ARCHIVAR 209 - Archive in Nordrhein-Westfalen
ARCHIVAR 209 - Archive in Nordrhein-Westfalen
ARCHIVAR 209 - Archive in Nordrhein-Westfalen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
220<br />
Überlieferung. Er war mit der Rüstungsgeschichte im sog. Dritten<br />
Reich so vertraut, dass er darüber <strong>in</strong> der Zeitschrift „Technikgeschichte“<br />
1966 publizierte. Zuständig war er auch für die Akten<br />
der Reichswirtschaftsverwaltung und des Beauftragten für den<br />
Vierjahresplan. Die Überlieferung des Bundes spielte damals<br />
noch ke<strong>in</strong>e wesentliche Rolle.<br />
Auf Grund se<strong>in</strong>es gewandten Auftretens und se<strong>in</strong>er vorzüglichen<br />
englischen Sprachkenntnisse vertraute die Leitung des Bundesarchivs<br />
Alfred Wagner – bereits mehrere Monate vor dessen Verbeamtung<br />
auf Lebenszeit – auch die politisch wie fachlich wichtige<br />
Verantwortung für die Rückführung deutschen Archivguts aus<br />
alliiertem Gewahrsam an. Vom 7. Januar bis 5. März 1960 (Der<br />
Archivar 14/1961, Sp. 52 f.) hielt er sich im Auftrag des Bundesm<strong>in</strong>isteriums<br />
des Innern im Großraum Wash<strong>in</strong>gton D.C. auf, um <strong>in</strong><br />
den amerikanischen Verwahrstellen (National <strong>Archive</strong>s, Department<br />
of the Army, Library of Congress) Material zum deutschen<br />
Widerstand gegen das NS-Regime zu ermitteln. Im ersten Monat<br />
se<strong>in</strong>er Tätigkeit wurde er von ke<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>geren als Rechtsanwalt<br />
Fabian von Schlabrendorff, dem Justiziar des Hilfswerkes 20. Juli<br />
1944, unterstützt. Se<strong>in</strong> Reisebericht aus den USA gehörte für mich<br />
zur Pflichtlektüre, als ich zu Beg<strong>in</strong>n des Jahres 1973 für die<br />
Rückführung verantwortlich wurde. Wagner berichtete nicht nur<br />
von den bekannten amerikanischen Archivaren Bahmer, Grover<br />
und Schellenberg, sondern auch von Fritz T. Epste<strong>in</strong> und <strong>in</strong>sbesondere<br />
von Ernst Posner, seit 1921 am Preußischen Geheimen<br />
Staatsarchiv tätig, 1935 als Jude entlassen, 1938 <strong>in</strong>s KZ Sachsenhausen<br />
verschleppt und 1939 über Schweden <strong>in</strong> die USA geflohen.<br />
Dort war er nicht nur am Aufbau des jungen Nationalarchivs<br />
führend beteiligt, sondern entwickelte sich auch zu e<strong>in</strong>em „hervorragenden<br />
amerikanischen Theoretiker des Archiv- und Regis -<br />
traturwesens“ (Wagner) und lehrte als Verwaltungshistoriker an<br />
der American University <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton. Alfred Wagner und se<strong>in</strong>e<br />
Frau pflegten freundschaftliche Kontakte zu Ernst Posner <strong>in</strong><br />
Wash<strong>in</strong>gton und später <strong>in</strong> Wiesbaden ebenso <strong>in</strong>tensiv wie zu<br />
Betty und Paul Alsberg, dem aus Wuppertal stammenden State<br />
Archivist of Israel. Wagner hätte es sicher gefreut, wenn er noch<br />
erlebt hätte, dass der Neubau des Bundesarchivs <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-<br />
Lichterfelde den Namen Ernst Posners trägt. Se<strong>in</strong>e Tätigkeit und<br />
se<strong>in</strong> Auftreten bei jenem Aufenthalt <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten<br />
dürften den Grundste<strong>in</strong> für das Vertrauen gelegt haben, dass er –<br />
gerade 40 Jahre alt – <strong>in</strong> der Folgezeit nicht nur im Bundesarchiv,<br />
sondern gerade auch beim vorgesetzten Bundesm<strong>in</strong>isterium des<br />
Innern und im Auswärtigen Amt genoss.<br />
Alfred Wagner mag schon durch se<strong>in</strong>e damalige Tätigkeit das<br />
Bedürfnis gespürt haben, das Vertrauen ausländischer Kollegen,<br />
das er nicht nur <strong>in</strong> Amerika erworben hatte, auch über das<br />
Bundesarchiv und die Bundesrepublik Deutschland h<strong>in</strong>aus zum<br />
Wohle des Archivwesens e<strong>in</strong>zusetzen. Jedenfalls waren diejenigen,<br />
die <strong>in</strong> Bonn über Abordnungen deutscher Beamter an <strong>in</strong>ter -<br />
nationale Organisationen zu entscheiden hatten, gern bereit, den<br />
am 20. Mai 1965 zum Oberarchivrat ernannten Beamten mit<br />
Wirkung vom 1. Januar 1968 zu beurlauben, um ihn zur UNES-<br />
CO nach Paris zu entsenden. Dort war er vom 3. Januar 1968 bis<br />
Ende Mai 1975 tätig, zunächst als „programme specialist“ im<br />
Communication Sector (Division of Development of documentation,<br />
libraries and archives services) <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>stufung P-3, wurde<br />
aber schon im selben Jahr nach P-4 befördert. Er war der erste<br />
Archivar, der bei der UNESCO arbeitete.<br />
Wagner war von se<strong>in</strong>er Aufgabe begeistert. Er wollte auch se<strong>in</strong>e<br />
deutschen Kollegen überzeugen, dass e<strong>in</strong>e fachliche Verpflichtung<br />
<strong>ARCHIVAR</strong> 62. Jahrgang Heft 02 Mai 2009<br />
NACHRUFE<br />
bestand, den Aufbau der <strong>Archive</strong> vor allem <strong>in</strong> der dritten Welt<br />
durch abgestimmte <strong>in</strong>ternationale Zusammenarbeit zu fördern.<br />
Jedenfalls veröffentlichte er bereits 1969 (Der Archivar 22, Sp. 257<br />
ff.) e<strong>in</strong>en Beitrag „Die UNESCO und das Archivwesen“, den er<br />
fast schwelgerisch mit den Worten schloss: „Bei dem Geist kolle -<br />
gialer Geschlossenheit und freundschaftlichen Zusammenwirkens,<br />
der die kle<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Archivars-Familie durchdr<strong>in</strong>gt,<br />
ist diese günstige Konstellation, die selbst die Hemmnisse adm<strong>in</strong>istrativer<br />
Bürokratie weitgehend zu neutralisieren vermag, von<br />
unschätzbarem Wert für die Arbeit zum geme<strong>in</strong>samen Ziel“. In<br />
enger Zusammenarbeit mit Charles Kecskeméti, der bis 1998<br />
unter wechselnden Amtsbezeichnungen die Seele des Internationalen<br />
Archivrats (ICA) war, unterstützte Alfred Wagner vor allem<br />
die jungen Staaten der Dritten Welt unabhängig davon, ob sie sich<br />
der früheren Kolonialmacht verbunden fühlten oder nicht. Jeden -<br />
falls war es <strong>in</strong> diesem Zusammenhang weder e<strong>in</strong> Nachteil, Bürger<br />
e<strong>in</strong>es geteilten Landes zu se<strong>in</strong>, das se<strong>in</strong>e „Schutzgebiete“ bereits<br />
im 1. Weltkrieg verloren hatte, noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zentralarchiv gearbeitet<br />
zu haben, das nicht über Akten aus den Kolonien ver fügte.<br />
Wenn es bis heute e<strong>in</strong> im Ganzen funktionierendes System der<br />
regionalen Zusammenarbeit der <strong>Archive</strong> der Dritten Welt im<br />
Rahmen der Regionalverbände des ICA gibt, dann ist dies der<br />
engen Zusammenarbeit zwischen UNESCO und ICA <strong>in</strong> jenen<br />
Jahren zu danken. Besonders bemerkenswert ist Wagners Erfolg<br />
Ende 1970 bei der Gründung zweier Archivschulen <strong>in</strong> Afrika,<br />
e<strong>in</strong>er frankophonen <strong>in</strong> Dakar und e<strong>in</strong>er anglophonen <strong>in</strong> Accra. Es<br />
war ihm gelungen, die erforderlichen f<strong>in</strong>anziellen Mittel aus dem<br />
Entwicklungsprogramm der Vere<strong>in</strong>ten Nationen (UNDP) zu<br />
erhalten; er betreute den Aufbau der Schulen und kümmerte sich<br />
während se<strong>in</strong>er gesamten Tätigkeit bei der UNESCO um sie. In<br />
handelnden Personen ausgedrückt sorgten Alfred Wagner und<br />
Charles Kecskeméti geme<strong>in</strong>sam dafür, dass das eurozentrische<br />
Archivwesen die Dritte Welt nicht nur nicht vergaß, sondern<br />
heute noch nachvollziehbar stetig förderte. Die damalige Zusammenarbeit<br />
zwischen der ersten und dritten Welt manifestiert sich<br />
bis zum gegenwärtigen Tage <strong>in</strong> der großartigen Serie der Inventare<br />
„Guides to the History of Nations“, deren e<strong>in</strong>ziger Fehler es<br />
ist, nicht bekannt genug zu se<strong>in</strong>. Die Hoffnung, die Konflikte um<br />
die Kolonialakten und die Archivalienverlagerungen durch<br />
Kriegs ereignisse mit Hilfe e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>ternationalen Rechts<strong>in</strong>struments<br />
wenigstens theoretisch oder grundsätzlich zu lösen, erfüllten<br />
sich leider nicht und mussten <strong>in</strong> der Folgezeit aufgegeben<br />
werden. Nicht e<strong>in</strong>mal die Pläne, durch e<strong>in</strong> großzügiges Programm<br />
der Mikroverfilmung die Streitigkeiten zu verr<strong>in</strong>gern,<br />
kamen über Ansätze h<strong>in</strong>aus.<br />
Nach se<strong>in</strong>er Rückkehr <strong>in</strong> das Bundesarchiv am 1. Juni 1975 wurde<br />
Alfred Wagner – bereits am 11. Oktober 1971 zum Archivdirektor<br />
befördert – mit der Leitung der Abteilung II „Staatliches Schriftgut“<br />
betraut, die nicht nur für das Aktengut des Deutschen<br />
Reiches, sondern auch für die Überlieferung der westlichen Be -<br />
satzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland zuständig<br />
war. Nun spielten die Altakten der Obersten und Oberen Bundesbehörden<br />
und Gerichte e<strong>in</strong>e bedeutende Rolle, die Wagner – von<br />
Siegfried Büttner loyal unterstützt – pflichtbewusst annahm und<br />
erfüllte. Er war der jüngeren Archivarsgeneration e<strong>in</strong> kluger<br />
Berater und menschliches Vorbild.<br />
Se<strong>in</strong>e persönlich gew<strong>in</strong>nende Art, se<strong>in</strong> Verständnis für andere<br />
Kulturen und se<strong>in</strong>e perfekte Beherrschung der englischen und<br />
französischen Sprache legten den Gedanken nahe, ihn auch<br />
künftig im <strong>in</strong>ternationalen Archivwesen wenigstens nebenamtlich