Vortrag von Lutz Niethammer - Kulturen
Vortrag von Lutz Niethammer - Kulturen
Vortrag von Lutz Niethammer - Kulturen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Lutz</strong> <strong>Niethammer</strong><br />
Erfahrungsgeschichtliche Erwägungen<br />
zur Konstruktion Europas<br />
Antrittsvorlesung an der Universität Wien am 7. Oktober 2008<br />
Franz Vranitzky Chair for European Studies<br />
Magnifizenz, Herr Vorsitzender, Frau Dekanin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,<br />
liebe Studierende, meine Damen und Herren, sehr verehrter Herr Altbundeskanzler<br />
Vranitzky,<br />
seit 35 Jahren bin ich nun Professor und vieles an dieser Berufserfahrung habe ich als<br />
Geschenk erfahren. Dass ich schon mit jungen Jahren einen Lehrstuhl bekam, dass ich viele<br />
Forschungsteams anleiten konnte, dass mir im größeren Teil dieser Zeit auch akademische<br />
Leitungsaufgaben <strong>von</strong> der Fachgruppen- bis zur Rektoratsebene und bis zur Gründung eines<br />
Advanced Study Instituts anvertraut wurden, dass ich bisher in acht Staaten Europas bei<br />
Fellowships oder Gastprofessuren meinen Gesichtskreis erweitern konnte, dass ich nicht nur<br />
Studenten beraten durfte (was mir ohnehin das liebste an meinem Beruf ist), sondern auch<br />
gelegentlich Regierungen, Kultureinrichtungen und neuerdings sogar Unternehmen. Und als<br />
ein besonderes Geschenk empfand ich die Überwindung des Kalten Krieges und die innere<br />
Öffnung Europas und Deutschlands und dass ich in meinem Bereich an ihr mitwirken durfte.<br />
Aber jetzt geschieht mir etwas Neues, was ich als eine besondere Ehre empfinde, nämlich<br />
dass ich selbst als Geschenk fungiere darf, besser als Teil eines Geschenkpakets einer<br />
wirtschaftlichen Sponsorengruppe an den letzten großen Bundeskanzler Österreichs aus<br />
Anlass seines 70. Geburtstages und mithin auch als Teil eines Geschenks an diese Universität<br />
und ihre Studenten. Und etwas schöneres und zugleich herausfordernderes kann sich ein<br />
alter Professor eigentlich kaum vorstellen, als dass dieses Geschenk eines named chair for<br />
European Studies auch dem Namenspatron angemessen ist, der sein Land aus den<br />
Peinlichkeiten der Ära Waldheim heraus und mit überzeugender Würde und Mehrheit in die<br />
Europäische Integration hineingeführt hat, ein international und kulturell umsichtiger<br />
Wirtschafts- und Sozialpolitiker, der Österreich zu modernisieren und seiner geschichtlichen<br />
Besinnung den Beistand der Regierung zu verleihen verstand und der als ein<br />
sozialdemokratischer Politiker und Bankier mit Prinzipien und ohne Pleiten in Erinnerung<br />
geblieben ist. Er hat jüngst seine Nachfolger in der SPÖ vor der populistischen Anbiederung<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 1
an den nationalistischen Sumpf in Teilen der Publizistik und der Parteien beim Spiel mit der<br />
Europapolitik gewarnt und er hat vor zehn Tagen leider wieder einmal recht behalten.<br />
Und damit wäre ich nun eigentlich beim Thema. Aber ich will es nicht mit Blick auf diese<br />
Aktualität politikwissenschaftlich traktieren, zumal ich kein Politologe bin und es mir auch<br />
als Auswärtigem nicht ansteht, die österreichische Binnenpolitik zu kommentieren. Vielmehr<br />
will ich dem Krisenthema Europa und Nation eine historisch längerfristig angelegte<br />
Betrachtung widmen. Denn das österreichische Schlamassel ist ja nur eines unter vielen.<br />
Zugleich möchte ich mit dieser Betrachtung auch einen Rahmen für die beiden<br />
Lehrveranstaltungen skizzieren, die ich in diesem und dem folgenden Semester im Rahmen<br />
des „Franz-Vranitzky-Lehrstuhls für Europäische Studien“ anbieten will: nämlich einmal<br />
(und das zum ersten Mal im Master-Studiengang European Studies) ein historischsozialwissenschaftliches<br />
Forschungsseminar zur Erfahrungsgeschichte, genauer zu den<br />
nationalen Erfahrungsräumen und europäischen Erwartungshorizonten derzeit<br />
fortgeschrittener Studenten, stellvertretend für die kommende Generation Europas. Und<br />
zum zweiten eine Vorlesung in der Geschichte, die Oliver Rathkolb und ich gemeinsam für<br />
zwei Semester angelegt haben, über „Schlüsselbegriffe des 20. Jahrhunderts“. Sie soll – und<br />
das nicht nur für angehende Zeithistoriker – eine doppelte Orientierungsfunktion<br />
entwickeln: auf der einen Seite wollen wir begriffliche Schneisen durch die europäische<br />
Geschichte des letzten Jahrhunderts schlagen und damit Überblicke und Zusammenhänge<br />
einer Periode eröffnen, die sowohl die schlimmsten Erschütterungen und Katastrophen der<br />
Zivilisationsgeschichte überhaupt als auch einige der besonders zukunftsträchtigen Projekte<br />
eines solidarischen Zusammenlebens in Frieden und Freiheit erfahrbar gemacht hat.<br />
Orientierung soll diese Vorlesung darüber hinaus aber noch in einem anderen Sinn geben: sie<br />
wird keine begriffliche Dogmatik entfalten, sondern begriffsgeschichtlich der Entstehung und<br />
dem semantischen Wandel dieser Leitinstrumente unseres sozialen und politischen Denkens,<br />
dem was sie je und je fassen und aufschließen konnten und auch dem, was sie verbergen und<br />
der Debatte entziehen sollten, nachspüren. Unsere Erfahrungsbestände müssen durch den<br />
Filter einer historischen Reflexion unserer Verständigungskategorien hindurch, wenn aus<br />
ihnen sinnvolle Erwägungen über künftige Orientierungs- und Handlungsoptionen werden<br />
sollen.<br />
A Krise und Kritik der Konstruktion Europas<br />
Annäherung an die europäische Krise<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 2
Europa hat die Krise, wieder mal. Zuletzt wurde sie dadurch sichtbar, dass ein komplizierter<br />
multilateraler Staatsvertrag nach der Osterweiterung <strong>von</strong> NATO und EU im Kern die<br />
Einflussmacht <strong>von</strong> mittlerweile 27 nationalen Regierungen auf die europäische Integration<br />
neu bestimmen sollte, dass diese prosaische Aufgabe unter der pathetischen Formel einer<br />
europäischen Verfassung versteckt wurde und dass der Fake <strong>von</strong> Nizza prompt in zwei der<br />
traditionell am engsten mit dem politischen Projekt Europa verbundenen Nationalstaaten,<br />
Frankreich und Holland, in Referenden niedergestimmt wurde. Daraufhin wurde unter<br />
österreichischer Führung die europäische Verfassung wieder dekonstruiert, um<br />
Nachbesserungswünsche Italiens und Polens zusätzlich kompliziert und so vertrickst, dass<br />
fast keine Volksabstimmung zur Ratifizierung mehr notwendig war und also alles in<br />
trockenen Tüchern schien – ja, bis auf ein kleines gälisches Dorf, das sich gegen die ganze<br />
Folgewalze der Römischen Verträge auflehnte und erneut den Übergang zu einer halbwegs<br />
arbeitsfähigen Brüsseler Struktur aufhielt. Das ermunterte vielerorts nationale Populisten,<br />
nunmehr <strong>von</strong> der EU jene Demokratie einzuklagen, die sie eigentlich gar nicht mögen,<br />
weshalb sie das Ganze mit viel xenophoben Kraftausdrücken garnieren mussten. Die<br />
europäische Integration bockt wieder einmal an der Hürde zur Justierung des Verhältnisses<br />
zwischen den Nationalstaaten und ihrem kontinentalen Vereinigungswerk.<br />
Blickt man auf die fünf oder sechs Jahrzehnte europäischer Integration seit den römischen<br />
Verträgen 1957 bzw. dem Marshallplan 1947 zurück, so ist das allerdings nichts Neues,<br />
sondern die bewährte Sollbruchstelle in einem der weltweit vielversprechendsten und<br />
zugleich auf denkbar unsystematische Weise vorankommenden politischen Projekte unserer<br />
Zeit, das man deshalb nur historisch verstehen kann. Dieses wiederkehrende Thema kann<br />
man am besten anhand eines Leitmotivs verstehen, das der britische Europa-Historiker Alan<br />
Milward aus der Gründungsphase der europäischen Integration in der Nachkriegszeit im<br />
Zuge der Zuspitzung des Kalten Krieges herauspräpariert hat: ihre Motive wurzeln in der<br />
Erfahrung der Krisen und Kriege des Nationalismus und Imperialismus Europas, deren<br />
innere Zerstörungspotentiale durch die Bildung einer kontinentweiten Gemeinwohlsphäre<br />
überwunden werden sollte, die primär zur Überwindung der extremen Not und der<br />
zerrütteten internationalen Arbeitsteilung nach dem Zweiten Weltkrieg dienen, aber auch<br />
den Bedürfnissen der Moderne nach großräumigen Strukturen der Produktion, der<br />
Vermarktung und überhaupt des Austauschs gerecht werden sollten. In der Nachkriegskrise<br />
waren die Nationalstaaten (oder was <strong>von</strong> ihnen noch übrig war oder gerade wieder irgendwie<br />
auf die Beine kam) <strong>von</strong> Aufgaben solcher Größenordnung völlig überfordert und ihre<br />
Repräsentanten griffen nach dieser transzendierenden Perspektive wie nach einem<br />
Rettungsring. Aber als ihre Realisierung mithilfe der USA, die dem alten Kontinent die<br />
speziellere Aussicht eines Juniorpartner als „United States of Europe“ eröffnen wollten, im<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 3
Rahmen <strong>von</strong> Marshallplan und OEEC, NATO, Europarat und Gemeinschaft für Kohle und<br />
Stahl begann, ließ der Leidensdruck der Nationalstaaten nach, sie begannen sich zu<br />
konsolidieren und der föderalistische Impuls verblasste hinter der Restauration nationaler<br />
politischer <strong>Kulturen</strong> und ihren ererbten, oftmals imperialen Problemen.<br />
Dennoch hat der Integrationsprozess nicht aufgehört, sondern hat sich in neuen Krisen,<br />
neuen inter-, trans- und supranationalen Lösungsstufen und dialektischen Entlastungen und<br />
Konsolidierungen der nationalen Strukturen in immer neuen Partnerkonstellationen<br />
fortgesetzt, so dass am Ende jedes Problem des alten Kontinents eine andere Geografie und<br />
institutionelle Hülle seiner tentativen Lösung bekam: die NATO und die EWG, Schengen<br />
oder der EURO usw. Und dazwischen wurden über die Jahrzehnte immer wieder<br />
Konsolidierungsversuche dieses ebenso flexiblen wie unsystematischen<br />
Integrationswachstums unternommen, die oft auf den ersten Blick so aussahen, als zielten sie<br />
auf einen kontinentalen Bundesstaat. In Wahrheit waren sie zumindest seit dem coup des<br />
états 1976 aber im Ergebnis immer so konstruiert, dass trotz Gerichtshof, Kommission und<br />
Parlament der Europäische Rat, d. h. die Chefs und Regierungsvertreter der Nationalstaaten,<br />
als staatenbündische Grundlage der ganzen Veranstaltung das Sagen behielt. Das war auch<br />
die Voraussetzung der Lösungsmöglichkeit der letzten großen Herausforderung, der weithin<br />
als alternativlos empfundenen Ost-Erweiterung um jene Staaten, die gerade erst ihre<br />
nationale Freiheit aus dem sowjetischen Imperium gewonnen hatten. Sie wollten nicht in ein<br />
neues unentrinnbares, übermächtiges Bündnis und doch drängte sie ihr Schutzbedürfnis,<br />
ihre Aufbau- und Austauschinteressen und oft auch die traditionelle Orientierung ihrer<br />
Nationalkultur zurück nach (West)-Europa. Die Westeuropäer hatten sich ab kurz vor dem<br />
Abtritt der Sowjetunion eine Vertiefung der westeuropäischen Integration vorgenommen.<br />
Der Slogan der 90er Jahre, Erweiterung und Vertiefung, sollte sich als Illusion der<br />
Jahrhundertwende herausstellen, die sich im Fake einer Europäischen Verfassung und dem<br />
Vertrag <strong>von</strong> Nizza ausformte, und alsbald der Konsolidierung der neuen Nationalstaaten<br />
anheimfiel. Mit dem Vertrag <strong>von</strong> Lissabon hat sich diese Illusion verzogen und mit dem<br />
irischen Nein steht auch diese Desillusionierung noch zur Nachbesserung an.<br />
Nach dem dialektischen Leitmotiv der europäischen Integration sind wir derzeit im Rezitativ<br />
nationaler Restauration, bis zur nächsten Herausforderung, sei es nun durch einen<br />
wachsenden overspill der amerikanischen Finanzkrise, eine Krise um die Ukraine oder den<br />
Iran oder was auch immer – im Zuge der Ausbildung einer multipolaren und risikoreichen<br />
Welt wird es an Herausforderungen nicht fehlen. In der nationalen Gegenbewegung<br />
vermischen sich Protest gegen undurchschaubare Übermacht mit xenophober Abwehr,<br />
romantische Sinnsuche und die Benutzung Europas als Ersatzschlachtfeld gerade auch im<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 4
Kampf gegen versteinerte Herrschaftsverhältnisse in der Nation. Hier hat man noch die<br />
sichtbare Macht des Protests und durch die verweigerte Zustimmung auf nationaler Ebene<br />
wird die größere Maschine aufgehalten. Denn in Bezug auf Europa weiß der einzelne nicht,<br />
ob die Prozesse über ihn hinweg gehen oder ob seine Stimme noch etwas bewirkt. Nur bis zur<br />
nationalen Ebene reicht bei den meisten die Erfahrbarkeit demokratischer Praxis.<br />
Sozialwissenschaftler lehren uns auch aus neuesten Umfragen, dass Europa nach wie vor<br />
hauptsächlich ein Projekt <strong>von</strong> Eliten sei, während seine Völker weitgehend der Tradition des<br />
Nationalstaats verhaftet bleiben und sich nur dann näher mit dem Welttheater einlassen,<br />
wenn es in der Muttersprache gegeben wird und auf der vertrauten Kleinkunstbühne<br />
nationaler Medien menschelt. Aber in diesem an sich nicht unvertrauten Bild gibt es etwas<br />
Neues: das Engagement am Projekt Europa korreliert quer durch Europa neuerdings mit<br />
Alter (und mit Konsens in den Eliten), während Protest in nationalen Kontexten sich wohl<br />
nicht nur in diesem Lande verjüngt und verbreitert. Das gibt zu denken und das wollen wir<br />
hier tun, auch wenn die Dialektik des Nationalen im Europäischen Integrationsprozess nicht<br />
so überraschend anmutet, sondern die Regel ist. Denn dieser Prozess ist, seit er<br />
realgeschichtlich vorangekommen ist, nie völlig aus dem Paradigma der Nation<br />
herausgetreten oder gar zu ihrem Antipoden geworden, sondern hat es entlastet, zivilisiert,<br />
als Spielraum der Demokratie wieder ermöglicht. Aber dieser Spielraum ist auch ein wenig<br />
Kasperltheater, andere würden vielleicht sagen: ein ideologischer Raum in einer postnationalen<br />
Konstellation, als hier vielfach (allerdings mit abnehmender Resonanz im<br />
Publikum, aber immer noch mit aufgeregter Medienbegleitung) ein Schattenboxen um<br />
Kompetenzen stattfindet, die auf dieser Ebene praktisch nicht mehr verfügbar oder durch<br />
De-Regulierung für staatliche Akteure überhaupt nicht mehr greifbar sind, es sei denn durch<br />
Austritt aus der EU – aber diesen Test auf die Ernsthaftigkeit des nationalen Schattenboxens<br />
hat noch keiner versucht.<br />
Kritik vorherrschender approaches: Struktur und Identität<br />
Um der Krise Europas abzuhelfen, die wie gesagt so alt ist wie die europäische Integration,<br />
aber nach der Wiedervereinigung Europas, nach Fortschritten in der Erfahrbarkeit der<br />
Integration z.B. durch den Euro und im Zuge der Wahrnehmung der Globalisierung der<br />
Medien, der Finanzströme, der Migration und des Verbrechens eine neue Qualität<br />
angenommen hat, hat die Wissenschaft im Wesentlichen zwei begriffliche Instrumente und<br />
auch diese sind so alt wie die Integrationspolitik selbst.<br />
Das strukturelle Paradigma gilt der Unüberwindlichkeit nationalstaatlicher Souveränität. Im<br />
Ergebnis erscheint es euroskeptisch, weil es auf die Beharrungskraft der nationalen,<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 5
staatenbündischen Struktur Europas bei der Suche nach einem supranationalen Bundesstaat<br />
abhebt. Folgt man der Analyse dieses Strukturgegensatzes, so liegt aller Jammer Europas<br />
darin begründet, dass die Nationen des alten Kontinents den selbstüberwindenden<br />
qualitativen Sprung in die Supranationalität des Kontinents nicht schaffen, ja bei Strafe ihrer<br />
Selbstentleibung zu verhindern suchen. Die einen (meist Kontinentaleuropäer) fordern einen<br />
qualitativen Sprung, manchmal im Risorgimento-Stil sogar als Sehnsucht nach dem<br />
Gewaltstreich eines europäischen Bismarck gefasst. Andere (meist anglo-amerikanische<br />
Atlantiker und Exponenten <strong>von</strong> Amerikas „Neuem Europa“ in Ostmitteleuropa) analysieren<br />
befriedigt, dass es zu einem solchen Sprung nicht kommen wird, Europa in seiner Struktur<br />
gouvernementaler Regierungskonferenzen verharrt und eine kopflose Großmacht bleibt. Als<br />
wesentlicher Grund für die Unüberwindlichkeit der staatenbündischen Grundstruktur<br />
erscheinen einerseits divergierende nationale Interessen, andererseits die strukturelle<br />
Verankerung der Demokratie im nationalen Raum, in dem die Völker Europas fast<br />
durchgehend der (außer in Großbritannien und Estland) fast ebenso durchgehenden<br />
europäischen Aufgeschlossenheit ihrer Eliten mit deutlicher Skepsis gegenüberstehen, weil<br />
sie <strong>von</strong> weiterer Supranationalität eine weitere Beschneidung ihrer<br />
Mitwirkungsmöglichkeiten befürchten. Man könnte es auch so sagen: in den Krisen Europas<br />
macht seine Integration Fortschritte, aber diese Fortschritte entlasten die Nationalstaaten<br />
des alten Kontinents <strong>von</strong> ihren unlösbaren Aufgaben und ermöglichen ihnen den Fortgang<br />
des nationalen Theaters.<br />
Das andere derzeit besonders wichtige Paradigma der Europaforschung ist eher<br />
kulturwissenschaftlich informiert, hebt programmatisch auf die Konstruktion einer<br />
europäischen Identität ab und argumentiert mit den Grenzen des alten Kontinents, der dabei<br />
als eine eher homogene Größe unterstellt wird. Traditionell wird dabei als Inhalt das<br />
christliche Abendland bemüht und einer der Pioniere der europäischen Bewegung, Denis de<br />
Rougemont, wollte sogar die Achtung vor der Frau in der mittelalterlichen Courtoisie und<br />
Minne als wesentliches Unterscheidungsmerkmal Europas erkennen, was allerdings den<br />
Ausgriff der Gender-Studies auf die außereuropäische Geschichte nicht überlebt hat. Andere<br />
haben weniger weit hergeholte Identitätsmerkmale vorgeschlagen: so hat beispielsweise<br />
Hartmut Kaelble aus globalen Vergleichen die Sozialstaatlichkeit als Besonderheit Europas<br />
heraus präpariert; allerdings kam diese Identitätsbestimmung kurz bevor der Begriff Reform<br />
in fast allen europäischen Nationen mit dem Abbau des Sozialstaats identifiziert wurde.<br />
Kollektive Identität wird durch Differenz und Alterität im Verhältnis zu einem äußeren<br />
Anderen konstituiert und lässt sich am besten dann als Gemeinschaft imaginieren, wenn man<br />
gut eurozentrisch sowohl <strong>von</strong> der inneren Differenz Europas als auch <strong>von</strong> der<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 6
Vielgestaltigkeit seiner äußeren Partner und Gegner absieht, <strong>von</strong> denen viele gemeinsame<br />
Traditionen mit Europa teilen. Das Problem einer solchen Identitätsbestimmung Europas<br />
beginnt freilich schon im Innern, gehört doch der Leitslogan der europäischen Bewegung<br />
„Einheit in der Vielheit“ zum immer wieder aufgerufenen Pathos des alten Kontinents.<br />
Insofern sperrt sich Europa <strong>von</strong> alters her <strong>von</strong> innen heraus gegenüber einer Bestimmung<br />
seines Wesens, während seine Abgrenzung nach außen – nicht zuletzt als Folge seines<br />
Ausgriffs auf die Beherrschung der Welt in der Neuzeit – einer ähnlichen Diffusion seiner<br />
Kriterien unterliegt.<br />
B Das Potential erfahrungsgeschichtlicher Erwägung<br />
Auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Strukturdilemma und den<br />
Identitätskonstruktionen Europas möchte ich nun vorschlagen, vom ausgetrampelten Pfad<br />
herkömmlicher Definitionen, was Europa vom Rest der Welt unterscheide und wieweit es<br />
deshalb reiche, abzuweichen, also <strong>von</strong> Begriffsbestimmungen, die <strong>von</strong> ihrem konstruktiven<br />
Nutzen zur Unterscheidung und Abgrenzung her gedacht sind. Aber es geht mir dabei nicht<br />
darum, solchen Konstruktivismus durch Essentialismus zu ersetzen, also willkürliche und<br />
meist normativ gemeinte Wesensbestimmungen dessen, was Europa oder was ein<br />
Nationalstaat sei, wie sich ein Bundesstaat vom Staatenbund unterscheide und wohin<br />
deshalb die Reise gehen müsse. Die Geschichte der europäischen Integration ist voller<br />
Definitionskonstrukte und Wesensprogramme, aber stattgefunden hat etwas anderes. Wie<br />
könnte man realistischer werden?<br />
Man könnte sich zunächst dafür interessieren, warum die föderalistische Traditionsbildung,<br />
der Ziel- und Werttransfer in Bezug auf den Ausweg Europa aus seiner nationalstaatlichen<br />
Struktur <strong>von</strong> der älteren an die jüngere Generation und <strong>von</strong> den Eliten an die Massen an<br />
Wirksamkeit nachgelassen hat. Ich nenne das eine erfahrungsgeschichtliche Fragestellung.<br />
Sie ist empirisch ausgerichtet, aber bezweckt nicht genaue Mess- und Manipulierbarkeit <strong>von</strong><br />
Einstellungen, sondern ein typologisches Verständnis subjektiver Verlaufslogiken, wie sich<br />
aus bestimmbaren Erfahrungsräumen künftige Wahrnehmungsmuster, die Empfänglichkeit<br />
für Wertpräferenzen und ganze kulturelle Erwartungshorizonte aufbauen. Diese Leitbegriffe<br />
verleugnen nicht den Einfluss der Ideen- und Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks;<br />
dennoch hat Erfahrungsgeschichte als empirische Bemühung in der Zeitgeschichte noch eine<br />
andere Herkunft.<br />
„Erfahrungsgeschichte“ ist ein historisch-methodologischer Begriff, der viel <strong>von</strong> den<br />
wissenschaftlichen Ansätzen linker Kollegen vor allem in England, Frankreich und Italien<br />
gelernt hatte, bevor wir ihn vor 25 Jahren einführten. Das Wort ist heute in Deutschland<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 7
erstaunlich weit verbreitet, hat sich aber weitgehend <strong>von</strong> diesen Vorgeschichten gelöst und<br />
eine sehr vage Bedeutung angenommen, die auf irgendeine Berücksichtigung <strong>von</strong> Mentalität<br />
und Subjektivität der ‚kleinen Leute’ in der Geschichtsschreibung hinausläuft. Damals war<br />
mit Erfahrungsgeschichte etwas zugleich Spezifischeres und Allgemeineres gemeint. Der<br />
orthodoxe Marxismus und besonders seine sowjetischen Uminterpreten hatten in ihrer<br />
abgehobenen Theorie kultureller Widerspiegelung der Produktionsverhältnisse die Dynamik<br />
und Eigengesetzlichkeit kollektiver Lernprozesse völlig versäumt. Bei seinen westlichen<br />
Gegnern weste ein elitärer Essentialismus des Geistes, der die sozialen Rahmungen unserer<br />
Prägungen und Wahrnehmungen leugnete oder verachtete. Inmitten des Abenteuers einer<br />
neuen Praxis <strong>von</strong> Alltagsgeschichte und Oral History suchten wir nach Begriffen, die fähig<br />
wären, die Anregungen <strong>von</strong> Existentialismus, Strukturalismus und der Neuen Linken, <strong>von</strong><br />
Jean-Paul Sartre, Edward Thompson, Pierre Bourdieu und anderen Mitsuchenden<br />
aufzunehmen und den Bereich der Erfahrung der Vergangenheit, der unsere künftigen<br />
Wahrnehmungen und Handlungen strukturiert, zugleich zu einem empirischen und<br />
dynamischen zu machen. Was machst Du aus dem, was die Verhältnisse aus Dir gemacht<br />
haben, hatte Sartre gefragt. Thompson hatte hinzugefügt: Gibt es denn eine gesellschaftlich<br />
wirksame Klasse, ohne dass man ihren drive aus ihren kollektiven Erfahrungen<br />
rekonstruieren könnte? Wir mussten also nach Erfahrungen fragen, die stark genug waren,<br />
auch unter veränderten Bedingungen künftige Wahrnehmungen zu strukturierten. Nachdem<br />
die Geschichtsphilosophie ins Abseits geführt oder sich als Wunschkonstruktion<br />
herausgestellt hatte, sollte Geschichte immanent geschichtlich erklärt werden. Mit anderen<br />
Worten: der Erwartungshorizont, in dem sich Handlungsimpulse erst ausbilden können, war<br />
weder in den Spiegelkabinetten der Produktionsverhältnisse noch in jenen des absoluten<br />
Geistes zu suchen, sondern in der empirischen Historizität jeweiliger Erfahrung. Blieb<br />
natürlich die Frage, ob man diese überhaupt und in welchen exemplarischen Zurichtungen<br />
und Annäherungen man sie erforschen könnte.<br />
In mehreren größeren Oral-History-Untersuchungen, die freilich nicht dem hier zur Debatte<br />
stehenden Thema gegenwärtiger europäischer Erwartungen, sondern der<br />
Erfahrungsgeschichte deutscher Arbeiter im Nationalsozialismus und in der deutschen<br />
Zweistaatlichkeit, dann einer sich vorbereitenden Krise in der DDR und später dem<br />
Werttransfer zwischen den Kindern der DDR (zuweilen auch „68er Ost“ genannt) und den<br />
sog. Mauerfall-Kindern und deren Erwartungshaltungen gewidmet waren, meine ich<br />
herausgefunden zu haben, dass tiefenhermeneutisch angelegte Erinnerungsinterviews nicht<br />
nur ein Verstehen subjektiver Geschichtserfahrung ermöglichen, sondern auch ein<br />
behutsames Spurenlesen in die Zukunft erlauben, insofern diese subjektiven Erfahrungen<br />
näher eingrenzbare künftige Wahrnehmungs- und Handlungsmuster begünstigen. Diese sind<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 8
damit nicht determiniert, sondern prädisponieren nur zu ähnlichen Antworten einer<br />
Erfahrungsgruppe auf künftige gesellschaftliche Herausforderungen, wenn diese sich als<br />
anschlussfähig für tiefgreifende Krisenerfahrungen dieser Gruppe in der Vergangenheit<br />
erweisen.<br />
Bei den Spuren der Erfahrungsgeschichte in die Zukunft handelt es sich also immer nur um<br />
notwendige, aber nicht um hinreichende Bedingungen künftiger Wahrnehmungs- und<br />
Wertmuster. Schon insofern brauchen diese Interpretationen sozialer Subjektivität der<br />
Ergänzung durch Strukturbegriffe, die allerdings nicht einfach abgeleitet werden können,<br />
sondern sich ebenfalls der beschreibenden Annäherung an gegenwärtige<br />
Trendverschiebungen im Makrobereich verdanken. Dafür schlage ich hier – und auch darin<br />
beanspruche ich keinerlei Originalität – die Diffusion des klassischen Staatsbegriffs des 19.<br />
Jahrhunderts (und damit auch aller definitorischen Distinktionen <strong>von</strong> Nationalstaat,<br />
Souveränität, Staatenbund etc.) zugunsten einer Mehrebenen-Governance in Europa vor.<br />
Auf diese Diagnose werde ich gleich zurückkommen, möchte aber zunächst die<br />
erfahrungsgeschichtliche Fragestellung in Bezug auf die europäische Integration skizzenhaft<br />
noch etwas näher veranschaulichen, um auch <strong>von</strong> ihrer Aktualität aus den Zusammenklang<br />
mit dem entstehenden Mehrebenenstaat nahe zu legen.<br />
Wellen <strong>von</strong> Erfahrung und Erwartung<br />
Erst seit dem Ersten Weltkrieg kann man <strong>von</strong> den Anfängen einer Geschichte der<br />
europäischen Integration sprechen, wenn diese etwas mit dem Ziel einer den kontinentalen<br />
Raum mehr oder minder umfassenden politischen und ökonomischen Selbststeuerung oder<br />
Koordinierung zu tun haben soll. Das Ziel blieb in der Zwischenkriegszeit ein Programm<br />
minderheitlicher Eliten, obwohl der größer angelegte Völkerbund mangels amerikanischer<br />
Beteilung auf eine wenig konfliktfähige Gesellschaft europäischer Nationalstaaten inmitten<br />
aufstrebender Diktaturen schrumpfte, immerhin Friedens- und Kooperationsperspektiven<br />
zur Überwindung der deutsch-französischen Erbfeindschaft zu entwickeln erlaubte, wenn sie<br />
auch letztlich zu nichts führten. Die zuerst 1923 hier in Wien veröffentlichte Paneuropa-<br />
Vision <strong>von</strong> Graf Coudenhove-Kalergi, einen gegenüber Russland abgegrenzten kontinentalen<br />
Wirtschaftsgroßraums (also ohne England) als Grundlage einer neuen europäischen<br />
Großmachtstellung in der Welt jenseits der brüchigen Kolonialreiche zu bilden, antwortete<br />
auf den Krieg, den Untergang der mittel- und osteuropäischen Imperien, den Kommunismus<br />
an der Macht und (wie auch mehrere grenzüberschreitende industrielle Initiativen) auf den<br />
Bedarf moderner Industrien nach großen Märkten, um konkurrenzfähig gegenüber den USA<br />
zu werden und sollte durch den Zusammenbruch des internationalen Austauschs in der<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 9
Weltwirtschaftskrise zusätzlich an Aktualität gewinnen. Mithilfe dieser Vision wurde in den<br />
politischen und ökonomischen Eliten ein beachtliches transnationales Netzwerk geknüpft,<br />
aber in Konkurrenz mit den totalitären Bewegungen der Zwischenkriegszeit ergriff sie die<br />
Massen nicht und blieb eine topische Utopie. Diese Formel könnte man auch für die Europa-<br />
Erotik damaliger britischer Intellektueller bemühen, auf die vor zehn Jahren Luisa Passerinis<br />
„Europe in Love. Love in Europe“ hingewiesen hat: die Erfüllung der Sehnsucht nach<br />
Befreiung aus den Fesseln der Konvention und nach neuen Lebensformen wurde im<br />
transnationalen Übergriff über den Kanal gesucht. Wichtig erscheint mir für diese erste<br />
Schwelle dramatischer Erfahrungen im und nach dem Ersten Weltkrieg und erster<br />
Erwartungen an eine Vereinigung europäischer Nationalstaaten, dass sie überschießende<br />
Sehnsüchte nach und Visionen einer räumlichen Transzendenz in Europa nährten, die zwar<br />
damals unerfüllt blieben, aber auch heute noch Europa eine besondere Aura gibt: ein<br />
Kontinent der Sehnsucht jenseits dessen, was in den Nationen verbrochen worden oder<br />
unerfüllt geblieben ist. Je mehr die europäische Integration im letzten halben Jahrhundert<br />
praktische wirtschaftliche und bürokratische Formen angenommen hat, desto mehr droht<br />
sich diese Sehnsuchtswolke in einen Angstschatten zu verwandeln: Brüssel als eine<br />
undurchschaubare Megamaschine, die alle Lebensdimensionen in Güter, Geld und<br />
Geschwindigkeit verengt, nicht die Vielfalt des alten Kontinents eint, sondern vereinheitlicht<br />
und die Kleinteiligkeit angestammt erscheinender Sicher- und Besonderheiten bedroht.<br />
Im Zweiten Weltkrieg wurde vieles klarer, politischer, aber auch widersprüchlicher. Zuerst<br />
die ausplündernde und massenmordende Besatzungsherrschaft des Dritten Reiches in mehr<br />
als der Hälfte des Kontinents, dann in der Rückzugsphase die Mobilisierung einer<br />
multiethnischen europäischen Abwehrfront der Waffen-SS gegen den Vormarsch der Roten<br />
Armee. Dagegen der strikt linksnationale Widerstand kommunistisch angeleiteter Partisanen<br />
in vielen Teilen Europas und – und das oft in denselben nationalen Résistance-Bündnissen –<br />
der Aufschwung <strong>von</strong> liberalen, sozialdemokratischen und religiösen Aktionsgruppen<br />
europäischer Föderalisten, die Hitlers untergehendem Europa ein supranationalen Europa<br />
der moralischen Aufrüstung, antifaschistischer Kooperation und eine neue Friedensordnung<br />
entgegen stellten, ja rundweg einen Bundesstaat jenseits all der durch Niederlagen oder<br />
internationale Übergriffe inkriminierten Nationalstaaten forderten. Wie schon anhand <strong>von</strong><br />
Alan Milward’s europäischem Dilemma erläutert, brach sich diese zweite und bisher stärkste<br />
Welle für ein supranationales und föderatives Europa, die damals viele Gemüter auch weit<br />
über die Schranken der Eliten und Parteien hinaus bewegte, an der Entlastung der<br />
westeuropäischen Nationalstaaten <strong>von</strong> einigen ihrer drängendsten Probleme durch internationale<br />
Koordinierung und amerikanische Hilfe. Zugleich zerfiel in der Zuspitzung des<br />
Kalten Krieges die Anti-Hitler-Koalition en gros wie auch en detail in so gut wie jedem<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 10
europäischen Land. Die bei Kriegsende vorherrschende Perspektive auf einen dritten Weg<br />
zwischen Kapitalismus und Kommunismus schrumpfte auf kleine Außenseitergruppen und<br />
wenige neutrale Länder. Und in der Folge verschwand sie schrittweise vollends <strong>von</strong> der<br />
Agenda Europas: nach jedem militärischen Schlag Moskaus gegen die Rebellionen in seinen<br />
Satellitenstaaten – 1953 in Berlin, 1956 in Poznan und viel einschneidender in Budapest,<br />
1968 in Prag und dann in den 80er Jahren flächendeckend und ebenso stimulierend in<br />
Polen.<br />
Ich überspringe hier die lange Phase zwischen dem Zusammenbruch des Projekts einer<br />
europäischen Verteidigungsgemeinschaft und Maastricht, in der die Ersatzlösungen für den<br />
gescheiterten Bundesstaat oft krisenhaft und unsystematisch, aber im Rückblick mit<br />
gouvernementaler Beharrlichkeit und unter Einschluss immer weiterer Länder aufgebaut, die<br />
Markt- und Kommunikationshemmnisse zwischen ihnen abgebaut, durch eine Flut <strong>von</strong><br />
administrativen Regulierungen ersetzt und die beiden Grunddimensionen dieser Integration<br />
immer weiter vorangetrieben wurden: das militärische Bündnis der Nordatlantikpakt-<br />
Staaten unter Führung der USA und die Ausbildung und Ausweitung des Gemeinsamen<br />
Marktes der Europäischen Gemeinschaft in Westeuropa. Ich überspringe diese Phase, weil<br />
sie zwar vieles im Alltag und beim Austausch der Westeuropäer veränderte, gerade in den<br />
ärmeren Regionen des Kontinents bisher ungekannte Entwicklungsperspektiven eröffnete<br />
und eine der längsten Perioden im europäischen Gedächtnis ohne Krieg und mit einem<br />
wirtschaftlichen Aufwärtstrend darstellt. Aber, wie die Franzosen sagen: ein glückliches Volk<br />
hat kein Gedächtnis. Wohlstand, Frieden und Freiheit sind einlullende Dimensionen des<br />
Vergessens und keiner braucht dafür Gründe. Und der anonyme Integrationsprozess mit<br />
seinen vielen immer gleich aussehenden Regierungskonferenzen, ihren immer gleichen<br />
diplomatisch verklausulierten Ergebnissen hat außer für Spezialisten keine Ereignisgeschichte<br />
hinterlassen. Dagegen ist der Kalte Krieg voller Ereignisse, die jeder kennt und<br />
seit 1989/90 sind beide Ketten ereignishaft verflochten worden: seit dem Ende der<br />
sowjetischen Herrschaft in Europa und besonders über Ostmitteleuropa hat auch die<br />
Geschichte der europäischen Integration ihre Selbstverständlichkeit verloren.<br />
Die (west)Europäische Gemeinschaft wollte damals gerade eine Währungsunion und<br />
föderalistische Strukturfortschritte einleiten, Vertiefung genannt, als sie mit der Frage ihrer<br />
Osterweiterung und dem Ausbruch der Balkankriege konfrontiert wurde. Die Völker in Ost<br />
und West kannten sich wenig, die politischen Klassen kaum mehr, die Erfahrungsräume und<br />
Lebensverhältnisse waren unterschiedlich gewesen. Der Westen wollte sich der Erweiterung<br />
nicht entziehen, aber an seinem Vertiefungsprojekt festhalten, um sich den alten<br />
bundesstaatlichen Versprechungen wieder zu nähern. Zur Osterweiterung gab es keine<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 11
wirkliche Alternative, denn wenn sie verweigert worden wäre, waren chaotische Verhältnisse<br />
und riesige Migrantenströme zu erwarten. Vielleicht sollte man hier gegenüber der neuen<br />
Mixtur aus Ausländerhass und Anti-EU-Propaganda gerade in den inneren Grenzregionen<br />
nicht unerwähnt lassen, dass die EU nicht zur Überflutung mit Migranten geführt, sondern<br />
diese eingedämmt hat. Der Osten brauchte Hilfe, aber bei genauerer Betrachtung erwiesen<br />
sich die westeuropäischen Modelle nicht immer als das, als was sie vorher erschienen waren,<br />
und manche waren wohl auch enttäuscht, dass sie nun nicht an den wahren Westen, an<br />
Amerika grenzten. Quer durch die Region gab es in unterschiedlichen Graden ein Schutzund<br />
Abgrenzungsbedürfnis gegenüber Russland und eine Wiederkehr des Nationalen<br />
(einschließlich seiner Probleme in multiethnischen Subregionen, die in Ex-Jugoslawien<br />
alsbald kriegerische Formen annahmen), besonders des mehr oder weniger reinen<br />
Nationalstaats im erstmaligen Genuss seiner aus langer sowjetischer Oberhoheit geborgenen<br />
Souveränität. Vertiefung und Erweiterung waren weniger eine Überforderung der<br />
Ressourcen als vielmehr zwei oft nachgerade entgegen gesetzte politische Zielrichtungen.<br />
Und aufs Ganze gesehen muss man wohl einräumen, dass das dramatische Ereignis der<br />
letzten Jahre die Erweiterung der NATO und der EU und nicht ihre Vertiefung geworden ist.<br />
Der Verfassungsvertrag scheiterte nicht nur an Volksabstimmungen (übrigens durchweg in<br />
westlichen Ländern), sondern auch an dem wenig erfolgreichen Kaschierungsversuch der<br />
gouvernementalen Grundstruktur der EU und ihrem demokratischen Defizit. Und auch weil<br />
Europa (verstanden als Brüsseler Superstruktur) so ein schönes Ersatzschlachtfeld für<br />
innenpolitisches Schattenboxen ist.<br />
Erfahrungsgeschichtlich erscheint es mir nun eine interessante Frage, ob und ggf. wie und<br />
aufgrund <strong>von</strong> welchen Vorerfahrungen in der jüngeren Generation sich ein<br />
Erwartungshorizont Europa entwickelt. Ein Studiengang Europa-Studien, in dem unter 22<br />
Eingeschriebenen nur vier österreichische und zwei deutsche Graduierte sind, dafür die<br />
Mehrheit etwa zu gleichen Teilen aus Südost- und Südwesteuropa und kultur- und<br />
sozialwissenschaftliche Qualifikationen mitbringen, erscheint mir hier als eine Einladung zu<br />
einer kleinen modellhaften Selbsterforschung, ob es eine Einheit in der Vielheit gibt,<br />
wodurch sie sich auszeichnet und ob sich im Übergang <strong>von</strong> der Jugendforschung zur<br />
Beobachtung emergenter Eliten neue Deutungen und Verhaltensmuster in Europa<br />
abzeichnen.<br />
Begriffliche Erwägung<br />
Überall in Europa gibt es Staaten, die trotz gewichtiger alter und neuer Minderheiten in der<br />
Regel Nationalstaaten genannt werden und im Gegensatz zum ersten Anschein unseres<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 12
zunehmend <strong>von</strong> Binnengrenzen befreiten Lebens in Europa sind diese Staaten der Raum, in<br />
dem demokratische Willensbildung inszeniert, medialisiert, legitimiert und auch am ehesten<br />
praktiziert wird. Mehrere dieser Staaten, die nicht über eine eigene föderalistische Tradition<br />
verfügen, haben sich mittlerweile regionalisiert und dabei basisnähere<br />
Mitwirkungsmöglichkeiten auch oberhalb der klassischer weise für bürgernahe Mitwirkung<br />
offeneren Kommunalpolitik eröffnet. Zunehmend wird beobachtet, dass aber auch politisch<br />
relevante z.B. religiöse oder wirtschaftliche Körperschaften, Medien und NGOs, die sich<br />
weder auf das Territorialprinzip noch auf demokratische Legitimierung stützen müssen,<br />
einen starken Einfluss auf Selbstverwaltung und Willensbildung entfalten, wofür Ulrich Beck<br />
die Bezeichnung „Sub-Politik“ gefunden und ihr z.T. eine größere politische Bedeutung als<br />
demokratisch legitimierten Verfahren zugesprochen hat. Die Regierungen der<br />
Nationalstaaten tragen die europäische Integration, die nicht nur in unterschiedliche<br />
funktionale Bereiche wie Militär und Wirtschaft, Polizei oder Bildung mit jeweils<br />
verschiedenen Beteiligungskonstellationen zerfällt, was die Definitionsmerkmale des<br />
neuzeitlichen Staatsbegriffes zerreißt, wenn man ihn an NATO und EU, Schengen, den<br />
Europarat etc. etc. anlegt, die doch auf andere Weise die außerordentliche Elastizität der<br />
Selbstorganisation Europas und seine Anschlussfähigkeit an vergleichbar plurale Strukturen<br />
in der Ansätzen zu einer Selbstregierung des Globus in- und außerhalb der UNO verbürgen.<br />
Darüber hinaus diffundieren an der Spitze der kontinentalen Mehrebenen-Governance auf<br />
eine schwer fassbare Weise aber die traditionellen Dimensionen des neuzeitlichen Staates:<br />
Souveränität und Demokratie ebenso wie die Einheit <strong>von</strong> Staatsvolk und Staatsgebiet oder<br />
das Gewaltmonopol. Denkt man diese heute viel diskutierten Strukturen nicht vom<br />
klassischen Staatsbegriff und seinen Letztzuständigkeiten und Entscheidungen her, sondern<br />
<strong>von</strong> den Regierungsfunktionen verflochtener Gesellschaften, so bleibt das demokratische<br />
Defizit auf der obersten Verständigungs- und Gestaltungsebene eine auf absehbare Zeit<br />
provokante Herausforderung. Auf der anderen Seite steht aber auch eine beträchtliche,<br />
weltgeschichtlich sogar einzigartige Befriedungs-, Integrations- und<br />
Modernisierungsleistung. Dass diese im wesentlichen doch auf einer nationalstaatlichen<br />
Struktur und ihren Koordinierungsorganen aufsitzt und derzeit deren Überwindung nicht in<br />
Sicht ist, hat den ost- und südosteuropäischen Ländern, deren neue Souveränität und<br />
nationale Unabhängigkeit erst noch pathetisch genossen sein wollen, bevor sie in kaum mehr<br />
entrinnbaren Bindungen und dem Alltag kontinentaler Abstimmungsapparate relativiert<br />
werden, hat also – will ich sagen – dieses Lag der westeuropäischen Integration den<br />
Hinzutritt der osteuropäischen Reformstaaten wesentlich erleichtert.<br />
Insofern müssen wir unsere erfahrungsgeschichtlichen Befunde und – seien wir vorsichtig –<br />
Ahnungen in Beziehung zur diskursiven Verwandlung begriffener Macht setzen. Semantik ist<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 13
ein umkämpftes Terrain. Ob wir „Sustainable Growth“ wörtlich mit „aufrecht erhaltbares<br />
Wachstum“ übersetzen und damit die Unwahrscheinlichkeit der Sache dem Namen bereits<br />
einschreiben oder mit einem genialen Kniff der PR-Branche als „nachhaltiges Wachstum“<br />
bezeichnen und also als Ewigkeitsversprechen des kapitalistischen Fetischs fassen, macht<br />
einen Unterschied in der öffentlichen Verständigung, ohne die jede Demokratie zum<br />
Populismus wird. Das gilt im deutschen Sprachraum besonders für den Staatsbegriff, der in<br />
der Fassung, die ihm Carl Schmitt in den 20er Jahren mit schmissigen Definitionen gegeben<br />
hat, mit denen er in stärker rassistischer Abtönung dann auch das Dritte Reich<br />
rationalisierte, nach seinem Tod ein internationales Revival quer durch Europa und <strong>von</strong><br />
Jerusalem über Tokyo bis New York und bis zu den Neocons in Washington erlebte.<br />
Demokratie ist die Identität der Regierenden und der Regierten, Politik ist wesentlich die<br />
Unterscheidung <strong>von</strong> Freund und Feind, Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand<br />
entscheidet. Oder die Herleitung europäischer Großraumbildung („mit Interventionsverbot<br />
für raumfremde Mächte“) aus dem Hitler-Stalin-Pakt. Die Stillstellung eines solchen<br />
Staatsbegriffs ist eine weiterquellende Blutspur des 20. Jahrhunderts. Vielleicht brauchen<br />
wir größere Räume als die Nationalstaaten und wenn ich durch Europa fahre, genieße ich den<br />
Zugang zu meinen neuen Freunden und ihren Erfahrungen; aber wäre es nicht schön, eine<br />
solche Praxis ohne Versklavung und ohne Angst vor den mächtigen Dritten zu entwerfen? Ist<br />
es außer für Extremmachos wirklich wichtig, wer souverän ist, wo doch niemand souverän,<br />
sondern eingebunden und auf Auseinandersetzung und Verständigung angelegt ist und<br />
bewährt sich ein Mann erst im Bürgerkrieg und nicht, wie man es einst Thomas Moore<br />
nachsagte, als „a man of all seasons“? Ist Politik nicht verschenkt, wenn sie sich mit der<br />
Feindbestimmung „Tschuschen raus!“ begnügt oder die EU vor der Türkei schützt, anstatt<br />
die viel schwierige Aufgabe anzupacken, Brücken der Verständigung zu bauen, nicht zuletzt<br />
um dann vorurteilslos abwägen zu können, was Europa der Türkei und was die Türkei<br />
Europa zu bringen vermag. Fehlt noch die süffige völkische Definition der Demokratie als<br />
Identität zwischen Führer und Gefolgschaft, die <strong>von</strong> so vielen im Basisrausch besoffenen<br />
Linken nachgeplappert wurde. Aber Demokratie ohne ihre liberalen Voraussetzungen ist ein<br />
Kurzschluß. Demokratie soll dem Nicht-Identischen Würde und Mitsprache sichern, weil wir<br />
alle nicht wissen, was das Beste ist – das muss erst ermittelt werden.<br />
Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie, diese Anmerkungen zum anscheinend<br />
unaufhörlichen Staatsbegriff Carl Schmitts sind mir zu einem Temperamentsausbruch<br />
geraten und das soll, ich gelobe es wenigstens für heute Abend, nicht wieder vorkommen. Ich<br />
wollte nur zweierlei zeigen: zunächst zu den möglichen Hörern der Vorlesung über<br />
Schlüsselbegriffe des 20. Jahrhundert, die Oliver Rathkolb und ich planen: der Streit um<br />
Begriffe und die Forschung nach ihren kontextuellen Bedeutungen und Verwandlungen im<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 14
20. Jahrhundert ist kein antiquarisches Abseits im Staub lexikalischer Definitionen. Man<br />
muss sich einlassen darauf, was sie bedeutet haben und was sie leisten können, bevor wir<br />
ihnen Traditionswert zubilligen können oder erneut auf die Suche gehen müssen. Und zum<br />
allgemeinen Publikum dieser Vorlesung wollte ich sagen: Natürlich verkenne ich nicht, dass<br />
die postmodernen Theoreme zur Subpolitik (Ulrich Beck), zur International State (Alexander<br />
Wendt) oder zur Mehrebenen-Governance (Ulf <strong>von</strong> Krause) noch unausgereifte<br />
Annäherungen an einen zeitgenössischen Befund sind und dass mich ihre Bezugnahmen auf<br />
das Alte Reich (also das <strong>von</strong> Wien aus regierte Römische Reich deutscher Nation), mit dem<br />
sie den theoretisch so folgereichen preußischen Staat des 19. Jahrhunderts überspringen<br />
wollen, ebenso interessieren wie irritieren. Europa ist ein problematisches Experiment, aber<br />
der meistversprechende Großversuch eines learning by trial and error, das aus den<br />
Abgründen des 20. Jahrhunderts hervor gegangen ist. Europa braucht kritische Mitarbeiter<br />
und engagierte Kritiker.<br />
C Exemplarische Anregungen<br />
Wenn Sie mir noch ein paar Minuten zuhören mögen, möchte ich diese Antrittsvorlesung mit<br />
einigen Anregungen beschließen, in denen nun auch Österreich, das ich bisher, um mich als<br />
höflicher Piefke zu profilieren, sorgfältig umschifft habe, und seine aktuellen Probleme<br />
zumindest indirekt anklingen mögen.<br />
1 Europa als das Ganze<br />
Wer je einige Lektionen der Frankfurter Schule verkostet hat, wird bei einer solchen These<br />
die Nase rümpfen. Bekanntlich ist erstens nach Adorno das Ganze das Falsche und zweitens<br />
wurde ja schon gesagt, dass eine der Tugenden der europäischen Unsystematik ihr Bezug auf<br />
die derzeitigen Organisationsprobleme der Weltgesellschaft ist. Beides erkenne ich an und<br />
versuche doch, mit diesem halb falschen Satz auf etwas anderes zu verweisen.<br />
Europa wird in der gegenwärtigen Politik und ihren Medien sozusagen als die Sahneschicht<br />
des kontinentalen Kuchens verstanden: ein unumgänglicher Schmuck, aber wenig<br />
schmackhaft und aufgesetzt. Diese ewigen Bilder <strong>von</strong> zwanzig bis x Regierungschefs oder<br />
Ministern, garniert mit ein bis zwei Damen, auf der Treppe vor einem Palais, wo sie<br />
umschwirrt <strong>von</strong> einigen hundert nicht abgebildeten Diplomaten und Bürokraten als Agenten<br />
des regionalen Weltgeistes irgendeine weitsichtige Deklaration verabschiedet haben, die der<br />
Zuschauer unmittelbar ins Reich des Vergessens verweist. Brüssel, Luxemburg, Strasbourg<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 15
und die vielen Hauptstadttreffen des Europäischen Rates und immer wieder dasselbe Bild:<br />
ca. 25 erste Männer und allenfalls ein oder zwei erste Frauen, aber das Ensemble ist weiblich,<br />
ein Organ der Vernetzung und Verständigung. Immerhin sie stehen stramm und irgendwie<br />
gefasst über den Überfluss ihresgleichen, sie sitzen nicht in den unabsehbaren<br />
gerontokratischen Reihen eines Zentralkomitees oder dem kleineren und schon dementeren<br />
Ensemble eines Politbüros und winken, als wäre es das letzte Mal. Betrachten wir solche<br />
Bilder <strong>von</strong> allem, was Brüssel signalisiert, so sehen wir fast nur Männer, und zwar<br />
erstrangige, im nationalen und demokratischen Aufstiegskampf erprobte Exemplare, aber<br />
nun in Serie, mühsam ihre Motorik beherrschend und wir ahnen, diese Struktur ist weiblich.<br />
Frauen könnten das besser, dieses umsichtige und gesellige Konsensmanagement; allerdings<br />
werden auf dem Weg nach Brüssel noch immer virile Eigenschaften belohnt. Europa war eine<br />
orientalische Frau und wer sie geraubt und in den Westen transportiert hat, war kein Mann,<br />
sondern ein Bulle. Schade dass wir derzeit nur mit Bären aufwarten können.<br />
Es gibt allerdings noch einen zweiten Gesichtspunkt auf dieses Thema: genau genommen ist<br />
Europa ja gar nicht Brüssel etc. pp. allein, sondern – noch einmal – Europa ist das Ganze.<br />
Herunter bis Klein-Kleckersdorf. Gerade auch jeder der unerwartet resistenten und vielleicht<br />
schon ein wenig ideologischen Nationalstaaten ist Europa. Mit seiner obersten Leitungsebene<br />
allein wäre der Kontinent unterbestimmt, seine Fülle gewinnt er erst in der Vielfalt seiner<br />
basisnahen und noch immer mitbestimmenden, d.h. auch potentiell kritischen Teilnehmer.<br />
Auf der Entscheidungsebene heißt das, dass es durchaus diskutabel ist, mehr direkte<br />
Demokratie in Europa zu wagen. Die Schweiz hat in einer langen Praxis vorgeführt, dass der<br />
Volksentscheid keineswegs ein revolutionäres, sondern eines der konservativsten<br />
Instrumente in der Politik ist. Allerdings kann man das plebiszitäre Prinzip, wenn man es<br />
denn will, nicht auf die einzelstaatliche Ratifizierung Brüsseler Materien beschränken, wo die<br />
volkstümlichen Vorurteile immer nur die anderen treffen. Europa ist das Ganze und mehr<br />
Mitwirkung an der Selbstregierung müsste man schon auf allen Ebenen lernen.<br />
2 Zur kulturellen Ausstattung des Mehrebenen-Staats<br />
Wenn in Europa <strong>von</strong> Europa die Rede ist, denken nur wenige – sagen wir – an den Euro-<br />
Fighter oder die symbolische Entschädigung überlebender Zwangsarbeiter des Dritten<br />
Reiches oder erinnern (wie viele in der außereuropäischen Welt) die Herrschaft des weißen<br />
Mannes; vielmehr liegen dann kulturelle Assoziationen näher, Beethovens Neunte oder die<br />
attische Demokratie oder das christliche Mittelalter sind dann feste Topoi im europäischen<br />
Gedächtnis. Europa fehlt es an kritischer und zeitgemässer Öffentlichkeit, wie sie für jeden<br />
Raum demokratischer Selbstgestaltung unerlässlich ist und viele – aber erfreulicher Weise<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 16
nicht alle – Versuche zur Inszenierung eines Gemeinbewusstseins über die Nationen hinaus<br />
gehen ins Leere oder erweisen sich in Wahrheit als nationalistische Durchlauferhitzer.<br />
Nehmen wir nur das Beispiel mit der vermutlich größten populären Reichweite, die Fußball-<br />
Europameisterschaft. Anders als Ausscheidungskämpfe auf nationaler Ebene dient sie nicht<br />
der Konstruktion eines europäischen Teams für interkontinentale Spiele, sondern bleibt in<br />
der Emotionalisierung nationaler Identifikationen stecken, die angesichts des weltweiten<br />
Spielerhandels ohnehin das Rätselhafte an den „imagined communities“ vor Augen führt.<br />
Beim europäischen Chansons-Wettbewerb, der überall auf dem Kontinent ausgestrahlt wird<br />
(und bei dem Israel und Russland bemerkenswerter Weise dabei sind), ist es ähnlich: die<br />
Produkte der internationalen Schlagerindustrie werden <strong>von</strong> nationalen Jurys Nationen<br />
zugerechnet und nach Leistungs- und Sympathiewerten bemessen. Immerhin kann man aber<br />
auch festhalten, dass der Wettbewerb überhaupt erst die Produkte der ost- und<br />
südosteuropäischen Musikszenen in Westeuropa bekannt gemacht hat, so wie man dem neu<br />
inszenierten Public Viewing bei der Fußball-Meisterschaft anrechnen kann, dass es nicht nur<br />
den Auf-, sondern gelegentlich auch den Abbau nationalistischer Identifikationen einüben<br />
kann. Eindeutiger pro-europäisch und zugleich als gelungenes Beispiel für das<br />
Zusammenspiels aller Ebenen der Mehrebenen-Governance erschient mir der ähnlich<br />
aufwendige Wettbewerb um die Kulturhauptstadt Europas: er profiliert die Vielgestaltigkeit<br />
der europäischen Überlieferung und hebt sie in einen gemeinsamen Rahmen. Auf weniger<br />
auffälliger Bühne gibt es ähnlich positive Beispiele, etwa die verschiedenen Programme zur<br />
Intensivierung des Studentenaustauschs in Europa, für die man dringend funktionale<br />
Äquivalente für die nicht-akademische Jugend suchen müsste, oder die vielfachen<br />
Bemühungen um einen korrektiven Abgleich nationaler Geschichtsbilder in den<br />
Schullehrbüchern.<br />
Schwieriger scheint es mit der medialen Ausstattung Europas zu sein. Gewiss hebt sich die<br />
Presse- und Rundfunklandschaft im interkontinentalen Vergleich noch immer als<br />
überdurchschnittlich vielfältig und informativ heraus, auch wenn die fortschreitende<br />
Boulevardisierung und das kommerzielle Fernsehen mit seinem repetitiven Abnudeln<br />
amerikanischer Soaps dazu tendieren, dass sich die Auflage respektive Quote umgekehrt<br />
proportional zum Niveau entwickelt. Österreich stellt mit dem ORF ein vergleichsweise gutes<br />
als auch mit der „Krone“ ein überdurchschnittlich bedrohliches Beispiel beider Tendenzen.<br />
Strukturell ist allerdings auffällig, dass der <strong>von</strong> den Medien konstituierte öffentliche<br />
Resonanzraum der Demokratie ganz überwiegend auf die Politics im jeweiligen Nationalstaat<br />
und hier auf ein relativ kleines Akteursensemble auf der nationalen Bühne fokussiert.<br />
Demgegenüber treten andere Handlungsebenen und die Erschließung <strong>von</strong> Policy-Themen im<br />
europäischen Vergleich in den Hintergrund, wodurch die Medien den ideologisierenden<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 17
Trend zur nationalen Inszenierung kompetenzarmer Spiegelfechtereien verstärken. Einer<br />
wirklichen Veränderung sind wegen des engen Konnexes zwischen Politik, Sprache und<br />
Nationalkultur sicher enge Grenze gesetzt. Auch große, international operierende<br />
Medienkonzerne haben jedoch bisher wenig zur grenzüberschreitenden Nutzung und<br />
Entwicklung ihrer inneren Kompetenz- und Erfahrungsvielfalt (außer bei der Vermarktung<br />
<strong>von</strong> Konserven) getan, obwohl sie am ehesten in der Lage wären, Europa publizistisch<br />
interessant und zu einer public sphere zu machen. Aber es gibt immerhin Versuche in diese<br />
Richtung: die hierzulande wegen seiner einflusslosen Kapitalbeteiligung an der<br />
Kronenzeitung viel gescholtene WAZ-Mediengruppe, die sonst vor allem in Deutschland und<br />
Südosteuropa aktiv ist, hat z.B. (und vielleicht auch zur Kompensation der Wiener Anti-EU-<br />
Hetzkampagne) mit allen Redaktionen, auf die sie Einfluss hat, vor einem Jahr in Brüssel das<br />
größte international zusammengesetzte Korrespondenzbüro eingerichtet, und zwar mit dem<br />
erklärten Ziel, die europäische Ebene der politics und gesamteuropäische Policy-Themen mit<br />
der gleichen Intensität publizistisch bespielen zu können wie das Geschehen auf den<br />
jeweiligen nationalen Bühnen. Ähnliche Bemühungen zur Überwindung des nationalen lags<br />
gibt es auch in der Weiterbildung und im internationalen Austausch <strong>von</strong> Journalisten. Solche<br />
Initiativbeispiele sind umso bemerkenswerter, als sie selten sind und als es bisher kaum<br />
gelungen ist, die mittlerweile wohl gewichtigste Ebene der Mehrebenen-Governance in<br />
Europa medial kritisch zu durchdringen und interessant zu machen.<br />
3 Zur Topik des Utopischen<br />
Zum Schluss nur noch eine kurze Erinnerung. Ich habe vorhin, als ich <strong>von</strong> den frühen<br />
Erfahrungs- und Erwartungsschwellen der europäischen Integration sprach, mehrfach<br />
Europa als einen utopischen Topos bezeichnet. Luisa Passerini hat aus dieser<br />
Sehnsuchtsqualität der europäischen Ebene in der Zwischenkriegszeit nachgerade den<br />
Kerngedanken einer europäischen Identitätsvorstellung machen wollen. Es mag angesichts<br />
der Institutionalisierung der Eurokratie zwischen Brüssel, Luxemburg und Strasbourg samt<br />
ihrer Butterberge und Gurkennormen weit hergeholt erscheinen, auch heute noch ein<br />
utopisches Potential in der europäischen Politik erkennen zu wollen. Und manche werden<br />
sicher davor warnen, in Utopien etwas Sinnvolles zu sehen und an die utopischen<br />
Versprechungen totalitärer Bewegungen und Regime im 20. Jahrhundert erinnern. Und hat<br />
nicht der Aufstieg und Fall des Fakes einer „Europäischen Verfassung“ in den letzten Jahren<br />
gezeigt, dass unehrliche und unrealistische Versprechungen nur kontraproduktive Illusionen<br />
bewirken?<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 18
Vielleicht haben wir noch nicht die richtige Sprache für dieses hoffnungsvolle Ungenügen an<br />
Europa gefunden. Ich habe jüngst in den Autobiographien zweier besonders stark an der<br />
Einigung Europas engagierter und um sie verdienter Politiker aus Ost und West, nämlich<br />
denen <strong>von</strong> Vaclav Havel und Franz Vranitzky, gelesen, beides erfahrene und nüchterne<br />
Politiker. Und beim bürgerlichen Literaten aus Prag wie beim fast gleichaltrigen<br />
proletarischen Banker aus Wien habe ich erstaunlicherweise etwas Gemeinsames gefunden,<br />
nämlich dass sie ohne Einschränkung stolz auf ihr europäisches Engagement und doch<br />
irgendwie unzufrieden mit der Uninspiriertheit der derzeitigen europäischen Politik sind.<br />
Havel kommt die EU „furchtbar technokratisch und materialistisch“ vor, ihr Hauptziel, die<br />
USA einzuholen und sich überhaupt „ohne Gegenwehr in die Gesamtrichtung der<br />
gegenwärtigen Zivilisation“ ziehen zu lassen, nennt er „eindimensional“, „ärmlich“ und<br />
„stumpfsinnig“. „Ich denke, sie kann mehr. Sie kann nicht nur Beispiel einer friedlichen und<br />
gerechten politischen Ordnung im Rahmen eines Kontinents sein, sondern auch Beispiel des<br />
sinnvollen und schonenden Umgangs mit den eigenen Traditionen, der eigenen Kultur, der<br />
eigenen Landschaft, den eigenen Ressourcen.“ Und dann beklagt er, dass sie „ihre geistige<br />
Dimension verloren hat, so als ob in ihr eine wirkliche grundsätzliche Debatte fehlte über die<br />
Richtung der heutigen Welt, die Gefahren dieser Richtung und die Rolle, die auf diesem<br />
planetarischen Hintergrund dieser originelle Staatenbund spielen kann.“ (Fassen Sie sich<br />
bitte kurz. Gedanken und Erinnerungen, Reinbek 2007, S. 358 f.)<br />
Vranitzky wettert natürlich nicht gegen Wachstumsökonomie und hatte damals Hoffnungen<br />
auf Brüsseler Mehrheitsentscheide und den Übergang zu einer föderalen Verfassung. Aber<br />
auch er will „ein Europa, das sich nicht in Handel, Business und Transitverkehr bereits<br />
erschöpfend definiert wähnt.“ Deshalb glaubt er „an einen europäischen Rohstoff namens<br />
Kultur, der persönliche Autonomie und Selbstverantwortung, der Zweifel und<br />
Wissenswagnis, aber auch Solidarität und Verantwortung für die Gemeinschaft in sich<br />
vereint.“ Und immer wieder erwähnt er die Überwindung der Barbarei in Europa als<br />
eigentlichen Grund der europäischen Integration und das Risiko des Rückfalls. Weil die<br />
wirtschaftliche Integration allein nicht nachhaltig eine verbindende Wirkung bewirken<br />
könne, müssten „Kultur, Bildung, Ausbildung, Wissenschaft und Forschung … in den<br />
Vordergrund gerückt werden“. (Politische Erinnerungen, Wien 2004, S. 454)<br />
Soweit der Ansporn der Alten. Wir wollen in unserem kleinen Forschungsseminar danach<br />
fragen, in welche Abgründe die Jungen in Europa heute blicken und welche Hoffnungen und<br />
Erwartungen sie anleiten.<br />
www.dieUniversitaet-online.at – Online-Zeitung der Universität Wien 19