MANUSKRIPTE THESEN INFORMATIONEN - bei Bombastus-Ges.de
MANUSKRIPTE THESEN INFORMATIONEN - bei Bombastus-Ges.de
MANUSKRIPTE THESEN INFORMATIONEN - bei Bombastus-Ges.de
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>MANUSKRIPTE</strong><br />
<strong>THESEN</strong><br />
<strong>INFORMATIONEN</strong><br />
HERAUSGEGEBEN VON DER<br />
DEUTSCHEN<br />
BOMBASTUS-GESELLSCHAFT<br />
Nr. 15 – 1 · 2000
Vorstand und Verwaltungsrat<br />
<strong>de</strong>r Deutschen <strong>Bombastus</strong>-<strong>Ges</strong>ellschaft<br />
Prof. Dr. theol. Ute Gause<br />
Dietrich Mühlberg<br />
Dr.Michael Liebscher<br />
Dipl.-Biol. Günter Ickert<br />
INHALT<br />
Editorial<br />
Paracelsus und Jesus Christus<br />
Paracelsus zum Einfluss <strong>de</strong>r <strong>Ges</strong>tirne<br />
auf <strong>de</strong>n Menschen und <strong>de</strong>ssen <strong>Ges</strong>undheit<br />
Rezension – Empfehlung<br />
(V.Weigel – Dr. Pfefferl)<br />
Information über Prof. Okabes Buch<br />
2<br />
4<br />
18<br />
24<br />
27<br />
1
2<br />
EDITORIAL<br />
In <strong>Ges</strong>prächen über Weltanschauung und Ethik begegnet man nicht selten <strong>de</strong>r Ansicht,<br />
dass das Christentum zwar schon zweitausend Jahre existiere, aber die Welt seit<strong>de</strong>m<br />
nicht besser gewor<strong>de</strong>n sei. Obwohl <strong>bei</strong><strong>de</strong> Teilaussagen für sich offenbar richtig sind, ist<br />
ihre so gehandhabte Verknüpfung eine höchst oberflächliche. Wenn die Welt im Verlauf<br />
<strong>de</strong>r zurückliegen<strong>de</strong>n zweitausend Jahre nicht ›besser‹ gewor<strong>de</strong>n ist – wir unterstellen:<br />
›besser‹ im Sinne ethischen Verhaltens <strong>de</strong>r Menschen – dann liegt das gewiss nicht am<br />
Christentum, son<strong>de</strong>rn mit hoher Wahrscheinlichkeit an <strong>de</strong>r mangeln<strong>de</strong>n Umsetzung seiner<br />
Lehren in <strong>de</strong>n Alltag. Am Lebenswan<strong>de</strong>l sollte ein Christ erkennbar sein, sollte sich<br />
seine Nähe zu Gott wi<strong>de</strong>rspiegeln. Und wenn christlicher Glaube nicht in <strong>de</strong>n Alltag mit<br />
seinen Aufgaben, Problemen, Belastungen und Versuchungen integriert wird, bleibt <strong>de</strong>r<br />
Christ »Hörer allein, wodurch« er sich »selbst betrügt« (Jak.l, 22). Wer JA zu Gott und<br />
Christus sagt, muss und will zu vielem um sich und in sich NEIN sagen, konsequent<br />
und <strong>de</strong>utlich.<br />
Paracelsus lebte in einer Epoche, in <strong>de</strong>r die christliche Religion »noch eine dominante<br />
gesellschaftliche Rolle gespielt hat« (Ute Gause, siehe dieses Heft) und »in <strong>de</strong>r die Existenz<br />
einer Person meist in irgen<strong>de</strong>iner Form noch vom Christentum geprägt war«. Das<br />
Wort ›noch‹ verweist auf die gegenwärtige Situation, in <strong>de</strong>r das Christentum, obwohl in<br />
weiten Teilen <strong>de</strong>r Welt keiner Verfolgung ausgesetzt, keine dominante gesellschaftliche<br />
Rolle spielt und die Zahl <strong>de</strong>r Menschen drastisch abnimmt, die vom Christentum geprägt<br />
ist. Geprägt heißt, ein Leben nach <strong>de</strong>n christlichen Geboten zu führen und nicht<br />
»<strong>de</strong>n lieben Gott einen guten Mann sein lassen«. Es wer<strong>de</strong>n offensichtlich in immer stärkerem<br />
Maße Hemmschwellen überschritten, was zur Frage veranlasst, welchen Stellenwert<br />
Christus und die christliche Weltanschauung in unserem – persönlichen wie gesellschaftlichen<br />
– Leben haben.<br />
Für Paracelsus war Christus die werte- und lebensbestimmen<strong>de</strong> Mitte seines Denkens<br />
und Han<strong>de</strong>lns. Nicht befangen durch konfessionelle Abgrenzungen fand er Standpunkte,<br />
die wir als ein individuelles Herzenschristentum empfin<strong>de</strong>n. Paracelsus gelangte<br />
<strong>bei</strong> <strong>de</strong>r Kommentierung <strong>de</strong>r Psalmen, <strong>de</strong>r Zehn Gebote o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Abendmahls stets zu<br />
ethischen Schlussfolgerungen, die zugleich in kategorischen Aufgabenstellungen mün<strong>de</strong>ten<br />
wie z.B. »henk die tugent <strong>de</strong>s seligen lebens an dich« 1 ! Bei aller Akzeptanz menschlichen<br />
Suchens und Forschens weiß <strong>de</strong>r Hohenheimer, dass nur Christus <strong>de</strong>m Menschen<br />
rechte Orientierung ermöglicht: »dan wer wil leben seliglich uf er<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r muß sein ler,<br />
regiment und ordnung auf <strong>de</strong>n eckstein Christum sezen ...dan kein ler ist nuz, sie kum<br />
dan vom himel, kein gebot nuz, es kem dan vom himel, kein kunst nuz, es kum dan<br />
vom himel. und also mit an<strong>de</strong>rn allen« 2 . Angesichts <strong>de</strong>r zweifellos bestürzen<strong>de</strong>n Tatsache,<br />
dass Christus aus <strong>de</strong>m individuellen wie gesellschaftlichen Leben immer mehr verdrängt<br />
wird, sei festgehalten, dass die Kraft von Persönlichkeiten, wie auch immer, Ziel<br />
und Weg einer <strong>Ges</strong>ellschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beeinflusst. Erfor<strong>de</strong>rlich<br />
ist nicht das ängstliche Schielen nach Quantitäten Gleichgesinnter, son<strong>de</strong>rn das<br />
energische Mühen um Qualität <strong>de</strong>r Persönlichkeitsentwicklung.<br />
In seinem bemerkenswerten Buch »Paracelsus – Arzt unserer Zeit« (Benziger Verlag<br />
AG Zürich, 1992) schreibt Frank Geerk: »Muss die Naturwissenschaft, wie wir das häufig<br />
beobachten, wirklich abgleiten in bezugloses Spezialistentum und überheblichen Materialismus?<br />
Muss Religion tatsächlich immer wie<strong>de</strong>r in Institutionen pervertiert wer<strong>de</strong>n<br />
und zu sektiererischem Machtmissbrauch <strong>de</strong>s Klerus führen? Die Verflechtung von<br />
natürlichem und himmlischem Licht, wie sie Paracelsus vorgedacht hat, stellt sich <strong>bei</strong><strong>de</strong>n
obengenannten fatalen Entwicklungen entgegen. Wen<strong>de</strong>n wir seinen Gedankenansatz<br />
an, hieße das einerseits, Naturwissenschaft mit Qualitäten aus <strong>de</strong>m religiösen Bereich zu<br />
betreiben, nämlich mit Demut und Hochachtung vor <strong>de</strong>r Schöpfung; an<strong>de</strong>rerseits aber<br />
hieße es, religiöse Institutionen und Rituale mit skeptischem Realismus zu verfolgen, die<br />
Religion von <strong>de</strong>n pervertieren<strong>de</strong>n Machtansprüchen dogmatischer Amtsinhaber zu ›reinigen‹,<br />
um so wie<strong>de</strong>r frei zu wer<strong>de</strong>n für ursprüngliche religiöse Erfahrung und spirituelle<br />
Erkenntnis. Mehr Wissenschaft in <strong>de</strong>r Religion, mehr Religion in <strong>de</strong>r Wissenschaft, Paracelsus<br />
hat es uns vorgemacht« (S.115). Geerk sieht mit ›Arzt‹ in seinem Buchtitel ebenso<br />
wenig ausschließlich <strong>de</strong>n Mediziner Paracelsus wie z.B. Prof.Biser, <strong>de</strong>r paracelsische Gedanken<br />
in <strong>de</strong>m Sinne reflektiert, dass das Christentum eine Religion sei, die <strong>de</strong>n »todverfallenen<br />
Menschen auf einen <strong>de</strong>m göttlichen Leben angenäherten Stand und Rang erhebt«<br />
3 . Im Sinne <strong>de</strong>s paracelsischen Credos von <strong>de</strong>r Liebe als <strong>de</strong>m Grund aller Arznei<br />
äußerte sich <strong>de</strong>r Baseler Professor für physikalische Chemie Dr.phil.MaxThürkauf zum<br />
»nuz <strong>de</strong>r ler«: »In <strong>de</strong>r Liebe sollen wir Gott gleich sein wollen. Deshalb sind nur Liebestaten<br />
sinnvoll; eine Tat, die keine Liebestat ist, ist sinnlos, und wenn sie noch so zweckvoll<br />
ist. Aus diesem Grun<strong>de</strong> wird die mo<strong>de</strong>rne Naturwissenschaft täglich zweckvoller und<br />
täglich sinnloser; sie ist – wenn Sie mir diesen Ausdruck gestatten – ebenso großkopfig<br />
wie herzlos« 4 .<br />
Der Christ Paracelsus mag seine Überzeugung nicht immer diplomatisch vorgetragen<br />
haben, aber er hat sich konsequent bemüht, sie zu leben. Sein Dasein war ein Gottesdienst<br />
nicht im Sinne von Ritualen o<strong>de</strong>r Askese, son<strong>de</strong>rn im Sinne <strong>de</strong>s Dienens an seinen<br />
Nächsten und damit für Gott. In seinem Leben wi<strong>de</strong>rspiegelte Paracelsus seine Nähe<br />
zu Gott. Der Hohenheimer hatte seinen Glauben in sein Dasein integriert.<br />
Dass wir nach 500 Jahren Paracelsus als Orientierungshilfe in einer Zeit zitieren, da die<br />
christliche Religion mehr und mehr an gesellschaftlicher wie individueller Relevanz verliert,<br />
spricht für die Qualität <strong>de</strong>r Persönlichkeit <strong>de</strong>s Hohenheimers, <strong>de</strong>n es nicht anfocht,<br />
mit seiner Überzeugung ein unbequemer Mahner zu sein. Die Welt kann nur besser wer<strong>de</strong>n,<br />
wenn Christen ihre Überzeugung leben, »Lehre, Regiment und Ordnung auf <strong>de</strong>n<br />
Eckstein Christus setzen« und sich ausschließlich um sinnvolle, also um Liebestaten<br />
bemühen. Mag das Streben nach einem ›gesicherten‹ Leben – was auch immer <strong>de</strong>r Einzelne<br />
darunter verstehen mag – eine unbestreitbare Selbstverständlichkeit im menschlichen<br />
Alltag sein, so ist jedoch ein wahrhaft gesichertes Leben nur das »selige Leben«, von<br />
<strong>de</strong>m Paracelsus spricht.<br />
Vorstand und Verwaltungsrat<br />
<strong>de</strong>r Deutschen <strong>Bombastus</strong>-<strong>Ges</strong>ellschaft<br />
1 Paracelsus, Sämtliche Werke, II.Abt., II/97<br />
2 Matthießen, Wilhelm: Theophrast von Hohenheim, gen.Paracelsus<br />
Theologische und religionsphilosophische Schriften, I.Band, S.84/85<br />
Otto Wilhelm Barth/ München 1923<br />
3 Der Deutsche Apotheker, Heft 11/12 1993, S.334f.<br />
4 Christus und die mo<strong>de</strong>rne Naturwissenschaft, Johannes-Verlag Leutesdorf 1985 S.15<br />
3
Wenn Paracelsus für Menschen <strong>de</strong>r heutigen<br />
Zeit überhaupt ein Begriff ist, dann ist<br />
er zumeist aus naturwissenschaftlichen und<br />
medizinischen Kontexten bekannt. Viel<br />
weniger bekannt ist sicherlich nach wie vor,<br />
dass Paracelsus sich auch als Laientheologe<br />
zu Wort gemel<strong>de</strong>t hat. Er hat ein beträchtliches<br />
laientheologisches Werk hinterlassen,<br />
das umfangreiche Bibelkommentare zu altund<br />
neutestamentlichen Schriften enthält,<br />
er verfasste sozialethische Schriften und hat<br />
sich zu dogmatischen Themen, wie zur Trinität,<br />
zur Mariologie und zur Abendmahlslehre<br />
geäußert.<br />
Diese Schriften sind zu seinen Lebzeiten<br />
nie im Druck erschienen und lei<strong>de</strong>r ist auch<br />
die in diesem Jahrhun<strong>de</strong>rt begonnene kritische<br />
Edition <strong>de</strong>r Theologica, initiiert durch<br />
<strong>de</strong>n kürzlich verstorbenen Nestor <strong>de</strong>r Paracelsusforschung<br />
Kurt Goldammer in Marburg,<br />
zum Erliegen gekommen. Damit wird<br />
die Erschließung <strong>de</strong>r theologischen Werke<br />
<strong>de</strong>s Laientheologen Paracelsus wohl frühestens<br />
im nächsten Jahrtausend möglich sein,<br />
wenn es dann ein Interesse für diese Form<br />
von Literatur überhaupt noch gibt. Die kirchenhistorische<br />
Forschung widmete ihm allerdings<br />
in <strong>de</strong>n letzten Jahren erfreulich viel<br />
Interesse: Hartmut Rudolph hat in <strong>de</strong>m einschlägigen<br />
protestantischen Nachschlagewerk,<br />
<strong>de</strong>r Theologischen Realenzyklopädie 2 ,<br />
eine ausführliche Darstellung auch <strong>de</strong>r<br />
Theologie <strong>de</strong>s Paracelsus gegeben. Umfangreiche<br />
Sammelbän<strong>de</strong> als Resultate von<br />
Tagungen in Glasgow und Stuttgart befassen<br />
sich mit <strong>de</strong>r Theologie <strong>de</strong>s Paracelsus. 3<br />
Andrew Weeks veröffentlichte 1997 eine<br />
Studie zum Verhältnis von Paracelsus’ spekulativer<br />
Theorie und <strong>de</strong>r Krise <strong>de</strong>r frühen<br />
Reformation 4 und das Archiv für Reformationsgeschichte<br />
befasste sich in diesem Jahr<br />
in einem Aufsatz von Mitchell Hammond<br />
mit <strong>de</strong>n religiösen Wurzeln <strong>de</strong>r paracelsischen<br />
medizinischen Theorie. 5<br />
4<br />
Ute Gause<br />
PARACELSUS UND JESUS CHRISTUS<br />
– Paracelsus als theologischer Denker zwischen<br />
Reformation und radikalem Individualismus 1 –<br />
1. Einleitung<br />
Da<strong>bei</strong> fin<strong>de</strong>t auch <strong>de</strong>r Psalmenkommentar<br />
<strong>de</strong>s Paracelsus, <strong>de</strong>r auch im heutigen<br />
Vortrag Grundlage sein wird, Interesse.<br />
Martin Brecht nahm seine Einordnung in<br />
<strong>de</strong>n Kontext <strong>de</strong>r Reformation vor. 6 Bei<br />
<strong>de</strong>m mittlerweile emeritierten Mainzer<br />
Kirchenhistoriker Gustav Adolf Benrath<br />
steht eine Dissertation über <strong>de</strong>n Psalmenkommentar<br />
<strong>de</strong>s Paracelsus kurz vor <strong>de</strong>r<br />
Fertigstellung.<br />
Aber zunächst möchte ich Ihnen mein<br />
etwas eigentümlich klingen<strong>de</strong>s Thema<br />
etwas näher erläutern: Paracelsus und Jesus<br />
Christus – das ist ein Titel, <strong>de</strong>r eigentlich<br />
aus einem früheren Jahrhun<strong>de</strong>rt zu stammen<br />
scheint, aus einer Zeit, in <strong>de</strong>r die Existenz<br />
einer Person meist in irgen<strong>de</strong>iner<br />
Form noch vom Christentum geprägt war.<br />
Ich habe diesen Titel mit Bedacht gewählt,<br />
um zu zeigen, dass Paracelsus ein Mensch<br />
einer Epoche ist, in <strong>de</strong>r die christliche Religion<br />
noch eine dominante gesellschaftliche<br />
Rolle gespielt hat und dass er hier durchaus<br />
ein Vertreter seiner Zeit ist.<br />
Um nachempfin<strong>de</strong>n zu können, was<br />
Paracelsus mit Jesus Christus verbin<strong>de</strong>t,was<br />
für einen Stellenwert er in seinem Leben<br />
einnimmt, müssen wir neben seinen<br />
Schriften – und hier habe ich mich auf <strong>de</strong>n<br />
umfangreichen, nicht vollständig erhaltenen<br />
Psalmenkommentar aus <strong>de</strong>m Jahr 1530<br />
konzentriert – auch auf das Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
zugehen, in <strong>de</strong>m er gelebt hat und das auf<br />
eine Art und Weise vom Verhältnis zu<br />
Jesus Christus dominiert war, wie vielleicht<br />
kein Jahrhun<strong>de</strong>rt zuvor und danach. Die<br />
Frage nach Jesus Christus, nach seinem<br />
Stellenwert innerhalb <strong>de</strong>r Kirche, nach<br />
seiner Be<strong>de</strong>utung für das eigene Leben berührte<br />
auf die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Weise fast<br />
alle Menschen <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts in ganz<br />
Europa. Ähnliches Interesse fin<strong>de</strong>n heute<br />
gera<strong>de</strong> einmal die Fußballweltmeisterschaft<br />
o<strong>de</strong>r die Tour <strong>de</strong> France.
Wir leben – und Sie in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong>de</strong>rn<br />
noch in viel stärkerem Maße –<br />
in einer säkularisierten Welt, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Glaube an Jesus Christus nur noch für wenige<br />
Menschen eine Be<strong>de</strong>utung hat, und<br />
diese Be<strong>de</strong>utung wird gesellschaftlich kaum<br />
mehr sichtbar. Ein Indiz dafür ist die Tatsache,<br />
dass Religionsunterricht nicht mehr<br />
als konstitutives Schulfach empfun<strong>de</strong>n wird<br />
und wir wohl früher o<strong>de</strong>r später keinen<br />
konfessionell gebun<strong>de</strong>nen Religionsunterricht<br />
mehr an <strong>de</strong>n Schulen haben wer<strong>de</strong>n.<br />
Gera<strong>de</strong> einmal an Heiligabend hört vielleicht<br />
<strong>de</strong>r eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re, <strong>de</strong>r, weil es <strong>de</strong>r<br />
eigenen Stimmung so gut tut, eine Kirche<br />
aufsucht, von <strong>de</strong>r Geburt dieses Kin<strong>de</strong>s, das<br />
für Paracelsus so be<strong>de</strong>utungsvoll war.<br />
Ostern dagegen hat mittlerweile nur noch<br />
<strong>de</strong>n Osterhasen zu bieten. Dass Ostersonntag<br />
als Tag <strong>de</strong>r Auferstehung Jesu Christi<br />
gefeiert wird, ist, glaube ich, immer weniger<br />
bekannt.<br />
Trotz<strong>de</strong>m spiegeln sich in vielen Bewegungen<br />
unserer <strong>Ges</strong>ellschaft Gefühle, die<br />
zeigen, dass auch heute die Menschen<br />
Sehnsucht nach Erlösung empfin<strong>de</strong>n und<br />
eine Erlösung suchen, die im 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
durch die Reformation untrennbar mit<br />
Jesus Christus verknüpft wor<strong>de</strong>n ist. Viele<br />
Menschen interessieren sich für an<strong>de</strong>re<br />
Weltreligionen. Der Buddhismus als friedfertige<br />
und undogmatische Religion interessiert<br />
da<strong>bei</strong> beson<strong>de</strong>rs. Die Anthroposophie<br />
gewinnt immer mehr Anhänger, weil sie ein<br />
ganzheitliches Weltbild, das alle Lebensbereiche<br />
<strong>de</strong>s Menschen umfasst, anbietet;<br />
an<strong>de</strong>re Menschen suchen ihr Heil im Engagement<br />
für <strong>de</strong>n Umweltschutz o<strong>de</strong>r im <strong>Ges</strong>talten<br />
eines harmonischen Familienlebens.<br />
Jugendliche bin<strong>de</strong>n ihr Heil an Popgruppen,<br />
die sie so verehren, dass man wohl von mo<strong>de</strong>rner<br />
Heiligenverehrung sprechen kann.<br />
Und <strong>de</strong>r Film <strong>de</strong>s Jahres 1998, Titanic, spiegelt<br />
eigentlich <strong>de</strong>n genuin christlichen Erlösungsgedanken:<br />
Ein lieben<strong>de</strong>r Mensch gibt<br />
sein Leben für einen an<strong>de</strong>ren. Vielleicht<br />
stehen wir also <strong>de</strong>m, was ich Ihnen vorstellen<br />
will, zwar in <strong>de</strong>r Ausdrucksweise nicht<br />
mehr nahe, aber unseren mo<strong>de</strong>rnen Heilssehnsüchten<br />
nach eventuell doch noch.<br />
Im 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt ist die Religion Konstitutivum,<br />
gehört untrennbar zum Leben<br />
je<strong>de</strong>s Menschen, ist <strong>de</strong>r Alltag durchdrungen<br />
von Ritualen und Manifestationen <strong>de</strong>r<br />
Religion: Die spätmittelalterlichen Städte<br />
und Dörfer wer<strong>de</strong>n beherrscht durch<br />
die Kirchengebäu<strong>de</strong>, die die höchsten Gebäu<strong>de</strong><br />
sind, das sonn- und feiertägliche<br />
Läuten <strong>de</strong>r Kirchenglocken dominiert <strong>de</strong>n<br />
Sonntag, geht noch nicht im großstädtischen<br />
Lärm unserer Tage unter. Der gera<strong>de</strong><br />
geborene Mensch wird getauft und damit<br />
in die Kirche und in die Gemeinschaft mit<br />
Jesus Christus aufgenommen. Das Hören<br />
<strong>de</strong>s Wortes Gottes in <strong>de</strong>r sonntäglichen<br />
Predigt bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>s Gottesdienstes.<br />
Das Sakrament <strong>de</strong>s Abendmahls<br />
begleitet <strong>de</strong>n Menschen sein Leben lang<br />
als geistliche Nahrung und Stärkung.<br />
Nach seinem Tod erwartet er das Bei-Gott-<br />
Sein und nach <strong>de</strong>m Jüngsten Gericht am<br />
Welten<strong>de</strong> die Auferstehung von <strong>de</strong>n Toten.<br />
Der Glaube an Jesus Christus bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n<br />
Mittelpunkt dieser i<strong>de</strong>altypischen Beschreibung<br />
vor allem protestantischen Glaubens.<br />
Jesus Christus ist darum Zentrum, weil<br />
er <strong>de</strong>rjenige ist, <strong>de</strong>r durch seine Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>n<br />
Menschen aus seiner Sün<strong>de</strong>nverfallenheit<br />
erlöst und ihn ohne eigene Verdienste, d.h.<br />
ohne eigene gute Taten annimmt. Sün<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>s Menschen be<strong>de</strong>utet da<strong>bei</strong> nicht so<br />
etwas Banales wie eine Kaloriensün<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r<br />
eine Parksün<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn sie meint die<br />
Grundunfähigkeit <strong>de</strong>s Menschen zum<br />
Guten, ist die Erkenntnis, dass <strong>de</strong>r Mensch,<br />
wenn er sich an <strong>de</strong>m misst, was er eigentlich<br />
erfüllen können müsste, immer hinter<br />
seinen Erwartungen zurückbleibt. Die einzige<br />
Hoffnung, von Gott angenommen zu<br />
wer<strong>de</strong>n, liegt in Jesus Christus selbst, <strong>de</strong>r<br />
dadurch, dass er Mensch gewor<strong>de</strong>n ist und<br />
sein Leben für die Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Menschen<br />
geopfert hat, diese überwun<strong>de</strong>n hat und<br />
auch <strong>de</strong>n Tod. Durch die Auferstehung<br />
Christi wissen die Gläubigen, dass auch für<br />
sie nach <strong>de</strong>m Tod ein neues Leben <strong>bei</strong><br />
Gott beginnen wird. Soviel kurz und umrisshaft<br />
zu <strong>de</strong>n dogmatischen Grundlagen<br />
<strong>de</strong>r Reformation.<br />
Es wür<strong>de</strong> zu weit führen, in allen Einzelheiten<br />
die Verän<strong>de</strong>rungen zu beschreiben,<br />
die sich für das religiöse Leben <strong>de</strong>r Menschen<br />
durch die Reformation ergaben,<br />
aber ich möchte Ihnen zumin<strong>de</strong>st kurz<br />
5
anhand eines Bil<strong>de</strong>s veranschaulichen,<br />
welche Verän<strong>de</strong>rungen sich aus <strong>de</strong>r Reformation<br />
ergaben, die auch für Paracelsus<br />
wichtig gewor<strong>de</strong>n sind. Was unterschei<strong>de</strong>t<br />
also das Luthertum vom alten Glauben?<br />
Betrachten wir zunächst die evangelische<br />
Seite (linke Abb.): Sie sehen Luther auf <strong>de</strong>r<br />
Kanzel und darunter <strong>de</strong>n Bibelspruch: Alle<br />
Propheten zeugen von diesem, das kein<br />
an<strong>de</strong>rer Name unter <strong>de</strong>m Himmel sei (acta<br />
4, 10). Luther hat seine linke Hand auf <strong>de</strong>r<br />
aufgeschlagenen Bibel liegen, die rechte<br />
weist in <strong>de</strong>n Himmel auf das Lamm Gottes<br />
bzw. Christus. Auf <strong>de</strong>n verbin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Spruchbän<strong>de</strong>rn ist zu lesen: Es ist nur ein<br />
Mittler. Ich bin <strong>de</strong>r Weg. Siehe, das ist das<br />
Lamm Gottes. Christus tritt für die Menschen<br />
ein. Er spricht zu Gottvater oben<br />
links im Bild: Vater, heilige sie. Ich heilige<br />
und opfere mich für sie, und unter <strong>de</strong>m<br />
Spruchband steht: So wir sündigen, haben<br />
wir einen Fürsprecher <strong>bei</strong>m Vater. Hier wird<br />
also das »solus Christus« ( = allein Christus)<br />
zum Zentrum <strong>de</strong>r Gottesbeziehung.<br />
Der sündige Mensch hat nur in ihm einen<br />
6<br />
Fürsprecher, we<strong>de</strong>r die Heiligen noch die<br />
Mutter Jesu können dies tun. Auf all dies<br />
verweist <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Kanzel aus <strong>de</strong>r Bibel<br />
predigen<strong>de</strong> Luther, <strong>de</strong>m eine lauschen<strong>de</strong><br />
Menge zu Füßen steht, die andächtig und<br />
konzentriert zuhört. Außer<strong>de</strong>m wird auf<br />
die zwei Sakramente <strong>de</strong>s Luthertums hingewiesen:<br />
Vorne am Altar erhalten Menschen<br />
das Abendmahl und zwar unter <strong>bei</strong><strong>de</strong>rlei<br />
<strong>Ges</strong>talt, d.h. sie bekommen Brot<br />
und Wein, dies wird mit <strong>de</strong>m Bibelspruch<br />
aus Matth 25 untermauert. Dort heißt es<br />
nämlich: Trinket alle daraus. Hinten im<br />
Bild befin<strong>de</strong>t sich ein Taufstein, an <strong>de</strong>m<br />
gera<strong>de</strong> ein Kind getauft wird. Auch hier<br />
wird die biblische Begründung, das »sola<br />
scriptura« betont: Die Bibel wird hochgehalten<br />
zur Belehrung <strong>de</strong>r Paten.<br />
Auf <strong>de</strong>r katholischen Seite (rechte Abb.)<br />
sieht es ganz an<strong>de</strong>r aus: Auch hier steht<br />
jemand auf <strong>de</strong>r Kanzel. Es ist ein Mönch,<br />
<strong>de</strong>r ohne die Bibel predigt. Ihm wer<strong>de</strong>n<br />
seine Worte durch ein kleines Teufelchen<br />
mittels eines Blasebalgs eingeblasen.<br />
Darunter steht: Sehet, da habt ihr viel rö-
mische, katholische und nichtketzerische<br />
Wege zur Seligkeit, ICH meine ja, ihr könnt<br />
leichtlich selig wer<strong>de</strong>n. Das ICH ist groß<br />
geschrieben, d.h. hier wird nicht von Gott<br />
gere<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn ein Mensch formuliert<br />
seine Meinung. Das ketzerisch ist ironisch<br />
gemeint: natürlich ist <strong>de</strong>r Mönch selbst<br />
<strong>de</strong>r Ketzer, weil er etwas verkün<strong>de</strong>t, was<br />
keine biblische Grundlage hat. Vor ihm<br />
steht dann auch eine Gruppe teuer geklei<strong>de</strong>ter<br />
Menschen. Beachten Sie <strong>de</strong>n Pelzmantel<br />
<strong>de</strong>s Mannes unten links in <strong>de</strong>r<br />
Ecke. Aus <strong>de</strong>m Gewand <strong>de</strong>s Mönches daneben<br />
fallen gera<strong>de</strong> Spielkarten und Würfel<br />
– ein Indiz für die laxe Moral seines<br />
Stan<strong>de</strong>s. Die vielen Wege zur Seligkeit in<br />
<strong>de</strong>r römischen Kirche wer<strong>de</strong>n gezeigt:<br />
Vorne rechts im Bild verkauft ein hoher<br />
Wür<strong>de</strong>nträger, wohl ein Bischof, Ablassbriefe.<br />
Auf <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>n er hochhält, ist zu<br />
lesen: Dieweil <strong>de</strong>r Groschen noch klingt,<br />
fährt die Seele in <strong>de</strong>n Himmel. Die Geldstücke<br />
und –säcke vor ihm zeigen, dass er<br />
ein gutes <strong>Ges</strong>chäft macht. Unten auf <strong>de</strong>m<br />
liegen<strong>de</strong>n Geldsack ist <strong>de</strong>zent etwas Kritik<br />
formuliert. Dort steht: Sie sind Schan<strong>de</strong><br />
und Laster, prangen von euern Almosen.<br />
Ein Zitat aus <strong>de</strong>m 2. Petrusbrief, also<br />
wie<strong>de</strong>rum aus <strong>de</strong>r Bibel, aus <strong>de</strong>m zweiten<br />
Kapitel, das von <strong>de</strong>r Verdorbenheit <strong>de</strong>r<br />
Irrlehrer han<strong>de</strong>lt. Nicht die Protestanten,<br />
son<strong>de</strong>rn die Katholiken sind <strong>de</strong>mnach die<br />
Ketzer. Rechts in <strong>de</strong>r Mitte sieht man<br />
einen Mönch eine Stillmesse vollziehen,<br />
d.h. er hält eine Messe ohne Gemein<strong>de</strong>,<br />
etwas, was Luther scharf kritisiert hat. Dahinter<br />
sieht man einen Bischof eine Glocke<br />
mit Weihwasser segnen. Auf <strong>de</strong>m Totenbett<br />
erhält ein Mensch die letzte Ölung,<br />
d.h. hier wird ein Sakrament verabreicht,<br />
das die Lutheraner nicht mehr anerkennen,<br />
weil es keine zureichen<strong>de</strong> biblische<br />
Grundlage hat. Dahinter ziehen Pilger zu<br />
einem Wallfahrtsort. Vor <strong>de</strong>r kleinen Kapelle<br />
im Hintergrund sieht man eine Prozession.<br />
Kurzum, die von <strong>de</strong>n Lutheranern<br />
abgelehnten Bräuche <strong>de</strong>r Katholiken wer<strong>de</strong>n<br />
dargestellt. Oben im Himmel thront<br />
auf gleicher Höhe wie Gottvater wohl ein<br />
Heiliger, <strong>de</strong>r Wundmale an <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n<br />
hat. Er ist also Fürsprecher für die Katholiken,<br />
nicht Christus, <strong>de</strong>r überhaupt nicht<br />
im Bild erscheint. Eine scharfe Kritik am<br />
Zeremonienwesen <strong>de</strong>r Kirche ist hier dargestellt.<br />
Diese Bil<strong>de</strong>r, die wohl aus <strong>de</strong>r<br />
Schule Lucas Cranachs <strong>de</strong>s Jüngeren stammen<br />
und gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
entstan<strong>de</strong>n sind, ar<strong>bei</strong>ten also die Unterschie<strong>de</strong><br />
zwischen Katholizismus und<br />
Protestantismus polemisch heraus. Eine<br />
Polemik, die übrigens auch Paracelsus<br />
nicht ganz fremd war, wie Sie nachher<br />
noch hören wer<strong>de</strong>n.<br />
Damit haben Sie einen ungefähren Eindruck<br />
davon, wie die religiösen Konstellationen<br />
zur Zeit <strong>de</strong>s Paracelsus begannen,<br />
sich in ihren Unterschie<strong>de</strong>n herauszubil<strong>de</strong>n.<br />
Einiges von <strong>de</strong>m, was ich Ihnen<br />
gleich aus Paracelsus’ Psalmenkommentar<br />
darstellen möchte, können Sie nun vor<br />
diesem Hintergrund sicher besser verstehen.<br />
Allerdings muss man berücksichtigen,<br />
dass es neben <strong>de</strong>n Lutheranern und <strong>de</strong>n<br />
Katholiken auch eine große Zahl religiöser<br />
Gruppierungen o<strong>de</strong>r Einzelgänger gab, die<br />
sich nicht <strong>de</strong>n <strong>bei</strong><strong>de</strong>n großen Konfessionen<br />
zuordnen lassen. Zu diesen eher radikalen<br />
Außenseitern o<strong>de</strong>r auch <strong>de</strong>m linken<br />
Flügel <strong>de</strong>r Reformation wird Paracelsus –<br />
neben <strong>bei</strong>spielsweise Thomas Müntzer,<br />
Sebastian Franck, Caspar von Schwenckfeld,<br />
zu <strong>de</strong>nen er wahrscheinlich auch<br />
persönliche Kontakte hatte – gemeinhin<br />
gezählt. 7 Was ihn jedoch aus <strong>de</strong>r Gruppe<br />
<strong>de</strong>r Genannten heraushebt ist, dass Paracelsus<br />
nie in seinem Leben Theologie studiert<br />
hat und so religiöser Autodidakt ist.<br />
Wie er innerhalb von Katholizismus und<br />
Protestantismus genau eingeordnet wer<strong>de</strong>n<br />
muss, ist überhaupt noch nicht abzusehen,<br />
weil seine theologischen Schriften erst unzureichend<br />
erforscht sind. Ich habe ihn in<br />
meiner Dissertation 1993 als einen »Reformator<br />
<strong>de</strong>r vierten Reihe« charakterisiert,<br />
<strong>de</strong>r die Anliegen <strong>de</strong>r Reformation zwar<br />
zum Teil aufnimmt, aber modifiziert. Dieser<br />
Befund bezieht sich allerdings nur auf<br />
die frühe Theologie <strong>de</strong>r zwanziger Jahre.<br />
Seine ersten theologischen Schriften verfasst<br />
<strong>de</strong>r wohl 1493 in Einsie<strong>de</strong>ln in <strong>de</strong>r<br />
Schweiz geborene Paracelsus, als er sich<br />
1524/25 in Salzburg nie<strong>de</strong>rlässt. Für diese<br />
ersten theologischen Schriften, die ich<br />
untersucht habe, gilt: Es liegt keine ein-<br />
7
heitliche theologische Konzeption vor.<br />
Paracelsus präsentiert sich vielmehr als ein<br />
sowohl humanistisch wie auch spiritualistisch<br />
orientierter Reformator, <strong>de</strong>r jedoch<br />
nicht vollständig <strong>de</strong>r Reformation zuzuordnen<br />
ist, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r seine Verehrung<br />
für Maria als Mutter Gottes <strong>bei</strong>behält,<br />
während er die Heiligenverehrung genau<br />
wie die Reformatoren ablehnt. 8 Hierin zeigt<br />
sich die Eigenständigkeit <strong>de</strong>s Paracelsus,<br />
<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit Tradition<br />
und Reformation jeweils selbst abwägt,welche<br />
Konzepte er übernehmen will.<br />
Schon in dieser Frühzeit zeigt sich zu<strong>de</strong>m<br />
das Abrücken von je<strong>de</strong>r Form verfasster<br />
Kirche, wenn Paracelsus für eine<br />
Abschaffung <strong>de</strong>s Klerus plädiert. Genau<br />
wie an<strong>de</strong>re radikale Spiritualisten strebt er<br />
eine Verinnerlichung <strong>de</strong>s Glaubens und<br />
ein individualistisches Christentum an.<br />
In<strong>de</strong>m er hier eine weltzugewandte, an <strong>de</strong>n<br />
Früchten <strong>de</strong>s Glaubens orientierte Frömmigkeit<br />
als I<strong>de</strong>al formuliert, zeigen sich <strong>bei</strong><br />
ihm bereits Züge neuzeitlicher Subjektivität.<br />
In seinen frühen Bibelauslegungen<br />
präsentiert sich Paracelsus zum einen als<br />
vom Humanismus, nämlich von Erasmus<br />
von Rotterdam, zum an<strong>de</strong>rn als von <strong>de</strong>r<br />
Reformation (hier beson<strong>de</strong>rs auch von <strong>de</strong>r<br />
Reformation in <strong>de</strong>r Schweiz, nämlich von<br />
Ulrich Zwingli in Zürich) geprägt.<br />
Aus <strong>de</strong>m eben gezeigten Bild geht ja<br />
schon hervor, was für eine zentrale Rolle<br />
die Bibel in <strong>de</strong>r Reformation spielt. Dieses<br />
sog. Schriftprinzip macht sich auch Paracelsus<br />
zu eigen, und er bin<strong>de</strong>t seinen<br />
Glauben an das biblische Wort. Dies bleibt<br />
8<br />
auch in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren, in <strong>de</strong>nen<br />
zahlreiche biblische Kommentare von ihm<br />
verfasst wer<strong>de</strong>n, so. Paracelsus ist damit<br />
einer <strong>de</strong>r Multiplikatoren <strong>de</strong>s reformatorischen<br />
Aufbruchs, <strong>de</strong>r sich die Betonung<br />
<strong>de</strong>s Wortes Gottes als Grundlage <strong>de</strong>s religiösen<br />
Lebens zu eigen macht, um daraus<br />
eine eigenständige Glaubenslehre und<br />
Theologie zu entwickeln. Bereits in <strong>de</strong>n<br />
30er Jahren wan<strong>de</strong>ln sich jedoch die Interessenschwerpunkte.<br />
Hatten ihn am Anfang<br />
seines Nach<strong>de</strong>nkens über theologische<br />
Fragen die Trinitätslehre, die Mariologie,<br />
das Matthäusevangelium und das kirchliche<br />
Zeremonienwesen interessiert, so wen<strong>de</strong>t er<br />
sich nun in <strong>de</strong>n 30er Jahren <strong>de</strong>n Psalmen,<br />
<strong>de</strong>n Zehn Geboten und <strong>de</strong>m Sakrament<br />
<strong>de</strong>s Abendmahls zu. Inhaltlich liegt nach<br />
wie vor ein Schwerpunkt auf <strong>de</strong>r Kirchenkritik<br />
und auf <strong>de</strong>r Ethik.<br />
Ich wer<strong>de</strong> Ihnen nun Paracelsus als Ausleger<br />
<strong>de</strong>r alttestamentlichen Psalmen vorstellen.<br />
Dieser nur noch unvollständig<br />
erhaltene Kommentar umfasst in <strong>de</strong>r kritischen<br />
Ausgabe 4 umfangreiche Bän<strong>de</strong>. Er<br />
ist wohl 1530 entstan<strong>de</strong>n, damit in einer<br />
Zeit, als auf <strong>de</strong>m Augsburger Reichstag<br />
1530 durch die Bekenntnisschrift <strong>de</strong>r<br />
Lutheraner, das Augsburgische Bekenntnis<br />
o<strong>de</strong>r die Confessio Augustana, und die<br />
Anerkennung zweier Konfessionen im<br />
Reich die Spaltung zwischen Katholizismus<br />
und Protestantismus endgültig war.<br />
Paracelsus jedoch sucht und fin<strong>de</strong>t nun<br />
einen Standpunkt jenseits <strong>de</strong>r Konfessionen,<br />
bil<strong>de</strong>t in dieser Zeit ein individuelles,<br />
spiritualistisches Herzenschristentum aus.<br />
2. Der Psalmenkommentar <strong>de</strong>s Paracelsus von 1530<br />
Der Psalter ist eine 150 Psalmen umfassen<strong>de</strong><br />
Liedsammlung im Alten Testament,<br />
die als Sammlung sehr unterschiedliche<br />
Texte in sich vereint. Schon im Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
nach Christi Geburt, im sog. apostolischen<br />
Zeitalter, waren die Psalmen im liturgischen<br />
Gebrauch <strong>de</strong>r Kirche, d.h. man benützte sie<br />
in Gebetstun<strong>de</strong>n, als <strong>Ges</strong>änge etc. Sie wur<strong>de</strong>n<br />
da<strong>bei</strong> stets auf Christus bezogen und<br />
entsprechend ihrem alttestamentlichen Verständnis<br />
als Gebete und <strong>Ges</strong>änge <strong>de</strong>r Kirche<br />
verstan<strong>de</strong>n. Paracelsus steht in dieser<br />
Tradition, wenn er ebenfalls die von ihm<br />
ausgelegten Psalmen als Gebete und Aussagen<br />
Christi versteht.<br />
Die bereits erwähnte Untersuchung von<br />
Martin Brecht hat ergeben, dass Paracelsus<br />
von <strong>de</strong>n damals gängigen patristischen<br />
und mittelalterlichen Psalmenkommentaren<br />
keinen als Vorlage benützt hat. 9 Dies<br />
scheint zunächst das »Einzelgängertum«<br />
<strong>de</strong>s Paracelsus einmal mehr zu bestätigen.<br />
Allerdings polemisiert Paracelsus im Nachwort<br />
<strong>de</strong>s Psalmenkommentars gegen die
eformatorische Bibelübersetzung, hat sich<br />
mit ihr auseinan<strong>de</strong>rgesetzt, auch wenn er<br />
sich von ihr abgrenzt und drauf beharrt,<br />
dass die lateinische Fassung <strong>de</strong>r Psalmen<br />
die zu bevorzugen<strong>de</strong> ist. 10 Brecht konnte<br />
die Psalmenübersetzung Martin Luthers,<br />
die Paracelsus benutzt haben muss, i<strong>de</strong>ntifizieren.<br />
Er konnte zweifelsfrei nachweisen,<br />
dass Paracelsus die Psalmenübersetzung<br />
Luthers von 1524 benützt hat. 11 Dies ist ein<br />
gewichtiger Beleg dafür, dass Paracelsus die<br />
Reformation zur Kenntnis genommen hat,<br />
auch wenn er sich immer stärker von ihr<br />
abgrenzt.<br />
Auf zwei Hauptkomplexe seiner Auslegungen<br />
wer<strong>de</strong> ich nun näher eingehen, um<br />
Ihnen so <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>s Paracelsus und<br />
seine Vorstellungen christlichen Lebens zu<br />
erläutern. Sie wer<strong>de</strong>n da<strong>bei</strong> sehen, wie sehr<br />
seine Vorstellungen durch die religiöse <strong>Ges</strong>amtsituation<br />
geprägt sind, wo er sich abgrenzt<br />
und welche Einflüsse er aufnimmt.<br />
a) Paracelsus und seine<br />
Christusvorstellung<br />
Wie für Luther und die Reformatoren sind<br />
für Paracelsus Jesus Christus und das biblische<br />
Wort die Grundlage <strong>de</strong>s Christentums.<br />
Die Ausrichtung auf Gottes Wort wird von<br />
ihm vehement gefor<strong>de</strong>rt. Selbst David,<br />
von <strong>de</strong>m Paracelsus annimmt, dass er <strong>de</strong>r<br />
Verfasser <strong>de</strong>r Psalmen ist, hat schon von<br />
Christus gewusst und seine Worte sind auf<br />
Christus zu beziehen:<br />
»David setzt fur sich die urtl gottes, das<br />
ist: er weist, wie eim geschicht und was eim<br />
begegnet, <strong>de</strong>r gottes befelch nit hält, sein<br />
wort, sein lehr. darumb so hofft er auf das<br />
wort gottes und weicht nit von <strong>de</strong>m, das<br />
ist: er weist, daß gottes wort Christus ist,<br />
von <strong>de</strong>m weicht er nit; dann er weist, solt<br />
er von Christo fallen, daß all sein Heil und<br />
seligkeit aus wer und verlorn. darumb seinst<br />
David und die urteil Christi im sinn, darumb<br />
weicht er nit von Christo, dann von<br />
anbeginn <strong>de</strong>r welt seindt sie beschlossen,<br />
und niemandts mag sie brechen, sun<strong>de</strong>r<br />
wir mussen alle dohin durch Christum und<br />
sunst durch nichten.« 12<br />
Genauso wie <strong>de</strong>r eben betrachtete Holzschnitt<br />
zeigt dieser Text, wie zentral Christus<br />
im Denken <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts ist. Von<br />
Christus hängt alles Heil <strong>de</strong>r Menschen<br />
ab. An ihn muss man sich halten. Damit<br />
verbun<strong>de</strong>n ist für Paracelsus dann aber<br />
auch das Halten von Gottes Befehl und<br />
Lehre. D.h. aus <strong>de</strong>m Glauben an Christus<br />
wer<strong>de</strong>n ethische Konsequenzen abgeleitet.<br />
Nur mit Hilfe <strong>de</strong>s Glaubens an Christus<br />
ist überhaupt richtiges Han<strong>de</strong>ln möglich;<br />
Christus befähigt die Menschen dazu:<br />
»Also weiter, so ich nun Christum hab, so<br />
habe ich die barmherzigkeit und das heil,<br />
in <strong>de</strong>m alle ding lebendig wer<strong>de</strong>n.« (2, VI,<br />
44). Allein Christus ist <strong>de</strong>r Weg und <strong>de</strong>r<br />
Herr (vgl ebd., 4), er allein vermittelt <strong>de</strong>m<br />
Menschen Orientierung.<br />
Christus ist aber nicht nur das Vorbild,<br />
<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Mensch folgen soll, er ist auch<br />
<strong>de</strong>r einzige Trost, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Mensch auf<br />
Er<strong>de</strong>n hat, <strong>de</strong>n die Menschen und Kreaturen<br />
auf Er<strong>de</strong>n nicht geben können, weil<br />
sie vergänglich sind. An<strong>de</strong>re Menschen<br />
können einem we<strong>de</strong>r Vergebung gewähren,<br />
noch dazu befähigen, Frucht zu bringen<br />
und sinnvoll tätig zu sein, all dies kann<br />
allein Christus, mit <strong>de</strong>ssen Hilfe das Verhalten<br />
erkannt wird, das er for<strong>de</strong>rt. (vgl.<br />
ebd., 50).<br />
Es klingen Motive mittelalterlicher Passionsfrömmigkeit<br />
an, wenn Paracelsus dazu<br />
auffor<strong>de</strong>rt, »daß wir sein armut betrachten<br />
uf er<strong>de</strong>n, so er gelitten hat, verschmaehung,<br />
verspottung etc.« (2, V, 237) Daraus wird<br />
abgeleitet, dass dies eben auch das angemessene<br />
Verhalten <strong>de</strong>r Christen sein muss,<br />
also nicht <strong>de</strong>n Reichtum zu suchen, son<strong>de</strong>rn<br />
Christus eben genau darin betrachten<br />
und erkennen, dass er in Armut, Lei<strong>de</strong>n<br />
und Wi<strong>de</strong>rwärtigkeit war. D.h. »Christus<br />
nit in hoffart suchen, im pomp, in bil<strong>de</strong>rn,<br />
in menschen, in klei<strong>de</strong>rn, sun<strong>de</strong>r im kreuz<br />
seins blutvergießens.« (2, V, 238). Auch hier<br />
klingt wie<strong>de</strong>r ein Motiv reformatorischer<br />
Kritik an, die sich je ebenfalls gegen <strong>de</strong>n<br />
zu aufwendigen Lebensstil <strong>de</strong>r Geistlichen,<br />
vor allem <strong>de</strong>s Papstes, <strong>de</strong>r Bischöfe und<br />
Kardinäle richtete und gegen die Verehrung<br />
und Anbetung von Heiligenbil<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r<br />
Reliquien. Vergebung kann <strong>de</strong>r gläubige<br />
Mensch zu<strong>de</strong>m nicht durch die Zeremonien<br />
<strong>de</strong>r Kirche erlangen, son<strong>de</strong>rn nur durch<br />
Reue und Leid über die eigenen Sün<strong>de</strong>n,<br />
die dadurch an Christus übereignet wer<strong>de</strong>n.<br />
9
Erneuerung erfährt <strong>de</strong>r Mensch im Abendmahl,<br />
durch das er am sühnen<strong>de</strong>n Blutvergießen<br />
Christi teil hat (vgl. 2, V, 251).<br />
Christus ist das Haupt <strong>de</strong>r Kirche; er<br />
allein ist ihr Priester und ihr Prediger (vgl.2,<br />
V, 70). Das be<strong>de</strong>utet jedoch stets, dass dies<br />
nicht nur erkannt, son<strong>de</strong>rn dass es auch<br />
gelebt wer<strong>de</strong>n muss: »dann die barmherzigkeit<br />
gottes ist nit <strong>de</strong>nen bereit, die gotlos<br />
seinst, das ist die kalter liebe seindt, die ir<br />
leiblich lust mehr ansehen dann christlichen<br />
glauben. darumb seindt sie gotlos, das ist<br />
christlos! sie tunt nit gnug <strong>de</strong>r berufung, sie<br />
dunt nit mehr dann sovil, als ihn woll zu<br />
erlei<strong>de</strong>n ist. das ist leiblos, kraftlos, gotlos,<br />
glaublos, werklos; dunt, was ihn schmeckt,<br />
nit was sie sollen.« (2, V, 115) Sie merken<br />
an dieser Stelle, wie rigoros Paracelsus ein<br />
an Christus orientiertes Leben for<strong>de</strong>rt. Was<br />
es be<strong>de</strong>utet, nach <strong>de</strong>n Maßgaben Christi<br />
zu leben, lässt sich vor allem auf eine For<strong>de</strong>rung<br />
beschränken, die Ihnen wahrscheinlich<br />
auch schon in <strong>de</strong>n medizinischen Schriften<br />
begegnet ist, wenn es dort heißt: Der höchste<br />
Grund <strong>de</strong>r Arznei ist die Liebe. – Diese<br />
Liebe ist ein Zeichen dafür, dass die Menschen<br />
»in Christo leben«, genau wie dies<br />
die Apostel getan haben. »also im leib hat<br />
uns Christus erlöst, im leib will er auch die<br />
liebe von uns haben.« (2, IV, 173).<br />
Die Dringlichkeit, diesem einmal Erkannten<br />
nachzuleben, ergibt sich daraus,<br />
dass alles Tun ohne Christus vergänglich<br />
und sinnlos ist; vor Gott sind die Menschen<br />
vergänglich wie Blumen und auch die Vernunft<br />
nützt ihnen nichts (vgl. 2, IV, 218):<br />
»darumb ist es alles nix. was nix? was wir in<br />
die zeit bauen, vergangen o<strong>de</strong>r in zukunftigs;<br />
es dorret alles us und hat kein bestand.<br />
was ausdorret, ist nix vor got. er will ewige<br />
werk haben, nichts zergenglichs.« (2, IV, 217).<br />
Paracelsus <strong>de</strong>finiert als Ziel <strong>de</strong>s Menschen,<br />
dass er durch Christus zu Weisheit und<br />
Erfahrenheit gelangt, durch die dann wie<strong>de</strong>rum<br />
das Herz in das Reich <strong>de</strong>s Himmels<br />
eingehen kann (vgl. 2, IV, 221). Nur dies<br />
hat Bestand, fällt nicht <strong>de</strong>r Vergänglichkeit<br />
anheim und es ist Barmherzigkeit Gottes,<br />
dass er durch Christus diese Möglichkeit<br />
geschaffen hat.<br />
In<strong>de</strong>m sich Paracelsus so die Aussagen<br />
<strong>de</strong>r Heiligen Schrift zu eigen macht, hat er<br />
10<br />
ein Mittel, die kirchliche Tradition und<br />
Autorität zu kritisieren, die von <strong>de</strong>m Weg,<br />
<strong>de</strong>n Christus und in seiner Nachfolge die<br />
Apostel vorgegeben haben, abgewichen<br />
sind. Er for<strong>de</strong>rt im Anschluss daran, eine<br />
religiöse Unmittelbarkeit zu erlangen, die<br />
die Gläubigen strenggenommen von kirchlicher<br />
Vermittlung unabhängig macht. In<br />
diesem Bestreben wirkt er sehr mo<strong>de</strong>rn<br />
und individualistisch. Gläubige Christen<br />
sind seiner Meinung nach auf Verkündigung<br />
und Predigt durch ausgebil<strong>de</strong>te Geistliche<br />
nicht angewiesen. Damit kritisiert<br />
Paracelsus natürlich auch die Predigttätigkeit<br />
<strong>de</strong>r evangelischen Geistlichen. Er<br />
glaubt, dass die Aufgabe von Geistlichen<br />
nur die <strong>de</strong>r Mission sein kann, d.h. Menschen<br />
die Botschaft von Christus bringen,<br />
die noch keine Gelegenheit hatten, sie zu<br />
hören. Geistliche stehen damit in <strong>de</strong>r Nachfolge<br />
<strong>de</strong>r Apostel und so kann es nicht angehen,<br />
dass sie irgenwo sesshaft wer<strong>de</strong>n:<br />
»darumb so ›suchen sein angesicht‹ – das<br />
ist die, so sein angesicht haben, und das<br />
allwegen, allemal, fur und fur. wie kann<br />
dann <strong>de</strong>r suchen, <strong>de</strong>r pfaff ist o<strong>de</strong>r nurembergisch,<br />
augspurgisch, straßburgisch etc.<br />
prediger, pfarrer ist und stilsten<strong>de</strong> meschtseu<br />
und futterseu? also auch die klosterleut<br />
in iren zellen, die das angesicht nit suchen,<br />
seindt treulos und meineidig« (2,V, 25).<br />
Allerdings soll <strong>de</strong>n Notdürftigen und Unwissen<strong>de</strong>n<br />
das Wort Gottes verkündigt<br />
wer<strong>de</strong>n, aber das darf nicht durch sesshafte<br />
Pfarrer geschehen, son<strong>de</strong>rn die Pfarrer<br />
müssen wie die Apostel als arme Wan<strong>de</strong>rprediger<br />
umherziehen und predigen (vgl.<br />
2,V, 27).<br />
Damit gibt Paracelsus einerseits, genau<br />
wie die Reformatoren, die Vorstellungen<br />
von einem beson<strong>de</strong>ren von <strong>de</strong>n religiösen<br />
Laien unterschie<strong>de</strong>nen geistlichen Stand<br />
(wie es ihn im Katholizismus bis heute<br />
gibt) auf und interpretiert auf seine Art<br />
und Weise das auch von Luther gefor<strong>de</strong>rte<br />
Priestertum aller Gläubigen. Der Protestantismus<br />
lehnt die Lehre vom beson<strong>de</strong>ren<br />
Charakter <strong>de</strong>s Amtsträgers ab, behält aber<br />
die Lehre vom geistlichen Stand als Berufsstand<br />
<strong>bei</strong>. Paracelsus akzeptiert als einzigen<br />
Berufsstand die schon erwähnten an<br />
<strong>de</strong>n Aposteln orientierten Wan<strong>de</strong>rprediger.
An<strong>de</strong>rerseits geht er nun noch darüber hinaus,<br />
in<strong>de</strong>m er anscheinend als einzige Autorität<br />
für Gottes Wort je<strong>de</strong>n Gläubigen selbst<br />
sieht. Es heißt dazu nämlich <strong>bei</strong> ihm: »darumb<br />
so bitten wir <strong>de</strong>n heiligen geist, daß er<br />
uns lern und das Wort erkler, und nit <strong>de</strong>n<br />
pfaffen, predigern; <strong>de</strong>n heiligen geist, <strong>de</strong>r<br />
wird uns lernen, <strong>de</strong>r ist uns von Christo zugeben,<br />
nit <strong>de</strong>r Pfaff, nit <strong>de</strong>r munch, wölche<br />
nit mit feuren zungen re<strong>de</strong>n, sun<strong>de</strong>r mit<br />
kuchin zungen, phariserischen und schreiber-,<br />
rethorischen und klefferischen.« (2,V,<br />
65) Auf dieses spiritualistische Konzept,<br />
das auf Vermittlung ohne an<strong>de</strong>re Menschen<br />
allein durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist vertraut,<br />
wer<strong>de</strong> ich später noch näher eingehen.<br />
Sie sehen bis hierher jedoch schon, welchen<br />
Platz Christus im Denken <strong>de</strong>s Paracelsus<br />
einnimmt, und wenn Sie sich jetzt noch<br />
einmal das Bild vor Augen führen, das ich<br />
Ihnen eben gezeigt habe, dann wer<strong>de</strong>n Sie<br />
mir zustimmen, dass bisher die Übereinstimmungen<br />
mit <strong>de</strong>r evangelischen Seite<br />
überwogen haben. Es ist <strong>de</strong>utlich gewor<strong>de</strong>n,<br />
dass auch für Paracelsus Christus <strong>de</strong>r einzige<br />
Mittler ist, dass es keinen an<strong>de</strong>ren Weg<br />
zur Seligkeit gibt. Seine Opposition gegen<br />
die Altgläubigen wird auch daran <strong>de</strong>utlich,<br />
dass er <strong>de</strong>n Gedanken, <strong>de</strong>r Priester wie<strong>de</strong>rhole<br />
<strong>bei</strong>m Abendmahl das Opfer Christi,<br />
ablehnt – ein Gedanke, <strong>de</strong>r von Luther<br />
ebenfalls scharf kritisiert wur<strong>de</strong>:<br />
»darauf wissen: das opfer hat uns erlost.<br />
nun was ist das Opfer? <strong>de</strong>r tempel Christi,<br />
sein fleisch, sein Blut und nichts an<strong>de</strong>rst.<br />
nun auf solchs wissen, daß <strong>de</strong>r das opfer ist<br />
(das ist <strong>de</strong>r sun gottes), ist auch <strong>de</strong>r priester,<br />
<strong>de</strong>r das opfer. das ist: er opfert sich selbs,<br />
und ist <strong>de</strong>r priester allein, das opfer allein<br />
und bleibt das in ewigkeit und sunst keiner<br />
nit.« (2,V, 133)<br />
Die Erlösung ist allein an Christus geknüpft<br />
und die Menschen haben teil an ihr<br />
durch das Abendmahl. Durch Christus ist<br />
die Sün<strong>de</strong> überwun<strong>de</strong>n und in<strong>de</strong>m die<br />
Menschen im Abendmahl an seinem Leib<br />
und Blut partizipieren, wer<strong>de</strong>n sie erneuert<br />
(vgl. 2,V, 251). Gleichzeitig kritisiert Paracelsus<br />
bisherige Fastenbräuche und häufige<br />
Kirchgänge – all dies ist in seinen Augen<br />
nicht nötig. Man muss sich natürlich fragen,<br />
wo dieses Abendmahl vollzogen wird, wenn<br />
Paracelsus <strong>de</strong>n Gedanken an eine verfasste<br />
Kirche aufgibt. Vermutlich schwebt ihm<br />
ein Gemeinschaftsmahl in einem kleinen<br />
Kreis von Gläubigen vor.<br />
Kritik an <strong>de</strong>r bisherigen Praxis <strong>de</strong>r Kirche<br />
wird auch noch an an<strong>de</strong>ren Stellen <strong>de</strong>utlich.<br />
So lehnt er das Papsttum genau wie<br />
<strong>de</strong>n geistlichen Stand wegen seines Reichtums<br />
und seiner Prachtentfaltung ab.<br />
Ironisch heißt es <strong>bei</strong> ihm: »nun secht <strong>de</strong>r<br />
reichen got und <strong>de</strong>r armen got, wie gleich<br />
sie einan<strong>de</strong>r sehent: <strong>de</strong>r pabst als <strong>de</strong>r reich,<br />
Christum als <strong>de</strong>n armen. wer ist blint, <strong>de</strong>r<br />
do nit die weg sicht.« (2,VI, 228) Christus<br />
ist Vorbild und Maßstab auch im Lebenswan<strong>de</strong>l.<br />
Die falschen Geistlichen erkennt<br />
man unschwer am falschen Lebenswan<strong>de</strong>l.<br />
Genauso abzulehnen sind die Klöster; Paracelsus<br />
ist hier <strong>de</strong>r Meinung, dass Kin<strong>de</strong>r,<br />
die in ein Kloster gegeben wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m<br />
Teufel geopfert wer<strong>de</strong>n. Ebenfalls von <strong>de</strong>r<br />
Reformation übernommen ist die Position,<br />
dass es keine Möglichkeit gibt, für Verstorbene<br />
Ablass zu erlangen und sie damit aus<br />
<strong>de</strong>m Fegfeuer zu erlösen (vgl. 2,V, 41).<br />
Neben <strong>de</strong>n zahlreichen Übereinstimmungen<br />
gibt es allerdings auch gravieren<strong>de</strong><br />
Unterschie<strong>de</strong> zur Reformation. Dies kommt<br />
vor allem in <strong>de</strong>m spezifisch paracelsischen<br />
Spiritualismus wie auch in einer radikalen<br />
Ethik zum Ausdruck.<br />
b) Spiritualismus und rigorose Ethik<br />
<strong>bei</strong> Paracelsus<br />
Durch Christus wird <strong>de</strong>n Gläubigen Erkenntnis<br />
möglich. Diese Erkenntnis ist<br />
von kirchlicher Vermittlung unabhängig;<br />
sie geschieht im Herzen und in <strong>de</strong>r Stille.<br />
Was Paracelsus hier beschreibt, klingt nach<br />
mystischer Erkenntnis durch Versenkung<br />
o<strong>de</strong>r Meditation und ist insofern wie<strong>de</strong>rum<br />
erstaunlich mo<strong>de</strong>rn: »So wir nun so aus <strong>de</strong>r<br />
diefe, die in uns ist, schreien und grun<strong>de</strong>n<br />
aus ir, so reicht diese tiefe so weit, daß wir<br />
ergrun<strong>de</strong>n die Barmherzigkeit <strong>de</strong>s suns.<br />
[...] allein unser herz verstets. darumb so<br />
wir Christum in uns bil<strong>de</strong>n und verstant,<br />
so seindt wir tief im grund; dann diefer<br />
mugen wir nit kommen, allein daß wir<br />
Christi barmherzigkeit, erlosung, lei<strong>de</strong>n<br />
und sterben, lehr und evangelium betrachten.<br />
[...] aus solcher diefe soll all unser<br />
11
itt, beten und schreien zu got gon.« (2,VI,<br />
198f.)<br />
Wenn Christus <strong>de</strong>r einzige Trost <strong>de</strong>r<br />
Gläubigen ist, dann impliziert das, dass niemals<br />
an<strong>de</strong>re Menschen o<strong>de</strong>r Dinge genauso<br />
wichtig sein können. Je<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>r Kreaturvergötterung<br />
wird rigoros abgelehnt.<br />
Denn an<strong>de</strong>re Menschen können nicht wie<br />
Christus die Sün<strong>de</strong> vergeben und dazu befähigen,<br />
auf Er<strong>de</strong>n Frucht zu bringen. Die<br />
Menschen müssen durch das Wort Gottes<br />
lebendig wer<strong>de</strong>n, das ohne je<strong>de</strong> frem<strong>de</strong><br />
Vermittlung zu <strong>de</strong>n Menschen spricht (vgl.<br />
2,VI, 50). Zwar können Menschen an<strong>de</strong>re<br />
bekehren und taufen und das Wort verkün<strong>de</strong>n;<br />
die Verantwortung für die eigene<br />
Seligkeit liegt jedoch <strong>bei</strong> je<strong>de</strong>m Menschen<br />
selbst: »aus <strong>de</strong>m folgt, daß ein Christ mag<br />
ein ju<strong>de</strong>n, ein hei<strong>de</strong>n, ein Turken taufen<br />
und glaubig machen; dann darzu haben<br />
wir <strong>de</strong>n schlüssel, das ist Christum, daß wir<br />
mügen auftun <strong>de</strong>n Tauf; das Wort Gottes<br />
verkün<strong>de</strong>n. aber niemandts in himmel<br />
heben; sun<strong>de</strong>r do ist <strong>de</strong>r schlussel, heb sich<br />
ein jeglicher selbs in himel! <strong>de</strong>r schlussel<br />
dient zum glauben zu fueren, und aber nit<br />
von <strong>de</strong>r hell in <strong>de</strong>n himmel o<strong>de</strong>r von himmel<br />
in die hell. sun<strong>de</strong>r allein uf er<strong>de</strong>n<br />
haben wir einan<strong>de</strong>r zu bekennen für sich<br />
selbs; darnach ein jeglicher in seim herzen<br />
durch Christum, nach <strong>de</strong>m und er am<br />
jüngsten tag bestohn wöll.« (2,VI, 52f.)<br />
In dieser Betonung <strong>de</strong>r Eigenverantwortlichkeit<br />
und <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung nach einer existentiellen<br />
Aneignung <strong>de</strong>s Glaubens besteht<br />
wie<strong>de</strong>rum gedankliche Nähe zur Reformation.<br />
Die Gläubigen wer<strong>de</strong>n aufgefor<strong>de</strong>rt,<br />
selbstverantwortlich für ihr Heil zu sorgen.<br />
Wie<strong>de</strong>rum wird die Unabhängigkeit von<br />
kirchlicher Vermittlung so stark betont,<br />
dass man sich fragt, wo die Taufe, von <strong>de</strong>r<br />
Paracelsus hier ja spricht, wohl stattfin<strong>de</strong>n<br />
soll, wenn Paracelsus keine Kirche vorsieht.<br />
Aus <strong>de</strong>m Umgang mit <strong>de</strong>m Wort Gottes<br />
ergeben sich ethische Konsequenzen: Auch<br />
<strong>de</strong>r Lebenswan<strong>de</strong>l muss Nähe zu Gott spiegeln.<br />
Da<strong>bei</strong> soll sich <strong>de</strong>r Mensch nach <strong>de</strong>m<br />
<strong>Ges</strong>etz richten, d.h. vor allem nach <strong>de</strong>n<br />
Zehn Geboten. Er soll sein Herz unbefleckt<br />
halten und auf keinen Fall falscher Lehre<br />
und falschem <strong>Ges</strong>etz folgen. Zur Bibellektüre<br />
gehört das Umsetzen <strong>de</strong>r Gebote<br />
12<br />
Gottes, sonst bleibt die Lektüre nutz- und<br />
fruchtlos: »do hört, von wem wir lernen,<br />
wo sie sueße liegt unser lehr, die über<br />
hunig in unserm mund ist. auf das merken:<br />
wir lesen Christum, wir lesen propheten,<br />
wir lesen alle gottliche und heilige geschrift,<br />
so ist dasselbige lesen allein mentschlich<br />
und ist uns gleich sueß als ein liepliche,<br />
geschickt historien o<strong>de</strong>r gesang. wollen wir,<br />
daß uns [die Bibellektüre] frucht macht,<br />
so mussen wir dise eigenschaft stohn lassen<br />
und in die liebe gent und bitten das reich<br />
gottes zu uns. als dann wer<strong>de</strong>n uns suß die<br />
red gottes; sunst ist es nur ein buchstaben,<br />
<strong>de</strong>r uns nur nach angeborner (also: natürlicher)<br />
art ein süße gibt, vil o<strong>de</strong>r wenig.«<br />
(2,VI,83) Je<strong>de</strong>m Christen ist <strong>de</strong>r unmittelbare<br />
Umgang mit <strong>de</strong>m Wort Gottes geboten,<br />
aber ihre göttliche Wirkkraft zeigt die<br />
Schrift erst, wenn <strong>de</strong>r Leser durch sie zur<br />
Liebe bewegt wird.<br />
Aus diesem Prinzip <strong>de</strong>r Bibelauslegung,<br />
<strong>de</strong>r es immer um angemessene Umsetzung<br />
geht, erklärt sich unschwer, warum Paracelsus<br />
mittlerweile auf Distanz zur Reformation<br />
gegangen ist. Ihm scheinen keine Fortschritte<br />
im Lebenswan<strong>de</strong>l erkennbar. Dies<br />
ist übrigens eine Kritik an <strong>de</strong>r Reformation,<br />
die unter an<strong>de</strong>ren Thomas Müntzer und<br />
Caspar von Schwenckfeld geteilt haben.<br />
Das Anliegen, <strong>de</strong>n Glauben ins Leben zu<br />
integrieren und nicht zu einem lebensfernen<br />
Ritual wer<strong>de</strong>n zu lassen, ist von<br />
Paracelsus also aufgegriffen, aber radikalisiert<br />
wor<strong>de</strong>n. Während im Luthertum <strong>de</strong>r<br />
Mensch trotz seines Angenommenseins als<br />
fehlbar gilt und <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> unterworfen<br />
bleibt, hat für Paracelsus dieser Gedanke<br />
keinen Raum. Rigoros ist er <strong>de</strong>r Meinung,<br />
dass je<strong>de</strong>r Mensch an <strong>de</strong>m einmal Erkannten<br />
festhalten kann, soll und muss. Als<br />
Vorbild nennt er Petrus:<br />
»dann also ist Petrus ein fels gewor<strong>de</strong>n,<br />
daß ihm got nix hat mugen abschlahen,<br />
sun<strong>de</strong>r hat mussen uf ihn bauen sein kirchen.<br />
was ist sein kirchen? die bestendigkeit<br />
bis in tod von anfang! darumben sollen<br />
wir felsen sein ein jeglicher mensch in<br />
ihm selbs, daß ein jeglicher mensch trag<br />
sein eigen kirchen, und keiner hat <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn<br />
kirchen noch gemeinschaft mit <strong>de</strong>r<br />
seinen [...] also ist <strong>de</strong>r fels die liebe, <strong>de</strong>r
glaub, die hoffnung, darauf gott sein kirchen<br />
bauet, das ist sein willen, <strong>de</strong>n er im menschen<br />
vollbringen will.« (2,VII, 8).<br />
Mit <strong>de</strong>m Christsein ist für Paracelsus<br />
untrennbar dieser hohe ethische Anspruch<br />
verbun<strong>de</strong>n. Menschliche Weisheit kann<br />
dieses <strong>Ges</strong>chehen <strong>de</strong>r Christuswirklichkeit,<br />
die sich <strong>de</strong>m Menschen erschließt, nicht<br />
erfassen. Dieser Haltung entgegen stehen<br />
alle diejenigen, <strong>de</strong>nen ihr Christentum nur<br />
ein Lippenbekenntnis ist. Damit spricht<br />
Paracelsus nicht nur ein Urteil über <strong>de</strong>n<br />
geistlichen Stand, son<strong>de</strong>rn er bezieht auch<br />
diejenigen Christen ein, die <strong>de</strong>m Maßstab<br />
<strong>de</strong>r Liebe, wie er ihn versteht, nicht folgen.<br />
Als Unterschie<strong>de</strong> zwischen wahren und<br />
falschen Christen nennt er ihre Verhaltensweise.<br />
Für die wahren Christen gilt: »Sie<br />
wer<strong>de</strong>n nichts re<strong>de</strong>n noch schwetzen, das<br />
do wer<strong>de</strong> wi<strong>de</strong>r got sein, das ist nit wucherei<br />
treiben, nit falsch wandlen im weg<br />
gottes, nit lestern; son<strong>de</strong>r die warheit wird<br />
aus irem hals gohn. domit wer<strong>de</strong>n sie gott<br />
loben.« Dagegen steht das Verhalten <strong>de</strong>r<br />
falschen Christen: »nit als die reichen, die<br />
do bescheißen <strong>de</strong>n armen, daß sie reich und<br />
voll wer<strong>de</strong>n; und darnach gents in kirchen<br />
und singen got ein liedli darauf und psallieren<br />
in iren heusern und dischen, hoffiern<br />
got. nicht also: es ist <strong>de</strong>m teufel gehoffiert,<br />
nit got!« (2,VII, 108)<br />
Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Reichtum ist für Paracelsus<br />
ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal<br />
zwischen wahren und falschen Christen,<br />
<strong>de</strong>nn wer <strong>de</strong>m Vorbild Christi folgt, muss<br />
ihn sich auch in seiner Armut und seinem<br />
Lei<strong>de</strong>n zum Vorbild nehmen. Hier stehen<br />
also ein spiritualistisches und ein ethisches<br />
Prinzip nebeneinan<strong>de</strong>r: Zum einen soll <strong>de</strong>r<br />
Mensch sich gera<strong>de</strong>zu in Christus versenken,<br />
lebt er in ihrem Herzen, so dass sie keine<br />
äußerliche Stätte <strong>de</strong>r Anbetung brauchen;<br />
zum an<strong>de</strong>rn resultiert aus dieser Christusbeziehung<br />
eine Lebenshaltung, die sich<br />
an ihm als Vorbild orientiert. Der Christ<br />
braucht keine Kirche; sein Tabernakel ist<br />
sein eigenes Herz, in <strong>de</strong>m soll Christus<br />
sein. (2,VI, 216). Daraus folgt: »so wil ich<br />
ihm kein statt mehr machen von gestein<br />
und von mauren, sun<strong>de</strong>r ich will ihn in<br />
mein herz fassen, <strong>de</strong>m ich sonst ein tabernacul<br />
macht über golt und silber.« (2,VI,<br />
215) Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen,<br />
bedarf <strong>de</strong>r Mensch <strong>de</strong>s göttlichen<br />
Worts. Wenn er sich daran hält, wird Gott<br />
ihn nicht verschmähen, auch wenn er <strong>bei</strong><br />
<strong>de</strong>n Menschen nicht unbedingt geachtet<br />
sein wird.<br />
c) Biographie und Theologie<br />
Aufschlussreich für <strong>de</strong>n eigenen Standpunkt<br />
<strong>de</strong>s Paracelsus in <strong>de</strong>n dreißiger Jahren ist<br />
eine Auslegung von Psalm 119, Vers 141.<br />
Hier klingen vielleicht persönliche Erfahrungen<br />
an, wenn er zu <strong>de</strong>r Aussage: »Ich<br />
bin ein Jüngling und verachtet, aber <strong>de</strong>ine<br />
Befehle mißachte ich nicht.« ausführt:<br />
»Das ist sovil: wiewol ich ein verachter<br />
und verschmechter bin, daß ist auf <strong>de</strong>n<br />
hohen schulen, <strong>bei</strong> <strong>de</strong>n sophisten, <strong>bei</strong> <strong>de</strong>n<br />
synagogen, <strong>bei</strong> <strong>de</strong>n pfaffen, munchen, <strong>bei</strong><br />
<strong>de</strong>n kirchen, <strong>de</strong>n gelerten, <strong>bei</strong> <strong>de</strong>n schreibern,<br />
<strong>bei</strong> <strong>de</strong>n fursten (dann er redt do von<br />
aller verachteten christen wegen), ›und bin<br />
ein jungling‹, das ist wie ein jungling, <strong>de</strong>r<br />
nichts kann, nichts soll, sun<strong>de</strong>r fur und fur<br />
zu schul <strong>de</strong>r ketzerei getrieben soll wer<strong>de</strong>n,<br />
und <strong>de</strong>n man darein treibt, daß er do lern,<br />
›noch vergiß ich <strong>de</strong>iner gerechtigkeit nit‹.<br />
das laut dohin, daß die verachten auf er<strong>de</strong>n<br />
sich nit sollen bekumern lassen, sun<strong>de</strong>r<br />
allzeit ge<strong>de</strong>nken an die gesatz gottes; <strong>bei</strong>m<br />
selbigen seindt sie nit verschmecht.« (2,VI,<br />
114).<br />
Mir scheint es, als ob Paracelsus hier<br />
auch von sich selber spricht, von seinen<br />
Erfahrungen mit Theologie und Kirche<br />
und dass er mittlerweile je<strong>de</strong> Hoffnung auf<br />
Verständigung aufgegeben hat. Dazu muss<br />
man wissen, dass er in Salzburg 1524/25<br />
zwei Schriften Theologen widmete, nämlich<br />
zwei italienischen Professoren <strong>de</strong>r<br />
Theologie, Valentin und Remigius, die<br />
man bisher lei<strong>de</strong>r nicht hat näher i<strong>de</strong>ntifizieren<br />
können. Ihnen widmete er seine<br />
sehr kirchenkritische Schrift ›De septem<br />
punctis idolatriae christianae‹ (Von <strong>de</strong>n<br />
sieben Punkten christlicher Abgötterei) –<br />
<strong>de</strong>mnach glaubte er hier noch, dass die<br />
christliche Kirche reformierbar sein müsste. 13<br />
Und die zweite Schrift, seine Auslegungen<br />
zu <strong>de</strong>n ersten fünf Kapiteln <strong>de</strong>s Matthäusevangeliums,<br />
schickte er 1525 mit einem<br />
Begleitbrief an Luther, Bugenhagen und<br />
13
Melanchthon nach Wittenberg, wollte sich<br />
anscheinend also <strong>de</strong>r theologischen Erneuerungsbewegung<br />
annähern. 14 Seine Berufung<br />
als Stadtarzt nach Basel 1527 wur<strong>de</strong><br />
von einem Freund <strong>de</strong>s Erasmus von Rotterdam,<br />
<strong>de</strong>m Buchhändler Froben geför<strong>de</strong>rt,<br />
woraus man schließen kann, dass Paracelsus<br />
als ein Mann empfun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />
christlichen Humanismus <strong>de</strong>s Erasmus nahestand.<br />
15 Auch setzte sich <strong>de</strong>r evangelische<br />
Reformator Oekolampad für seine Berufung<br />
ein, <strong>de</strong>r Paracelsus als <strong>de</strong>r evangelischen<br />
Sache nahestehend einschätzte. In Basel<br />
konnte Paracelsus nun erstmals die Umsetzung<br />
<strong>de</strong>r Reformation ins Leben beobachten.<br />
Offenbar hat ihn dies eher skeptischer<br />
gemacht, als vollends für sie gewonnen.<br />
Nicht zuletzt bot die Stadt ein lebendiges<br />
Beispiel für die damals beginnen<strong>de</strong> Vielfalt<br />
christlicher Strömungen: In Basel gab es<br />
neben <strong>de</strong>n Altgläubigen nicht nur Humanisten<br />
und <strong>de</strong>m sich konstituieren<strong>de</strong>n<br />
Luthertum gewogene Parteiungen, son<strong>de</strong>rn<br />
auch Humanisten, die eher <strong>de</strong>m Züricher<br />
Reformator Zwingli zugeneigt waren, genauso<br />
wie radikalisieren<strong>de</strong> Separatisten und<br />
Täufer.<br />
Nach <strong>de</strong>r Flucht aus Basel im Januar 1528<br />
wegen einer Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit einem<br />
Patrizier, <strong>de</strong>m er angeblich eine zu hohe<br />
Rechnung ausgestellt hatte, war die letzte<br />
Möglichkeit gescheitert, in etablierter Position<br />
etwas bewirken zu können. Wan<strong>de</strong>rjahre<br />
in bitterer Armut schließen sich an.<br />
Immer wie<strong>de</strong>r wird Paracelsus da<strong>bei</strong> Zeuge<br />
<strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung um <strong>de</strong>n rechten<br />
Glauben. 1530 nun gibt er die Hoffnung<br />
auf, einer <strong>de</strong>r sich ausbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Konfessionen<br />
zugehören zu können, zählt sich zu<br />
<strong>de</strong>n verachteten Christen, die von <strong>de</strong>n Gelehrten,<br />
<strong>de</strong>n Kirchen und <strong>de</strong>n Pfarrern nicht<br />
anerkannt wer<strong>de</strong>n. An eine Reformierbarkeit<br />
<strong>de</strong>r Institution Kirche scheint er nicht<br />
mehr zu glauben, um so mehr liegt ihm<br />
daran, ein individualistisches Herzenschristentum<br />
als <strong>de</strong>n wahren Weg zu Gott aufzuzeigen.<br />
Ein Indiz für sein Selbst- und<br />
Sendungsbewußtsein ist es, dass er sich ab<br />
<strong>de</strong>n 30er Jahren als Doktor <strong>de</strong>r Heiligen<br />
Schrift versteht und sich damit in die Reihe<br />
<strong>de</strong>r kompetenten Ausleger <strong>de</strong>r Bibel einreiht,<br />
die das Jahrhun<strong>de</strong>rt beherrschen.<br />
14<br />
Paracelsus’ eigener Glaube macht sich<br />
unabhängig von kirchlicher Vermittlung.<br />
Das biblische Wort in spiritueller Auslegung<br />
ist für ihn verbindlich und gelegentlich<br />
kann er sogar davon sprechen, dass<br />
die Gläubigen unmittelbar aus Gott bzw.<br />
vom Himmel Erkenntnisse erlangen: »do<br />
beschleust David <strong>de</strong>n vorbemelten psalmen,<br />
daß wir nit sollen in <strong>de</strong>n geistlichen<br />
stand [...] verhoffen o<strong>de</strong>r glauben, sun<strong>de</strong>r<br />
von <strong>de</strong>r er<strong>de</strong>n unser augen wen<strong>de</strong>n gen<br />
himel; do kompt unser heil her. zu gleicherweis<br />
wie Christus vom himel herab ist<br />
komen und ist unser heil uf er<strong>de</strong>n gewesen,<br />
also kompt es ohn all an<strong>de</strong>r mittel von<br />
himel auch herab. und weiter haben wir<br />
nichts anzusehen.« (2,VI, 146)<br />
Damit einher geht ein großes Vertrauen<br />
auf Gottes Barmherzigkeit: Diejenigen, die<br />
sich auf Gott ausrichten, wer<strong>de</strong>n von ihm<br />
angenommen aus göttlicher Gna<strong>de</strong> und<br />
wenn sie vor <strong>de</strong>r Welt verachtet sind, heißt<br />
dies eben nicht, dass sie <strong>bei</strong> Gott verachtet<br />
sind, son<strong>de</strong>rn im Gegenteil: gera<strong>de</strong> sie, die<br />
Armen und Verachteten, sind Gott nahe.<br />
Da<strong>bei</strong> darf es kein Vertrauen auf die eigene<br />
Leistung geben, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Christ soll<br />
Gott als seine Mutter sehen, die ihm Nahrung<br />
gibt (vgl.2, VI, 207f.).<br />
3. Schluss<br />
Ich habe Ihnen hiermit einen Ausschnitt<br />
aus <strong>de</strong>m theologischen Denken <strong>de</strong>s Paracelsus<br />
vorgestellt, wo<strong>bei</strong> nach wie vor umstritten<br />
ist, inwieweit Paracelsus da<strong>bei</strong> von<br />
Einflüssen aus <strong>de</strong>r Renaissancephilosophie,<br />
vor allem <strong>de</strong>s Neuplatonismus, geprägt ist<br />
und die Interpretation seines theologischen<br />
Schrifttums, wenn sie allein vor <strong>de</strong>m Hintergrund<br />
<strong>de</strong>r Theologien <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
und damit vor allem <strong>de</strong>r Reformation<br />
dargestellt wird, zu kurz greift. Forscher wie<br />
Walter Pagel 16 , Arlene Miller-Guinsburg 17 ,<br />
Siegfried Wollgast 18 und vor allem Hartmut<br />
Rudolph 19 sind <strong>de</strong>r Ansicht, dass dieser<br />
Einfluss nach wie vor unterschätzt wird<br />
und dass Interpretationen, die <strong>de</strong>n bibeltheologischen<br />
Hintergrund <strong>de</strong>s Paracelsus<br />
betonen, <strong>de</strong>n Kontext seines naturphilosophischen<br />
Werkes verzeichnen und auch<br />
eine angemessene Interpretation <strong>de</strong>s theologischen<br />
Werkes zumin<strong>de</strong>st erschweren.
Nun fällt tatsächlich auf, dass Paracelsus<br />
auch im Psalmenkommentar häufig die<br />
Einzigartigkeit Jesu Christi und <strong>de</strong>r durch<br />
ihn geschehenen Erlösung betont, dass eine<br />
Verbindung zur Anthropologie <strong>de</strong>s einzelnen<br />
Menschen – das lutherische pro me<br />
(für mich), das die lebendige Gottesbeziehung<br />
erst herstellt – sich so <strong>bei</strong> Paracelsus<br />
nicht fin<strong>de</strong>t. Die Aussagen über Christus<br />
und die Aussagen über das Verhalten <strong>de</strong>s<br />
Christen stehen eher nebeneinan<strong>de</strong>r, wie<br />
sie einan<strong>de</strong>r bedingen wird hier nirgends<br />
<strong>de</strong>utlich. Der Kirchenhistoriker Heinrich<br />
Bornkamm hat diesen Befund bereits 1926<br />
aus sehr viel geringerer Quellenkenntnis<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen dargestellt: »Aber es ist<br />
schon eigentümlich, welch geringe Be<strong>de</strong>utung<br />
er [Paracelsus] da<strong>bei</strong> <strong>de</strong>r Person Christi<br />
zumißt. Bei einem am biblischen Evangelium<br />
genährten Manne wie Paracelsus ist<br />
es selbstverständlich, daß er oft genug in<br />
<strong>de</strong>n kirchlichen Formeln von <strong>de</strong>r Erlösung<br />
durch Christus zu re<strong>de</strong>n weiß. Aber es ist<br />
doch <strong>de</strong>utlich spürbar, daß sein ganzes inneres<br />
Erleben ihn unvermittelt vor Gott<br />
stellt, ohne daß es sich auf die Versöhnungstat<br />
Christi grün<strong>de</strong>te.« 20 In Verschärfung dieser<br />
Position meint nun Hartmut Rudolph,<br />
<strong>de</strong>r dies 1996 <strong>bei</strong>m I. Dresdner Symposium<br />
vorgetragen hat, dass Christus <strong>bei</strong> Paracelsus<br />
»seine soteriologische Einzigartigkeit als<br />
Heilsvermittler« verliere. 21 Tatsächlich ist jedoch<br />
eine klare Einordnung <strong>de</strong>s Paracelsus<br />
in die Reformation und in die Renaissancephilosophie<br />
immer noch nicht möglich,<br />
weil dazu das gesamte Werk zunächst einmal<br />
erschlossen und traditionsgeschichtlich<br />
untersucht wer<strong>de</strong>n müsste. Von daher gelten<br />
solche Einschätzungen nur unter Vorbehalt.<br />
Bei aller Vorsicht bin ich jedoch <strong>de</strong>r<br />
Meinung, dass davon ausgegangen wer<strong>de</strong>n<br />
muss, dass Paracelsus seine Haltung zu<br />
Theologie, Kirche, Christentum und auch<br />
Jesus Christus im Laufe seines Lebens,Wirkens<br />
und Schreibens erst herausgebil<strong>de</strong>t hat,<br />
dass er nicht schon von Anfang an eine fertig<br />
ausgebil<strong>de</strong>te Position besaß, son<strong>de</strong>rn sie<br />
im eigenständigen Umgang mit theologischen<br />
Diskussionen seiner Zeit entwickelte.<br />
Da<strong>bei</strong> ist zwar neuplatonischer Hintergrund<br />
bis in die Terminologie hinein spür-<br />
bar, jedoch überwiegt die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
mit aktuellen christlichen Positionen.<br />
Hier kann ich durch eigene Quellenuntersuchungen<br />
erhärten, dass 1524/25 eine<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit reformatorischen<br />
Positionen stattfin<strong>de</strong>t und dass das Bekenntnis<br />
zu Christus noch weitgehend im<br />
reformatorischen Sinne vorgebracht wird.<br />
Tatsächlich habe ich <strong>de</strong>n Eindruck, dass<br />
diese Einstellung bereits im Psalmenkommentar<br />
eine Wandlung erfahren hat.<br />
Der bereits am Anfang erwähnte Aufsatz<br />
von Mitchell Hammond geht in seiner<br />
Argumentation – im genauen Gegensatz zu<br />
Rudolph – davon aus, dass die Verbindung<br />
zwischen medizinischem und theologischem<br />
Denken <strong>bei</strong> Paracelsus auf einer<br />
christlichen Kosmologie beruht, die biblisch<br />
fundiert ist. 22 Auch die neue Studie<br />
von Andrew Weeks wichtet die biblischen<br />
Fundamente <strong>de</strong>s Paracelsus stärker als seinen<br />
neuplatonischen Hintergrund und<br />
verschränkt Paracelsus’ Denkweise mit <strong>de</strong>n<br />
reformatorischen Aufbrüchen <strong>de</strong>r Zeit. 23<br />
Weeks sieht in Paracelsus’ Ablehnung von<br />
Autoritäten und Kapazitäten innerhalb <strong>de</strong>r<br />
Medizin einen <strong>de</strong>utlichen Kontrast zu<br />
Marsilio Ficino o<strong>de</strong>r Pico <strong>de</strong>lla Mirandola<br />
und in <strong>de</strong>r Betonung dieser Abhängigkeit<br />
eine Schieflage, die an<strong>de</strong>re Quellen <strong>de</strong>s<br />
Paracelsus zugunsten einer Überbetonung<br />
von neuplatonischem Einfluss übersieht. 24<br />
Er kommt zu einer Einschätzung, die ich<br />
teile und <strong>de</strong>shalb zitieren will: »Significantly,<br />
Paracelsus brings to nature and medicine<br />
the terminologies of contemporaneous<br />
religious <strong>de</strong>bate, the contrasts of<br />
faith and works, of the outer and the inner,<br />
of flesh and spirit. This usage is very much<br />
more in evi<strong>de</strong>nce than is any counterposing<br />
of Hermetic and Neoplatonic i<strong>de</strong>as<br />
against the authority of church tradition<br />
and the Bible [...] During this <strong>de</strong>cisive<br />
period of his career, Paracelsus does not<br />
choose the si<strong>de</strong> of Renaissance philosophy<br />
against a Reformation fi<strong>de</strong>ism. Quite to<br />
the contrary, he attempts to extend faith<br />
to the domain of nature and medicine.« 25<br />
Dies soll nur ein Beispiel dafür sein, dass<br />
die Forschungsmeinungen hier divergieren.<br />
Ich habe Ihnen diese Forschungskontroverse<br />
kurz darstellen wollen, um zu zeigen,<br />
15
dass letztlich die Erforschung <strong>de</strong>s Laientheologen<br />
Paracelsus noch vor vielen Aporien<br />
und erst in ihren Anfängen steht.<br />
Abschließend möchte ich jedoch noch<br />
einmal zusammenfassend die Haltung zum<br />
christlichen Glauben skizzieren, wie Paracelsus<br />
sie hier im Psalmenkommentar entwickelt,<br />
und dies im Vergleich mit <strong>de</strong>m vorhin<br />
interpretierten Holzschnitt:<br />
– Gemeinsam mit <strong>de</strong>n Reformatoren betont<br />
Paracelsus die einzige Mittlerfunktion<br />
Christi. Genau wie sie gibt er Heiligen-<br />
und Marienverehrung auf. Durch<br />
Christus wird das Heil an die Menschen<br />
vermittelt. Er ist <strong>de</strong>r barmherzige Tröster.<br />
– Angemessenes Christentum zeigt sich an<br />
<strong>de</strong>r Nachfolge in Armut. Paracelsus teilt<br />
die kleruskritische Haltung <strong>de</strong>r Reformatoren,<br />
geht aber radikalisierend über sie<br />
hinaus: während <strong>de</strong>r Protestantismus das<br />
Pfarramt als Beruf bestehen lässt, lässt<br />
Paracelsus nur noch ein an <strong>de</strong>n Aposteln<br />
orientiertes Wan<strong>de</strong>rpredigeramt zu.<br />
– Für das Luthertum wird <strong>de</strong>r Glaube durch<br />
die Verkündigung <strong>de</strong>s Evangeliums und<br />
die Verabreichung <strong>de</strong>r Sakramente weitergegeben<br />
und erhalten. Paracelsus dagegen<br />
besitzt kein positives Kirchenverständnis.<br />
Glaube vermittelt sich durch<br />
<strong>de</strong>n lebendigen Umgang mit <strong>de</strong>r Heiligen<br />
Schrift, d.h. es geht um ein Verstehen,<br />
das zugleich immer auf Umsetzung<br />
dringt. Christentum ist wesentlich Geistchristentum.<br />
Durch <strong>de</strong>n Heiligen Geist<br />
wer<strong>de</strong>n die Christen zur Tat <strong>de</strong>r Liebe<br />
gedrängt.<br />
– Außer Abendmahl und Taufe erwähnt<br />
Paracelsus kein an<strong>de</strong>res Sakrament.<br />
1 Vortrag am 7.10.98 im Deutschen Hygiene-<br />
Museum Dres<strong>de</strong>n. Der Vortrag wur<strong>de</strong> für die<br />
Druckfassung geringfügig überar<strong>bei</strong>tet.<br />
2 Hartmut Rudolph, Paracelsus, in: Theologische<br />
Realenzyklopädie 25 (1995), 699-705.<br />
3 Die Ergebnisse <strong>de</strong>r Glasgower Tagung fin<strong>de</strong>n sich<br />
in: Ole Peter Grell (Hg.), Paracelsus. The Man and<br />
his Reputation, his I<strong>de</strong>as and their Transformation,<br />
Lei<strong>de</strong>n u.a. 1998 [Studies in the History of<br />
Christian Thought, hg. von Heiko Augustinus<br />
Oberman, Bd. 85]. Die Beiträge <strong>de</strong>r Stuttgarter<br />
Tagung sind erschienen in: Peter Dilg, Hartmut<br />
16<br />
ANMERKUNGEN<br />
Auch hier hat er <strong>de</strong>mnach Anregungen<br />
aus <strong>de</strong>r reformatorischen Diskussion aufgegriffen.<br />
Was für Rückschlüsse lassen sich aus diesem<br />
Befund nun auf seinen Glauben ziehen? Es<br />
ist ein sehr individualistisches Christentum,<br />
das Paracelsus hier vorstellt. Je<strong>de</strong>r Mensch<br />
ist für sein Gottesverhältnis selbst verantwortlich.<br />
Keine Institution ist mehr für die<br />
Vermittlung <strong>de</strong>s Heils zuständig. Individualismus<br />
heißt <strong>bei</strong> ihm jedoch nicht Beliebigkeit<br />
<strong>de</strong>s Lebens und Han<strong>de</strong>lns, son<strong>de</strong>rn<br />
be<strong>de</strong>utet ein individuelles Streben nach<br />
verinnerlichter Frömmigkeit, die an biblischen<br />
Maßgaben orientiert ist. Pirmin Meier<br />
hat diese Religiosität <strong>de</strong>s Paracelsus in seiner<br />
1993 bereits in dritter Auflage erschienenen<br />
Biographie folgen<strong>de</strong>rmaßen beschrieben:<br />
Bei <strong>de</strong>r paracelsischen Religiosität han<strong>de</strong>le<br />
es sich um ein »Phänomen, das unserer<br />
Zeit zugleich sehr nahe und fern steht: <strong>de</strong>r<br />
Mensch, <strong>de</strong>n man nie beten sieht, <strong>de</strong>r aber<br />
unablässig betet; <strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>r keine<br />
Kirche, keinen Gottesdienst besucht, <strong>de</strong>ssen<br />
ganzes Leben aber ein einziger Gottesdienst<br />
ist [...] <strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>r nie <strong>bei</strong>chtet,<br />
aber alle seine Worte und Taten sind in<br />
einem noch an<strong>de</strong>ren Sinne als <strong>bei</strong> Goethe,<br />
in einer durchaus christlichen Meinung,<br />
Bruchstücke einer großen Konfession. Der<br />
Mensch, <strong>de</strong>r an Fastenbräuchen nicht teilnimmt,<br />
in gewissen Phasen seines Lebens<br />
ein fröhlicher Zecher ist, <strong>de</strong>r aber letztlich<br />
von <strong>de</strong>n Tischen seiner Mitmenschen abberufen<br />
wird zu einer permanenten Askese<br />
<strong>de</strong>r <strong>Ges</strong>innung, <strong>de</strong>s Wortes, <strong>de</strong>r Tat.« 26<br />
Rudolph (Hgg.), Neue Beiträge zur Paracelsusforschung,<br />
Stuttgart 1995 [Hohenheimer Protokolle,<br />
Bd. 47].<br />
4 Andrew Weeks, Paracelsus. Speculative Theory<br />
and the Crisis of the Early Reformation,<br />
New York 1997.<br />
5 Mitchell Hammond, The Religious Roots of<br />
Paracelsus’s Medical Theory, in: Archiv für<br />
Reformationsgeschichte 89 (1998), 7-21.<br />
6 Martin Brecht, Der Psalmenkommentar <strong>de</strong>s<br />
Paracelsus und die Reformation, in:<br />
Neue Beiträge (wie Anm. 3), 71-110.
7 Die Bezeichnung »radikale Reformation« geht auf<br />
George H.Williams 1962 erschienenes Buch<br />
(<strong>de</strong>rs., Radical Reformation, Phila<strong>de</strong>lphia 1962)<br />
zurück. Vom »linken Flügel <strong>de</strong>r Reformation«<br />
spricht ertmals Heinold Fast in seiner gleichlauten<strong>de</strong>n<br />
Textsammlung, die dann noch einmal<br />
unterteilt in Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und<br />
Antitrinitarier (<strong>de</strong>rs., Der linke Flügel <strong>de</strong>r Reformation.<br />
Glaubenszeugnisse <strong>de</strong>r Täufer, Spiritualisten,<br />
Schwärmer und Antitrinitarier, Bremen 1962<br />
[Matthias Schrö<strong>de</strong>r (Hg.), Klassiker <strong>de</strong>s Protestantismus<br />
Bd. 4]). Vgl. zur weiteren Information<br />
auch: Hans-Jürgen Goertz, Radikale Reformation.<br />
21 biographische Skizzen von Thomas Müntzer<br />
bis Paracelsus, München 1978.<br />
8 Ute Gause, Paracelsus (1493-1541). Genese und<br />
Entfaltung seiner frühen Theologie, Tübingen<br />
1993 [Spätmittelalter und Reformation NR 4],<br />
hier 285. Vgl. als Kurzzusammenfassung auch:<br />
Alois M. Haas, Paracelsus <strong>de</strong>r Theologe: Die Salzburger<br />
Anfänge 1524/25, in:<br />
Heinz Dopsch, Peter F. Kramml, Paracelsus und<br />
Salzburg, Salzburg 1994, 369-382 – Im Gegensatz<br />
zu Haas halte ich Paracelsus in seinem theologischen<br />
Denken jedoch für weniger eigenständig.<br />
Haas ist <strong>bei</strong>spielsweise die Zwingli-Rezeption <strong>de</strong>s<br />
Paracelsus entgangen.<br />
9 Vgl. Brecht (wie Anm. 6), 73.<br />
10 Vgl. ebd., 74f.<br />
11 Vgl. ebd., 76f.<br />
12 Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus,<br />
Sämtliche Werke. 2.Abteilung: Theologische und<br />
religionsphilosophische Schriften, hrsg. von Kurt<br />
Goldammer, B<strong>de</strong>. IV-VII, Wiesba<strong>de</strong>n 1955-1961;<br />
im folgen<strong>de</strong>n zitiert als: 2 [Abteilung]/römische<br />
Ziffer [Band], Seite, wo<strong>bei</strong> die jeweilige Belegstelle<br />
unmittelbar hinter <strong>de</strong>m betreffen<strong>de</strong>n Zitat im Text<br />
angegeben ist. Hier also: 2, VI, 51.<br />
13 Vgl. ausführlich dazu Gause (wie Anm. 8), 118-144.<br />
14 Ebd., 162f.<br />
15 Vgl. ausführlicher dazu Hammond (wie Anm.5),11f.<br />
16 Walter Pagel, Paracelsus. An Introduction to<br />
Philosophical Medicine in the Era of the Renaissance,<br />
2.verbesserte Auflage Basel u.a. 1982.<br />
17 Arlene Miller-Guinsburg, Die I<strong>de</strong>enwelt <strong>de</strong>s<br />
Paracelsus und seiner Anhänger in Hinsicht auf<br />
das Thema <strong>de</strong>s christlichen Magus und <strong>de</strong>ssen<br />
Wirken, in: Sepp Domandl (Hg.), Von Paracelsus<br />
zu Goethe und Wilhelm von Humboldt [Salzburger<br />
Beiträge zur Paracelsusforschung 22],<br />
Wien 1981, 27-54. Dies., Paracelsian Magic and<br />
Theology. A Case Study of the Matthew Commentaries,<br />
in: Rosemarie Dilg-Frank (Hg.),<br />
Kreatur und Kosmos, Stuttgart u.a. 1981, 125-139.<br />
18 Siegfried Wollgast, Philosophie in Deutschland<br />
zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650,<br />
2.Auflage Berlin 1993.<br />
19 Zuletzt: <strong>de</strong>rs., Hohenheim’s Anthropology<br />
in the Light of his Writings on the Eucharist, in:<br />
Paracelsus. The Man and his Reputation<br />
(wie Anm.3), 187-206; hier: vgl. 192 und bes. 197:<br />
»This neoplatonic background is no more<br />
questionable in the early writings of Paracelsus<br />
than it is in his later works.« u.ö. – Der komplette<br />
Aufsatz zielt darauf, <strong>de</strong>n neuplatonischen<br />
Hintergrund <strong>de</strong>s Paracelsus auch in seinen<br />
Schriften zum Abendmahls zu exemplifizieren.<br />
Vgl. dagegen Ute Gause, On Paracelsus’ Epistemology<br />
in his Early Theological Writings and in<br />
his Astronomia Magna, in: Paracelsus. The Man<br />
and his Reputation (wie Anm.3), 207-221.<br />
20 Heinrich Bornkamm, Paracelsus, in: <strong>de</strong>rs.,<br />
Das Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r Reformation. <strong>Ges</strong>talten und<br />
Kräfte, Frankfurt 1983, 210-230, hier 224.<br />
21 Ders., Menschenbild und Ethik <strong>bei</strong> Paracelsus,<br />
In: Manuskripte - Thesen - Informationen,<br />
hrsg. von <strong>de</strong>r Deutschen <strong>Bombastus</strong>-<strong>Ges</strong>ellschaft,<br />
10/2 (1996), 56-63, hier 59.<br />
22 Hammond (wie Anm. 5), 20: ”These examples of<br />
Paracelsus’s impact indicate the variety of ways<br />
that Paracelsus’ images wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>veloped and the<br />
wi<strong>de</strong> range of his influence. Their divergent<br />
ten<strong>de</strong>ncies should not, however, distract us from<br />
the essential nature of his achievement: the unification<br />
of the theology and philosophy available<br />
to him into a coherent cosmology rooted in<br />
Genesis and Matthew. Paracelsus envisioned<br />
a cosmos in which all things un<strong>de</strong>rstood by the<br />
light of nature were groun<strong>de</strong>d in the Book of<br />
Scipture.« [Hervorhebung U.G.]<br />
23 Vgl. Weeks (wie Anm. 4), 32, 55, 57, 110 u.ö.<br />
24 Vgl. ebd., 57 und Anm. 134 (S. 212) in direktem<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch zu Rudolph: »As to which authority<br />
Paracelsus names more often, there can be absolutely<br />
no doubt that the Bible outweighs any<br />
authority accor<strong>de</strong>d to Plato or Neoplatonism.«<br />
25 Ebd., 110 – innerhalb <strong>de</strong>r obigen Auslassung<br />
führt Weeks an, dass Rudolph nachgewiesen hat,<br />
dass sich Paracelsus platonischer Terminologie<br />
bediente. Das halte ich ebenfalls für völlig unstrittig.<br />
Vgl. zum untrennbaren Verhältnis von<br />
Philosophie und Theologie <strong>bei</strong> Paracelsus auch:<br />
Ute Gause, Aspekte <strong>de</strong>r theologischen Anthropologie<br />
<strong>de</strong>s Paracelsus, in: Peter Dilg, Hartmut<br />
Rudolph (Hgg.), Neue Beiträge zur Paracelsus-<br />
Forschung, Stuttgart 1995, [Hohenheimer<br />
Protokolle, Bd. 47], 59-70.<br />
26 Pirmin Meier, Paracelsus, Zürich 3.<br />
Aufl.1993, 348.<br />
Prof. Dr. theol. Ute Gause<br />
Universität – <strong>Ges</strong>amthochschule Siegen,<br />
Fachbereich 1, Evangelische Theologie<br />
Adolf-Reichwein-Straße 2, D-57068 Siegen<br />
17
Paracelsus verwen<strong>de</strong>t die Begriffe Astronomie<br />
und Astrologie oft als einan<strong>de</strong>r entsprechend.<br />
Wir fin<strong>de</strong>n <strong>bei</strong> ihm keine feststehen<strong>de</strong><br />
Definition, die <strong>bei</strong><strong>de</strong> Begriffe<br />
<strong>de</strong>utlich voneinan<strong>de</strong>r abgrenzt. Im Laufe<br />
<strong>de</strong>r Zeit haben Inhalte von Worten Wandlungen<br />
erfahren. So verbin<strong>de</strong>t man heute<br />
»Astronomie« mit »wissenschaftlich« wogegen<br />
»Astrologie« eher negativ im Sinne von<br />
»pseudowissenschaftlich« und »Stern<strong>de</strong>uterei«<br />
belegt ist. Von diesem heutigen Wortverständnis,<br />
welches seit <strong>de</strong>m 16.Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
eine Wandlung erfahren hat, müssen<br />
wir uns jedoch trennen, wollen wir Paracelsus<br />
richtig verstehen.<br />
In <strong>de</strong>r »Philosophia sagax« schreibt er über<br />
Astrologie folgen<strong>de</strong>s:<br />
»Diese Kunst lehrt und han<strong>de</strong>lt vom ganzen<br />
Firmament und darüber, wie es sich zur Er<strong>de</strong><br />
und zum Menschen verhält... und wie <strong>de</strong>r<br />
Mensch und die Er<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m <strong>Ges</strong>tirn verwandt<br />
sind.« 1<br />
Die Astronomie <strong>de</strong>s Paracelsus setzt sich<br />
aus verschie<strong>de</strong>nen Teilen zusammen :<br />
– Magia (»Diese Kunst zwingt <strong>de</strong>s Himmels<br />
Kräfte herab in die Steine, Kräuter... u.<strong>de</strong>rgl....<br />
Sie lehrt auch die übernatürlichen <strong>Ges</strong>tirne<br />
erkennen, die Kometen...«) 1<br />
– Nigromantia (übernatürliche Fähigkeiten)<br />
– Nectromantia (ähnlich wie Nigrom.)<br />
– Astrologia<br />
– Signatum (Signaturenlehre, Antlitzdiagnostik,<br />
Handlesekunst)<br />
– Artes incertae (ungewisse Künste)<br />
– Medicina a<strong>de</strong>pta (geheime Medizin)<br />
18<br />
Dietrich Mühlberg<br />
PARACELSUS ZUM EINFLUSS DER GESTIRNE<br />
AUF DEN MENSCHEN UND DESSEN GESUNDHEIT<br />
1. Was verstand Paracelsus unter »Astronomie und Astrologie«?<br />
– Philosophia a<strong>de</strong>pta (geh. Philosophie)<br />
– Mathematica a<strong>de</strong>pta (geh.Mathematik) 2<br />
Er will <strong>de</strong>mzufolge die Astrologie als<br />
Bestandteil <strong>de</strong>r Astronomie wissen:<br />
«Also ist Astrologia ein Glied <strong>de</strong>r Astronomia« 3<br />
Nach seinem Verständnis ist »Astrologia«<br />
ähnlich fassettenreich, sie fragt z.B. nach<br />
<strong>de</strong>m: »summus motor« (<strong>de</strong>m obersten Lenker),<br />
»stellarum cursus« (<strong>de</strong>r Sterne Lauf),<br />
»Concordantia cum elementis« (<strong>de</strong>r Übereinstimmung<br />
mit <strong>de</strong>n Elementen) o<strong>de</strong>r nach<br />
»Prognosticationes medicae« (medizinischen<br />
Voraussagen). 4<br />
Deutlich wird aus dieser Aufzählung die<br />
Vielschichtigkeit paracelsischer Betrachtungsweise.<br />
Wie oberflächlich wür<strong>de</strong>n wir<br />
urteilen, wollten wir sein Verständnis von<br />
Astronomie einfach mit »Stern<strong>de</strong>uterei«<br />
übersetzen! Triviale Stern<strong>de</strong>uterei verwirft<br />
Paracelsus als »Astrologia judicaria«:<br />
»Und sollt euch <strong>de</strong>r Meinung entschlahen,<br />
daß ihr solang geacht habet und Juditia gesetzt<br />
<strong>de</strong>m Menschen auf die Natur <strong>de</strong>r Sterne, welches<br />
wir wohl belachen mögen« 5<br />
Belacht hätte Paracelsus auch jene Art<br />
von »Astrologie«, wie sie uns täglich als<br />
»Einfluss unseres Tierkreiszeichens«, reduziert<br />
auf berufliche Erfolge, Geldgeschäfte<br />
o<strong>de</strong>r Partnerschaft dargestellt wird.<br />
»Es ist aber ein großer Irrtum, wenn man die<br />
Spezies <strong>de</strong>r <strong>Ges</strong>tirne nicht verstehen will, son<strong>de</strong>rn<br />
allein das Horoskop stellt, <strong>de</strong>n Aszen<strong>de</strong>nten<br />
und die Figur <strong>de</strong>s Himmels behan<strong>de</strong>lt und<br />
von <strong>de</strong>n sechs an<strong>de</strong>ren nichts weiß. Das ist eine<br />
Torheit.« 6<br />
2. Zum Stellenwert <strong>de</strong>r Astrologie <strong>bei</strong> Paracelsus<br />
Zu fragen ist nach <strong>de</strong>m Stellenwert <strong>de</strong>r<br />
Astrologie im paracelsischen Denkgebäu<strong>de</strong>.<br />
Neben <strong>de</strong>r Philosophie, <strong>de</strong>r Alchemie und<br />
<strong>de</strong>r Tugend ist für ihn die Astronomie eine<br />
<strong>de</strong>r tragen<strong>de</strong>n Säulen <strong>de</strong>r Heilkunst.<br />
Nach Hans Kayser ist die Astrologie gar<br />
die wichtigste Säule im medizinischen Gebäu<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>s Paracelsus:
»Praktisch die wichtigste Stellung nimmt die<br />
Astrologie im medizinischen System Hohenheims<br />
ein. ... Im 16.Jahrhun<strong>de</strong>rt und in <strong>de</strong>n früheren<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rten gehörte die Astrologie zum notwendigen<br />
Wissen eines je<strong>de</strong>n gelehrten Arztes.« 7<br />
So stellte Paracelsus die For<strong>de</strong>rung auf:<br />
»...das <strong>de</strong>r arzt das wissen sol, das im menschen<br />
sind sonn, mon, saturnus, mars, mercurius,<br />
venus und all zeichen, <strong>de</strong>r polus arcticus und<br />
antarcticus, <strong>de</strong>r wagen und alle quart in zodiaco<br />
(alle Teile <strong>de</strong>s Tierkreises – D.M.). das muß <strong>de</strong>r<br />
arzt wissen, wil er vom grund <strong>de</strong>r arznei re<strong>de</strong>n,<br />
wo nit, so ist er nix dan ein lauter bescheißer<br />
und arzneiet als ein baur, <strong>de</strong>r coloquint in wein<br />
henkt und heilt alle menschen darvon.« 8<br />
Zum ersten Teil <strong>de</strong>r Frage: Einem Einfluss<br />
unterliegen wir nur dann, wenn wir über<br />
eine körpereigene Fähigkeit verfügen, die<br />
diesen Einfluss registriert und in eine körperliche<br />
o<strong>de</strong>r seelische Reaktion umsetzt.<br />
Beispiel »Temperatur-Einfluss«:<br />
Treten Temperaturschwankungen auf,<br />
registrieren das die Sinnesrezeptoren im<br />
Epithelgewebe unserer Haut. Das wird über<br />
Nervenbahnen <strong>de</strong>m zentralen Nervensystem<br />
weitergeleitet, welches nun eine bestimmte<br />
Reaktion auf <strong>de</strong>r Haut auslöst<br />
(z.B. Schweißbildung o<strong>de</strong>r die sog. »Gänsehaut«),<br />
mit <strong>de</strong>m Ziel, <strong>de</strong>n Temperatureinfluss<br />
zu kompensieren.<br />
Ist dieses Prinzip auch auf <strong>de</strong>n »<strong>Ges</strong>tirn-<br />
Einfluss« übertragbar, welche »Rezeptoren«<br />
registrieren diesen Einfluss? Hören wir<br />
dazu <strong>de</strong>n Hohenheimer:<br />
»nemlich im menschen seind sonn und mon<br />
und all planeten, <strong>de</strong>rgleichen seind auch in im<br />
alle stern und <strong>de</strong>r ganz chaos... zu gleicherweis<br />
wie durch ein glas die sonn scheint in ein palast<br />
und in ein saal und verlezt dasselbige nicht,<br />
also get es durch <strong>de</strong>n leib hinein. und aber wie<br />
das glas bricht <strong>de</strong>n sonnenschein, das er nicht<br />
volkomen ist als außerthalb <strong>de</strong>m glas, also ist<br />
auch ein solch mittels zwischen <strong>de</strong>m gestirn und<br />
<strong>de</strong>m menschen, das do bricht dasselbige in ir<br />
wirkung. und wie ein fürhang fürgehengt wird,<br />
also ist <strong>de</strong>r mensch in seim willen auch gesipt,<br />
solchen werken hinzu tun und zu verhenken.<br />
Paracelsus klagt hier jene einseitig ausgerichtete<br />
Medizin (»Medizin nach Schablone«)<br />
an, die lediglich ein Krankheitsbild,<br />
nicht aber <strong>de</strong>n kranken Menschen als<br />
ein Individuum betrachtet, <strong>de</strong>ssen Krankheitsverlauf<br />
bestimmt wird von einer Vielzahl<br />
von Einflüssen, eben auch vom Einfluss,<br />
<strong>de</strong>n das <strong>Ges</strong>tirn auf ihn ausübt.<br />
Es wird problematisch, wollten wir alle<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen Paracelsi an einen Arzt<br />
wortgetreu auf das 20. Jhd. übertragen.<br />
Es ist jedoch überlegenswert, inwieweit<br />
auch heute die Dialektik von Makro- und<br />
Mikrokosmos ärztliche Kunst bereichern<br />
könnte...<br />
3. Welchen Einfluss übt das <strong>Ges</strong>tirn auf <strong>de</strong>n Menschen aus? Und:<br />
Ist er zwingend, – sind wir <strong>de</strong>terminiert?<br />
nun aber weiter, es muß etwas im leib sein, das<br />
die gestirn annimbt, so sie in leib wirken. dan<br />
wo nichts im leib wer, das dasselbig annemme,<br />
so möcht das gestirn nicht hinein. als die er<strong>de</strong>n<br />
nimbt die sonn an, dan ursach es ist ein anziehen<strong>de</strong><br />
kraft in <strong>de</strong>rselbigen, das die sonn anzeucht;<br />
dan wie ir sehent, die er<strong>de</strong>n nimpt <strong>de</strong>n<br />
regen an, die felsen nicht, <strong>de</strong>r er<strong>de</strong>n ist er nuz,<br />
<strong>de</strong>n felsen nicht. nun also so im leib <strong>de</strong>r leib ein<br />
fels wer gegem gestirn, so wer <strong>de</strong>r himel umbsonst<br />
<strong>de</strong>m leib wie <strong>de</strong>r regen <strong>de</strong>m felsen. nun<br />
aber so ist es nicht also, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r leib zeucht<br />
<strong>de</strong>n himel an sich. was nun aber das sei, das in<br />
an sich zeucht, das ist groß götlich ordnung.« 9<br />
(Unterstreichg. D.M.)<br />
Um uns Paracelsus zu nähern, muss es<br />
erlaubt sein, aus diesen Worten zu folgern:<br />
1. Alle Planeten und Sterne haben eine<br />
körperliche und/o<strong>de</strong>r seelische Entsprechung<br />
im Menschen »...es muß etwas im<br />
leib sein, das die gestirn annimbt«<br />
(Zusammenhang von Mikro-und Makrokosmos)<br />
2. Der <strong>Ges</strong>tirneinfluss wird, in<strong>de</strong>m er auf<br />
<strong>de</strong>n Menschen einwirkt, verän<strong>de</strong>rt:<br />
»...das do bricht dasselbige in ir wirkung...«<br />
3. Wir selbst können diesen Vorgang offensichtlich<br />
mit unserem Willen beeinflussen:<br />
»...also ist <strong>de</strong>r mensch in seim willen<br />
auch gesipt, solchen werken hinzu tun und zu<br />
verhenken.«<br />
19
4. »...was nun aber das sei das in an sich zeucht,<br />
das ist groß götlich ordnung.«<br />
Paracelsus sieht darin offensichtlich ein<br />
Naturgesetz höherer Ordnung!<br />
Was ist das für ein Naturgesetz und wie<br />
wirkt es?<br />
Aufschluss darüber könnte uns die aus<br />
<strong>de</strong>m Hinduismus stammen<strong>de</strong> Lehre von<br />
<strong>de</strong>n Chakren geben.<br />
Chakren sind <strong>de</strong>m »Astralkörper«, Paracelsus<br />
wür<strong>de</strong> sagen: »unsichtbaren Leib«, zuzuordnen.<br />
Es sind gewissermaßen Sen<strong>de</strong>- und<br />
Empfangsstationen, über die wir Informationen<br />
austauschen können. Chakren<br />
wer<strong>de</strong>n als »Kraftzentren«, »Rä<strong>de</strong>r« o<strong>de</strong>r<br />
»Blumen« beschrieben, die bestimmten<br />
Körperregionen zugeordnet sind. So gibt<br />
es ein Kronen- (o<strong>de</strong>r Scheitel-), Stirn-, Kehl-,<br />
Herz-, Bauch-(o<strong>de</strong>r Solarplexus), Unterleibs-<br />
(o<strong>de</strong>r Sakral-) und ein Wurzel-Chakra.<br />
Diese sieben Chakren haben eine Entsprechung<br />
zu sieben Planeten bzw. Sternen.<br />
Siehe Abbildung 1:<br />
20<br />
10<br />
Zum zweiten Teil <strong>de</strong>r Frage: Nach Paracelsus<br />
können wir die Wirkung <strong>de</strong>s <strong>Ges</strong>tirns<br />
also beeinflussen. Offensichtlich zwingt<br />
uns das <strong>Ges</strong>tirn <strong>de</strong>mnach nicht. Gibt es<br />
nun aber eine Teilwirkung o<strong>de</strong>r können wir<br />
uns <strong>de</strong>r Wirkung gar vollständig entziehen?<br />
Dazu Paracelsus:<br />
»Also ist <strong>de</strong>r Himmel allein <strong>de</strong>s Viehes Herr<br />
und <strong>de</strong>sselbigen gewaltig, und nichts <strong>de</strong>s Menschen....<br />
Also ist <strong>de</strong>r Himmel Herr <strong>de</strong>r Menschen, welche<br />
Menschen Viehe sind und viehisch leben<br />
und wohnen. Aus <strong>de</strong>m folgt ihm das Lob, das<br />
man spricht, <strong>de</strong>r ist wie ein Löw, <strong>de</strong>r ist wie<br />
ein Wolf, <strong>de</strong>r ist wie ein Fuchs: Das sind viehische<br />
Lob, und sterben im Viech ab, und ist<br />
nichts <strong>de</strong>nn wie das Vieh, ärger <strong>de</strong>nn das Vieh<br />
in <strong>de</strong>n Wäl<strong>de</strong>rn: Denn <strong>de</strong>r Mensch soll ein<br />
Mensch sein, kein Viech.« 11<br />
Hier reduziert Paracelsus die Wirkung<br />
<strong>de</strong>s <strong>Ges</strong>tirns ein<strong>de</strong>utig auf das »Viehische«<br />
im Menschen, nicht auf das »Englische«.<br />
Das heißt: auf alle sinnlichen Wahrnehmungen,<br />
alle animalischen Triebe, also auf<br />
das seelische Prinzip wirkt das <strong>Ges</strong>tirn.<br />
Keine Wirkung hingegen sieht er auf das<br />
»Englische«, »Himmlische« o<strong>de</strong>r »Göttliche« –<br />
also geistige Prinzip im Menschen. Para-<br />
celsus unterschei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>mzufolge durchaus<br />
seelische und geistige Prinzipien im Menschen<br />
und verwen<strong>de</strong>t sie nicht als austauschbare<br />
Begriffe.<br />
»Denn das sollet ihr wissen, daß Gott die<br />
Planeten und alle an<strong>de</strong>re <strong>Ges</strong>tirn <strong>de</strong>s Himmels<br />
nit darum hat erschaffen, in <strong>de</strong>r Meinung, daß<br />
sie <strong>de</strong>n Menschen regieren und <strong>de</strong>rselbigen Herr<br />
sein sollen: Son<strong>de</strong>rn zum Dienste <strong>de</strong>s Menschen,<br />
daß sie ihm als an<strong>de</strong>re Kreaturen dienen sollen.<br />
So groß ist menschliche Weisheit, daß sie unter<br />
ihr hat alle <strong>Ges</strong>tirne, Firmament und <strong>de</strong>n<br />
ganzen Himmel. ... So sag ich euch in Wahrheit,<br />
daß die Gedanken tun, was <strong>Ges</strong>tirn und<br />
Elemente nicht vermögen, son<strong>de</strong>rn die Gedanken<br />
herrschen und regieren wi<strong>de</strong>r diese alle. ...<br />
Dieselben übertreffen das natürliche Licht und<br />
aus <strong>de</strong>n Gedanken gebiert sich ein Motor, <strong>de</strong>r<br />
nicht elementarisch, noch astrologisch ist. So<br />
nun die Gedanken <strong>de</strong>rmaßen gewaltig sind und<br />
regieren das <strong>Ges</strong>tirn und Elemente durch <strong>de</strong>n<br />
neugeborenen Geist, sollten sie dann nicht auch<br />
ein an<strong>de</strong>res Werk tun, als <strong>Ges</strong>tirn und Elemente<br />
vermögen zu tun? Das ist natürlich, die Gedanken<br />
machen einen neuen Himmel, ein neues<br />
Firmament, dazu auch eine neue Kraft, aus<br />
welcher neue Künste fließen. ...« 12<br />
So vermag nach Paracelsus mittels seines<br />
Willens <strong>de</strong>r Mensch sich über die Wirkung<br />
<strong>de</strong>s <strong>Ges</strong>tirns hinwegzusetzen, das »<strong>Ges</strong>tirn<br />
zu beherrschen«, ohne da<strong>bei</strong> die Wirkung<br />
auf alle körperlichen und seelischen Belange<br />
zu leugnen.<br />
Einer Spruchweisheit zufolge, »zwingen«<br />
die Sterne nicht, »sie machen nur geneigt«.<br />
Wenn wir das Beispiel vom Temperatureinfluss<br />
noch einmal anführen, hieße es<br />
dann entsprechend: – Wir müssen uns<br />
einer Temperatur von -10°C nicht ungeschützt<br />
ausliefern, son<strong>de</strong>rn können ihr mit<br />
entsprechen<strong>de</strong>r Kleidung begegnen. Wir<br />
schalten <strong>de</strong>n Einfluss »Kälte« damit keineswegs<br />
aus, müssen ihn auch nicht leugnen.<br />
In<strong>de</strong>m wir uns aber entsprechend klei<strong>de</strong>n,<br />
zeigt dieser Einfluss für <strong>de</strong>n so <strong>Ges</strong>chützten<br />
keinerlei nachteilige Wirkung.<br />
Analog dazu verhält es sich mit <strong>de</strong>m<br />
Einfluss »<strong>Ges</strong>tirn«: Wenn charakterliche<br />
Schwächen und Veranlagungen mit diesem<br />
Einfluss zu rechtfertigen wären, könnte von<br />
Freiheit zu individueller Entfaltung nicht<br />
mehr gesprochen wer<strong>de</strong>n.
Abb.1<br />
21
Wenn wir über <strong>de</strong>n Einfluss <strong>de</strong>s <strong>Ges</strong>tirns<br />
auf die <strong>Ges</strong>undheit sprechen, dürfen wir<br />
diesen Begriff nicht zu eng fassen. <strong>Ges</strong>undheit<br />
ist keinesfalls mit <strong>de</strong>m Fehlen pathologischer<br />
Symptome gleichzusetzen. Sie umfasst<br />
neben <strong>de</strong>m körperlichen auch das<br />
seelische Wohlbefin<strong>de</strong>n unter Berücksichtigung<br />
aller sozialen (Familie, Beruf, <strong>Ges</strong>ellschaft...),<br />
ethisch-moralischen bzw. religiösen<br />
Aspekte.<br />
22<br />
Planet/Stern<br />
Sonne<br />
Venus<br />
Merkur<br />
Mond<br />
Saturn<br />
Jupiter<br />
Mars<br />
Metall<br />
Gold<br />
(Au)<br />
Kupfer<br />
(Cu)<br />
Quecksilber<br />
(Hg)<br />
Silber<br />
(Ag)<br />
Blei<br />
(Pb)<br />
Zinn<br />
(Sn)<br />
Eisen<br />
(Fe)<br />
Organ<br />
Herz<br />
Nieren<br />
Lunge<br />
Gehirn<br />
Milz<br />
Leber<br />
Galle<br />
Da hier nur Prinzipien paracelsischer<br />
Lehre in Bezug auf die <strong>Ges</strong>undheit unter<br />
<strong>de</strong>n Aspekten seines Verständnisses von<br />
Astrologie und Astronomie dargestellt<br />
wer<strong>de</strong>n sollen, kann auf Details nicht eingegangen<br />
wer<strong>de</strong>n. Abb.2 zeigt die Beziehungslinien<br />
zwischen <strong>de</strong>n <strong>Ges</strong>tirnen, <strong>de</strong>m<br />
entsprechen<strong>de</strong>n Metall, und <strong>de</strong>m Organ,<br />
wie sie Paracelsus gesehen hat, in Zuordnung<br />
zu <strong>de</strong>n bereits erwähnten Chakren: 13<br />
Chakra<br />
Herz-<br />
Solarplexus<br />
Sakral-<br />
Wurzel-<br />
Kronen-<br />
Stirn-<br />
Kehl-<br />
Was <strong>de</strong>m<br />
Planet/Stern<br />
unterworfen ist<br />
»Kron, Scepter, Stuhl und<br />
alle Herrlichkeit, Reichtum,<br />
Schätz, alle Zier und Hoffart<br />
dieser Welt«<br />
»alles was zu <strong>de</strong>r Musica<br />
gehört, musicalische Instrument,...<br />
venerische Übung,<br />
Buhlerei, Hurerei, und <strong>de</strong>rgl.«<br />
»alle gelehrte Leut, alle<br />
künstliche Instrument und<br />
Werkzeug, so <strong>de</strong>n Künsten<br />
zugehören«<br />
»aller Feldbau, Schiffahrt,<br />
alle Reis- und Wan<strong>de</strong>rsleut<br />
und was solchen zugehört«<br />
»alle die, so in und unter <strong>de</strong>m<br />
Erdreich ihrAr<strong>bei</strong>t haben,alle<br />
Bergsleut,Schatzgräber,Totengräber,<br />
Brunnengraber...«<br />
»alle Gericht und Recht,<br />
<strong>de</strong>r ganz levitisch Stand,<br />
alle Kirchenzier...«<br />
»allerlei Munition, Harnisch,<br />
Panzer, <strong>Ges</strong>chütz, Spieß,...<br />
Waffen und was zum Krieg<br />
und Streit gehört, etc...«<br />
Abb.2
4. Ist das Astrologieverständnis <strong>de</strong>s Paracelsus in solchem Kontext<br />
ein »unzeitgemäßer Irrglaube« ?<br />
Die generalisieren<strong>de</strong> Behauptung, Astrologie<br />
sei ein unzeitgemäßer Denkirrtum, 14 ist<br />
im Blick auf Paracelsi Umgang und Verständnis,<br />
die Astrologie betreffend, nicht<br />
berechtigt.<br />
Er beschreibt das <strong>Ges</strong>tirn als einen Wirkfaktor<br />
innerhalb <strong>de</strong>s Makrokosmos, <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>n Mikrokosmos Mensch und damit seine<br />
<strong>Ges</strong>undheit beeinflusst, ihn jedoch nicht<br />
<strong>de</strong>terminiert.<br />
In solcher Sichtweise »Sternenkult« zu<br />
sehen, ist unzutreffend. Paracelsus distanziert<br />
sich von <strong>de</strong>rartigem Umgang mit<br />
Astrologie. Seine Handhabung ist differenzierter.<br />
Er bezieht in seinem Wirken für die<br />
Kranken noch an<strong>de</strong>re <strong>Ges</strong>ichtspunkte ein:<br />
»aber weiter ist mir noch zu re<strong>de</strong>n auch befolen:<br />
die kranken dörfen eines arztes, nicht alle <strong>de</strong>r<br />
1 B.Aschner, PSW Bd. IV, G.Fischer-Verlag Jena<br />
1930, S.812<br />
2 Sudhoff, I/12 , S.79<br />
3 aus »Philosophia sagax«<br />
4 Aschner, PSW, G.Fischer-Verlag Jena 1930,<br />
Band IV, S.464 u. 465 (Phil.sagax)<br />
Astrologie<br />
1. Summus motor. (Der oberste Lenker.)<br />
2. Stellarum cursus. (Der Sterne Lauf.)<br />
3. Firmamenti natura (Die Natur <strong>de</strong>s<br />
Firmaments.)<br />
4. Astrorum operatio. (Die Wirkung <strong>de</strong>r Sterne.)<br />
5. Conceptionem <strong>de</strong>clarare. (Die Erklärung <strong>de</strong>r<br />
Empfängnis.)<br />
6. Concordantia cum Elementis. (Die Uebereinstimmung<br />
mit <strong>de</strong>n Elementen.)<br />
7. Coelorum proprietates. (Die Eigentümlichkeiten<br />
<strong>de</strong>r Himmel.)<br />
8. Prognosticationes tempestatum. (Die Voraussage<br />
<strong>de</strong>r Gewitter.)<br />
9. Prognosticationes temporales. (Die Voraussage<br />
<strong>de</strong>r Zeiten.)<br />
10. Prognosticationes judiciales. (Gerichtliche<br />
Prophezeiungen.)<br />
11. Prognosticationes acci<strong>de</strong>ntales. (Voraussage<br />
von zufälligen Ereignissen.)<br />
12. Prognosticationes medicae. (Medizinische<br />
Voraussagungen.)<br />
13. Novae Generationis Ventura. (Die Zukunft<br />
<strong>de</strong>r neuen Generation.)<br />
QUELLENVERZEICHNIS<br />
aposteln; also auch die prognosticationes (Weissagungen)<br />
dörfen eines astronomi,nit alle eins<br />
propheten. es ist ausgeteilt, ein teil <strong>de</strong>n propheten,<br />
ein teil <strong>de</strong>n astronomis, weiter ein teil <strong>de</strong>n<br />
aposteln, ein teil <strong>de</strong>n arzten. also hat ein ietlicher<br />
sein grunt. drumb ist die astronomei uns<br />
christen nit aufgehebt noch verboten, son<strong>de</strong>r<br />
christenlich zu gebrauchen. dan ursach, vom<br />
vater sind wir in das liecht <strong>de</strong>r natur beschaffen,<br />
bilich das wirs können und wissen, vom son in<br />
das ewig leben, bilich auch das wirs wissen. also<br />
erbt an uns das liecht von got <strong>de</strong>m vater und<br />
das liecht von got <strong>de</strong>m son, hie uf er<strong>de</strong>n, auch in<br />
das ewig leben. und kein teil hin<strong>de</strong>rt das an<strong>de</strong>r,<br />
<strong>de</strong>r vater sein son nit, noch <strong>de</strong>r son <strong>de</strong>n vater<br />
nit. also mag <strong>de</strong>r mensch zu <strong>bei</strong><strong>de</strong>n seiten wol<br />
hantlen, erfaren und ergrünt sein. ...« 15<br />
(Untersstr. u. Anmerkg. D.M.)<br />
5 Surya, »Paracelsus-richtig gesehen«, ROHM 1980,<br />
S.113, Paramirum<br />
6 Aschner, PSW Bd. IV, S.829 (aus Phil.sagax)<br />
7 Surya,«Paracelsus-richtig gesehen«, S.111<br />
8 Sudhoff, I/8, S.164, Paragranum, 2.Tractat<br />
9 Sudhoff, I/8, S.163, Paragr. bzw.: »Vom gesun<strong>de</strong>n<br />
und seligen Leben«, Reclam 534, S.209<br />
10 aus: E.Issberner-Haldane, »Die med. Hand- und<br />
Nageldiagnostik«, Falken-Verl. E.S., Berlin<br />
11 H.Kayser »Der Dom«, Insel-Verlag Leipzig 1924,<br />
S.316/317<br />
12 Surya, »Paracelsus richtig gesehen«, S.114<br />
13 H.Kayser »Der Dom«, Insel-Verlag Leipzig 1924,<br />
S.305 bzw. S.317 u. 318<br />
14 »Die Astrologie ist ein uraltes Handwerk und wur<strong>de</strong><br />
von Gott verboten (5.Mose 4/19)<br />
Denn auch die Israeliten waren zeitweise <strong>de</strong>m Sternenkult<br />
verfallen. König Manasse verehrte die Sterne als<br />
Götter im Jerusalemer Tempel (2. Kön.21/ 4,5 u.11,<br />
Chron.33/3)<br />
...Wo aus Sternen ein Lebensschicksal abgelesen wer<strong>de</strong>n<br />
soll und Lebenshilfe erwartet wird, da beginnen die<br />
Astrolügen.« (aus Zeitschrift »faktum« ,VI/94)<br />
15 Sudhoff, I/12, S.496, bzw. Aschner, PSW Bd. IV,<br />
S.830ff. (Phil.sagax)<br />
Anschrift <strong>de</strong>s Verfassers: Dietrich Mühlberg<br />
Bautzner Landstraße 130 · 01324 Dres<strong>de</strong>n<br />
Dres<strong>de</strong>n, am 18.11.1998<br />
Vortrag im Deutschen Hygiene-Museum<br />
Dres<strong>de</strong>n, am 18.11.1998<br />
23
VALENTIN WEIGEL: Vom <strong>Ges</strong>etz o<strong>de</strong>r<br />
Willen Gottes. Gnothi seauton. Hrsg. und<br />
eingeleitet von Horst Pfefferl, Stuttgart-Bad<br />
Cannstatt 1996.<br />
VALENTIN WEIGEL: Der gül<strong>de</strong>ne Griff.<br />
Kontroverse um <strong>de</strong>n ‚Gül<strong>de</strong>nen Griff‘.<br />
Vom judicio im Menschen. Hrsg. und eingeleitet<br />
von Horst Pfefferl, Stuttgart-Bad<br />
Cannstatt 1997.<br />
(= Valentin Weigel – Sämtliche Schriften.<br />
Begrün<strong>de</strong>t von Will-Erich Peuckert und<br />
Winfried Zeller, Neue Edition, Hrsg. von<br />
Horst Pfefferl, Bän<strong>de</strong> 3 und 8.)<br />
Im Alltag <strong>de</strong>s zu En<strong>de</strong> gehen<strong>de</strong>n 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
dürfte <strong>de</strong>r Name Valentin Weigel<br />
(1533-1588) kaum eine Rolle spielen. Fachkreise<br />
dagegen widmen diesem Theologen<br />
und Philosophen <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts, <strong>de</strong>r<br />
in Zschopau tätig war, bis heute ihr Interesse,<br />
hatte er doch großen Erfolg und Wirkung<br />
bis weit ins 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt hinein<br />
und gilt als wichtiges Bin<strong>de</strong>glied zwischen<br />
so be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Persönlichkeiten wie Theophrastus<br />
Bombast von Hohenheim und<br />
Jakob Böhme.<br />
Die vorliegen<strong>de</strong>n Bän<strong>de</strong> enthalten die<br />
<strong>bei</strong><strong>de</strong>n erkenntnistheoretischen Hauptwerke<br />
Weigels »Gnothi seauton« (Erkenne<br />
dich selbst) und »Der gül<strong>de</strong>ne Griff« erstmals<br />
in kritischer Ausgabe. Mit ihnen liegen<br />
die ersten zwei von 15 veranschlagten<br />
Bän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Neuen Edition <strong>de</strong>r Sämtlichen<br />
Schriften vor.<br />
Zwar wur<strong>de</strong> von Will-Erich Peuckert und<br />
Winfried Zeller eine kritische Ausgabe <strong>de</strong>r<br />
Sämtlichen Schriften Valentin Weigels begrün<strong>de</strong>t,<br />
von <strong>de</strong>r zwischen 1962 und 1978<br />
sieben Lieferungen erschienen sind, jedoch<br />
konnten diese aufgrund <strong>de</strong>s damaligen<br />
Stan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Forschung nicht ohne Mängel<br />
bleiben.<br />
24<br />
Michael Liebscher<br />
EMPFEHLUNG<br />
Das Hauptproblem <strong>de</strong>r Weigelschen<br />
Schriften war und ist die Unsicherheit <strong>de</strong>r<br />
Authentizität aufgrund <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren<br />
Überlieferungsgeschichte: Zu Lebzeiten<br />
<strong>de</strong>s sächsischen Pfarrers erschien von seinen<br />
philosophischen, theologischen und<br />
homiletischen (predigtbezogenen) Schriften<br />
lediglich 1576 eine Leichenpredigt.<br />
Alle an<strong>de</strong>ren Texte wur<strong>de</strong>n zunächst handschriftlich<br />
überliefert und da<strong>bei</strong> mit Bear<strong>bei</strong>tungen,<br />
Kompilationen (Zusammenstellungen)<br />
und Schriften an<strong>de</strong>rer Autoren<br />
durchsetzt, die <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s populären<br />
Kritikers teilweise für eigene oppositionelle<br />
Gedanken nutzten bzw. sich damit<br />
schützten. Der heutige Forschungsstand,<br />
aber auch die an eine mo<strong>de</strong>rne kritische<br />
Textedition geknüpften Erwartungen<br />
machten einen Neuanfang für die Ausgabe<br />
erfor<strong>de</strong>rlich.<br />
Horst Pfefferl, <strong>de</strong>r seit 1982 schon an<br />
<strong>de</strong>r alten Ausgabe beteiligt war, stützt sich<br />
als Herausgeber insbeson<strong>de</strong>re auf seine<br />
Dissertation 1 , in <strong>de</strong>r er eine »grundlegend<br />
neue Bestandsaufnahme, Beschreibung und<br />
Bewertung <strong>de</strong>r Texte und ihrer Überlieferung« 2<br />
vornimmt. So konnte er gera<strong>de</strong> die <strong>bei</strong><strong>de</strong>n<br />
erkenntnistheoretischen Hauptwerke Weigels<br />
als unechte Kompilationen entlarven.<br />
Das schmälert jedoch keinesfalls ihren<br />
Wert, war Weigel doch offensichtlich nicht<br />
primär schriftstellern<strong>de</strong>r Philosoph, son<strong>de</strong>rn<br />
eher philosophisch orientierter Seelsorger,<br />
<strong>de</strong>r je<strong>de</strong> Möglichkeit nutzte, seine<br />
zentralen Gedanken zu popularisieren.<br />
Dass seine Rezipienten diese Gedanken<br />
recht frei behan<strong>de</strong>lten und nach Bedarf<br />
zusammenstellten, ist daher nicht verwun<strong>de</strong>rlich.<br />
Seelsorge ist in Weigels Sinne die Sorge<br />
um die Seele, um eben jenen inneren<br />
Menschen, <strong>de</strong>n er als <strong>de</strong>n wahren, wesentlichen<br />
erkannt hatte: Der Mensch ist nicht
körperlich Ohr, Auge, Hand, »son<strong>de</strong>rn<br />
das Innere..., <strong>de</strong>r da weis zu gebrauchen <strong>de</strong>s<br />
eussern auges o<strong>de</strong>r leibes, dasselbe sey <strong>de</strong>r rechte<br />
mensche.« 3<br />
In <strong>de</strong>n Einleitungen zu <strong>de</strong>n Bän<strong>de</strong>n wird<br />
jeweils auf die Quellenlage genau eingegangen.<br />
Die Handschriften sowie Drucke<br />
wer<strong>de</strong>n akribisch beschrieben, wo<strong>bei</strong> die<br />
Anschaulichkeit durch Faksimiles <strong>de</strong>r Titelseiten<br />
erfreulich erhöht wird. Horst Pfefferl<br />
erörtert seine Auffassungen bezüglich <strong>de</strong>r<br />
Zuordnung <strong>de</strong>r Schriften zu Weigel bzw.<br />
<strong>de</strong>ssen Diakon Bie<strong>de</strong>rmann o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
möglichen Kopisten o<strong>de</strong>r Kompilatoren,<br />
wo<strong>bei</strong> Vergleiche <strong>de</strong>r Inhalte, <strong>de</strong>r Schriftgrafik,<br />
<strong>de</strong>r Stilistik sowie Jahreszahlbezüge und<br />
mögliche Quellen umfangreich und scharfsinnig<br />
ausgewertet wer<strong>de</strong>n. Der Herausgeber<br />
zieht da<strong>bei</strong> mehrfach die nicht vollständig<br />
überzeugen<strong>de</strong> Schlussfolgerung, solange<br />
kein an<strong>de</strong>rer Autor bzw. Kopist nachgewiesen<br />
wer<strong>de</strong>n könne, dürfe die Schrift Weigel<br />
zugeordnet wer<strong>de</strong>n, begrün<strong>de</strong>t dies jedoch<br />
mit <strong>de</strong>r gebotenen Vorsicht aus <strong>de</strong>r schwierigen<br />
Quellenlage.<br />
Gera<strong>de</strong> für die Echtheit <strong>de</strong>s »Gül<strong>de</strong>nen<br />
Griff« erwies sich das Auffin<strong>de</strong>n einer bislang<br />
unbekannten Handschrift in Lei<strong>de</strong>n als wertvoll,<br />
die teilweise (vermutlich) von Weigel<br />
selbst stammt und die mit <strong>de</strong>r »Kontroverse<br />
um <strong>de</strong>n ›Gül<strong>de</strong>nen Griff‹ « neue Einsichten<br />
in die erkenntnistheoretische Diskussion in<br />
Weigels und Bie<strong>de</strong>rmanns Freun<strong>de</strong>s- und<br />
Bekanntenkreis ermöglicht.<br />
Weiterhin enthalten die Einleitungen<br />
Angaben zu editorischen Entscheidungen<br />
wie <strong>bei</strong>spielsweise <strong>de</strong>n Verzicht auf eventuell<br />
nicht originale emphatische Ausrufe<br />
(Ach Herr, O Herr) in <strong>de</strong>n Gebeten und<br />
verschie<strong>de</strong>ne Randbemerkungen, aber auch<br />
die Rangfolge <strong>de</strong>r Überlieferungen <strong>bei</strong> <strong>de</strong>r<br />
Textauswahl, das Siglen-, Abkürzungs- und<br />
Literaturverzeichnis.<br />
In <strong>de</strong>n Ausführungen <strong>de</strong>r Einleitungen<br />
wird häufig auf bestimmte Kapitel <strong>de</strong>s<br />
Textes verwiesen. Lei<strong>de</strong>r ist das Inhaltsverzeichnis<br />
mit Seitenangaben so großzügig<br />
angelegt, dass die Suche nach bestimmten<br />
Stellen zum unangenehmen Blättern wird.<br />
Die Differenziertheit <strong>de</strong>r Handschriften<br />
stellt hohe Anfor<strong>de</strong>rungen an <strong>de</strong>n kritischen<br />
Apparat, <strong>de</strong>r zwangsläufig sehr umfangreich<br />
ausfällt. In graphisch bemerkenswert<br />
hoher, die Orientierung beför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r<br />
Qualität wer<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>m Text unterschiedliche<br />
Schreibungen bzw. Textvarianten<br />
aufgeführt, <strong>de</strong>ren Reflexion zur Vertiefung<br />
<strong>de</strong>s Textverständnisses <strong>bei</strong>trägt.<br />
Eine separate Fußzeile enthält Kommentare,<br />
die sich z.T. über mehrere Seiten erstrecken<br />
und insgesamt Zeugnis von <strong>de</strong>r<br />
beeindrucken<strong>de</strong>n Sachkenntnis und präzisen<br />
Ar<strong>bei</strong>t Horst Pfefferls ablegen. Allerdings<br />
entsteht <strong>de</strong>r Eindruck, dass diese<br />
Kommentare in ihrer Konzentration selbst<br />
Verweischarakter besitzen und nach größerer<br />
Ausführlichkeit verlangen, was in Form<br />
von bislang nicht konzipierten Kommentarbän<strong>de</strong>n<br />
sehr zu begrüßen wäre.<br />
Markant für die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Handschriftenedition<br />
ist die Tatsache, dass die<br />
Druckfassungen gegenüber <strong>de</strong>n originalen<br />
Handschriften abgeschwächt sind, in bestimmten<br />
Formulierungen eine gewisse Konformität<br />
mit <strong>de</strong>n vorherrschen<strong>de</strong>n kirchlichen<br />
Anschauungen hergestellt wur<strong>de</strong>, aber<br />
auch durch Druckversehen teilweise erhebliche<br />
Entstellungen aufgetreten sind, die<br />
manche Stellen bis zur Unverständlichkeit<br />
verstümmelten. Nun wur<strong>de</strong> Weigel aber<br />
über 300 Jahre lang nach <strong>de</strong>n Drucken beurteilt!<br />
Mit <strong>de</strong>r Neuen Edition kann die<br />
Weigelforschung nunmehr weitestgehend<br />
authentisch ar<strong>bei</strong>ten.<br />
»Der Gül<strong>de</strong>ne Griff« stellt die zusammenhängen<strong>de</strong><br />
Darlegung <strong>de</strong>r Erkenntnistheorie<br />
Weigels dar und enthält teilweise<br />
in wörtlicher Übereinstimmung Gedanken<br />
<strong>de</strong>r <strong>bei</strong><strong>de</strong>n Werke in Band 3, weshalb im<br />
Weiteren vorwiegend auf diesesWerk Bezug<br />
genommen wird. Selbst hier wer<strong>de</strong>n Hauptgedanken<br />
vielfach wie<strong>de</strong>rholt, variiert, veranschaulicht<br />
und vertieft. Weigel ist neben<br />
an<strong>de</strong>ren wie Franck, Tauler o<strong>de</strong>r Cusanus<br />
auch an Paracelsus geschult. Bei<strong>de</strong> haben<br />
das gleiche Verständnis von <strong>de</strong>n 4 Elementen<br />
Feuer, Wasser, Luft und Er<strong>de</strong> sowie von<br />
<strong>de</strong>n 3 Substanzen Mercurius, Sulphur und<br />
25
Sal. Für <strong>bei</strong><strong>de</strong> steht <strong>de</strong>r Mensch im Mittelpunkt<br />
gleichsam als Mikrokosmos im<br />
Makrokosmos, als Dualismus von äußerem<br />
und innerem, von vergänglichem und ewigem<br />
Menschen. Bei<strong>de</strong> verstehen <strong>de</strong>n Menschen<br />
als Abbild Gottes, <strong>de</strong>r damit zugleich<br />
alle Erkenntnis in sich trägt, diese also<br />
nicht aus <strong>de</strong>n Büchern erhalten kann. Mit<br />
dieser Position war die Kontroverse mit <strong>de</strong>r<br />
Kirche vorprogrammiert. Weigel schreibt<br />
<strong>de</strong>n »Gül<strong>de</strong>nen Griff«, damit »auch die einfeltigen<br />
so weytt im Verstan<strong>de</strong> gebracht mogen<br />
wer<strong>de</strong>n, das sie vberwin<strong>de</strong>n, vnd ein treiben<br />
konnen, alle hohe doctores vnnd Welt gelerten.« 4<br />
und argumentiert: »Solte nun die [heylige]<br />
schrifft <strong>de</strong>n Verstandt in menschen tragen, o<strong>de</strong>r<br />
wircken, so musten alle leser nur eynen eynigen<br />
Verstand daraus bekommen, vnd nicht also gespalten<br />
o<strong>de</strong>r zwitrechtig in <strong>de</strong>m Verstan<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n.«<br />
»Were <strong>de</strong>r Verstandt nicht in mir, so konte<br />
ich das buch nit verstehen.« 5<br />
Weigel gesteht eine auf Beobachtung gegrün<strong>de</strong>te,<br />
wir wür<strong>de</strong>n heute sagen wissenschaftliche<br />
Erkennbarkeit <strong>de</strong>r äußeren, das<br />
heißt materiellen Welt zu, »Aber die vbernaturliche<br />
erkentnis, die mag wol heissen die Jnnere<br />
gottliche erkentnis,...ist schon darinne, im<br />
Jnwendigen grun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r seelen, Nemlich gottes<br />
Wort,Wille, gesetz, geist etc.« 6 Hier beruft sich<br />
Weigel auf Lukas 17, 21: »Das reich gottes ist<br />
Jnwendig in euch.« 7 Erkenntnisorgan ist symbolisch<br />
das Auge, welches in verschie<strong>de</strong>nen<br />
Abstufungen <strong>de</strong>r Verinnerlichung <strong>de</strong>finiert<br />
wird.<br />
Er unterschei<strong>de</strong>t also zwischen <strong>de</strong>r qualitativ<br />
geringer einzuschätzen<strong>de</strong>n Sinneserkenntnis<br />
und <strong>de</strong>r hochwertigeren Verstan<strong>de</strong>serkenntnis,<br />
die auch helfe, Fehlurteile<br />
und Irrtümer, <strong>de</strong>ren Quelle in <strong>de</strong>r Begrenztheit<br />
<strong>de</strong>s Menschen liege, zu erkennen.Weigel<br />
entwickelt ein höheres Erkennen,<br />
das aus <strong>de</strong>m Irrtum herausführen soll<br />
und <strong>de</strong>ssen inneres Organ <strong>de</strong>r »Gül<strong>de</strong>ne<br />
Griff« ist.Voraussetzung ist, dass <strong>de</strong>r<br />
Mensch »in ein stille schweigen komet...do <strong>de</strong>r<br />
mensche nur wartet vnnd empfehet, vnnd got<br />
gibet vnd wircket«. 8<br />
26<br />
Auch hier steht er Paracelsus nahe, <strong>de</strong>r<br />
schreibt: »die Erkantnis geht durch <strong>bei</strong><strong>de</strong> Art,<br />
offensichtlich und magisch, sichtig und unsichtig«.<br />
9 Magie be<strong>de</strong>utet hier Macht und Weisheit,<br />
aber ohne weltliche <strong>Ges</strong>innung.<br />
»Der Magus entzieht sich <strong>de</strong>r Welt, nicht um sie<br />
zu verlassen, im Gegenteil: in <strong>de</strong>r Anschauung<br />
<strong>de</strong>r Natur versunken, mit offenen Ohren, hört<br />
er nichts mehr«. 10<br />
Neben <strong>de</strong>r Wendung in sich selbst bedarf<br />
es <strong>bei</strong> Weigel noch <strong>de</strong>r Verleugnung<br />
seiner selbst bzw. muss man seinem »naturlichen<br />
wircklichen menschen...vrlaub geben«,<br />
um zur »vbernaturliche[n] leidtliche[n] erkentnis«<br />
zu gelangen. 11 Wer zu dieser Erkenntnis<br />
gelangt, ist am Ziel: er wird eins mit<br />
Gott. Selbsterkenntnis ist damit nicht Ziel,<br />
son<strong>de</strong>rn eher Ausgangspunkt <strong>de</strong>r eigenen<br />
Entwicklung hin zu Gott bzw. zurück zu<br />
Gott, wo »wir alles haben vnd besitzen sollen<br />
von gna<strong>de</strong>n, was Gott selber hat vndt besitzet«. 12<br />
Dieser Zielrichtung entspricht auch die<br />
Ethik Weigels. Hochmut und Egoismus<br />
sind Sün<strong>de</strong>. Nach ihm ist die »Creatur<br />
...eine bildnis <strong>de</strong>s Ewigen Gottes...Darumb soll<br />
[sie] nicht nach eigenen willen leben, son<strong>de</strong>rn in<br />
gelaßenheit vnd gehorsam, sie soll...in <strong>de</strong>r mitten<br />
bleiben, Sie soll nicht sich selbst suchen, noch<br />
lieben...es ist nur ein Gott, darumb kanstu dich<br />
nicht für dich selber einen Gott achten, <strong>de</strong>n du<br />
solt bewahren die eigenschaft <strong>de</strong>r bildnis.« 13<br />
So wichtig war ihm dies, dass er an <strong>de</strong>n<br />
Leser direkt appellierte – auch an <strong>de</strong>n heutigen.<br />
Denn was könnte für unsere Welt<br />
dominieren<strong>de</strong>r Ellenbogen schädlicher<br />
sein, als die Erkenntnis, dass allein durch<br />
Beugen unter <strong>de</strong>n Willen Gottes, das heißt<br />
durch die Beachtung vor allem seines<br />
Gebotes <strong>de</strong>r Nächstenliebe wahrer Fortschritt<br />
für je<strong>de</strong>n einzelnen zu erzielen ist.<br />
Dass die be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Gedanken Weigels<br />
neben ähnlichen vieler an<strong>de</strong>rer Geistesschaffen<strong>de</strong>n<br />
zunehmend wirksam wer<strong>de</strong>n<br />
können, ist zu wünschen.<br />
Horst Pfefferl und allen Mitar<strong>bei</strong>tern<br />
<strong>de</strong>r Neuen Edition gebührt Hochachtung<br />
für die Schaffung <strong>de</strong>r notwendigen wissenschaftlichen<br />
Grundlagen.
ANMERKUNGEN UND QUELLENVERZEICHNIS<br />
1 Horst Pfefferl: Die Überlieferung <strong>de</strong>r Schriften<br />
Valentin Weigels. Phil. Dissertation, Marburg/Lahn,<br />
Teildruck, Marburg/Lahn 1991.<br />
2 ebenda, S.78.<br />
3 VALENTIN WEIGEL: Der gül<strong>de</strong>ne Griff. Kontroverse<br />
um <strong>de</strong>n ›Gül<strong>de</strong>nen Griff‹. Vom judicio im<br />
Menschen.<br />
Hrsg. und eingeleitet von Horst Pfefferl, Stuttgart-<br />
Bad Cannstatt 1997, S.44.<br />
4 ebenda, S.7.<br />
5 ebenda, S.14.<br />
6 ebenda, S.53.<br />
7 ebenda.<br />
8 ebenda, S.48.<br />
9 Paracelsus I, 147, zit. in: Lucien Braun: Vom magi-<br />
Herr Prof. Dr.Yuzo Okabe, Universität<br />
Tokio, übersandte uns eine Übersetzung<br />
paracelsischer Schriften ins Japanische,<br />
und zwar<br />
– Von <strong>de</strong>m sanct Johanns kraut (aus:<br />
»Von <strong>de</strong>n natürlichen Dingen«, 1525?)<br />
– Von <strong>de</strong>n kreften <strong>de</strong>s magneten (aus:<br />
»Herbarius«, 1525?)<br />
– In probationem artis magicae (aus:<br />
»Astronomia magna«, 1537/38, XII/122)<br />
– Wie sich got gegen <strong>de</strong>m menschen vereinigt,<br />
und wie er sich gegen in halt, annimbt<br />
und mit im und durch in hantlet,<br />
als nemlich in <strong>de</strong>r zukünftigen welt (aus:<br />
»Astronomia magna«, 1537/38, XII/320)<br />
Es han<strong>de</strong>lt sich um Band 16 – »Die<br />
mo<strong>de</strong>rne Naturmystik« – aus <strong>de</strong>r Schriftenreihe<br />
»Ausgewählte Schriften <strong>de</strong>r Christlichen<br />
Mystik« (Kyobunkan-Verlag Tokyo,<br />
1993, ISBN 4-7642-3216-2).<br />
Die Übersetzung <strong>de</strong>r Paracelsus-Schriften<br />
in Band 16 besorgten neben<br />
Professor Okabe Frau Ayako Nakai und<br />
Herr Kunio Homma.<br />
Günter Ickert<br />
INFORMATION<br />
schen Wissen und Wirken. in: Manuskripte –<br />
Thesen – Informationen. hg. von <strong>de</strong>r Deutschen<br />
<strong>Bombastus</strong>-<strong>Ges</strong>ellschaft e.V. Dres<strong>de</strong>n,<br />
Nr. 11 – 1/1997, S. 4.<br />
10 Ebenda, S.9.<br />
11 VALENTIN WEIGEL: Der gül<strong>de</strong>ne Griff.<br />
Kontroverse um <strong>de</strong>n ‚Gül<strong>de</strong>nen Griff‘. Vom<br />
judicio im Menschen.<br />
Hrsg. und eingeleitet von Horst Pfefferl,<br />
Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, S. 51.<br />
12 Valentin Weigel: Vom <strong>Ges</strong>etz o<strong>de</strong>r Willen<br />
Gottes. Gnothi seauton. Hrsg. und eingeleitet<br />
von Horst Pfefferl, Stuttgart-Bad Cannstatt<br />
1996, S.5.<br />
13 Ebenda, S.16.<br />
27
Band 16 enthält ein umfangreiches<br />
Personenregister, ein mehrseitiges Wörterverzeichnis<br />
mit Erklärungen sowie eine<br />
interessante Literaturzusammenstellung.<br />
Professor Okabe, Mitglied <strong>de</strong>r<br />
Deutschen <strong>Bombastus</strong>-<strong>Ges</strong>ellschaft, teilte<br />
uns <strong>bei</strong> dieser Gelegenheit mit, dass er im<br />
Sommersemester 1999 an <strong>de</strong>r Universität<br />
Tokio mit sieben Stu<strong>de</strong>ntinnen/Stu<strong>de</strong>nten<br />
ein Seminar über Paracelsus abgehalten<br />
hat, <strong>de</strong>m er auch unser Periodikum<br />
»Manuskripte-Thesen-Informationen«<br />
zugrun<strong>de</strong> legte.<br />
Erläuterungen zu <strong>de</strong>n Abbildungen vom<br />
oben benannten Band 16:<br />
Titel s.S.27/Stich <strong>de</strong>s Monogrammisten<br />
AH von 1538/Vorwort/eine Seite aus<br />
Paracelsi Ar<strong>bei</strong>t über das Johanniskraut<br />
(Hypericum perforatum L.).<br />
28
IMPRESSUM<br />
Herausgegeben von <strong>de</strong>r<br />
DEUTSCHEN BOMBASTUS-GESELLSCHAFT e.V. DRESDEN<br />
GESCHÄFTSSTELLE<br />
Kaitzer Straße 134 · D-01187 Dres<strong>de</strong>n<br />
Telefon (03 51) 4 71 59 45<br />
www.bombastus-ges.<strong>de</strong><br />
e-mail: bombastus-ges@imagic.<strong>de</strong><br />
Martina Lippmann<br />
VORSITZENDER<br />
Prof. Dr.-Ing. Bernd Meyer<br />
Elisabethstraße 4 · D-09599 Freiberg<br />
Telefon (0 37 31) 2 26 08<br />
STELLV. VORSITZENDER<br />
Dipl.-Ing. Hans Vogt<br />
Fürstenweg 6 · D-01744 Reinholdshain<br />
Telefon (0 35 04) 61 45 16<br />
SCHATZMEISTER<br />
Martina Lippmann<br />
Kaitzer Straße 134 · D-01187 Dres<strong>de</strong>n<br />
Telefon (03 51) 4 71 59 45<br />
REDAKTION<br />
Dipl.-Biol. Günter Ickert<br />
Zum Schmie<strong>de</strong>berg 13 · D-01462 Gompitz<br />
Telefon (03 51) 4 16 31 20<br />
Die Autor(inn)en sind für <strong>de</strong>n Inhalt ihrer Beiträge<br />
selbst verantwortlich.<br />
<strong>Ges</strong>taltung/Satz CCP Kummer & Co. GmbH<br />
Druck Stoba-Druck · Lampertswal<strong>de</strong><br />
Alle Rechte vorbehalten