Heft 1.10 (PDF) - WISSENSCHAFT in progress

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22.08.2013 Aufrufe

Schmerz zerstört Sprache der Folter, ärztliche Diagnosen. Nach der Auswertung kommt sie zur der Überzeugung, dass extremer Schmerz durch Nicht- kommunizierbarkeit gekennzeichnet ist. Er bietet nicht nur der Sprache Widerstand, sondern zerstört sie. Der Schmerz ist nicht von oder nach etwas: Schmerz ist nur er selbst. Schmerz sei defini- tiv nicht im Medium symbolischer Konstruktionen „in die Welt“ zu holen; denn er bedeute Weltverlust. Scarry beschreibt diesen Umstand in einer einfachen Skizze: Wenn man spreche, greife das Ich über die Grenzen des Kör- pers hinaus und besetze einen Raum, der größer sei als der Körper. 34 Extremer physischer Schmerz zerstöre das Vermögen zur symbolischen Erweiterung des Leibraums des Individu- ums. Er reduziere es auf die reine Gegenwart des Körpers. Mit dem Verlust der Fähigkeit zur Objektivation im ausgedehnten Personalraum falle der Betroffene aus der Sphäre des intersub- jektiven Austauschs hinaus. Seines symbolischen Raumbil- dungsvermögens beraubt, öffne sich der Schmerzerfüllte der Macht. Für deren Agenten sei die gesamte Gefühlswelt des Op- fers dann eine „externalisierte Landkarte“, die sie nach den Re- geln ihrer Kunst bearbeiten. 22 Elaine Scarry steht, wie gesagt, mit dieser Einstellung im Reich der deutschen Kulturwissenschaften auf verlorenem Pos- ten Die Kritik ist auch nicht von der Hand zu weisen: Immer – so heißt es – speichert ein Individuum die verspürten Empfin- dungen nicht einfach ab, „sondern transformiert sie in seine ei- genen Kategorien, die es mit anderen Mitgliedern seiner Be- zugsgruppe teilt, die zugleich aber seine persönliche Note tragen“. 35 Und Jakob Tanner betont in seiner Rezension: „Im- 34 Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Frankfurt am Main 2009 (Taschenbuchausgabe), S. 52. 35 Le Breton, S. 133.

mer und nicht nur in Zuständen extremen Schmerzes – besteht eine Kluft zwischen dem Schweigen des realen Körpers und dem Sprechen über den symbolisch konstruierten Körper. Durch nichts ist sie zu überbrücken. Aber die Individuen eigneten sich im Austausch miteinander die von ihnen mit anderen geteilte Le- benswelt an, in der sie eigene Körpererfahrungen für andere verständlich machen“. 36 Wie wäre es sonst zu verstehen, dass sich Elaine Scarry mit Hilfe eines Archivs von Texten ein Bild vom Weltverlust der Opfer machen könnte. Im Augenblick seiner Schilderung ist der Schmerz sprachlich konstruiert. Die Konstruktionen werden in Texten gespeichert, in Archiven behütet. Nachträglich können die Textspeicher von uns beliebig animiert werden. Die Sprach- formen, in denen Schmerz kommuniziert wird, sind relativ ste- reotyp. Das bedeutet nun aber keineswegs, dass der Schmerz selbst zum Stoff kultureller Archive geworden ist. Es gibt zwar ein erstaunlich stereotypes Arsenal sprachlicher Wendungen des Schmerzes; sie zeigen aber auf eine Wirklichkeit von Emp- findungen, deren schiere Präsenz nachträglich in Stereotypen aufgehoben wird, weil den Individuen zuvor die Ausdrucksfä- higkeit genommen wurde. V. Bibliothek oder Physiologie Ich möchte zum Schluss die Zuspitzung des Richtungs- kampfs um die Evidenz des Schmerzes an zwei Dokumenten erläutern. 23 Heiko Christians hat 1999 eine Arbeit vorgelegt, in der er mit großer Gelehrsamkeit das Archiv der europäischen Literatur 36 Jakob Tanner, Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen. In: Historische Anthropologie, H. 2, 1994. Schmerz ist kein Stoff für Archive

Schmerz<br />

zerstört<br />

Sprache<br />

der Folter, ärztliche Diagnosen. Nach der Auswertung kommt<br />

sie zur der Überzeugung, dass extremer Schmerz durch Nicht-<br />

kommunizierbarkeit gekennzeichnet ist. Er bietet nicht nur der<br />

Sprache Widerstand, sondern zerstört sie. Der Schmerz ist nicht<br />

von oder nach etwas: Schmerz ist nur er selbst. Schmerz sei def<strong>in</strong>i-<br />

tiv nicht im Medium symbolischer Konstruktionen „<strong>in</strong> die<br />

Welt“ zu holen; denn er bedeute Weltverlust.<br />

Scarry beschreibt diesen Umstand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen Skizze:<br />

Wenn man spreche, greife das Ich über die Grenzen des Kör-<br />

pers h<strong>in</strong>aus und besetze e<strong>in</strong>en Raum, der größer sei als der<br />

Körper. 34 Extremer physischer Schmerz zerstöre das Vermögen<br />

zur symbolischen Erweiterung des Leibraums des Individu-<br />

ums. Er reduziere es auf die re<strong>in</strong>e Gegenwart des Körpers. Mit<br />

dem Verlust der Fähigkeit zur Objektivation im ausgedehnten<br />

Personalraum falle der Betroffene aus der Sphäre des <strong>in</strong>tersub-<br />

jektiven Austauschs h<strong>in</strong>aus. Se<strong>in</strong>es symbolischen Raumbil-<br />

dungsvermögens beraubt, öffne sich der Schmerzerfüllte der<br />

Macht. Für deren Agenten sei die gesamte Gefühlswelt des Op-<br />

fers dann e<strong>in</strong>e „externalisierte Landkarte“, die sie nach den Re-<br />

geln ihrer Kunst bearbeiten.<br />

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Ela<strong>in</strong>e Scarry steht, wie gesagt, mit dieser E<strong>in</strong>stellung im<br />

Reich der deutschen Kulturwissenschaften auf verlorenem Pos-<br />

ten Die Kritik ist auch nicht von der Hand zu weisen: Immer –<br />

so heißt es – speichert e<strong>in</strong> Individuum die verspürten Empf<strong>in</strong>-<br />

dungen nicht e<strong>in</strong>fach ab, „sondern transformiert sie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e ei-<br />

genen Kategorien, die es mit anderen Mitgliedern se<strong>in</strong>er Be-<br />

zugsgruppe teilt, die zugleich aber se<strong>in</strong>e persönliche Note<br />

tragen“. 35 Und Jakob Tanner betont <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rezension: „Im-<br />

34 Ela<strong>in</strong>e Scarry, Der Körper im Schmerz. Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 2009 (Taschenbuchausgabe),<br />

S. 52.<br />

35 Le Breton, S. 133.

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