Heft 1.10 (PDF) - WISSENSCHAFT in progress

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schaften der Republik kursierten zwar sehr unterschiedliche Konzeptionen des Schmerzes, die Republikgegner waren sich allerdings einig, dass der „Liberalismus“ gegen den Schmerz nicht mehr aufzubieten habe als die Narkose. Seltsamerweise wird der Krieg in Sauerbruchs und Wenkes Kapitel „Ärztliche Erfahrungen über den Schmerz“ nur in Zu- sammenhang mit einem erstaunlichen Phänomen der Herab- setzung des Schmerzes erwähnt, das die Chirurgen früher „Wundstupor“ nannten: Wer als Arzt im Felde unsere braven Kameraden zu betreuen hatte, der weiß aus hundertfältiger Beobachtung, dass viele unter der Last und den Strapazen des Dienstes oder der zermürbenden Wirkung von andauernder Spannung und Gefahr, von Erschütterung und Schreck, sich selbst verloren. Dann reichte ihr Denken nicht einmal mehr für die primitiven vegetativen Lebensfunktionen aus. In einer solchen Verfassung war kein Raum mehr für die Schmerzempfindung, so dass notwendige Eingriffe ohne künstliche Betäubung möglich waren. 25 18 Dass der „Seelische Wundstupor“ nicht nur ein Zeichen der Erschöpfung sondern auch eine Begleiterscheinung des Hel- denmuts sein konnte, erläutert Sauberbruch am Beispiel eines Leutnants. Dieser war so erregt von der Lebensgefahr eines nächtlichen Sturmtrupps, dass er die Amputation seines Arms, die ohne Betäubung durchgeführt wurde, kaum bemerkt habe. Dass der Chirurg sich in Erinnerung an die Materialschlach- ten ausgerechnet auf diese Form herabgesetzter Schmerzemp- findung konzentriert, mag symptomatisch für die zwei Jahr- zehnte nach dem Krieg gewesen sein, die vom Willen gekenn- 25 Ferdinand Sauerbruch, Hans Wenke, Wesen und Bedeutung des Schmerzes. Berlin 1936.

zeichnet waren, sich gegen den Schmerz zu immunisieren. Die Faszination des Phänomens „Wundstupor“ verknüpfen die Au- toren einerseits mit dem „altpreußischen Ideal soldatischer Er- ziehung“, andererseits mit Nietzsches These vom Schmerz als „arterhaltendem Wert“. Vor allem aber scheinen sie im Bann von Ernst Jüngers Schrift „Über den Schmerz“ zu stehen, die drei Jahre zuvor erschienen war. Der Schmerz erscheine bei Jünger als der „eigentliche Urgrund des Lebens“. 26 „Disziplin“ bezeichne Jünger als „die Form, durch die der Mensch die Be- rührung mit dem Schmerz“ und damit seinen Kontakt mit dem Elementarreich des Lebens aufrecht erhalte. 27 19 Ernst Jünger hatte die Wahrnehmung des Schmerzes von je- der Empathie reinigen wollen. Er hatte empfohlen, die Frontli- nie des Schmerzes aufzusuchen, um an ihr die Haltung der A- pathie und die Kälte des Blicks zu stählen. Man mag Jüngers Essay als ein Symptom für soldatische Apathie abschätzig beur- teilen. Mich interessiert eher seine hellsichtige Diagnose, die er dem Liberalismus der Weimarer Republik stellt. Der Liberalis- mus ist für ihn eine Gesellschaftsform, die den Schmerz aus den Binnenräumen der Gesellschaft an die Ränder vertreibt, wo in Kliniken, Gefängnissen und Kasernen Spezialisten des Schmer- zes ihre Arbeit verrichten, während die Massenmedien Bilder des Schmerzes in den Innenraum der Gesellschaft einspeisen, wo sie wie Drogen inhaliert werden. Die Arbeit des stoischen Be- wusstseins ist dabei kaum mehr erforderlich. Die Abspaltung des Schmerzes ist der Flucht technischer Bilder in populären Zeitschriften und Magazinen überantwortet. Ataraxia stellt sich im massenmedialen Raum automatisch her. Die neuen Medien sind Empathieentsorgungsgeräte. 26 Ebd., S. 110. 27 Ebd. Schmerz als „Urgrund des Lebens“

schaften der Republik kursierten zwar sehr unterschiedliche<br />

Konzeptionen des Schmerzes, die Republikgegner waren sich<br />

allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>ig, dass der „Liberalismus“ gegen den Schmerz<br />

nicht mehr aufzubieten habe als die Narkose.<br />

Seltsamerweise wird der Krieg <strong>in</strong> Sauerbruchs und Wenkes<br />

Kapitel „Ärztliche Erfahrungen über den Schmerz“ nur <strong>in</strong> Zu-<br />

sammenhang mit e<strong>in</strong>em erstaunlichen Phänomen der Herab-<br />

setzung des Schmerzes erwähnt, das die Chirurgen früher<br />

„Wundstupor“ nannten:<br />

Wer als Arzt im Felde unsere braven Kameraden zu betreuen hatte,<br />

der weiß aus hundertfältiger Beobachtung, dass viele unter der Last<br />

und den Strapazen des Dienstes oder der zermürbenden Wirkung von<br />

andauernder Spannung und Gefahr, von Erschütterung und Schreck,<br />

sich selbst verloren. Dann reichte ihr Denken nicht e<strong>in</strong>mal mehr für<br />

die primitiven vegetativen Lebensfunktionen aus. In e<strong>in</strong>er solchen<br />

Verfassung war ke<strong>in</strong> Raum mehr für die Schmerzempf<strong>in</strong>dung, so dass<br />

notwendige E<strong>in</strong>griffe ohne künstliche Betäubung möglich waren. 25<br />

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Dass der „Seelische Wundstupor“ nicht nur e<strong>in</strong> Zeichen der<br />

Erschöpfung sondern auch e<strong>in</strong>e Begleitersche<strong>in</strong>ung des Hel-<br />

denmuts se<strong>in</strong> konnte, erläutert Sauberbruch am Beispiel e<strong>in</strong>es<br />

Leutnants. Dieser war so erregt von der Lebensgefahr e<strong>in</strong>es<br />

nächtlichen Sturmtrupps, dass er die Amputation se<strong>in</strong>es Arms,<br />

die ohne Betäubung durchgeführt wurde, kaum bemerkt habe.<br />

Dass der Chirurg sich <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung an die Materialschlach-<br />

ten ausgerechnet auf diese Form herabgesetzter Schmerzemp-<br />

f<strong>in</strong>dung konzentriert, mag symptomatisch für die zwei Jahr-<br />

zehnte nach dem Krieg gewesen se<strong>in</strong>, die vom Willen gekenn-<br />

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