Heft 1.10 (PDF) - WISSENSCHAFT in progress
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Schmerz ist<br />
bedeutungslos<br />
zusammengeschnurrten, se<strong>in</strong>es künftigen Horizonts beraubten<br />
Augenblick“. 21<br />
Die beiden letzten Sätze habe ich zitiert. Es s<strong>in</strong>d Schlussfol-<br />
gerungen von Jean Starob<strong>in</strong>ski. Er zog damit 1984 die Qu<strong>in</strong>tes-<br />
senz des Abends mit Monsieur Teste und er schloss sich Valérys<br />
Erkenntnis an: „Die Intensität des Schmerzes“ lasse sich „um-<br />
gekehrt an der Freiheit bemessen, die sie e<strong>in</strong>em lässt“, ihn aus-<br />
zudrücken. Er ermahnt uns, mit Valéry die Grenzen der Psy-<br />
choanalyse zu akzeptieren. Und er zitiert Freud, der, nachdem<br />
ihm e<strong>in</strong> Furunkel aufgeschnitten worden war, an Fließ ge-<br />
schrieben habe, das Empf<strong>in</strong>dungsmaterial dieses Schmerzes<br />
könne erzählend nicht bewältigt werden: „es tut zu weh“.<br />
Der Schmerz f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> dieser Geschichte ke<strong>in</strong>en Ausdruck –<br />
außer den drei Auslassungspunkten, die auf e<strong>in</strong>e Wirklichkeit<br />
jenseits der Zeichenwelt zeigen. Er durchkreuzt sprachlos den<br />
Anspruch se<strong>in</strong>es Helden, „Herr se<strong>in</strong>er Gedanken zu se<strong>in</strong>“. Ext-<br />
remer physischer Schmerz wird – so die Logik des Textes – als<br />
lokales Körperereignis vom Psychischen abgespalten. Im Ge-<br />
gensatz zur Neurose bildet dieser physische Schmerz beim bes-<br />
ten Willen zur S<strong>in</strong>ngebung ke<strong>in</strong>e erzählerische Ausgestaltung.<br />
Solch e<strong>in</strong> Schmerz hat, Valéry zufolge, „ke<strong>in</strong>e Bedeutung“.<br />
16<br />
„Der Schmerz trägt ke<strong>in</strong>e Bedeutung“. Der lapidare Satz be-<br />
zeichnet den historischen Endpunkt e<strong>in</strong>er Entwicklung, <strong>in</strong> der<br />
der Schmerz aus se<strong>in</strong>en traditionellen kulturellen Codierungen<br />
gelöst wurde. Schmerz ersche<strong>in</strong>t zum ersten Mal als e<strong>in</strong> „sprach-<br />
resistenter Gegenstand“. 22 Die Möglichkeit, e<strong>in</strong>en solchen Satz zu<br />
formulieren, setzt gewaltige Abräumarbeiten voraus. Physiolo-<br />
21 Jean Starob<strong>in</strong>ski, Kle<strong>in</strong>e Geschichte des Körpergefühls. Konstanz 1987, S. 111.<br />
22 Morris, a.a.O., S. 13.