BGH, Urteil vom 5. Dezember 1974, BGHSt 26, 35 – Regenrohr ...

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Universitäts-Repetitorium der Humboldt-Universität zu Berlin BGH, Urteil vom 5. Dezember 1974, BGHSt 26, 35 Regenrohr Sachverhalt: Wirt Waldemar hat mit seiner Ehefrau eine kleine Gaststätte gepachtet. An einem Herbstabend, als Waldemar seine Gäste alleine bedienen muss, da seine Ehefrau krank und keine Hilfskraft vorhanden ist, betritt Anton zwar angetrunken, aber nicht merkbar betrunken die Gaststätte. Waldemar schenkt ihm auf Verlangen zwei Glas Bier und danach noch vier Schnäpse aus, die Anton schnell trinkt, sodass er alsbald stark betrunken ist, was auch Waldemar nunmehr erkennt. Sein mehrfach abgegebenes Angebot, ein Taxi zu bestellen, lehnt Anton ab. Als Anton die Gaststätte verlassen will, es aber trotz mehrfacher Anläufe nicht schafft, die Türe zu öffnen, führt ihn Waldemar hinaus, damit er nicht über die zum Bürgersteig hinabführenden drei Stufen stürzt. Auf der Strasse torkelt Anton so stark, dass ihn Waldemar festhalten muss. Erneut lehnt Anton aber das Angebot ab, ihm ein Taxi zu bestellen. Als Waldemar erkennt, dass Anton uneinsichtig ist, sich andererseits aber nicht mehr auf den Beinen halten kann, fasst er ihn schließlich am Arm, lehnt ihn an die Hauswand und rät ihm, sich so lange an dem Regenrohr festzuhalten, bis er wieder nüchtern sei. Dann geht Waldemar in seine Gaststätte zurück, weil er diese nicht unbeobachtet lassen will und zudem glaubt, zu mehr nicht verpflichtet zu sein. Wenig später torkelt Anton auf die Straße, kommt dort zu Fall und wird von einem PKW erfasst und getötet. Hat sich Waldemar strafbar gemacht? Thema: Garantenstellung aus Ingerenz und faktischer Übernahme Materialien: () Universitäts-Repetitorium der Humboldt-Universität zu Berlin / Strafrecht / Prof. Heinrich

Universitäts-Repetitorium der Humboldt-Universität zu Berlin<br />

<strong>BGH</strong>, <strong>Urteil</strong> <strong>vom</strong> <strong>5.</strong> <strong>Dezember</strong> <strong>1974</strong>, <strong>BGH</strong>St <strong>26</strong>, <strong>35</strong> <strong>–</strong> <strong>Regenrohr</strong><br />

Sachverhalt: Wirt Waldemar hat mit seiner Ehefrau eine kleine Gaststätte<br />

gepachtet. An einem Herbstabend, als Waldemar seine Gäste<br />

alleine bedienen muss, da seine Ehefrau krank und keine Hilfskraft<br />

vorhanden ist, betritt Anton zwar angetrunken, aber nicht merkbar betrunken<br />

die Gaststätte. Waldemar schenkt ihm auf Verlangen zwei<br />

Glas Bier und danach noch vier Schnäpse aus, die Anton schnell<br />

trinkt, sodass er alsbald stark betrunken ist, was auch Waldemar nunmehr<br />

erkennt. Sein mehrfach abgegebenes Angebot, ein Taxi zu<br />

bestellen, lehnt Anton ab. Als Anton die Gaststätte verlassen will, es<br />

aber trotz mehrfacher Anläufe nicht schafft, die Türe zu öffnen, führt<br />

ihn Waldemar hinaus, damit er nicht über die zum Bürgersteig hinabführenden<br />

drei Stufen stürzt. Auf der Strasse torkelt Anton so stark,<br />

dass ihn Waldemar festhalten muss. Erneut lehnt Anton aber das Angebot<br />

ab, ihm ein Taxi zu bestellen. Als Waldemar erkennt, dass Anton<br />

uneinsichtig ist, sich andererseits aber nicht mehr auf den Beinen<br />

halten kann, fasst er ihn schließlich am Arm, lehnt ihn an die Hauswand<br />

und rät ihm, sich so lange an dem <strong>Regenrohr</strong> festzuhalten, bis er<br />

wieder nüchtern sei. Dann geht Waldemar in seine Gaststätte zurück,<br />

weil er diese nicht unbeobachtet lassen will und zudem glaubt, zu<br />

mehr nicht verpflichtet zu sein. Wenig später torkelt Anton auf die<br />

Straße, kommt dort zu Fall und wird von einem PKW erfasst und getötet.<br />

Hat sich Waldemar strafbar gemacht?<br />

Thema: Garantenstellung aus Ingerenz und faktischer Übernahme<br />

Materialien: (<strong>–</strong>)<br />

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Universitäts-Repetitorium der Humboldt-Universität zu Berlin<br />

Lösungsübersicht:<br />

A. Strafbarkeit Waldemars wegen Totschlags durch Unterlassen<br />

gemäß §§ 212 I, 13 I StGB (<strong>–</strong>)<br />

B. Strafbarkeit Waldemars wegen Aussetzung mit Todesfolge gemäß<br />

§ 221 I, III StGB<br />

I. Tatbestand<br />

1. Objektiver Tatbestand<br />

a) Hilflose Lage (+)<br />

b) Tathandlung des § 221 I Nr. 1 StGB (<strong>–</strong>)<br />

c) Tathandlung des § 221 I Nr. 2 StGB (+)<br />

aa) Im Stich Lassen (+)<br />

bb) Garantenstellung aus Ingerenz: str., ob Alkoholausschank<br />

hierfür ausreichen kann<br />

cc) Garantenstellung aus faktischer Übernahme<br />

(+)<br />

d) Taterfolg: Lebensgefahr für Anton (+)<br />

2. Subjektiver Tatbestand: bedingter Vorsatz, Kenntnis der<br />

die Garantenpflicht begründenden Umstände (+)<br />

3. Erfolgsqualifikation des § 221 III StGB: Anton kam zu<br />

Tode, § 18 StGB liegt vor (+)<br />

II. Rechtswidrigkeit: keine wirksame Einwilligung in Gefährdung<br />

(+)<br />

III. Schuld: Irrtum über Reichweite der Garantenpflicht war<br />

vermeidbar (+)<br />

C. Strafbarkeit Waldemars wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen<br />

gemäß §§ 222, 13 I StGB, aber subsidiär (+)<br />

D. Strafbarkeit Waldemars wegen unterlassener Hilfeleistung<br />

gemäß § 323c StGB (<strong>–</strong>)<br />

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Lösungsvorschlag:<br />

A. Strafbarkeit Waldemars wegen Totschlags durch Unterlassen<br />

gemäß §§ 212 I, 13 I StGB<br />

Waldemar könnte sich dadurch, dass er Anton an der Regenrinne stehend<br />

in betrunkenem Zustand zurückließ, wegen eines Totschlags<br />

durch Unterlassen strafbar gemacht haben. Eine Strafbarkeit Waldemars<br />

wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 I StGB<br />

scheitert vorliegend aber am fehlenden Tötungsvorsatz. Als Waldemar<br />

sich entschloss, Anton nicht mittels eines Taxis oder der Polizei in Sicherheit<br />

zu bringen, wusste er zwar, dass Anton sich in einer gefährlichen<br />

Situation befand. Darin lag allerdings nur eine latente Gefahr,<br />

denn es war sehr ungewiss, ob Anton in einen Unfall verwickelt oder<br />

gar tödlich verletzt werden würde. Waldemar hat darauf vertraut, dass<br />

alles gut gehen werde. Auch war ihm Anton nicht gleichgültig, wie seine<br />

Bemühungen um ihn gezeigt haben. Im Ergebnis kommt eine Strafbarkeit<br />

wegen Totschlags durch Unterlassen daher nicht in Betracht.<br />

B. Strafbarkeit Waldemars wegen Aussetzung mit Todesfolge gemäß<br />

§ 221 I, III StGB<br />

Waldemar könnte sich aber dadurch, dass er Anton zunächst hinausbegleitete<br />

und bzw. oder ihn anschließend an der Regenrinne stehend in<br />

betrunkenem Zustand zurückließ, wegen einer vollendeten Aussetzung<br />

gemäß § 221 I StGB strafbar gemacht haben, infolge derer später auch<br />

Antons Tod gemäß § 221 III StGB verursacht wurde.<br />

I. Tatbestand<br />

1. Objektiver Tatbestand<br />

Waldemar müsste zunächst den objektiven Tatbestand des § 221 I<br />

StGB verwirklich haben.<br />

a) Hilflose Lage<br />

Anton müsste sich in einer hilflosen Lage gemäß § 221 I StGB befun-<br />

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den haben. Unter einer solchen versteht man eine Situation, in der sich<br />

das Opfer nicht selbst vor der Gefahr des Todes oder einer schweren<br />

Gesundheitsschädigung zu schützen oder zu helfen vermag. Infolge<br />

des erheblichen Alkoholkonsums verlor Anton die eigene Steuerungsfähigkeit,<br />

so dass er sich in einer Gefahrensituation nicht selbst hätte<br />

schützen oder helfen können.<br />

b) Tathandlung des § 221 I Nr. 1 StGB<br />

Fraglich ist, ob Waldemar den Anton durch sein Handeln in eine hilflose<br />

Lage versetzt hat.<br />

Versetzen i.S.v. § 221 I Nr. 1 StGB bedeutet das räumliche Verbringen<br />

des Opfers infolge des bestimmenden Einflusses des Täters. Dies kann<br />

durch die Anwendung von Gewalt, aber auch durch Täuschung oder<br />

Drohung geschehen. Ein Versetzen liegt daher regelmäßig dann nicht<br />

vor, wenn das Opfer freiverantwortlich seine hilflose Lage herbeigeführt<br />

hat und der Täter ihm dabei nur behilflich war.<br />

Durch den Alkoholausschank hat Willi den Anton jedenfalls nicht vorsätzlich<br />

in die hilflose Lage versetzt, denn er konnte Antons leichte<br />

(Vor)Alkoholisierung nicht erkennen. Zudem war Anton noch vollständig<br />

selbst steuerungsfähig als er die Kneipe betrat, so dass dieser sich eigenverantwortlich<br />

in die hilflose Lage versetzte.<br />

Allerdings könnte Waldemar den Anton dadurch, dass er ihn aus der<br />

Gastwirtschaft herausbrachte, in eine hilflose Lage versetzt haben.<br />

Laut Sachverhalt hat Waldemar dem Anton hier aber lediglich geholfen,<br />

das Lokal zu verlassen, als sich dieser aus eigenem Entschluss auf den<br />

Weg machen wollte. Daher kann vorliegend nicht angenommen werden,<br />

dass Waldemar den Anton in eine hilflose Lage versetzt hat. Vielmehr<br />

hatte Anton sich vorher durch seinen Alkoholkonsum bereits<br />

selbst hilflos gemacht. Waldemar hat ihm dann nur noch bei der Überwindung<br />

der Treppe geholfen.<br />

Im Ergebnis liegt damit ein (aktives) Versetzen gemäß § 221 I Nr. 1<br />

StGB nicht vor.<br />

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c) Tathandlung des § 221 I Nr. 2 StGB<br />

Waldemar könnte sich aber dadurch, dass er Anton auf der Straße stehen<br />

ließ, wegen einer vollendeten Aussetzung nach § 221 I Nr. 2 StGB<br />

strafbar gemacht haben.<br />

aa) Im Stich Lassen<br />

Ein Im Stich Lassen liegt regelmäßig dann vor, wenn der schutzpflichtige<br />

Täter die zur Abwendung der hilflosen Lage erforderliche und zumutbare<br />

Beistandsleistung unterlässt.<br />

Hier hat Waldemar den Anton im Stich gelassen. Zur Abwendung der hilflosen<br />

Lage, in der sich Anton aufgrund seiner Trunkenheit befand, konnte<br />

es nicht ausreichen, ihn auf denm Weg zu begleiten und anschließend sich<br />

selbst zu überlassen. Vielmehr hätte Waldemar aktiv, auch gegen Antons<br />

Willen ein Taxi rufen, ihn bis zur Ausnüchterung in seinem Lokal festhalten<br />

oder der Polizei übergeben können.<br />

bb) Garantenstellung aus Ingerenz<br />

Fraglich ist aber, ob Waldemar eine für § 221 I Nr. 2 StGB erforderliche<br />

Obhutspflicht innehatte, die ihn zur Hilfeleistung verpflichtete. Diese<br />

Pflichtenstellung ist identisch mit einer allgemeinen Garantenstellung<br />

i.S.v. § 13 I StGB.<br />

In Betracht kommt vorliegend eine Garantenstellung Waldemars aus<br />

Ingerenz, wenn der Alkoholausschank an Anton als pflichtwidriges<br />

Vorverhalten anzusehen war.<br />

Insoweit ist zu prüfen, ob das Ausschenken von Alkohol im vorliegenden<br />

Fall pflichtwidrig war. Nach der Rechtsprechung ist das Ausschenken<br />

von Alkohol grundsätzlich weder pflicht- noch rechtswidrig, sondern<br />

sozial üblich. Dies gelte jedoch nicht bei erkennbarer Volltrunkenheit.<br />

Hierfür spricht auch, dass es einem Gastwirt bereits nach den Vorschriften<br />

des Gaststättengesetzes untersagt ist, einem Gast, der erkennbar<br />

volltrunken ist, weiter Alkohol auszuschenken.<br />

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Nachdem Waldemar hier die Volltrunkenheit Antons erkannt hatte, hätte<br />

er ihm keinen weiteren Alkohol mehr ausschenken dürfen. Problematisch<br />

ist allerdings, dass Waldemar die Volltrunkenheit erst nach dem<br />

Ausschenken des letzten Schnapses bemerkte.<br />

Es fragt sich also, ob es zur Begründung der Garantenstellung bereits<br />

ausreichen kann, dass ein Wirt bemerkt, dass sein vorangegangenes<br />

Ausschenken von Alkohol den Gast in den Zustand der Volltrunkenheit<br />

versetzte, ohne dass er, der Wirt, dies jedoch zuvor erkennen konnte.<br />

Nach Ansicht der Rechtsprechung ist dies der Fall, weil der Wirt, nachdem<br />

er die Volltrunkenheit seines Gastes erkannt hat, davon ausgehen<br />

muss, dass zumindest das Ausschenken des letzten Glases Alkohol objektiv<br />

pflichtwidrig war und zu der Volltrunkenheit führte. Dem ist jedoch<br />

zu widersprechen. Ein bloßes späteres Erkennen der Volltrunkenheit<br />

durch den Wirt kann den vorangegangen Alkoholausschank nicht<br />

nachträglich bzw. rückwirkend pflichtwidrig machen. Die Ansicht der<br />

Rechtsprechung ist in sich widersprüchlich, wenn sie die Pflichtwidrigkeit<br />

einerseits an der erkennbaren Volltrunkenheit des Gastes festmacht,<br />

also auch ein subjektives Element verlangt, andererseits aber unvorsätzliches<br />

Ausschenken von Alkohol und bloßes späteres Erkennen der<br />

Volltrunkenheit ausreichen lassen will. Demnach verhielt sich Waldemar<br />

nicht pflichtwidrig, indem er dem zunächst angetrunken und später<br />

volltrunkenen Anton Alkohol in seiner Gastwirtschaft ausschenkte.<br />

cc) Garantenstellung aus faktischer Übernahme<br />

Durch das Hinausbegleiten ist allerdings eine Garantenstellung aus faktischer<br />

Übernahme entstanden. Waldemar führte Anton in volltrunkenem<br />

Zustand hinaus auf die Straße. Er steigerte damit die Gefahr, dass Anton<br />

schwer verletzt oder getötet werden könnte, erheblich, denn es ist kaum<br />

zu bestreiten, dass Anton auf der Straße weit größeren Gefahren ausgesetzt<br />

war als in der Gastwirtschaft. Hierbei muss auch unberücksichtigt<br />

bleiben, dass Waldemar an sich handelte, um Anton behilflich zu sein. Insoweit<br />

hat Waldemar seine Garantenpflicht verletzt, indem er es unterließ,<br />

ein Taxi zu rufen oder die Polizei zu benachrichtigen. Das Anlehnen<br />

an die Hauswand und die Empfehlung, sich am <strong>Regenrohr</strong> festzuhalten,<br />

genügten seiner besonderen Handlungspflicht indes nicht. Auch<br />

der Umstand, dass Anton sich weigerte, ein Taxi zu nehmen, ist unbe-<br />

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achtlich und führt nicht zu Unzumutbarkeit der Hilfsmaßnahme seitens<br />

des Waldemar, denn Anton war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr<br />

zurechnungsfähig. Vielmehr musste Waldemar hier aufgrund des hohen<br />

Stellenwertes des Lebens auch gegen Antons Willen ein Taxi bestellen,<br />

die Polizei zu rufen oder ihn in seiner Gaststätte festhalten. Mithin unterlag<br />

Waldemar einer Garantenstellung aus faktischer Übernahme,<br />

welche wiederum eine Obhutspflicht gemäß § 221 I Nr. 2 StGB begründete.<br />

d) Taterfolg<br />

Durch das Zurücklassen auf dem Fußgängerweg geriet Anton in die konkrete<br />

Gefahr des Todes bzw. einer schweren Gesundheitsschädigung, denn<br />

die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls war mangels eigener Steuerungsfähigkeit<br />

Antons sowie der stark befahrenen, unmittelbar neben dem Weg verlaufenden<br />

Strasse erheblich gesteigert. Die von § 221 I StGB geforderte<br />

Gefahr für Antons Leben lag daher vor, wie nicht zuletzt auch der Erfolgseintritt<br />

zeigt.<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

Waldemar wusste, dass er Anton in einer hilflosen Lage verließ. Er hatte<br />

daher zumindest bedingten Vorsatz bezüglich einer Gefährdung i.S.v.<br />

§ 221 I StGB.<br />

Fraglich ist aber, ob und wie es sich auswirkt, dass Waldemar irrtümlich<br />

davon ausging, alles seinerseits Erforderliche getan zu haben, in dem er<br />

Anton an die Hauswand lehnte und ihm riet, sich an dem <strong>Regenrohr</strong><br />

festzuhalten. Waldemar unterlag insofern einem Irrtum über seine Obhutspflicht.<br />

Da selbige ein objektives Tatbestandsmerkmal des § 221 I<br />

Nr. 2 StGB ist, befand sich Waldemar in einem Irrtum auf Tatbestandsebene.<br />

Somit ist zu klären, ob es sich hierbei um einen Tatbestandsirrtum<br />

gemäß § 16 StGB oder einen Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB handelte.<br />

Für einen Tatbestandsirrtum wäre erforderlich gewesen, dass<br />

Waldemar sich über das Vorliegen der tatsächlichen Umstände, welche<br />

seine Obhutspflicht begründeten, geirrt hätte. Ein Verbotsirrtum läge<br />

hingegen dann vor, wenn Waldemar seine Obhutspflicht gegenüber Anton<br />

zwar erkannte, deren Reichweite aber falsch einschätzte. Letzteres<br />

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ist hier der Fall. Spätestens als Waldemar den Anton auf die Strasse begleitete,<br />

erkannte er dessen Volltrunkenheit. Dabei musste ihm auch<br />

bewusst sein, dass diese erst durch den weiteren Alkoholausschank in<br />

der Gastwirtschaft entstanden sein konnte, denn Anton war beim Betreten<br />

der Kneipe nicht offensichtlich angetrunken. Auch dem Sachverhalt<br />

ist zu entnehmen, dass Waldemar sich zwar schon zu einem gewissen<br />

Handeln in Form des Behilflichseins gegenüber Anton verpflichtet sah.<br />

Nur sah er die von ihm auch als solche erkannte Pflicht irrtümlich bereits<br />

dadurch erfüllt, dass er Anton hinaus begleitete, an der Hauswand<br />

alleine stehen ließ und diesem lediglich dazu riet, sich an dem <strong>Regenrohr</strong><br />

festzuhalten. Demnach befand sich Anton nicht in einem Tatsachen-,<br />

sondern in einem Rechtsirrtum. Dieser stellt sich auf Tatbestandsebene<br />

als Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB dar und kann allenfalls,<br />

nämlich bei Unvermeidbarkeit, zu einem Entfallen der Schuld,<br />

nicht aber des Vorsatzes führen. Im Ergebnis bleibt es damit trotz Irrtum<br />

bei einem hinreichenden Vorsatz des Waldemar.<br />

3. Erfolgsqualifikation des § 221 III StGB<br />

Infolge der schweren Körperverletzung kam Anton zu Tode. Antons<br />

Tod müsste Waldemar zumindest fahrlässig gemäß § 18 StGB verursacht<br />

haben. Hätte Waldemar den Anton nicht im Stich gelassen, sondern<br />

sich weiter um ihn gekümmert, wäre dieser nicht auf die Strasse<br />

gefallen und tödlich verletzt worden. Das Zurücklassen eines Volltrunkenen<br />

an einer Strasse birgt typischerweise auch die Gefahr, dass dieser<br />

auf die Fahrbahn gerät und von einem Fahrzeug erfasst wird. Dieses<br />

typische Risiko hat sich im vorliegenden Fall realisiert. Die Todesfolge<br />

ist daher fahrlässig durch das Im-Stich-Lassen verursacht worden.<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

Die Tat war mangels Vorliegen von Rechtfertigungsgründen auch<br />

rechtswidrig. Insbesondere kommt eine wirksame rechtfertigende Einwilligung<br />

Antons in die Gefährdung nicht in Betracht, da er infolge seiner<br />

Volltrunkenheit nicht mehr die notwendige Einsichts- und <strong>Urteil</strong>sfähigkeit<br />

besaß.<br />

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III. Schuld<br />

Waldemar handelte auch schuldhaft. Zwar unterlag Waldemar, wie oben<br />

festgestellt, einem Irrtum über die Reichweite seiner Obhutsstellung<br />

gegenüber Anton. Jedoch war dieser Verbotsirrtum vermeidbar, denn<br />

von Waldemar als langjährig tätigem Gastwirt war eine entsprechende<br />

Kenntnis seiner Pflichten gegenüber seinen Gästen zu erwarten gewesen.<br />

Demnach kann Waldemars Verbotsirrtum hier nicht gemäß § 17 S. 1 StGB<br />

zum Entfallen der Schuld führen.<br />

IV. Ergebnis<br />

Waldemar hat sich nach § 221 I Nr. 2, III StGB strafbar gemacht.<br />

C. Strafbarkeit Waldemars wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen<br />

gemäß §§ 222, 13 I StGB<br />

Auch eine Strafbarkeit nach §§ 222, 13 I StGB ist gegeben. Die erforderlichen<br />

Tatbestandsmerkmale, nämlich Antons Tod, die Nichtvornahme<br />

der zumutbaren und gebotenen Handlung durch Waldemar, eine<br />

Garantenstellung bzw. Obhutspflicht Waldemars, sowie die Kausalität<br />

der Verletzung der Obhutspflicht für Antons Tod liegen vor. Zudem<br />

wurde auch Waldemars Fahrlässigkeit im Hinblick auf Antons Tod im<br />

Rahmen der Ausführungen zu § 221 III StGB bereits festgestellt. Damit<br />

wurden von Waldemar zugleich auch §§ 222, 13 I StGB erfüllt. Eine<br />

Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen wird im Ergebnis<br />

aber von § 221 I Nr. 2, III StGB verdrängt, da dieses hier das<br />

speziellere Delikt ist.<br />

D. Strafbarkeit Waldemars wegen unterlassener Hilfeleistung<br />

gemäß § 323c StGB<br />

Waldemar könnte sich zudem nach § 323c StGB strafbar gemacht haben,<br />

indem er Anton im Zustand der Volltrunkenheit allein auf der Straße<br />

zurückließ. Jedoch fehlt es für den objektiven Tatbestand der unterlassenen<br />

Hilfeleistung hier bereits an einem Unglücksfall. Die Trunkenheit<br />

Antons reicht für die Annahme eines solchen nicht aus, weil hierunter<br />

regelmäßig ein plötzlich eintretendes Ereignis zu verstehen ist. Ein<br />

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Alkoholrausch ist aber schon per se kein plötzlich eintretendes Ereignis.<br />

Im Ergebnis scheidet damit eine Strafbarkeit Waldemars nach § 323c<br />

StGB aus.<br />

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