ARCHIVAR 209 - Archive in Nordrhein-Westfalen

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154 ARCHIVAR 62. Jahrgang Heft 02 Mai 2009 ARCHIVTHEORIE UND PRAXIS In zweifacher Hinsicht – die in Pacht genommene Würde des Sammelns und Speicherns an sich vorausgesetzt – ist dieser These zunächst etwas Beruhigendes, ja Versöhnliches zuzusprechen. Zum einen darin, dass vor dem ultimativen Speichergedächtnis nicht allein die von Siegern (nicht nur im militärischen Sinne) geschriebene Geschichte Gültigkeit beanspruchen kann. Zum anderen mag es dem Archivar tröstlich erscheinen, dass angesichts einer Aushebungsstatistik, welche die einmalige Benutzung einer Akte innerhalb von 35 Jahren konstatiert, soviel Wert auf die (freilich unhörbare) Vielstimmigkeit des Zusammengetragenen und Bewahrten gelegt wird. So könnte es erscheinen, wenn nicht einer zu uns – dem Archivar, dem Archivbenutzer, dem Historiker – sprechenden „Stimme“ der Dokumente kaum noch Beachtung zukäme. Nicht eine Geschichte der Medien, sondern die technische Materialität der Medien der Geschichte steht im Vordergrund. Diskursivität ist Ernst per se verdächtig; in den großen historischen Narrationen (Nation, Fortschritt etc.) sei stets Ge schich te(tes) in Macht übersetzt – und vice versa: Macht auf Historie umgepolt –, stets fragmentarische in erfüllte Existenz umgedeutet worden. Zu sehr habe heutiges geschichtswissenschaftliches Selbstverständnis Droysens auf Akten über Staats- und Verwaltungstätigkeiten bezogenes „Aus Geschäften wird Geschichte, aber sie sind nicht Geschichte“ als Imaginations- und Narrationsparadigma internalisiert. Die Herrscher über das Gedächtnis, so heißt es tendenziös, bedienten die Adressaten nach Belieben. Ernsts Wunschbild ist aber ein Gedächtnis, welches sein eigener Adressat ist; er möchte, dass beide in eins fallen, um perspektivisch motivierter Verfügbarkeit über Gespeichertes zu entgehen. Ernsts These lässt sich durchaus kulturkritisch im Sinne Adornos verstehen: der Waren- und Ausstellungscharakter des Gesammelten und Gespeicherten erst gibt den Anlass zur Verführung, Verdrehung, Unterschlagung, kurz zum (konstruktiv-konstruierten) Missbrauch. Auf Daten übertragen scheint diese Auffassung, um bei Adorno zu bleiben, eine Art anti-kapitalistischen Zug aufzuweisen: Zwar handelt es sich um ein Sammeln um des Anhäufens willen, jedoch soll offenbar das Gesammelte nicht wieder in Umlauf gebracht werden. Die Fürsprache für das Monument anstatt des Dokuments, für das Datum anstatt der Information, für Übertragung anstatt von Kommunikation, für Deskription anstatt von Hermeneutik, für Gedächtnis anstatt Erinnerung bedeutet zugleich eine Absage gegenüber der diskursiven Distribution, der fortlaufenden Abfassung und Verbreitung von Texten über und dem Dialog mit in Archiven Gespeichertem. Dieses vermehrt sich bereits durch das vielfältige Leben (von der Verwaltungsakte bis zum Nachlass), dessen pluralistisches Auf - kommen in allen Eigenheiten und Unarten völlig gleich bedeutend aufzunehmen ist. Das Gespeicherte, so lässt sich im Sinne der medientheoretischen Herangehensweise sagen, spricht mit sich selbst, ohne sich zu zerstückeln und narrativ zu rekonfigurieren. Ernst scheint versessen auf das Historische als eines (unzugänglichen) Eigenwerts, eine Geschichte, die gar nicht vorliegt, sondern sich erst im Medium des Archivs autopoetisch erzeugt. Dieses Synonym-Denken (Archiv = Geschichte, aber eine solche, die sich nicht schreiben, nicht erzählen lässt) erscheint nach zwei Seiten hin paranoid: zum einen in dem Wunsch, den Autor als Schöpfer und Gestalter loszuwerden (siehe Foucaults „Tod des Autors“), zum anderen in der Sorge um die so oft wiederlegte Unantastbarkeit von Geschichte als gesichertes Datum. Geschichte möchte Ernst nur noch als systemtheoretisch geschlossenes Universum denken. Als Signum dafür gilt ihm Goethes Durchnummerieren und anschließendes Versiegeln des „Faust“-Manuskripts. Insbesondere für die tägliche Praxis des Archivarsberufs hat das etwas Ungewöhnliches, ja Revoltierendes. Denn an welcher Stelle findet in Ernsts Auffassungsweise etwa noch eine – zweifelsohne immer sich an narrativ vermittelten Geschichtsdeutungen orientierende – Bewertung statt? Wie sollen die Probleme der Aufbewahrung und Magazinierung gelöst werden? Ernst denkt hier an die vielfältigen Möglichkeiten der elektronischen Datensicherung. Aber auch in Hinsicht auf die Biographie jedes Einzelnen wirkt die Dialogferne seiner Auffassung abweisend: Schauplätze der Geschichte werden als – oftmals verlorener oder vernichteter – Lebensraum nicht länger berücksichtigt noch gewürdigt. In einer gleichsam hermetisch geschützten Geschichte gibt es keine Vergessenheit und keine Erinnerung. Hinsichtlich der Arbeit und des Selbstverständnisses der Archive gelangt Ernst zu provokativen Schlussfolgerungen. Das Kassationsverfahren, die bewertende Auswahl von archivwürdigem Material (Ernst spricht diesbezüglich von einer Archiv und Ver - waltung übergestülpten Taxonomie) ist ihm äußerst verdächtig. Denn ebenso wie die Forschung als Akt narrativer Übersetzung sei sie Umpolung von Macht auf Geschichte. Archivographie, so sein Begriff, bedeutet ihm eine Verknappung der Historie. In diesem Zusammenhang bezieht Ernst sich auf Heinrich August Erhards Aufsatz „Ideen zur wissenschaftlichen Begründung und Gestaltung des Archivwesen“ (1834), der von ihm widersprüchlich gedeutet wird. Wenn Erhard davon spricht, Archive hätten „bibliotheksnah“ zu sein, so verweist er damit auf ihre Bedeutung sowohl für die Forschung als auch für die noch nicht abgeschlossene Registratur. Dies wird von Ernst auch anerkannt. Wenig später wird jedoch behauptet, Erhards Vorhaben habe darin bestanden, Archive aus der Verwaltung herauszulösen, um sie ganz zu historischen Instituten zu machen. Dies nutzt Ernst dann für ein Plädoyer für die Registratur als Aufzeichnungssystem, worunter die Theorie elektronischer Medien den Zwischen- im Unterschied zum Arbeitsspeicher verstehe, ein Aufschreibsystem das grundlegend von der „narratio rerum gestrum“ differiere. Das Pertinenzprinzip ist ihm unlieb und Napoleon gilt ihm als die große archiv- und mediengeschichtliche Katastrophe, indem das französische Prinzip der „fonds“ eben jenes Prinzip einführte, welches zu sehr der historischen Forschung in die Hände gearbeitet habe. Damit wird auch deutlich, wohin die Systemtheorie – ob nun unfreiwillig oder nichts weniger als das – tendiert: zu einer quasi metaphysischen Setzung ungebrochener Vollständigkeit und gesicherter Ewigkeit. Dem entspricht die unbändige Furcht vor dem Vergessenwerden, dem Verlust, vor Verfall und Tod – und das mechanistische Vorgehen gegen diesen. Vergessen und Tod sind nicht mehr zu fürchten, sie werden (vermeintlich) abgeschafft, denn alles ist ja da, vollständig, friedfertig und selbstgenügsam gespeichert. Das scheint nicht sowohl technizistisch als auch harmonistisch gedacht. Verdrängt wird mit dieser Theorie des kulturellen Gedächtnisses die traumatische Erfahrung, in der die kulturellen Aneignungen der Welt stets ihren Ursprung haben. Und ist Verwaltung, wie es einmal bei Ernst heißt, wirklich resistent gegenüber kulturemphatischem Deutungswillen? Ein mathematisch-abstrakt verstandenes Aufzeichnungssystem, das Ernst in der Registratur gegenüber dem Archiv zu sehen angibt,

mag als restlos und ideologiefern verstanden werden, als ein Speicher, der nicht lügt – kaum gilt dies aber für administrative Handlungen. Administratives Handeln beruht ja auf dem Material des Registraturspeichers, stützt sich darauf und verarbeitet es weiter. Verwaltungsdaten und Verwaltungstaten sowie vom Men - schen entworfene Aufschreibsysteme lassen sich nicht engelsgleich reden. Auch die in ihrer autopoetischen, non-narrativen Ideologieunanfälligkeit gepriesenen Daten einer Echtzeitregistratur (Proliferation und Speicherung in eins geschaltet, ohne historiographische Differenz) können, mit Walter Benjamins Worten, von einer Abkunft sein, die sich nicht ohne Grauen bedenken lässt. In seinem 2005 im Rahmen des 75. Deutschen Archivtages in Stuttgart gehaltenen Vortrag verdichtet Ernst die zum Teil verwirrend vielfältigen Zusammentragungen seines Buches. 2 Als zugleich geschichtswissenschaftlicher und medientheoretischer Beitrag zum Tagungsthema „Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus“ führt Ernst aus, die medientechnische Ver - zifferung menschlicher Individuen könne zunächst nicht als Symptom eines menschenverachtenden Blicks angesehen werden, vielmehr entspreche sie der Logik der Maschine. Ist aber diese, so lässt sich fragen, nicht vom Menschen erdacht und konstruiert? Wird die (im ethischen Sinne) reine Logik erst nachträglich durch Menschengeist missbraucht, ihre wesensmäßige Neutralität willentlich auf Gnadenlosigkeit umgestellt? In der Tat ist ein automatisiertes Datenverarbeitungsverfahren wie das der von Hermann Hollerith zum Zweck der amerikanischen Volkszählung erfundenen Lochkartenmaschine einsetzbar zur Identifikation jüdischer Mitbürger ebenso wie zur Konjunkturforschung und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Immer, und dieser Hinweis ist in Ernsts Argumentationsweise leicht zu übersehen, ist für das Funktionieren solcher Datenverarbeitung, der Karteiblätter oder Lochkarten etwa, eine Konfiguration durch den Menschen notwendig. Und dieser Vorgang ist für Ernst noch nicht gleichbedeutend mit Programmierung im rückkoppelbaren, sich im Prozess selbst modifizierenden, im quasi mitdenkenden, autopoetischen Sinne. Eben dies markiert den Unterschied zwischen bloßer Automatisierung und der Computisierung, welche die Möglichkeit freier Umprogrammierbarkeit einschließe. Und diese, so scheinen Ernsts Ausführungen zu implizieren, ist ideologisch nicht so leicht angreifbar. Ernst ist nicht davon zu überzeugen, dass die historiographische Erzählung die kalte Ästhetik des Speichervorgangs brechen sollte. Zwar streitet er nicht ab, dass die Gegenerzählung zur NS-Ideo - logie zur Notwendigkeit geworden sei, dennoch sei es ein diskursiv-ideologischer Akt gewesen, der sich der – bis heute in ihrer Kontinuität vollkommen intakten – Archivtechnik bedient habe. Die Ebene medial-instrumentaler Daten- und Objektprozessierung sei an sich, als pure Gegenwart ihrer Materialität, freizusprechen von den Machenschaften, die auf der diskursiven Ebene stattfänden – und dazu gehörten auch die unter dem NS-Regime verstärkte Öffnung der Archive und Museumsdepots, die massive Nutzung didaktischer Ausstellungsmodelle zu Zwecken der Propaganda. Dies alles trennt Ernst von dem resistenten Kern, den er Speichertechnologie und archivarischem Handwerk zu - erkennt. Seinem Befund nach, so Ernst in der Stuttgarter Podiumsdiskussion, habe sich kein Archivar zwischen 1933 und 1945 eines bewusst manipulativen Fehlers hinsichtlich seiner eigentlichen Aufgabe schuldig gemacht. Das könne freilich noch nicht in 155 direkten Widerstand umgedeutet, aber doch als Handlung eines ideologiefreien Ungehorsams gewürdigt werden. Gegenüber dem gesetzlichen Anspruch etwa, Änderungen von jüdischen Eigenoder slawischen Ortsnamen in Findbüchern vorzunehmen, hätten sämtliche Archivare sich verwahrt. Für gelegentliche ideologisch infizierte Ergänzungen seien eigene Akten angelegt worden, die heute neben der Originalakte vorlägen. Je unpolitischer die handwerkliche Ebene der Archivarbeit, desto redlicher der Widerstand gegenüber der Vereinnahmung, so Ernst. Maßnahmen gleich den wegretuschierten Trotzki-Köpfen habe es in deutschen Archiven zur Zeit des NS nicht gegeben. In Fragen der Mittäterschaft unterscheidet Ernst die Ebene der Aktenauskunft – diesbezüglich hätten Archivare sicherlich häufiger Enteignungen und Deportationen zu verschulden gehabt als viele Pfarrer, die sich gegen Auskünfte aus den Taufbüchern sperrten – und diejenige der eigentlichen, handwerklichen archivarischen Arbeit. Ernst übersieht dabei jedoch, dass sich die Professionalisierung des Archivwesens gerade in der Phase des Nationalsozialismus entwickelt hat. Archivare setzten die eigene Forschung, ihr Wissen und ihre Fertigkeiten für Vorbereitung und Unterstützung der Ostarbeit ein. Die den Vorgang des Sammelns, des Bewertens und Archivierens bestimmende Fragestellung an die Quellen – stets Einfallstor eines wissenschaftsexternen Movens – ließ sich für die Sippenforschung vereinnahmen. Und um auf die Ebene sowohl alltäglicher als sicherlich auch zeitloser Archivarbeit zu gelangen: Gerühmt wird hier die generelle Ideologieresistenz des archivarischen Handwerks – aber ist nicht die Aktenbildung, ja bereits eine Titelaufnahme ein von selektiver Wahrnehmung geprägtes Verfahren? Solche Überlegungen vernachlässigend, verbleibt Ernst zu sehr auf der technisch-ästhetisierenden Seite, derjenigen der strukturellen und medialen Materialität des Archivs. Ein gutes Argument gegen das Konzept der Technizität und Non-Diskursivität bildet die Podiumsdiskussion des Stuttgarter Archivtages selbst. In ihrem Verlauf scheint Ernst sich nicht mehr ganz sicher über die Hauptaussage seines Buches zu sein, um schließlich auch einer ganz anderen Lesart Raum zu geben. Denn indem nüchtern konstatiert wird, Gedächtnismaßnahmen der Täter sowie der Opfer ständen in unheimlichem Medienverbund, denn Speichermedien seien indifferent dem Diskurs von Tätern und Opfern gegenüber, so wird doch mit dieser These, unter Rekurs auf Mar shall McLuhans medien- und gesellschaftstheoretische Warnung, gerade die historische Diskursivität, gegenüber der sich Ernst so misstrauisch verhält, besonders in die Pflicht genommen, ein unerledigt Aufgegebenes im Blick auf sie betont. Dann zumal, wenn von der semantischen Indifferenz medialer Systeme wie von einer Gefahrenquelle gesprochen wird. Die oben bezeichnete Einseitigkeit des Buches hat somit doch ihren unbestreitbaren Verdienst: Sie schärft das Bewusstsein für den problematischen Umgang mit Gedächtnismedien überhaupt. Es wird nicht ganz klar, ob Ernst angesichts der angesprochenen Gefahren die Archive und Museumsdepots am liebsten verpanzern möchte, um erst gar keine narrative Deutung des dort Gespeicherten zuzulassen. Dies könnte so ausgelegt werden, dass 2 Ernst, Wolfgang: Archivische Technologien im Nationalsozialismus als Instrument der Täter und Gedächtnis der Opfer, in: Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart, hg. v. Verband deutscher Archivarinnen und Archivare, Redaktion Robert Kretzschmar ARCHIVAR 62. Jahrgang Heft 02 Mai 2009

mag als restlos und ideologiefern verstanden werden, als e<strong>in</strong><br />

Speicher, der nicht lügt – kaum gilt dies aber für adm<strong>in</strong>istrative<br />

Handlungen. Adm<strong>in</strong>istratives Handeln beruht ja auf dem Material<br />

des Registraturspeichers, stützt sich darauf und verarbeitet es<br />

weiter. Verwaltungsdaten und Verwaltungstaten sowie vom Men -<br />

schen entworfene Aufschreibsysteme lassen sich nicht engelsgleich<br />

reden. Auch die <strong>in</strong> ihrer autopoetischen, non-narrativen<br />

Ideologieunanfälligkeit gepriesenen Daten e<strong>in</strong>er Echtzeitregistratur<br />

(Proliferation und Speicherung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s geschaltet, ohne<br />

historiographische Differenz) können, mit Walter Benjam<strong>in</strong>s<br />

Worten, von e<strong>in</strong>er Abkunft se<strong>in</strong>, die sich nicht ohne Grauen<br />

bedenken lässt.<br />

In se<strong>in</strong>em 2005 im Rahmen des 75. Deutschen Archivtages <strong>in</strong><br />

Stuttgart gehaltenen Vortrag verdichtet Ernst die zum Teil verwirrend<br />

vielfältigen Zusammentragungen se<strong>in</strong>es Buches. 2 Als zugleich<br />

geschichtswissenschaftlicher und medientheoretischer<br />

Beitrag zum Tagungsthema „Das deutsche Archivwesen und der<br />

Nationalsozialismus“ führt Ernst aus, die medientechnische Ver -<br />

zifferung menschlicher Individuen könne zunächst nicht als<br />

Symptom e<strong>in</strong>es menschenverachtenden Blicks angesehen werden,<br />

vielmehr entspreche sie der Logik der Masch<strong>in</strong>e. Ist aber diese, so<br />

lässt sich fragen, nicht vom Menschen erdacht und konstruiert?<br />

Wird die (im ethischen S<strong>in</strong>ne) re<strong>in</strong>e Logik erst nachträglich<br />

durch Menschengeist missbraucht, ihre wesensmäßige Neutralität<br />

willentlich auf Gnadenlosigkeit umgestellt? In der Tat ist e<strong>in</strong><br />

automatisiertes Datenverarbeitungsverfahren wie das der von<br />

Hermann Hollerith zum Zweck der amerikanischen Volkszählung<br />

erfundenen Lochkartenmasch<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>setzbar zur Identifikation<br />

jüdischer Mitbürger ebenso wie zur Konjunkturforschung<br />

und Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsrechnung.<br />

Immer, und dieser H<strong>in</strong>weis ist <strong>in</strong> Ernsts Argumentationsweise<br />

leicht zu übersehen, ist für das Funktionieren solcher Datenverarbeitung,<br />

der Karteiblätter oder Lochkarten etwa, e<strong>in</strong>e Konfiguration<br />

durch den Menschen notwendig. Und dieser Vorgang ist für<br />

Ernst noch nicht gleichbedeutend mit Programmierung im<br />

rückkoppelbaren, sich im Prozess selbst modifizierenden, im<br />

quasi mitdenkenden, autopoetischen S<strong>in</strong>ne. Eben dies markiert<br />

den Unterschied zwischen bloßer Automatisierung und der<br />

Computisierung, welche die Möglichkeit freier Umprogrammierbarkeit<br />

e<strong>in</strong>schließe. Und diese, so sche<strong>in</strong>en Ernsts Ausführungen<br />

zu implizieren, ist ideologisch nicht so leicht angreifbar.<br />

Ernst ist nicht davon zu überzeugen, dass die historiographische<br />

Erzählung die kalte Ästhetik des Speichervorgangs brechen sollte.<br />

Zwar streitet er nicht ab, dass die Gegenerzählung zur NS-Ideo -<br />

logie zur Notwendigkeit geworden sei, dennoch sei es e<strong>in</strong> diskursiv-ideologischer<br />

Akt gewesen, der sich der – bis heute <strong>in</strong> ihrer<br />

Kont<strong>in</strong>uität vollkommen <strong>in</strong>takten – Archivtechnik bedient habe.<br />

Die Ebene medial-<strong>in</strong>strumentaler Daten- und Objektprozessierung<br />

sei an sich, als pure Gegenwart ihrer Materialität, freizusprechen<br />

von den Machenschaften, die auf der diskursiven Ebene<br />

stattfänden – und dazu gehörten auch die unter dem NS-Regime<br />

verstärkte Öffnung der <strong>Archive</strong> und Museumsdepots, die massive<br />

Nutzung didaktischer Ausstellungsmodelle zu Zwecken der<br />

Propaganda. Dies alles trennt Ernst von dem resistenten Kern,<br />

den er Speichertechnologie und archivarischem Handwerk zu -<br />

erkennt.<br />

Se<strong>in</strong>em Befund nach, so Ernst <strong>in</strong> der Stuttgarter Podiumsdiskussion,<br />

habe sich ke<strong>in</strong> Archivar zwischen 1933 und 1945 e<strong>in</strong>es<br />

bewusst manipulativen Fehlers h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er eigentlichen<br />

Aufgabe schuldig gemacht. Das könne freilich noch nicht <strong>in</strong><br />

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direkten Widerstand umgedeutet, aber doch als Handlung e<strong>in</strong>es<br />

ideologiefreien Ungehorsams gewürdigt werden. Gegenüber dem<br />

gesetzlichen Anspruch etwa, Änderungen von jüdischen Eigenoder<br />

slawischen Ortsnamen <strong>in</strong> F<strong>in</strong>dbüchern vorzunehmen,<br />

hätten sämtliche Archivare sich verwahrt. Für gelegentliche<br />

ideologisch <strong>in</strong>fizierte Ergänzungen seien eigene Akten angelegt<br />

worden, die heute neben der Orig<strong>in</strong>alakte vorlägen. Je unpolitischer<br />

die handwerkliche Ebene der Archivarbeit, desto redlicher<br />

der Widerstand gegenüber der Vere<strong>in</strong>nahmung, so Ernst. Maßnahmen<br />

gleich den wegretuschierten Trotzki-Köpfen habe es <strong>in</strong><br />

deutschen <strong>Archive</strong>n zur Zeit des NS nicht gegeben. In Fragen der<br />

Mittäterschaft unterscheidet Ernst die Ebene der Aktenauskunft<br />

– diesbezüglich hätten Archivare sicherlich häufiger Enteignungen<br />

und Deportationen zu verschulden gehabt als viele Pfarrer,<br />

die sich gegen Auskünfte aus den Taufbüchern sperrten – und<br />

diejenige der eigentlichen, handwerklichen archivarischen Arbeit.<br />

Ernst übersieht dabei jedoch, dass sich die Professionalisierung<br />

des Archivwesens gerade <strong>in</strong> der Phase des Nationalsozialismus<br />

entwickelt hat. Archivare setzten die eigene Forschung, ihr Wissen<br />

und ihre Fertigkeiten für Vorbereitung und Unterstützung der<br />

Ostarbeit e<strong>in</strong>. Die den Vorgang des Sammelns, des Bewertens und<br />

Archivierens bestimmende Fragestellung an die Quellen – stets<br />

E<strong>in</strong>fallstor e<strong>in</strong>es wissenschaftsexternen Movens – ließ sich für die<br />

Sippenforschung vere<strong>in</strong>nahmen. Und um auf die Ebene sowohl<br />

alltäglicher als sicherlich auch zeitloser Archivarbeit zu gelangen:<br />

Gerühmt wird hier die generelle Ideologieresistenz des archivarischen<br />

Handwerks – aber ist nicht die Aktenbildung, ja bereits<br />

e<strong>in</strong>e Titelaufnahme e<strong>in</strong> von selektiver Wahrnehmung geprägtes<br />

Verfahren?<br />

Solche Überlegungen vernachlässigend, verbleibt Ernst zu sehr<br />

auf der technisch-ästhetisierenden Seite, derjenigen der strukturellen<br />

und medialen Materialität des Archivs. E<strong>in</strong> gutes Argument<br />

gegen das Konzept der Technizität und Non-Diskursivität bildet<br />

die Podiumsdiskussion des Stuttgarter Archivtages selbst. In<br />

ihrem Verlauf sche<strong>in</strong>t Ernst sich nicht mehr ganz sicher über die<br />

Hauptaussage se<strong>in</strong>es Buches zu se<strong>in</strong>, um schließlich auch e<strong>in</strong>er<br />

ganz anderen Lesart Raum zu geben. Denn <strong>in</strong>dem nüchtern<br />

konstatiert wird, Gedächtnismaßnahmen der Täter sowie der<br />

Opfer ständen <strong>in</strong> unheimlichem Medienverbund, denn Speichermedien<br />

seien <strong>in</strong>different dem Diskurs von Tätern und Opfern<br />

gegenüber, so wird doch mit dieser These, unter Rekurs auf<br />

Mar shall McLuhans medien- und gesellschaftstheoretische<br />

Warnung, gerade die historische Diskursivität, gegenüber der sich<br />

Ernst so misstrauisch verhält, besonders <strong>in</strong> die Pflicht genommen,<br />

e<strong>in</strong> unerledigt Aufgegebenes im Blick auf sie betont. Dann<br />

zumal, wenn von der semantischen Indifferenz medialer Systeme<br />

wie von e<strong>in</strong>er Gefahrenquelle gesprochen wird. Die oben bezeichnete<br />

E<strong>in</strong>seitigkeit des Buches hat somit doch ihren unbestreitbaren<br />

Verdienst: Sie schärft das Bewusstse<strong>in</strong> für den problematischen<br />

Umgang mit Gedächtnismedien überhaupt.<br />

Es wird nicht ganz klar, ob Ernst angesichts der angesprochenen<br />

Gefahren die <strong>Archive</strong> und Museumsdepots am liebsten verpanzern<br />

möchte, um erst gar ke<strong>in</strong>e narrative Deutung des dort<br />

Gespeicherten zuzulassen. Dies könnte so ausgelegt werden, dass<br />

2 Ernst, Wolfgang: Archivische Technologien im Nationalsozialismus als Instrument<br />

der Täter und Gedächtnis der Opfer, <strong>in</strong>: Das deutsche Archivwesen und<br />

der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 <strong>in</strong> Stuttgart, hg. v. Verband<br />

deutscher Archivar<strong>in</strong>nen und Archivare, Redaktion Robert Kretzschmar<br />

<strong>ARCHIVAR</strong> 62. Jahrgang Heft 02 Mai 2009

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