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ARCHIVAR 209 - Archive in Nordrhein-Westfalen

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INDIVIDUALISIERUNG VON GESCHICHTE<br />

NEUE CHANCEN FÜR DIE ARCHIVE?<br />

Vorträge des 67. Südwestdeutschen Archivtags am 23.<br />

Juni 2007 <strong>in</strong> Epp<strong>in</strong>gen. Hrsg. von Peter Müller. Verlag<br />

W. Kohlhammer, Stuttgart 2008. 80 S., zahlr. Abb.,<br />

kart. 8,- €. ISBN 978-3-17-020450-8<br />

Innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Zyklen ist die Biographieforschung<br />

nie aus dem Blick geraten, doch hat sich der Be -<br />

trachtungshorizont erheblich ausgeweitet. Im Rahmen der<br />

Mikro- und Alltagsgeschichte sowie der historischen Anthropologie<br />

traten der e<strong>in</strong>zelne Mensch und gesellschaftliche Kle<strong>in</strong>gruppen<br />

als Subjekte der Geschichte <strong>in</strong> den Vordergrund. Sowohl zum<br />

Verlauf dieser „Individualisierung“ als auch zu ihren Ausdrucksformen<br />

erschienen <strong>in</strong> den letzten Jahren mehrere Sammelbände. 1<br />

Die <strong>Archive</strong>, seit jeher Ansprechpartner für biographische Forschungen,<br />

haben diese Tendenz aktiv aufgenommen, wovon etwa<br />

die jährlichen Sommergespräche <strong>in</strong> der Abteilung Ostwestfalen-<br />

Lippe des Landesarchivs NRW zeugen.<br />

Der von Peter Müller herausgegebene Band vere<strong>in</strong>igt acht Beiträge,<br />

die ausschnittartig das breite Spektrum vom Sammeln biographischer<br />

Er<strong>in</strong>nerungen über die Erhaltung, Präsentation und<br />

mediale Aufbereitung bis h<strong>in</strong> zur Nutzung beleuchten. Peter<br />

Müller selbst wählt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>leitung die biographiezentrierte<br />

Aufbereitung von Geschichte auf dem Buchmarkt und <strong>in</strong> Fernsehsendungen<br />

als Ausgangspunkt. Für die <strong>Archive</strong> betrachtet er<br />

das Interesse an Ego-Dokumenten als selbstverständlich und<br />

gewichtet bei den archivischen Aufgaben die Bereiche der Überlieferungsbildung<br />

und Erschließung gleichwertig (S. 8).<br />

Als konzeptionelle E<strong>in</strong>stimmung auf die Beiträge zur Nutzung<br />

gibt Christian Gudehus e<strong>in</strong>en Überblick über die Gedächtnisund<br />

Er<strong>in</strong>nerungsforschung und erläutert sie am Beispiel der Oral<br />

History.<br />

Dort, wo die Beiträge konkrete Projekte beleuchten, beziehen sie<br />

sich zum großen Teil auf die NS-Zeit. In diesem Zusammenhang<br />

berichtet Kar<strong>in</strong> Himmler, wie sie als Vertreter<strong>in</strong> der „Enkelgeneration“<br />

von der mündlich tradierten und stark tabuisierten<br />

Geschichte zur Nachforschung <strong>in</strong> <strong>Archive</strong>n kam. Sie wertet<br />

gerade die Behördenüberlieferung als wichtigstes Korrektiv zur<br />

emotional aufgeladenen familiären Erzähltradition.<br />

In ähnlicher Weise erläutert Elke Koch die Erfahrungen des<br />

Staatsarchivs Ludwigsburg mit der Verwendung von Spruchkammerakten<br />

für biographisch ausgerichtete regionalhistorische<br />

Projekte. Am Beispiel der Aktion Stolperste<strong>in</strong>e, bei der Pflasterste<strong>in</strong>e<br />

mit e<strong>in</strong>zelnen Namen und Lebensschicksalen von Opfern<br />

der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft <strong>in</strong> Gehwege e<strong>in</strong>gelassen<br />

werden, zeigt sie die Möglichkeiten auch der Öffentlichkeitsarbeit<br />

und ihrer Rückwirkung auf die Nutzungsfrequenz für<br />

<strong>Archive</strong> auf. Gleichzeitig macht sie die Grenzen biographischer<br />

Recherche deutlich, <strong>in</strong>dem sie die Auswahlkriterien des Landesarchivs<br />

Baden-Württemberg für personenbezogene Akten vorstellt.<br />

Der dritte Beitrag zum Thema NS-bezogene Biographien stammt<br />

von Nicola Wenge. Sie stellt das Projekt „Erlebte Geschichte“ des<br />

Kölner NS-Dokumentationszentrums vor, das 100 Zeitzeugen<strong>in</strong>terviews,<br />

die speziell zu diesem Zweck geführt wurden, didaktisch<br />

aufbereitet im Internet präsentiert. Auf diese Weise sollen<br />

die Folgen des Verlustes von Behördenüberlieferung aus dieser<br />

Zeit zum<strong>in</strong>dest abgemildert werden (S. 61). Die private Beteiligung<br />

an der F<strong>in</strong>anzierung ist dabei besonders zu begrüßen.<br />

E<strong>in</strong>e gänzlich privatwirtschaftlich organisierte Form der Auf-<br />

191<br />

zeichnung persönlicher Er<strong>in</strong>nerungen präsentiert Jan Fischer.<br />

Se<strong>in</strong> Unternehmen bietet die Aufzeichnung von Memoiren für<br />

Privatpersonen an. Diese Produkte orientieren sich naturgemäß<br />

an den Wünschen der Auftraggeber, nicht am Erkenntnis<strong>in</strong>teresse<br />

der Geschichtswissenschaft. Die wenigsten dieser schriftlichen<br />

oder audiovisuellen Unterlagen werden wohl <strong>in</strong> <strong>Archive</strong> gelangen.<br />

E<strong>in</strong>e Kooperation zwischen dem privaten Dienstleister, der se<strong>in</strong>e<br />

Kunden auf die Möglichkeit der Archivierung h<strong>in</strong>weisen könnte,<br />

und den <strong>Archive</strong>n wäre wünschenswert.<br />

Anders als Memoiren geben Tagebücher e<strong>in</strong>en stärker augenblicksbezogenen<br />

E<strong>in</strong>druck von erlebter Geschichte. So stellt die<br />

Vorsitzende des Deutschen Tagebucharchivs <strong>in</strong> Emmend<strong>in</strong>gen,<br />

Frauke von Troschke, die Arbeitsweise ihrer seit 1998 bestehenden<br />

E<strong>in</strong>richtung vor. Hier sollen Alltags- und Mentalitätsgeschichte<br />

für Wissenschaftler zentral greifbar werden (S. 52/57). Interessant<br />

ist die Methode der Erschließung durch e<strong>in</strong>en Kreis freiwilliger<br />

Leser, die mittels detaillierter Erfassungsbögen Stichworte extrahieren,<br />

die dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Datenbank e<strong>in</strong>gespeist werden.<br />

E<strong>in</strong>e andere Art des Tagesbuchs steht im Zentrum von Re<strong>in</strong>er<br />

Zieglers Beitrag zu den Filmtagebüchern der Landesfilmsammlung<br />

Baden-Württemberg. In e<strong>in</strong>em Durchgang durch die technische<br />

Entwicklung und Verbreitung von Filmkameras schildert er<br />

die Typen privater Dokumentarfilme mit biographischem Bezug,<br />

ihren historischen Wert sowie die Nachfrage nach solchen Aufzeichnungen.<br />

Insgesamt präsentiert der anschaulich aufbereitete und sorgfältig<br />

lektorierte schmale Band e<strong>in</strong>e Breite von Zugängen zu biographischem<br />

Material aus unterschiedlichsten Perspektiven. Dass Be -<br />

züge zur NS-Zeit e<strong>in</strong>erseits und zu Baden-Württemberg andererseits<br />

besonders ausgeprägt s<strong>in</strong>d, liegt am Zuschnitt der dem Band<br />

zugrundeliegenden Tagung. Nach der Lektüre muss die Frage des<br />

Untertitels nach neuen Chancen für <strong>Archive</strong> energisch bejaht<br />

werden.<br />

Ragna Boden, Marburg/Bochum<br />

1 Vgl. zum Beispiel: Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung<br />

vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Richard van Dülmen. Köln 2001;<br />

Autobiografie und wissenschaftliche Biografik. Hrsg. v. Claus-Dieter Krohn.<br />

München 2005.<br />

KEEPING ARCHIVES<br />

Edited by Jackie Bett<strong>in</strong>gton, Kim Eberhard, Rowena<br />

Loo and Clive Smith. Third Edition. Australian Society<br />

of Archivists, Canberra 2008. 648 S., kart. 140,- $.<br />

ISBN 978-0-9803352-4-8<br />

Auf das vorzustellende Buch wurde die Rezensent<strong>in</strong> beim Rundgang<br />

über die Archivfachmesse des 16. Internationalen Archivkongresses<br />

im Juli 2008 <strong>in</strong> Malaysia aufmerksam. Natürlich waren<br />

die Messestände des Nationalarchivs von Australien und des<br />

Berufsverbandes Australian Society of Archivists (ASA) als Ausrichter<br />

des Archivkongresses 2012 gut besucht. Weitere Gründe<br />

für die große Anziehungskraft des australischen Angebots nennt<br />

Professor Re<strong>in</strong><strong>in</strong>ghaus <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em <strong>in</strong> Heft 04/2008 dieser Zeitschrift<br />

veröffentlichten Kongressbericht. Der Blick auf das Cover<br />

<strong>ARCHIVAR</strong> 62. Jahrgang Heft 02 Mai 2009

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