Heft 1.10 (PDF) - WISSENSCHAFT in progress

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den Auslösern der Emotionen unterbrechen und die Störung auf die Nulleitung umlenken“. 16 Diese Lösung entwirft Paul Valéry 1893 für seine Versuchs- person Edmont Teste. 17 Im Vergleich mit dem kostbaren Desig- ne des Interieurs des Helden in Huysmans Roman wohnt Teste ärmlich. Wir finden ihn in einem kleinen, notdürftig möblierten Appartement. „In dem grünlichen, nach Minze riechenden Zimmer war rings um die Kerze bloß das trostlose abstrakte Mobiliar – Bett, Uhr, Spiegelschrank, zwei Armstühle -, als sei- en es Vernunftwesen“, kurz: eine „frostige Kammer“, rein und distinkt, ein kartesianisches Logis. Monsieur Teste geht davon aus, dass die „Intensität der Ge- fühle“ sich nicht zum Austausch zwischen den Menschen eig- net. Spontane Äußerungen von Leidenschaften adeln den Men- schen nicht. Sie machen ihn nur durchschnittlich. Profilieren kann man sich nur den Scharfsinn des grauen Intellekts. 18 Teste ist ein Typ, der die Mitwelt mit einem „Trennungs- blick“ betrachtet, der „extreme Kälte“ ausstrahlt und auch in schlimmer Lage nicht klagt, sondern stattdessen die „Knöpfe an der Jacke des Henkers“ zählt. 19 Erlaubt sich solch ein Mustertyp der reflexiven „Kälte“ Schwächen? Von Zeit zu Zeit gestattet er sich Liebe, die, wie Madame Teste berichtet, für ihn darin bestehe, „miteinander tierisch-töricht sein zu können mit jeder Freiheit zu Dummheit und Bestialität“. 20 16 Paul Valéry, Cahiers/Hefte. Frankfurt am Main 1992, S. 116. 17 Paul Valéry, Monsieur Teste. Frankfurt am Main 1992. 18 Paul Valéry, Cahiers/Hefte Bd. 6, S. 364. 19 Ebd., S. 351. 20 Ebd., S. 338. 14

Teste liegt vor allem daran, dass die Souveränität seines rati- onalen Denkens durch Nichts zu Fall zu bringen ist. Man ahnt, das böse Ende naht. Am Abend nach einem Theaterbesuch schweigt Monsieur Teste plötzlich: „Er litt Schmerzen“. Nun dürfen wir Monsieur Teste beim Zubettgehn beobachten: „Er zog sich in aller Ruhe aus. Sein hagerer Körper badete sich in Betttüchern und war wie tot. Dann dreht er sich und tauchte tiefer in das zu kurze Bett“. Teste hebt erst einmal zu einem Monolog über seine Körperwahrnehmung als Kind an, klam- mert sich an die Behauptung, sich auch physisch „in- und aus- wendig zu kennen“, erklärt seine Liebe zum vertrauten Leinen- tuch, das ihn umschmiege „wie Sand“, wenn er sich tot stelle. Bis – „Ah“. Seine Rede stockt, als ob er plötzlich einen „Materi- alfehler“ in dem ihn umhüllenden Laken spüre. Valéry markiert die Unterbrechungen im Text mit drei Punkten … Es sei „Nichts Besonderes“ meint der Held, höchstens ein Zufall, der nicht länger als eine Zehntelsekunde dauere, nichts Nachhaltiges al- so. Die Wiederholungen der Auslassungspunkte, die Einbrüche des pochenden Schmerzes markieren, geben dem Text einen gewissen Taktschlag. … Mehr nicht. Es herrscht Ausdruckleere – Schlaf wird ersehnt. 15 Die Unterbrechungen des Textes öffnen kein Fenster zu exis- tentiellen Abgründen oder verdunkelten Geschichten der Psy- che. Weder Psychoanalytiker noch andere Schmerztherapeuten können frohlocken. „Wenn der Schmerz plötzlich einbricht, er- hellt er keine Vergangenheit: er illuminiert nur die gegenwärti- gen Körperzonen. Er ruft lokalen Widerstand hervor“ und re- duziert „das Bewusstsein auf eine kurze Gegenwart, auf einen

den Auslösern der Emotionen unterbrechen und die Störung auf<br />

die Nulleitung umlenken“. 16<br />

Diese Lösung entwirft Paul Valéry 1893 für se<strong>in</strong>e Versuchs-<br />

person Edmont Teste. 17 Im Vergleich mit dem kostbaren Desig-<br />

ne des Interieurs des Helden <strong>in</strong> Huysmans Roman wohnt Teste<br />

ärmlich. Wir f<strong>in</strong>den ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en, notdürftig möblierten<br />

Appartement. „In dem grünlichen, nach M<strong>in</strong>ze riechenden<br />

Zimmer war r<strong>in</strong>gs um die Kerze bloß das trostlose abstrakte<br />

Mobiliar – Bett, Uhr, Spiegelschrank, zwei Armstühle -, als sei-<br />

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dist<strong>in</strong>kt, e<strong>in</strong> kartesianisches Logis.<br />

Monsieur Teste geht davon aus, dass die „Intensität der Ge-<br />

fühle“ sich nicht zum Austausch zwischen den Menschen eig-<br />

net. Spontane Äußerungen von Leidenschaften adeln den Men-<br />

schen nicht. Sie machen ihn nur durchschnittlich. Profilieren<br />

kann man sich nur den Scharfs<strong>in</strong>n des grauen Intellekts. 18<br />

Teste ist e<strong>in</strong> Typ, der die Mitwelt mit e<strong>in</strong>em „Trennungs-<br />

blick“ betrachtet, der „extreme Kälte“ ausstrahlt und auch <strong>in</strong><br />

schlimmer Lage nicht klagt, sondern stattdessen die „Knöpfe an<br />

der Jacke des Henkers“ zählt. 19<br />

Erlaubt sich solch e<strong>in</strong> Mustertyp der reflexiven „Kälte“<br />

Schwächen? Von Zeit zu Zeit gestattet er sich Liebe, die, wie<br />

Madame Teste berichtet, für ihn dar<strong>in</strong> bestehe, „mite<strong>in</strong>ander<br />

tierisch-töricht se<strong>in</strong> zu können mit jeder Freiheit zu Dummheit<br />

und Bestialität“. 20<br />

16 Paul Valéry, Cahiers/<strong>Heft</strong>e. Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1992, S. 116.<br />

17 Paul Valéry, Monsieur Teste. Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1992.<br />

18 Paul Valéry, Cahiers/<strong>Heft</strong>e Bd. 6, S. 364.<br />

19 Ebd., S. 351.<br />

20 Ebd., S. 338.<br />

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