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ARCHIVAR 209 - Archive in Nordrhein-Westfalen

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NON-DISKURSIVITÄT ALS<br />

PRIMÄRFUNKTION DES<br />

ARCHIVS?<br />

ANSATZ ZU EINER AUSEINANDER -<br />

SETZUNG MIT WOLFGANG ERNSTS<br />

MEDIEN ÄSTHETISCHEM ARCHIV -<br />

BEGRIFF 1<br />

Die Studie von Wolfgang Ernst, erschienen 2003 als erweiterte<br />

Form e<strong>in</strong>er 1998 an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-<br />

Universität zu Berl<strong>in</strong> als Habilitationsschrift angenommenen<br />

Abhandlung, unternimmt es, die Kehrseite der Fabrikation von<br />

Vergangenheit zu untersuchen, e<strong>in</strong>es Prozesses also, welcher der<br />

öffentlichen E<strong>in</strong>sicht zumeist verborgen bleibt. Es geht um die<br />

gedächtnismediale Herstellung von Daten als Wissen über Vergangenheit,<br />

um das materielle und technische Dispositiv von<br />

Geschichte als Wertung und Deutung (und zwar für den Zeitraum<br />

von 1806 bis an die Grenzen zur mechanischen Datenverarbeitung<br />

von Vergangenheit). Ernst behandelt die konkrete Operativität<br />

von <strong>Archive</strong>n, Bibliotheken und Museen sowie nondiskursive<br />

Editions- und Hilfswissenschaften (Diplomatik,<br />

Annalistik, Statistik) als Aufzeichnungssysteme nationaler Zeit -<br />

räume. Hierbei gelangt er zu der These, auf ihrer technischen<br />

Ebene hätten <strong>in</strong>sbesondere <strong>Archive</strong> sich nicht vom NS-Regime<br />

verleiten lassen, ansonsten ließen sich die Namen der Opfer und<br />

ihr Schicksal nicht <strong>in</strong> der Weise aufarbeiten, wie dies nach 1945<br />

möglich geworden sei. Das Wesen des Sammelns und Speicherns,<br />

so wird <strong>in</strong>duziert, sei wertfrei oder doch wertungsneutral. Diese<br />

These, aufregend genug, wird allerd<strong>in</strong>gs erkauft, <strong>in</strong>dem – versteht<br />

man die medientheoretisch durchgeformte, zum Teil sehr jargonhaft<br />

geschriebene Arbeit recht – die erste Silbe im dritten Term<strong>in</strong>us<br />

ihres Untertitels gestrichen wird: ums Erzählen und Vermitteln<br />

geht es hier nicht mehr. Dah<strong>in</strong>ter verbirgt sich die Absicht<br />

e<strong>in</strong>es grundstürzenden Paradigmenwechsels: fort von dem letzt -<br />

lich immer noch gültigen und trotz e<strong>in</strong>iger Verstellung durch die<br />

gesellschaftliche Praxis auch noch geübten Pr<strong>in</strong>zip des sokratischen<br />

Dialege<strong>in</strong>. Da Ernst se<strong>in</strong>e These <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Beziehungsgeflechts<br />

von Kultur- und Literaturtheorie entwickelt, soll<br />

auch <strong>in</strong> diesem Rahmen zu e<strong>in</strong>er Erwiderung angesetzt werden.<br />

Zunächst ist festzustellen, dass das Buch es dem Leser nicht<br />

leicht macht, obschon es gerade dies <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Weise<br />

zu beabsichtigen vorgibt. Die der Studie vorangestellte Leseanweisung<br />

gibt ausdrücklich das Ziel vor, sich dem historischen<br />

Diskurs zu verweigern und eben damit nicht dem fragwürdigen<br />

phatischen Modell von Historie sich auszuliefern, das immer<br />

e<strong>in</strong>en Beobachterstandpunkt, e<strong>in</strong>e Referenz außerhalb des archivischen<br />

Apparats voraussetze. Für die Darstellungsweise des<br />

153<br />

Buches bedeutet das den Verzicht auf e<strong>in</strong>en roten Faden zugunsten<br />

der Synchronie thematischer Module; der Leser könne somit<br />

an jeder beliebigen Stelle e<strong>in</strong>setzen. Was bisweilen aussähe wie<br />

Unfähigkeit, die komplexe und disparate Materie durch Darstellung<br />

<strong>in</strong> den Griff zu bekommen, sei vielmehr Ausdruck der<br />

Weige rung, aus Bibliotheken und <strong>Archive</strong>n destillierte Datensätze<br />

zu e<strong>in</strong>em homogenen Ganzen zusammen zu zw<strong>in</strong>gen. Diese<br />

Methodik schlägt sich u. a. nieder <strong>in</strong> der Verunklarung e<strong>in</strong>geführter<br />

Begriffe bzw. der Stellung des Verfassers zu ihnen. So werden<br />

beispielsweise die Term<strong>in</strong>i „Fund“ und „Ausgrabung“ oder<br />

„Kulturemphase“ und „Pragmatismus“ als gegenteilige Pr<strong>in</strong>zipien<br />

e<strong>in</strong>ander gegenübergestellt, ohne dass immer ganz klar würde,<br />

welches Pr<strong>in</strong>zip der favorisierten Auffassung des Autors entspricht.<br />

Auch <strong>in</strong> ihrer Bezugnahme auf Archivwissenschaftliches<br />

verwickelt sich die Darstellung <strong>in</strong> Widersprüche.<br />

Dar<strong>in</strong> besteht jedoch die große Schwierigkeit e<strong>in</strong>er Rezeption des<br />

Buches: Der Anspruch auf das bewusst herbeigeführte Scheitern<br />

e<strong>in</strong>er hermeneutisch-kontrollierenden Interpretation der Befunde<br />

und die Inkaufnahme des fortwährenden Zusammenbruchs<br />

narrativer Kohärenz weisen ja e<strong>in</strong>e argumentativ-l<strong>in</strong>ear vorgehende<br />

Befassung mit dem Werk (wenn von e<strong>in</strong>em solchen überhaupt<br />

noch zu sprechen ist) von Beg<strong>in</strong>n an zurück. Am stimmigsten<br />

wäre aus Sicht des Autors (und kann denn auch von ihm noch<br />

gesprochen werden?) wohl, man wiese statt e<strong>in</strong>er kohärenten<br />

Rezension e<strong>in</strong>en Zettelkasten se<strong>in</strong>er Lesee<strong>in</strong>drücke vor, womöglich<br />

ergänzt durch e<strong>in</strong> mit Anstreichungen und Anmerkungen<br />

versehenes Exemplar des Buches als e<strong>in</strong>e Art Hypertext. Dennoch<br />

soll an dieser Stelle e<strong>in</strong>e andere Zugangsweise gefunden werden –<br />

nicht zuletzt um auf die eigentümliche Stärke und Bedeutung des<br />

Buches aufmerksam zu machen.<br />

Bezüglich der Ernstschen Hauptthese ist zunächst festzuhalten,<br />

dass das angeblich ideologieunanfällige Sammeln, Ordnen und<br />

Speichern jeglicher Form von Ideologie stets ihren Nährboden<br />

geboten hat. Ernst sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> diesem Zusammenhang zu bedenken<br />

zu geben, dass wir <strong>in</strong> kultureller H<strong>in</strong>sicht und im Bezug auf<br />

Vergangenheit und Gegenwart lieber re<strong>in</strong> <strong>in</strong>formationstechnologisch<br />

uns verhalten sollten anstatt im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er emphatisch<br />

verstandenen Historie und e<strong>in</strong>er fortwährenden wertungsbefangenen<br />

Geschichtsaufarbeitung.<br />

1 Wolfgang Ernst: Im Namen von Geschichte. Sammeln - Speichern - Er/zählen.<br />

Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses, München:<br />

Wilhelm F<strong>in</strong>k 2003 (1140 Seiten).<br />

<strong>ARCHIVAR</strong> 62. Jahrgang Heft 02 Mai 2009

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