Heft 1.10 (PDF) - WISSENSCHAFT in progress

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12 Schmerzdiagnosen stammen, mit dem die Ärzte heute noch dem Schmerz auf die Spur kommen wollen: der Schmerz durch- bohrt seine Schläfen 11 , treibt Holzkeile in seinen Nacken 12 oder schneidet sein Gesicht entzwei 13 . Zuweilen wirft er aber selbst den Ästheten unter sein Niveau, wenn er anlässlich einer Ex- traktion beim Zahnarzt beginnt, „wie ein Tier zu blöken, das man mordet“. 14 Alles weist auf einen unterschwelligen Mecha- nismus hin, der unter den Feinheiten des kulturellen Gewebes, mit dem der Held sich umhüllt, lagert. Dieser Mechanismus ist nicht geheimnisvoll. Er lässt sich, wie der Roman zeigt, mühe- los in die Sprache der Mediziner übersetzen. Tatsächlich trifft unser Held jetzt auf wackere Vertreter der damaligen Schulme- dizin: dem erstens gelingt es, die Magenneurose des Sensiblen mittels eines Dampfkochtopfes, der echtes Rindfleischextrakt her- stellt, vorläufig zu kurieren. Da für ihn an Austausch mit der Mitwelt nicht zu denken ist, kommt diese Therapie ihm sogar entgegen. Eine Gesprächstherapie wäre naturgemäß das Letzte, was der Liebhaber der Distanz sich wünscht. Er hat Glück: Der rettende Arzt ist erfreulich wortkarg, will keine Geschichten hö- ren, betrachtet stattdessen aufmerksam seinen Urin, „in dem gewisse weiße Schlieren ihm eine der wichtigsten Ursachen für die Neurose anzeigten. Er schrieb ein Rezept auf und ging wortlos, eine baldige Rückkehr ankündigend“. 15 Das tut dem Helden gut. Welches Entsetzen hätte ihn gepackt, wenn er schon einem Arzt der Ära Freuds begegnet wäre, der ihn als sprechenden Patienten behandelt hätte. Nein, der Ästhet hat 11 Ebd., S: 144. 12 Ebd., S. 135. 13 Ebd., S. 105. 14 Ebd., S. 66. 15 Ebd., S. 246.

Glück; das Peptonklistier, das ihm verschrieben wird, begeistert ihn über alle Maßen: weil es ein technischer Apparat zur künstli- chen Ernährung ist. Der Heilerfolg ist beträchtlich. Sein Magen „entschließt sich“ prompt zu funktionieren. Soweit so gut. Seine Heilung wird allerdings ernsthaft gefährdet, als ihm in Über- einstimmung „mit der Meinung aller Neurosenspezialisten“ empfohlen wird, da die geistige Seite der Krankheit „nicht in den chemischen Machtbereich der Medikamente falle“, wieder „in das Gemeinschaftsleben einzutauchen“. Er, der Mallarmé und Verlaine versteht, soll zurück in die niedere Mitwelt, in der geweihtes Öl mit Geflügelfett verdorben und die Hostien aus Kartoffelmehl hergestellt werden. Bei dieser Vorstellung schüt- telt ihn der Ekel, der Nähesinn par Exzellenz. In Huysmans Roman des Jahres 1884 werden wir zu Zeugen eines Kurzschlusses des nervösen Lebensstils mit Praktiken der Physiologen. Da versucht einer, seine Existenz im Reich der Künstlichkeit einzurichten und stürzt ohne subtile Vermittlun- gen ins Reich der Physiologen. Der Schmerz wirkt in dieser Er- zählung wie ein Kippschalter, mit dem die toxische Illuminati- on des fin de siècle jederzeit aufs Neonlicht des medizinischen Befundes umgeschaltet werden kann. Die zweite Schmerzge- schichte ist von 13 Paul Valéry Monsieur Teste (1893) Kaum zehn Jahre nach Huysmans Roman erkennt ein ande- rer Schriftsteller einen anderen Umgang mit dem Schmerz. Paul Valéry lässt sich auf den rationalen Nervendiskurs der Ärzte ein und gibt ihm eine stoische Wende. Er wünscht sich für das Nervensystem eine besondere Schaltung, die es „mit Sicherun- gen“ versieht, „die bei zu heftiger Erregung, und wenn der Wil- le es wünscht, die Verbindungen zwischen den Zentren und

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Schmerzdiagnosen stammen, mit dem die Ärzte heute noch<br />

dem Schmerz auf die Spur kommen wollen: der Schmerz durch-<br />

bohrt se<strong>in</strong>e Schläfen 11 , treibt Holzkeile <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Nacken 12 oder<br />

schneidet se<strong>in</strong> Gesicht entzwei 13 . Zuweilen wirft er aber selbst<br />

den Ästheten unter se<strong>in</strong> Niveau, wenn er anlässlich e<strong>in</strong>er Ex-<br />

traktion beim Zahnarzt beg<strong>in</strong>nt, „wie e<strong>in</strong> Tier zu blöken, das<br />

man mordet“. 14 Alles weist auf e<strong>in</strong>en unterschwelligen Mecha-<br />

nismus h<strong>in</strong>, der unter den Fe<strong>in</strong>heiten des kulturellen Gewebes,<br />

mit dem der Held sich umhüllt, lagert. Dieser Mechanismus ist<br />

nicht geheimnisvoll. Er lässt sich, wie der Roman zeigt, mühe-<br />

los <strong>in</strong> die Sprache der Mediz<strong>in</strong>er übersetzen. Tatsächlich trifft<br />

unser Held jetzt auf wackere Vertreter der damaligen Schulme-<br />

diz<strong>in</strong>: dem erstens gel<strong>in</strong>gt es, die Magenneurose des Sensiblen<br />

mittels e<strong>in</strong>es Dampfkochtopfes, der echtes R<strong>in</strong>dfleischextrakt her-<br />

stellt, vorläufig zu kurieren. Da für ihn an Austausch mit der<br />

Mitwelt nicht zu denken ist, kommt diese Therapie ihm sogar<br />

entgegen. E<strong>in</strong>e Gesprächstherapie wäre naturgemäß das Letzte,<br />

was der Liebhaber der Distanz sich wünscht. Er hat Glück: Der<br />

rettende Arzt ist erfreulich wortkarg, will ke<strong>in</strong>e Geschichten hö-<br />

ren, betrachtet stattdessen aufmerksam se<strong>in</strong>en Ur<strong>in</strong>, „<strong>in</strong> dem<br />

gewisse weiße Schlieren ihm e<strong>in</strong>e der wichtigsten Ursachen für<br />

die Neurose anzeigten. Er schrieb e<strong>in</strong> Rezept auf und g<strong>in</strong>g<br />

wortlos, e<strong>in</strong>e baldige Rückkehr ankündigend“. 15 Das tut dem<br />

Helden gut. Welches Entsetzen hätte ihn gepackt, wenn er<br />

schon e<strong>in</strong>em Arzt der Ära Freuds begegnet wäre, der ihn als<br />

sprechenden Patienten behandelt hätte. Ne<strong>in</strong>, der Ästhet hat<br />

11 Ebd., S: 144.<br />

12 Ebd., S. 135.<br />

13 Ebd., S. 105.<br />

14 Ebd., S. 66.<br />

15 Ebd., S. 246.

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