Heft 1.10 (PDF) - WISSENSCHAFT in progress
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Schmerz<br />
zerreißt das<br />
Netz der Rede<br />
auf die Topik der Rede vom Schmerz h<strong>in</strong> untersucht. Er über-<br />
prüft, mit welchen Verfahren der Effekt der Evidenz des<br />
Schmerzes im Lauf der Zeit erzeugt wird und entdeckt e<strong>in</strong>e er-<br />
staunlich konstante Topik der Rede, mit ihrem unheimlich be-<br />
grenzten rhetorischen Repertoire. Die Archive s<strong>in</strong>d angefüllt<br />
mit Texten, <strong>in</strong> denen der Schmerz „blitzartig“ das Netz der Re-<br />
de zerreißt, um e<strong>in</strong>en Durchblick auf unterschwellig Reales zu<br />
gewähren.<br />
Der Schmerz ist im Augenblick se<strong>in</strong>er Schilderung e<strong>in</strong>e Konstruk-<br />
tion, ist immer nur als Text kommunikabel. Noch der extreme, kaum<br />
durch e<strong>in</strong> „Flackern“ oder e<strong>in</strong>e „Entspannung“ unterbrochene<br />
Schmerz, den nach übere<strong>in</strong>stimmenden Berichten e<strong>in</strong> Knochenbruch<br />
verursacht, sperrt den Betroffenen dadurch e<strong>in</strong>. Da solcherart geplag-<br />
te, als mit „aufgerissenen“ Augen oder als „schrill quäkendes<br />
Schlachtferkel“ beschriebene Opfer bef<strong>in</strong>det sich […] mitten im Meer<br />
von Fiktionen. […] Wenn sich e<strong>in</strong> Mensch vor Schmerzen „Wie e<strong>in</strong><br />
Tier“ am Boden w<strong>in</strong>det, und damit die ihn im Reich der Lebewesen<br />
erst konstituierenden Unterschiede des aufrechten Gangs und der ar-<br />
tikulierten Rede selbst nicht mehr machen kann, klappern die Text-<br />
webstühle um so lauter.<br />
24<br />
Der Ausdruck „schrill quäkendes Schlachtferkel“ ist Jean<br />
Amérys Er<strong>in</strong>nerungen an die Tortur, der er im Juli 1943 bei der<br />
Gestapo <strong>in</strong> Brüssel ausgeliefert war, entnommen. Amérys Essay<br />
aus dem Jahre 1964 entspricht der von Ela<strong>in</strong>e Scarry zwei Jahr-<br />
zehnte später theoretisch erläuterten Sprachsituation: der ext-<br />
reme Schmerz, so berichtet Améry, zerstört das Vermögen zur<br />
symbolischen Ausweitung des Körperraums. Nach dem Verlust<br />
des „Weltvertrauens“ liegt die Gefühlswelt des Gequälten auch<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Fall wie e<strong>in</strong>e „externalisierte Landkarte“ für jeden