BGH, Beschluss vom 10. März 1954 - unirep - Humboldt-Universität ...
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<strong>Universität</strong>s-Repetitorium der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Universität</strong> zu Berlin<br />
<strong>BGH</strong>, <strong>Beschluss</strong> <strong>vom</strong> <strong>10.</strong> <strong>März</strong> <strong>1954</strong> – GSSt 4/53 = <strong>BGH</strong>St 6, 147 –<br />
Gashahn<br />
Sachverhalt: Anton und seine Ehefrau Berta haben eine gespanntes Verhältnis,<br />
da Berta eine Beziehung zu einem anderen Mann, dem Dieter, führt.<br />
Dennoch leben Anton und Berta noch in einer gemeinsamen Wohnung,<br />
schlafen allerdings in getrennten Schlafzimmern. Eines Tages beschließt<br />
Berta aus nicht näher aufzuklärenden Gründen, sich das Leben zu nehmen.<br />
An jenem Tag kehrt Anton früh morgens von seiner Arbeit als Kellner zurück<br />
in die Wohnung. Er findet das Schlafzimmer seiner Frau verschlossen<br />
und die drei Gashähne am Herd voll aufgedreht vor. Er schließt sämtliche<br />
Gashähne zu und verlässt anschließend das Haus, obwohl er davon ausgeht,<br />
dass Berta eine Gasvergiftung erlitten hat. Er rechnet dabei jedoch<br />
weder damit, dass sie an dieser Gasvergiftung sterben könnte, noch damit<br />
dass sie einer weiteren gegenwärtigen Gefährdung ausgesetzt ist. Berta wird<br />
schließlich von einer Nachbarin gefunden, mit einer schweren Gasvergiftung<br />
in die nächste Klinik gebracht und dort gerettet. Wie hat Anton sich strafbar<br />
gemacht?<br />
Thema: Suizid als „Unglücksfall“ i.S. des § 323c StGB?<br />
Materialien: Arbeitsblatt BT Nr. 54<br />
Anmerkungen: --<br />
<strong>Universität</strong>s-Repetitorium der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Universität</strong> zu Berlin / Strafrecht / Prof. Heinrich
<strong>Universität</strong>s-Repetitorium der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Universität</strong> zu Berlin<br />
Lösungsübersicht:<br />
A. Versuchter Totschlag durch Unterlassen, §§ 212, 22, 13 I StGB<br />
- kein Vorsatz (–)<br />
B. Körperverletzung durch Unterlassen, §§ 223 I, 13 I StGB<br />
- keine Verschlechterung des körperlichen Zustands (–)<br />
C. Versuchte Körperverletzung durch Unterlassen, §§ 223 I, II,<br />
22, 13 I StGB<br />
- kein Vorsatz (–)<br />
D. Aussetzung, § 221 I Nr. 2 StGB<br />
- jedenfalls kein Vorsatz (–)<br />
E. Unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB<br />
I. Tatbestand<br />
1. Objektiver Tatbestand<br />
a) Vorliegen eines Unglücksfalls<br />
Problem: Stellt der Suizidversuch einen<br />
„Unglücksfall“ i.S.v. § 323c StGB dar?<br />
- <strong>BGH</strong>: Ja.<br />
- a.A.: Nein.<br />
b) Nichtvornahme der Hilfeleistung (+)<br />
c) Erforderlichkeit der Hilfeleistung (+)<br />
d) Möglichkeit der Hilfeleistung (+)<br />
e) Zumutbarkeit der Hilfeleistung (+)<br />
2. Subjektiver Tatbestand (+)<br />
II. Rechtswidrigkeit und Schuld (+)<br />
III. Ergebnis<br />
<strong>Universität</strong>s-Repetitorium der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Universität</strong> zu Berlin / Strafrecht / Prof. Heinrich
<strong>Universität</strong>s-Repetitorium der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Universität</strong> zu Berlin<br />
Lösungsvorschlag:<br />
A. Strafbarkeit Antons wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen,<br />
§§ 212, 22, 13 I StGB<br />
Anton könnte sich durch das Zurücklassen Bertas wegen eines versuchten<br />
Totschlags durch Unterlassen gemäß §§ 212, 22, 13 I StGB<br />
strafbar gemacht haben. Die Tat wurde nicht vollendet, der Versuch<br />
des Totschlags ist strafbar gemäß § 23 I StGB, da es sich bei einer<br />
Mindeststrafe von Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren um ein<br />
Verbrechen im Sinne des § 12 I StGB handelt. Jedoch lässt sich dem<br />
Sachverhalt ein hinreichender Tatentschluss Antons im Hinblick auf<br />
eine Tötung Bertas nicht entnehmen. Anton hat sich somit nicht wegen<br />
eines versuchten Totschlags durch Unterlassen gemäß §§ 212, 22,<br />
13 I StGB strafbar gemacht.<br />
B. Strafbarkeit Antons wegen Körperverletzung durch Unterlassen,<br />
§§ 223 I, 13 I StGB<br />
Anton könnte sich durch das Liegenlassen Bertas wegen einer Körperverletzung<br />
durch Unterlassen gemäß §§ 223 I, 13 I StGB strafbar<br />
gemacht haben. Ein Taterfolg bestehend in einer körperlichen Misshandlung<br />
oder einer Gesundheitsschädigung. Eine Verschlechterung<br />
des Zustandes allein durch das Zurücklassen der Berta konnte jedoch<br />
nicht festgestellt werden. Daher ist bereits der objektive Tatbestand<br />
nicht erfüllt. Anton hat sich folglich nicht wegen einer Körperverletzung<br />
durch Unterlassen gemäß §§ 223 I, 13 I StGB strafbar gemacht.<br />
C. Strafbarkeit Antons wegen versuchter Körperverletzung durch<br />
Unterlassen, §§ 223 I, II, 22, 13 I StGB<br />
Eine weitere bzw. sich intensivierende Gesundheitsschädigung Bertas<br />
ist seit dem Hinzukommen des Anton nicht eingetreten, so dass das<br />
Zurücklassen der Berta allenfalls eine versuchte Körperverletzung<br />
durch Unterlassen darstellen kann. Der Versuch der Körperverletzung<br />
ist strafbar gemäß § 223 II StGB. Jedoch scheidet vorliegend auch<br />
eine Strafbarkeit Antons wegen versuchter Körperverletzung durch<br />
Unterlassen gemäß §§ 223 I, II, 22, 13 I StGB angesichts des fehlen-<br />
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den Tatentschlusses aus, denn dem Sachverhalt zufolge rechnete Anton<br />
nicht mit einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes<br />
der Berta.<br />
D. Strafbarkeit Antons wegen Aussetzung, § 221 I Nr. 2 StGB<br />
Anton könnte sich wegen einer Aussetzung strafbar gemacht haben,<br />
indem er Berta mit der Gasvergiftung allein in der Wohnung zurück<br />
ließ. Zwar hat Anton die Berta durch sein Verhalten in hilfloser Lage<br />
im Stich gelassen und dies, obwohl er als Ehemann ihr gegenüber eine<br />
Beistandspflicht im Sinne einer Beschützergarantenstellung hatte.<br />
Darüber hinaus ist jedoch schon auf objektiver Ebene nicht klar, ob<br />
überhaupt (noch) eine konkrete Gefahr des Todes oder die einer<br />
schweren Gesundheitsschädigung durch das Verlassen des Hauses<br />
bzw. Zurücklassen der Berta nach dem Abstellen der Gashähne bestand.<br />
Jedenfalls ging Anton nach dem Abstellen der Gashähne davon<br />
aus, dass sich Berta weder in Lebensgefahr, noch in der Gefahr einer<br />
weiter voranschreitenden Gesundheitsschädigung befand, so dass ihm<br />
im Ergebnis auch der erforderliche Vorsatz hinsichtlich einer Aussetzung<br />
Bertas fehlte. Anton hat sich damit auch nicht wegen Aussetzung<br />
gemäß § 221 I Nr. 2 StGB strafbar gemacht.<br />
E. Strafbarkeit Antons wegen unterlassener Hilfeleistung, § 323c<br />
StGB<br />
Anton könnte sich jedoch wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß §<br />
323c StGB strafbar gemacht haben, indem er Berta nach dem Abstellen<br />
der Gashähne allein in der Wohnung zurück ließ.<br />
I. Tatbestand<br />
1. Objektiver Tatbestand<br />
a) Vorliegen eines Unglücksfalls<br />
Da hier allein Berta und nicht die Allgemeinheit betroffen ist, scheiden<br />
sowohl gemeine Gefahr als auch Not als tatbestandsmäßige Situa-<br />
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tionen aus. Demnach müsste also das Vorliegen eines Unglücksfalls<br />
zu bejahen sein.<br />
Ein Unglücksfall ist ein plötzliches Ereignis, das erheblichen Schaden<br />
an Menschen oder Sachen verursacht und weiteren Schaden zu verursachen<br />
droht. Fraglich ist jedoch, ob auch ein versuchter Suizid als Unglücksfall<br />
zu betrachten ist. Nach einer Ansicht ist dies mit Blick auf die<br />
Straflosigkeit der Beihilfe zur Selbsttötung jedenfalls dann zu verneinen, wenn<br />
der Suizidversuch auf Grund freier, unbeeinflusster Entscheidung erfolgt.<br />
Eine solche freiverantwortliche Entscheidung sei zu respektieren.<br />
Hier liegen indes keine Anhaltspunkte dafür vor, ob die versuchte<br />
Selbsttötung eine Verzweiflungstat Bertas oder aber das Ergebnis einer<br />
freiverantwortlichen autonomen Entscheidung war. Diese faktische Unsicherheit<br />
spricht gegen die vorstehend genannte Ansicht insgesamt,<br />
denn oftmals ist nicht klar erkenn- bzw. aufklärbar, ob der Suizidversuch<br />
infolge einer freiverantwortlichen eigenen Entscheidung vorgenommen<br />
wurde oder ob es sich um eine Verzweiflungstat handelte.<br />
Daher stellt die Gegenansicht im Wesentlichen auf den zur Hilfe Aufgerufenen<br />
ab. Regelmäßig wird durch § 323c StGB zur Hilfeleistung verpflichtet,<br />
wer eine ernste Gefahrenlage wahrnimmt, welche sein Tätigwerden<br />
verlangt. Es ist dem Hinzukommenden kaum möglich, langwierige<br />
und in der Regel fruchtlose Überlegungen darüber anzustellen, ob<br />
der Suizident seine Tat zu Recht oder zu Unrecht, d.h. kraft freier Entschließung<br />
oder in geistiger Umnachtung, vorgenommen habe. Auch<br />
sprachlich bestehen keine Bedenken dagegen, die durch eine versuchte<br />
Selbsttötung herbeigeführte Gefahrenlage als Unglücksfall anzusehen.<br />
Nach dieser überzeugenden Ansicht ist daher ein Unglücksfall auch in<br />
der hier vorliegenden Konstellation eines Suizidversuchs zu bejahen.<br />
Weiterhin müsste Anton auch die ihm zur Abwendung des drohenden<br />
Schadens mögliche, erforderliche und zumutbare Hilfe nicht geleistet, also<br />
unterlassen haben.<br />
b) Nichtvornahme der Hilfeleistung<br />
Da hier ein Unglücksfall vorlag, hätte Anton, nachdem er diesen<br />
wahrgenommen hatte, entsprechende Maßnahmen zur Beseitigung<br />
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dieser Situation ergreifen müssen. Der Unglücksfall stellte sich vorliegend<br />
konkret in Form der Gasvergiftung Bertas dar. Durch das bloße<br />
Schließen der Gashähne konnte jedoch lediglich ein noch weiteres<br />
Voranschreiten der Gefährdung verhindert werden. Zu einer Beseitigung<br />
oder Milderung der bereits zu diesem Zeitpunkt objektiv eingetretenen<br />
Gesundheitsbeeinträchtigung Bertas führte die Handlung Antons<br />
indes nicht, so dass in dieser keine hinreichende Hilfeleistung zu<br />
Gunsten Bertas gesehen werden kann.<br />
c) Erforderlichkeit der Hilfeleistung<br />
Erforderlich ist eine Handlung als Hilfeleistung dann, wenn sie nach<br />
dem Urteil eines verständigen Beobachters geeignet und notwendig<br />
ist, um weitere drohende Schäden abzuwenden. Maßgeblich für die<br />
entsprechende Bewertung ist eine ex-ante-Betrachtung eines verständigen<br />
Beobachters. Regelmäßig gilt eine Hilfeleistung bereits dann als<br />
erforderlich, wenn durch sie einen Schadenseintritt erheblich gemindert<br />
werden kann oder von mehreren bedrohten Rechtsgütern wenigstens<br />
einige geschützt werden können. Hiernach entfällt die Erforderlichkeit<br />
der Handlung also nur dann, wenn jede Hilfe absolut nutzlos<br />
wäre.<br />
Vorliegend wäre es aus Sicht eines verständigen Beobachters in der<br />
konkreten Situation geboten gewesen, Berta, angesichts ihres Gesundheitszustandes,<br />
in ein Krankenhaus zu bringen oder zumindest telefonisch<br />
einen Notarzt herbeizurufen. Zutreffend ging Anton noch vor<br />
Ort davon aus, dass die in ihrem Schlafzimmer eingeschlossene Berta<br />
eine Gasvergiftung erlitten haben müsste, so dass ihm auch erkennbar<br />
war, welche Hilfeleistung hier geboten gewesen wäre.<br />
d) Möglichkeit der Hilfeleistung<br />
Unter lebensnaher Bewertung des vorliegenden Sachverhalts ist davon<br />
auszugehen, dass es Anton zumindest ohne weiteren Aufwand möglich<br />
gewesen wäre, telefonisch einen Notarzt zu verständigen.<br />
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e) Zumutbarkeit der Hilfeleistung<br />
Schließlich müsste Anton die Vornahme der erforderlichen Hilfeleistung<br />
auch zumutbar gewesen sein. Die Zumutbarkeit der Hilfeleistung<br />
kann entfallen, wenn der zur Hilfeleistung Verpflichtete, also der Unterlassungstäter<br />
i.S.v. § 323c StGB, sich durch die Vornahme der Hilfeleistung<br />
selbst soweit in Gefahr begeben müsste, dass seine eigenen<br />
Rechtsgüter oder die seiner Angehörigen bedroht würden. Dies war hier<br />
jedoch ersichtlich nicht der Fall. Anton hätte sich durch das Verbringen<br />
Bertas in ein Krankenhaus oder das Verständigen eines Notarztes in<br />
keiner Weise in Gefahr begeben müssen.<br />
Anton hat damit seine Hilfeleistungspflicht verletzt, so dass der objektive<br />
Tatbestand im Ergebnis erfüllt ist.<br />
2. Subjektiver Tatbestand<br />
Anton müsste vorsätzlich in Bezug auf die objektiven Tatbestandsmerkmale<br />
gehandelt haben. Es ist davon auszugehen, dass sich Anton<br />
auf Grund der vorgefundenen Situation sowohl über Bertas bedrohlichen<br />
Gesundheitszustandes bewusst war und auch erkannte, dass ein<br />
sofortiges Handeln angezeigt war. Gleichwohl ließ er sie nach dem<br />
Schließen der Gashähne zurück, ohne die weiteren möglichen, erforderlichen<br />
und auch zumutbaren Hilfeleistungen, wie z.B. das Rufen<br />
eines Notarztes, zu erbringen. Das Vorliegen des Vorsatzes ist daher<br />
zu bejahen.<br />
Der Tatbestand einer unterlassenen Hilfeleistung liegt damit sowohl in<br />
objektiver, als auch in subjektiver Hinsicht vor.<br />
II. Rechtswidrigkeit und Schuld<br />
Anton handelte auch rechtswidrig und schuldhaft.<br />
III. Ergebnis<br />
Anton hat sich wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323c StGB<br />
strafbar gemacht, indem er Berta ohne das Ergreifen weiterer Ret-<br />
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tungsmaßnahmen allein mit der Gasvergiftung in der Wohnung zurückließ.<br />
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