Erwartungshaltungen gewidmet waren, meine ich<br />

herausgefunden zu haben, dass tiefenhermeneutisch angelegte Erinnerungsinterviews nicht<br />

nur ein Verstehen subjektiver Geschichtserfahrung ermöglichen, sondern auch ein<br />

behutsames Spurenlesen in die Zukunft erlauben, insofern diese subjektiven Erfahrungen<br />

näher eingrenzbare künftige Wahrnehmungs- und Handlungsmuster begünstigen. Diese sind<br />

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damit nicht determiniert, sondern prädisponieren nur zu ähnlichen Antworten einer<br />

Erfahrungsgruppe auf künftige gesellschaftliche Herausforderungen, wenn diese sich als<br />

anschlussfähig für tiefgreifende Krisenerfahrungen dieser Gruppe in der Vergangenheit<br />

erweisen.<br />

Bei den Spuren der Erfahrungsgeschichte in die Zukunft handelt es sich also immer nur um<br />

notwendige, aber nicht um hinreichende Bedingungen künftiger Wahrnehmungs- und<br />

Wertmuster. Schon insofern brauchen diese Interpretationen sozialer Subjektivität der<br />

Ergänzung durch Strukturbegriffe, die allerdings nicht einfach abgeleitet werden können,<br />

sondern sich ebenfalls der beschreibenden Annäherung an gegenwärtige<br />

Trendverschiebungen im Makrobereich verdanken. Dafür schlage ich hier – und auch darin<br />

beanspruche ich keinerlei Originalität – die Diffusion des klassischen Staatsbegriffs des 19.<br />

Jahrhunderts (und damit auch aller definitorischen Distinktionen <strong>von</strong> Nationalstaat,<br />

Souveränität, Staatenbund etc.) zugunsten einer Mehrebenen-Governance in Europa vor.<br />

Auf diese Diagnose werde ich gleich zurückkommen, möchte aber zunächst die<br />

erfahrungsgeschichtliche Fragestellung in Bezug auf die europäische Integration skizzenhaft<br />

noch etwas näher veranschaulichen, um auch <strong>von</strong> ihrer Aktualität aus den Zusammenklang<br />

mit dem entstehenden Mehrebenenstaat nahe zu legen.<br />

Wellen <strong>von</strong> Erfahrung und Erwartung<br />

Erst seit dem Ersten Weltkrieg kann man <strong>von</strong> den Anfängen einer Geschichte der<br />

europäischen Integration sprechen, wenn diese etwas mit dem Ziel einer den kontinentalen<br />

Raum mehr oder minder umfassenden politischen und ökonomischen Selbststeuerung oder<br />

Koordinierung zu tun haben soll. Das Ziel blieb in der Zwischenkriegszeit ein Programm<br />

minderheitlicher Eliten, obwohl der größer angelegte Völkerbund mangels amerikanischer<br />

Beteilung auf eine wenig konfliktfähige Gesellschaft europäischer Nationalstaaten inmitten<br />

aufstrebender Diktaturen schrumpfte, immerhin Friedens- und Kooperationsperspektiven<br />

zur Überwindung der deutsch-französischen Erbfeindschaft zu entwickeln erlaubte, wenn sie<br />

auch letztlich zu nichts führten. Die zuerst 1923 hier in Wien veröffentlichte Paneuropa-<br />

Vision <strong>von</strong> Graf Coudenhove-Kalergi, einen gegenüber Russland abgegrenzten kontinentalen<br />

Wirtschaftsgroßraums (also ohne England) als Grundlage einer neuen europäischen<br />

Großmachtstellung in der Welt jenseits der brüchigen Kolonialreiche zu bilden, antwortete<br />

auf den Krieg, den Untergang der mittel- und osteuropäischen Imperien, den Kommunismus<br />

an der Macht und (wie auch mehrere grenzüberschreitende industrielle Initiativen) auf den<br />

Bedarf moderner Industrien nach großen Märkten, um konkurrenzfähig gegenüber den USA<br />

zu werden und sollte durch den Zusammenbruch des internationalen Austauschs in der<br />

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Weltwirtschaftskrise zusätzlich an Aktualität gewinnen. Mithilfe dieser Vision wurde in den<br />

politischen und ökonomischen Eliten ein beachtliches transnationales Netzwerk geknüpft,<br />

aber in Konkurrenz mit den totalitären Bewegungen der Zwischenkriegszeit ergriff sie die<br />

Massen nicht und blieb eine topische Utopie. Diese Formel könnte man auch für die Europa-<br />

Erotik damaliger britischer Intellektueller bemühen, auf die vor zehn Jahren Luisa Passerinis<br />

„Europe in Love. Love in Europe“ hingewiesen hat: die Erfüllung der Sehnsucht nach<br />

Befreiung aus den Fesseln der Konvention und nach neuen Lebensformen wurde im<br />

transnationalen Übergriff über den Kanal gesucht. Wichtig erscheint mir für diese erste<br />

Schwelle dramatischer Erfahrungen im und nach dem Ersten Weltkrieg und erster<br />

Erwartungen an eine Vereinigung europäischer Nationalstaaten, dass sie überschießende<br />

Sehnsüchte nach und Visionen einer räumlichen Transzendenz in Europa nährten, die zwar<br />

damals unerfüllt blieben, aber auch heute noch Europa eine besondere Aura gibt: ein<br />

Kontinent der Sehnsucht jenseits dessen, was in den Nationen verbrochen worden oder<br />

unerfüllt geblieben ist. Je mehr die europäische Integration im letzten halben Jahrhundert<br />

praktische wirtschaftliche und bürokratische Formen angenommen hat, desto mehr droht<br />

sich diese Sehnsuchtswolke in einen Angstschatten zu verwandeln: Brüssel als eine<br />

undurchschaubare Megamaschine, die alle Lebensdimensionen in Güter, Geld und<br />

Geschwindigkeit verengt, nicht die Vielfalt des alten Kontinents eint, sondern vereinheitlicht<br />

und die Kleinteiligkeit angestammt erscheinender Sicher- und Besonderheiten bedroht.<br />

Im Zweiten Weltkrieg wurde vieles klarer, politischer, aber auch widersprüchlicher. Zuerst<br />

die ausplündernde und massenmordende Besatzungsherrschaft des Dritten Reiches in mehr<br />

als der Hälfte des Kontinents, dann in der Rückzugsphase die Mobilisierung einer<br />

multiethnischen europäischen Abwehrfront der Waffen-SS gegen den Vormarsch der Roten<br />

Armee. Dagegen der strikt linksnationale Widerstand kommunistisch angeleiteter Partisanen<br />

in vielen Teilen Europas und – und das oft in denselben nationalen Résistance-Bündnissen –<br />

der Aufschwung <strong>von</strong> liberalen, sozialdemokratischen und religiösen Aktionsgruppen<br />

europäischer Föderalisten, die Hitlers untergehendem Europa ein supranationalen Europa<br />

der moralischen Aufrüstung, antifaschistischer Kooperation und eine neue Friedensordnung<br />

entgegen stellten, ja rundweg einen Bundesstaat jenseits all der durch Niederlagen oder<br />

internationale Übergriffe inkriminierten Nationalstaaten forderten. Wie schon anhand <strong>von</strong><br />

Alan Milward’s europäischem Dilemma erläutert, brach sich diese zweite und bisher stärkste<br />

Welle für ein supranationales und föderatives Europa, die damals viele Gemüter auch weit<br />

über die Schranken der Eliten und Parteien hinaus bewegte, an der Entlastung der<br />

westeuropäischen Nationalstaaten <strong>von</strong> einigen ihrer drängendsten Probleme durch internationale<br />

Koordinierung und amerikanische Hilfe. Zugleich zerfiel in der Zuspitzung des<br />

Kalten Krieges die Anti-Hitler-Koalition en gros wie auch en detail in so gut wie jedem<br />

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europäischen Land. Die bei Kriegsende vorherrschende Perspektive auf einen dritten Weg<br />

zwischen Kapitalismus und Kommunismus schrumpfte auf kleine Außenseitergruppen und<br />

wenige neutrale Länder. Und in der Folge verschwand sie schrittweise vollends <strong>von</strong> der<br />

Agenda Europas: nach jedem militärischen Schlag Moskaus gegen die Rebellionen in seinen<br />

Satellitenstaaten – 1953 in Berlin, 1956 in Poznan und viel einschneidender in Budapest,<br />

1968 in Prag und dann in den 80er Jahren flächendeckend und ebenso stimulierend in<br />

Polen.<br />

Ich überspringe hier die lange Phase zwischen dem Zusammenbruch des Projekts einer<br />

europäischen Verteidigungsgemeinschaft und Maastricht, in der die Ersatzlösungen für den<br />

gescheiterten Bundesstaat oft krisenhaft und unsystematisch, aber im Rückblick mit<br />

gouvernementaler Beharrlichkeit und unter Einschluss immer weiterer Länder aufgebaut, die<br />

Markt- und Kommunikationshemmnisse zwischen ihnen abgebaut, durch eine Flut <strong>von</strong><br />

administrativen Regulierungen ersetzt und die beiden Grunddimensionen dieser Integration<br />

immer weiter vorangetrieben wurden: das militärische Bündnis der Nordatlantikpakt-<br />

Staaten unter Führung der USA und die Ausbildung und Ausweitung des Gemeinsamen<br />

Marktes der Europäischen Gemeinschaft in Westeuropa. Ich überspringe diese Phase, weil<br />

sie zwar vieles im Alltag und beim Austausch der Westeuropäer veränderte, gerade in den<br />

ärmeren Regionen des Kontinents bisher ungekannte Entwicklungsperspektiven eröffnete<br />

und eine der längsten Perioden im europäischen Gedächtnis ohne Krieg und mit einem<br />

wirtschaftlichen Aufwärtstrend darstellt. Aber, wie die Franzosen sagen: ein glückliches Volk<br />

hat kein Gedächtnis. Wohlstand, Frieden und Freiheit sind einlullende Dimensionen des<br />

Vergessens und keiner braucht dafür Gründe. Und der anonyme Integrationsprozess mit<br />

seinen vielen immer gleich aussehenden Regierungskonferenzen, ihren immer gleichen<br />

diplomatisch verklausulierten Ergebnissen hat außer für Spezialisten keine Ereignisgeschichte<br />

hinterlassen. Dagegen ist der Kalte Krieg voller Ereignisse, die jeder kennt und<br />

seit 1989/90 sind beide Ketten ereignishaft verflochten worden: seit dem Ende der<br />

sowjetischen Herrschaft in Europa und besonders über Ostmitteleuropa hat auch die<br />

Geschichte der europäischen Integration ihre Selbstverständlichkeit verloren.<br />

Die (west)Europäische Gemeinschaft wollte damals gerade eine Währungsunion und<br />

föderalistische Strukturfortschritte einleiten, Vertiefung genannt, als sie mit der Frage ihrer<br />

Osterweiterung und dem Ausbruch der Balkankriege konfrontiert wurde. Die Völker in Ost<br />

und West kannten sich wenig, die politischen Klassen kaum mehr, die Erfahrungsräume und<br />

Lebensverhältnisse waren unterschiedlich gewesen. Der Westen wollte sich der Erweiterung<br />

nicht entziehen, aber an seinem Vertiefungsprojekt festhalten, um sich den alten<br />

bundesstaatlichen Versprechungen wieder zu nähern. Zur Osterweiterung gab es keine<br />

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wirkliche Alternative, denn wenn sie verweigert worden wäre, waren chaotische Verhältnisse<br />

und riesige Migrantenströme zu erwarten. Vielleicht sollte man hier gegenüber der neuen<br />

Mixtur aus Ausländerhass und Anti-EU-Propaganda gerade in den inneren Grenzregionen<br />

nicht unerwähnt lassen, dass die EU nicht zur Überflutung mit Migranten geführt, sondern<br />

diese eingedämmt hat. Der Osten brauchte Hilfe, aber bei genauerer Betrachtung erwiesen<br />

sich die westeuropäischen Modelle nicht immer als das, als was sie vorher erschienen waren,<br />

und manche waren wohl auch enttäuscht, dass sie nun nicht an den wahren Westen, an<br />

Amerika grenzten. Quer durch die Region gab es in unterschiedlichen Graden ein Schutzund<br />

Abgrenzungsbedürfnis gegenüber Russland und eine Wiederkehr des Nationalen<br />

(einschließlich seiner Probleme in multiethnischen Subregionen, die in Ex-Jugoslawien<br />

alsbald kriegerische Formen annahmen), besonders des mehr oder weniger reinen<br />

Nationalstaats im erstmaligen Genuss seiner aus langer sowjetischer Oberhoheit geborgenen<br />

Souveränität. Vertiefung und Erweiterung waren weniger eine Überforderung der<br />

Ressourcen als vielmehr zwei oft nachgerade entgegen gesetzte politische Zielrichtungen.<br />

Und aufs Ganze gesehen muss man wohl einräumen, dass das dramatische Ereignis der<br />

letzten Jahre die Erweiterung der NATO und der EU und nicht ihre Vertiefung geworden ist.<br />

Der Verfassungsvertrag scheiterte nicht nur an Volksabstimmungen (übrigens durchweg in<br />

westlichen Ländern), sondern auch an dem wenig erfolgreichen Kaschierungsversuch der<br />

gouvernementalen Grundstruktur der EU und ihrem demokratischen Defizit. Und auch weil<br />

Europa (verstanden als Brüsseler Superstruktur) so ein schönes Ersatzschlachtfeld für<br />

innenpolitisches Schattenboxen ist.<br />

Erfahrungsgeschichtlich erscheint es mir nun eine interessante Frage, ob und ggf. wie und<br />

aufgrund <strong>von</strong> welchen Vorerfahrungen in der jüngeren Generation sich ein<br />

Erwartungshorizont Europa entwickelt. Ein Studiengang Europa-Studien, in dem unter 22<br />

Eingeschriebenen nur vier österreichische und zwei deutsche Graduierte sind, dafür die<br />

Mehrheit etwa zu gleichen Teilen aus Südost- und Südwesteuropa und kultur- und<br />

sozialwissenschaftliche Qualifikationen mitbringen, erscheint mir hier als eine Einladung zu<br />

einer kleinen modellhaften Selbsterforschung, ob es eine Einheit in der Vielheit gibt,<br />

wodurch sie sich auszeichnet und ob sich im Übergang <strong>von</strong> der Jugendforschung zur<br />

Beobachtung emergenter Eliten neue Deutungen und Verhaltensmuster in Europa<br />

abzeichnen.<br />

Begriffliche Erwägung<br />

Überall in Europa gibt es Staaten, die trotz gewichtiger alter und neuer Minderheiten in der<br />

Regel Nationalstaaten genannt werden und im Gegensatz zum ersten Anschein unseres<br />

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zunehmend <strong>von</strong> Binnengrenzen befreiten Lebens in Europa sind diese Staaten der Raum, in<br />

dem demokratische Willensbildung inszeniert, medialisiert, legitimiert und auch am ehesten<br />

praktiziert wird. Mehrere dieser Staaten, die nicht über eine eigene föderalistische Tradition<br />

verfügen, haben sich mittlerweile regionalisiert und dabei basisnähere<br />

Mitwirkungsmöglichkeiten auch oberhalb der klassischer weise für bürgernahe Mitwirkung<br />

offeneren Kommunalpolitik eröffnet. Zunehmend wird beobachtet, dass aber auch politisch<br />

relevante z.B. religiöse oder wirtschaftliche Körperschaften, Medien und NGOs, die sich<br />

weder auf das Territorialprinzip noch auf demokratische Legitimierung stützen müssen,<br />

einen starken Einfluss auf Selbstverwaltung und Willensbildung entfalten, wofür Ulrich Beck<br />

die Bezeichnung „Sub-Politik“ gefunden und ihr z.T. eine größere politische Bedeutung als<br />

demokratisch legitimierten Verfahren zugesprochen hat. Die Regierungen der<br />

Nationalstaaten tragen die europäische Integration, die nicht nur in unterschiedliche<br />

funktionale Bereiche wie Militär und Wirtschaft, Polizei oder Bildung mit jeweils<br />

verschiedenen Beteiligungskonstellationen zerfällt, was die Definitionsmerkmale des<br />

neuzeitlichen Staatsbegriffes zerreißt, wenn man ihn an NATO und EU, Schengen, den<br />

Europarat etc. etc. anlegt, die doch auf andere Weise die außerordentliche Elastizität der<br />

Selbstorganisation Europas und seine Anschlussfähigkeit an vergleichbar plurale Strukturen<br />

in der Ansätzen zu einer Selbstregierung des Globus in- und außerhalb der UNO verbürgen.<br />

Darüber hinaus diffundieren an der Spitze der kontinentalen Mehrebenen-Governance auf<br />

eine schwer fassbare Weise aber die traditionellen Dimensionen des neuzeitlichen Staates:<br />

Souveränität und Demokratie ebenso wie die Einheit <strong>von</strong> Staatsvolk und Staatsgebiet oder<br />

das Gewaltmonopol. Denkt man diese heute viel diskutierten Strukturen nicht vom<br />

klassischen Staatsbegriff und seinen Letztzuständigkeiten und Entscheidungen her, sondern<br />

<strong>von</strong> den Regierungsfunktionen verflochtener Gesellschaften, so bleibt das demokratische<br />

Defizit auf der obersten Verständigungs- und Gestaltungsebene eine auf absehbare Zeit<br />

provokante Herausforderung. Auf der anderen Seite steht aber auch eine beträchtliche,<br />

weltgeschichtlich sogar einzigartige Befriedungs-, Integrations- und<br />

Modernisierungsleistung. Dass diese im wesentlichen doch auf einer nationalstaatlichen<br />

Struktur und ihren Koordinierungsorganen aufsitzt und derzeit deren Überwindung nicht in<br />

Sicht ist, hat den ost- und südosteuropäischen Ländern, deren neue Souveränität und<br />

nationale Unabhängigkeit erst noch pathetisch genossen sein wollen, bevor sie in kaum mehr<br />

entrinnbaren Bindungen und dem Alltag kontinentaler Abstimmungsapparate relativiert<br />

werden, hat also – will ich sagen – dieses Lag der westeuropäischen Integration den<br />

Hinzutritt der osteuropäischen Reformstaaten wesentlich erleichtert.<br />

Insofern müssen wir unsere erfahrungsgeschichtlichen Befunde und – seien wir vorsichtig –<br />

Ahnungen in Beziehung zur diskursiven Verwandlung begriffener Macht setzen. Semantik ist<br />

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ein umkämpftes Terrain. Ob wir „Sustainable Growth“ wörtlich mit „aufrecht erhaltbares<br />

Wachstum“ übersetzen und damit die Unwahrscheinlichkeit der Sache dem Namen bereits<br />

einschreiben oder mit einem genialen Kniff der PR-Branche als „nachhaltiges Wachstum“<br />

bezeichnen und also als Ewigkeitsversprechen des kapitalistischen Fetischs fassen, macht<br />

einen Unterschied in der öffentlichen Verständigung, ohne die jede Demokratie zum<br />

Populismus wird. Das gilt im deutschen Sprachraum besonders für den Staatsbegriff, der in<br />

der Fassung, die ihm Carl Schmitt in den 20er Jahren mit schmissigen Definitionen gegeben<br />

hat, mit denen er in stärker rassistischer Abtönung dann auch das Dritte Reich<br />

rationalisierte, nach seinem Tod ein internationales Revival quer durch Europa und <strong>von</strong><br />

Jerusalem über Tokyo bis New York und bis zu den Neocons in Washington erlebte.<br />

Demokratie ist die Identität der Regierenden und der Regierten, Politik ist wesentlich die<br />

Unterscheidung <strong>von</strong> Freund und Feind, Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand<br />

entscheidet. Oder die Herleitung europäischer Großraumbildung („mit Interventionsverbot<br />

für raumfremde Mächte“) aus dem Hitler-Stalin-Pakt. Die Stillstellung eines solchen<br />

Staatsbegriffs ist eine weiterquellende Blutspur des 20. Jahrhunderts. Vielleicht brauchen<br />

wir größere Räume als die Nationalstaaten und wenn ich durch Europa fahre, genieße ich den<br />

Zugang zu meinen neuen Freunden und ihren Erfahrungen; aber wäre es nicht schön, eine<br />

solche Praxis ohne Versklavung und ohne Angst vor den mächtigen Dritten zu entwerfen? Ist<br />

es außer für Extremmachos wirklich wichtig, wer souverän ist, wo doch niemand souverän,<br />

sondern eingebunden und auf Auseinandersetzung und Verständigung angelegt ist und<br />

bewährt sich ein Mann erst im Bürgerkrieg und nicht, wie man es einst Thomas Moore<br />

nachsagte, als „a man of all seasons“? Ist Politik nicht verschenkt, wenn sie sich mit der<br />

Feindbestimmung „Tschuschen raus!“ begnügt oder die EU vor der Türkei schützt, anstatt<br />

die viel schwierige Aufgabe anzupacken, Brücken der Verständigung zu bauen, nicht zuletzt<br />

um dann vorurteilslos abwägen zu können, was Europa der Türkei und was die Türkei<br />

Europa zu bringen vermag. Fehlt noch die süffige völkische Definition der Demokratie als<br />

Identität zwischen Führer und Gefolgschaft, die <strong>von</strong> so vielen im Basisrausch besoffenen<br />

Linken nachgeplappert wurde. Aber Demokratie ohne ihre liberalen Voraussetzungen ist ein<br />

Kurzschluß. Demokratie soll dem Nicht-Identischen Würde und Mitsprache sichern, weil wir<br />

alle nicht wissen, was das Beste ist – das muss erst ermittelt werden.<br />

Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie, diese Anmerkungen zum anscheinend<br />

unaufhörlichen Staatsbegriff Carl Schmitts sind mir zu einem Temperamentsausbruch<br />

geraten und das soll, ich gelobe es wenigstens für heute Abend, nicht wieder vorkommen. Ich<br />

wollte nur zweierlei zeigen: zunächst zu den möglichen Hörern der Vorlesung über<br />

Schlüsselbegriffe des 20. Jahrhundert, die Oliver Rathkolb und ich planen: der Streit um<br />

Begriffe und die Forschung nach ihren kontextuellen Bedeutungen und Verwandlungen im<br />

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20. Jahrhundert ist kein antiquarisches Abseits im Staub lexikalischer Definitionen. Man<br />

muss sich einlassen darauf, was sie bedeutet haben und was sie leisten können, bevor wir<br />

ihnen Traditionswert zubilligen können oder erneut auf die Suche gehen müssen. Und zum<br />

allgemeinen Publikum dieser Vorlesung wollte ich sagen: Natürlich verkenne ich nicht, dass<br />

die postmodernen Theoreme zur Subpolitik (Ulrich Beck), zur International State (Alexander<br />

Wendt) oder zur Mehrebenen-Governance (Ulf <strong>von</strong> Krause) noch unausgereifte<br />

Annäherungen an einen zeitgenössischen Befund sind und dass mich ihre Bezugnahmen auf<br />

das Alte Reich (also das <strong>von</strong> Wien aus regierte Römische Reich deutscher Nation), mit dem<br />

sie den theoretisch so folgereichen preußischen Staat des 19. Jahrhunderts überspringen<br />

wollen, ebenso interessieren wie irritieren. Europa ist ein problematisches Experiment, aber<br />

der meistversprechende Großversuch eines learning by trial and error, das aus den<br />

Abgründen des 20. Jahrhunderts hervor gegangen ist. Europa braucht kritische Mitarbeiter<br />

und engagierte Kritiker.<br />

C Exemplarische Anregungen<br />

Wenn Sie mir noch ein paar Minuten zuhören mögen, möchte ich diese Antrittsvorlesung mit<br />

einigen Anregungen beschließen, in denen nun auch Österreich, das ich bisher, um mich als<br />

höflicher Piefke zu profilieren, sorgfältig umschifft habe, und seine aktuellen Probleme<br />

zumindest indirekt anklingen mögen.<br />

1 Europa als das Ganze<br />

Wer je einige Lektionen der Frankfurter Schule verkostet hat, wird bei einer solchen These<br />

die Nase rümpfen. Bekanntlich ist erstens nach Adorno das Ganze das Falsche und zweitens<br />

wurde ja schon gesagt, dass eine der Tugenden der europäischen Unsystematik ihr Bezug auf<br />

die derzeitigen Organisationsprobleme der Weltgesellschaft ist. Beides erkenne ich an und<br />

versuche doch, mit diesem halb falschen Satz auf etwas anderes zu verweisen.<br />

Europa wird in der gegenwärtigen Politik und ihren Medien sozusagen als die Sahneschicht<br />

des kontinentalen Kuchens verstanden: ein unumgänglicher Schmuck, aber wenig<br />

schmackhaft und aufgesetzt. Diese ewigen Bilder <strong>von</strong> zwanzig bis x Regierungschefs oder<br />

Ministern, garniert mit ein bis zwei Damen, auf der Treppe vor einem Palais, wo sie<br />

umschwirrt <strong>von</strong> einigen hundert nicht abgebildeten Diplomaten und Bürokraten als Agenten<br />

des regionalen Weltgeistes irgendeine weitsichtige Deklaration verabschiedet haben, die der<br />

Zuschauer unmittelbar ins Reich des Vergessens verweist. Brüssel, Luxemburg, Strasbourg<br />

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und die vielen Hauptstadttreffen des Europäischen Rates und immer wieder dasselbe Bild:<br />

ca. 25 erste Männer und allenfalls ein oder zwei erste Frauen, aber das Ensemble ist weiblich,<br />

ein Organ der Vernetzung und Verständigung. Immerhin sie stehen stramm und irgendwie<br />

gefasst über den Überfluss ihresgleichen, sie sitzen nicht in den unabsehbaren<br />

gerontokratischen Reihen eines Zentralkomitees oder dem kleineren und schon dementeren<br />

Ensemble eines Politbüros und winken, als wäre es das letzte Mal. Betrachten wir solche<br />

Bilder <strong>von</strong> allem, was Brüssel signalisiert, so sehen wir fast nur Männer, und zwar<br />

erstrangige, im nationalen und demokratischen Aufstiegskampf erprobte Exemplare, aber<br />

nun in Serie, mühsam ihre Motorik beherrschend und wir ahnen, diese Struktur ist weiblich.<br />

Frauen könnten das besser, dieses umsichtige und gesellige Konsensmanagement; allerdings<br />

werden auf dem Weg nach Brüssel noch immer virile Eigenschaften belohnt. Europa war eine<br />

orientalische Frau und wer sie geraubt und in den Westen transportiert hat, war kein Mann,<br />

sondern ein Bulle. Schade dass wir derzeit nur mit Bären aufwarten können.<br />

Es gibt allerdings noch einen zweiten Gesichtspunkt auf dieses Thema: genau genommen ist<br />

Europa ja gar nicht Brüssel etc. pp. allein, sondern – noch einmal – Europa ist das Ganze.<br />

Herunter bis Klein-Kleckersdorf. Gerade auch jeder der unerwartet resistenten und vielleicht<br />

schon ein wenig ideologischen Nationalstaaten ist Europa. Mit seiner obersten Leitungsebene<br />

allein wäre der Kontinent unterbestimmt, seine Fülle gewinnt er erst in der Vielfalt seiner<br />

basisnahen und noch immer mitbestimmenden, d.h. auch potentiell kritischen Teilnehmer.<br />

Auf der Entscheidungsebene heißt das, dass es durchaus diskutabel ist, mehr direkte<br />

Demokratie in Europa zu wagen. Die Schweiz hat in einer langen Praxis vorgeführt, dass der<br />

Volksentscheid keineswegs ein revolutionäres, sondern eines der konservativsten<br />

Instrumente in der Politik ist. Allerdings kann man das plebiszitäre Prinzip, wenn man es<br />

denn will, nicht auf die einzelstaatliche Ratifizierung Brüsseler Materien beschränken, wo die<br />

volkstümlichen Vorurteile immer nur die anderen treffen. Europa ist das Ganze und mehr<br />

Mitwirkung an der Selbstregierung müsste man schon auf allen Ebenen lernen.<br />

2 Zur kulturellen Ausstattung des Mehrebenen-Staats<br />

Wenn in Europa <strong>von</strong> Europa die Rede ist, denken nur wenige – sagen wir – an den Euro-<br />

Fighter oder die symbolische Entschädigung überlebender Zwangsarbeiter des Dritten<br />

Reiches oder erinnern (wie viele in der außereuropäischen Welt) die Herrschaft des weißen<br />

Mannes; vielmehr liegen dann kulturelle Assoziationen näher, Beethovens Neunte oder die<br />

attische Demokratie oder das christliche Mittelalter sind dann feste Topoi im europäischen<br />

Gedächtnis. Europa fehlt es an kritischer und zeitgemässer Öffentlichkeit, wie sie für jeden<br />

Raum demokratischer Selbstgestaltung unerlässlich ist und viele – aber erfreulicher Weise<br />

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nicht alle – Versuche zur Inszenierung eines Gemeinbewusstseins über die Nationen hinaus<br />

gehen ins Leere oder erweisen sich in Wahrheit als nationalistische Durchlauferhitzer.<br />

Nehmen wir nur das Beispiel mit der vermutlich größten populären Reichweite, die Fußball-<br />

Europameisterschaft. Anders als Ausscheidungskämpfe auf nationaler Ebene dient sie nicht<br />

der Konstruktion eines europäischen Teams für interkontinentale Spiele, sondern bleibt in<br />

der Emotionalisierung nationaler Identifikationen stecken, die angesichts des weltweiten<br />

Spielerhandels ohnehin das Rätselhafte an den „imagined communities“ vor Augen führt.<br />

Beim europäischen Chansons-Wettbewerb, der überall auf dem Kontinent ausgestrahlt wird<br />

(und bei dem Israel und Russland bemerkenswerter Weise dabei sind), ist es ähnlich: die<br />

Produkte der internationalen Schlagerindustrie werden <strong>von</strong> nationalen Jurys Nationen<br />

zugerechnet und nach Leistungs- und Sympathiewerten bemessen. Immerhin kann man aber<br />

auch festhalten, dass der Wettbewerb überhaupt erst die Produkte der ost- und<br />

südosteuropäischen Musikszenen in Westeuropa bekannt gemacht hat, so wie man dem neu<br />

inszenierten Public Viewing bei der Fußball-Meisterschaft anrechnen kann, dass es nicht nur<br />

den Auf-, sondern gelegentlich auch den Abbau nationalistischer Identifikationen einüben<br />

kann. Eindeutiger pro-europäisch und zugleich als gelungenes Beispiel für das<br />

Zusammenspiels aller Ebenen der Mehrebenen-Governance erschient mir der ähnlich<br />

aufwendige Wettbewerb um die Kulturhauptstadt Europas: er profiliert die Vielgestaltigkeit<br />

der europäischen Überlieferung und hebt sie in einen gemeinsamen Rahmen. Auf weniger<br />

auffälliger Bühne gibt es ähnlich positive Beispiele, etwa die verschiedenen Programme zur<br />

Intensivierung des Studentenaustauschs in Europa, für die man dringend funktionale<br />

Äquivalente für die nicht-akademische Jugend suchen müsste, oder die vielfachen<br />

Bemühungen um einen korrektiven Abgleich nationaler Geschichtsbilder in den<br />

Schullehrbüchern.<br />

Schwieriger scheint es mit der medialen Ausstattung Europas zu sein. Gewiss hebt sich die<br />

Presse- und Rundfunklandschaft im interkontinentalen Vergleich noch immer als<br />

überdurchschnittlich vielfältig und informativ heraus, auch wenn die fortschreitende<br />

Boulevardisierung und das kommerzielle Fernsehen mit seinem repetitiven Abnudeln<br />

amerikanischer Soaps dazu tendieren, dass sich die Auflage respektive Quote umgekehrt<br />

proportional zum Niveau entwickelt. Österreich stellt mit dem ORF ein vergleichsweise gutes<br />

als auch mit der „Krone“ ein überdurchschnittlich bedrohliches Beispiel beider Tendenzen.<br />

Strukturell ist allerdings auffällig, dass der <strong>von</strong> den Medien konstituierte öffentliche<br />

Resonanzraum der Demokratie ganz überwiegend auf die Politics im jeweiligen Nationalstaat<br />

und hier auf ein relativ kleines Akteursensemble auf der nationalen Bühne fokussiert.<br />

Demgegenüber treten andere Handlungsebenen und die Erschließung <strong>von</strong> Policy-Themen im<br />

europäischen Vergleich in den Hintergrund, wodurch die Medien den ideologisierenden<br />

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Trend zur nationalen Inszenierung kompetenzarmer Spiegelfechtereien verstärken. Einer<br />

wirklichen Veränderung sind wegen des engen Konnexes zwischen Politik, Sprache und<br />

Nationalkultur sicher enge Grenze gesetzt. Auch große, international operierende<br />

Medienkonzerne haben jedoch bisher wenig zur grenzüberschreitenden Nutzung und<br />

Entwicklung ihrer inneren Kompetenz- und Erfahrungsvielfalt (außer bei der Vermarktung<br />

<strong>von</strong> Konserven) getan, obwohl sie am ehesten in der Lage wären, Europa publizistisch<br />

interessant und zu einer public sphere zu machen. Aber es gibt immerhin Versuche in diese<br />

Richtung: die hierzulande wegen seiner einflusslosen Kapitalbeteiligung an der<br />

Kronenzeitung viel gescholtene WAZ-Mediengruppe, die sonst vor allem in Deutschland und<br />

Südosteuropa aktiv ist, hat z.B. (und vielleicht auch zur Kompensation der Wiener Anti-EU-<br />

Hetzkampagne) mit allen Redaktionen, auf die sie Einfluss hat, vor einem Jahr in Brüssel das<br />

größte international zusammengesetzte Korrespondenzbüro eingerichtet, und zwar mit dem<br />

erklärten Ziel, die europäische Ebene der politics und gesamteuropäische Policy-Themen mit<br />

der gleichen Intensität publizistisch bespielen zu können wie das Geschehen auf den<br />

jeweiligen nationalen Bühnen. Ähnliche Bemühungen zur Überwindung des nationalen lags<br />

gibt es auch in der Weiterbildung und im internationalen Austausch <strong>von</strong> Journalisten. Solche<br />

Initiativbeispiele sind umso bemerkenswerter, als sie selten sind und als es bisher kaum<br />

gelungen ist, die mittlerweile wohl gewichtigste Ebene der Mehrebenen-Governance in<br />

Europa medial kritisch zu durchdringen und interessant zu machen.<br />

3 Zur Topik des Utopischen<br />

Zum Schluss nur noch eine kurze Erinnerung. Ich habe vorhin, als ich <strong>von</strong> den frühen<br />

Erfahrungs- und Erwartungsschwellen der europäischen Integration sprach, mehrfach<br />

Europa als einen utopischen Topos bezeichnet. Luisa Passerini hat aus dieser<br />

Sehnsuchtsqualität der europäischen Ebene in der Zwischenkriegszeit nachgerade den<br />

Kerngedanken einer europäischen Identitätsvorstellung machen wollen. Es mag angesichts<br />

der Institutionalisierung der Eurokratie zwischen Brüssel, Luxemburg und Strasbourg samt<br />

ihrer Butterberge und Gurkennormen weit hergeholt erscheinen, auch heute noch ein<br />

utopisches Potential in der europäischen Politik erkennen zu wollen. Und manche werden<br />

sicher davor warnen, in Utopien etwas Sinnvolles zu sehen und an die utopischen<br />

Versprechungen totalitärer Bewegungen und Regime im 20. Jahrhundert erinnern. Und hat<br />

nicht der Aufstieg und Fall des Fakes einer „Europäischen Verfassung“ in den letzten Jahren<br />

gezeigt, dass unehrliche und unrealistische Versprechungen nur kontraproduktive Illusionen<br />

bewirken?<br />

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Vielleicht haben wir noch nicht die richtige Sprache für dieses hoffnungsvolle Ungenügen an<br />

Europa gefunden. Ich habe jüngst in den Autobiographien zweier besonders stark an der<br />

Einigung Europas engagierter und um sie verdienter Politiker aus Ost und West, nämlich<br />

denen <strong>von</strong> Vaclav Havel und Franz Vranitzky, gelesen, beides erfahrene und nüchterne<br />

Politiker. Und beim bürgerlichen Literaten aus Prag wie beim fast gleichaltrigen<br />

proletarischen Banker aus Wien habe ich erstaunlicherweise etwas Gemeinsames gefunden,<br />

nämlich dass sie ohne Einschränkung stolz auf ihr europäisches Engagement und doch<br />

irgendwie unzufrieden mit der Uninspiriertheit der derzeitigen europäischen Politik sind.<br />

Havel kommt die EU „furchtbar technokratisch und materialistisch“ vor, ihr Hauptziel, die<br />

USA einzuholen und sich überhaupt „ohne Gegenwehr in die Gesamtrichtung der<br />

gegenwärtigen Zivilisation“ ziehen zu lassen, nennt er „eindimensional“, „ärmlich“ und<br />

„stumpfsinnig“. „Ich denke, sie kann mehr. Sie kann nicht nur Beispiel einer friedlichen und<br />

gerechten politischen Ordnung im Rahmen eines Kontinents sein, sondern auch Beispiel des<br />

sinnvollen und schonenden Umgangs mit den eigenen Traditionen, der eigenen Kultur, der<br />

eigenen Landschaft, den eigenen Ressourcen.“ Und dann beklagt er, dass sie „ihre geistige<br />

Dimension verloren hat, so als ob in ihr eine wirkliche grundsätzliche Debatte fehlte über die<br />

Richtung der heutigen Welt, die Gefahren dieser Richtung und die Rolle, die auf diesem<br />

planetarischen Hintergrund dieser originelle Staatenbund spielen kann.“ (Fassen Sie sich<br />

bitte kurz. Gedanken und Erinnerungen, Reinbek 2007, S. 358 f.)<br />

Vranitzky wettert natürlich nicht gegen Wachstumsökonomie und hatte damals Hoffnungen<br />

auf Brüsseler Mehrheitsentscheide und den Übergang zu einer föderalen Verfassung. Aber<br />

auch er will „ein Europa, das sich nicht in Handel, Business und Transitverkehr bereits<br />

erschöpfend definiert wähnt.“ Deshalb glaubt er „an einen europäischen Rohstoff namens<br />

Kultur, der persönliche Autonomie und Selbstverantwortung, der Zweifel und<br />

Wissenswagnis, aber auch Solidarität und Verantwortung für die Gemeinschaft in sich<br />

vereint.“ Und immer wieder erwähnt er die Überwindung der Barbarei in Europa als<br />

eigentlichen Grund der europäischen Integration und das Risiko des Rückfalls. Weil die<br />

wirtschaftliche Integration allein nicht nachhaltig eine verbindende Wirkung bewirken<br />

könne, müssten „Kultur, Bildung, Ausbildung, Wissenschaft und Forschung … in den<br />

Vordergrund gerückt werden“. (Politische Erinnerungen, Wien 2004, S. 454)<br />

Soweit der Ansporn der Alten. Wir wollen in unserem kleinen Forschungsseminar danach<br />

fragen, in welche Abgründe die Jungen in Europa heute blicken und welche Hoffnungen und<br />

Erwartungen sie anleiten.<br />

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