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1 Fall 3 - unirep - Humboldt-Universität zu Berlin

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<strong>Universität</strong>s-Repetitorium der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Universität</strong> <strong>zu</strong> <strong>Berlin</strong><br />

<strong>Fall</strong> 3: Betteln verboten<br />

Der Senat von <strong>Berlin</strong> hat eine Polizeiverordnung <strong>zu</strong>r Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und<br />

Ordnung auf und an öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen in <strong>Berlin</strong> (Straßen- und Anlagen-Polizeiverordnung<br />

– StrAnlPoVO) erlassen, die in ihren hier relevanten Teilen folgenden Wortlaut<br />

hat:<br />

§ 1 Geltungsbereich und Begriffsbestimmungen<br />

(1) Diese Polizeiverordnung gilt für öffentliche Straßen, öffentliche Anlagen und öffentliche Bedürfnisanstalten<br />

in <strong>Berlin</strong>.<br />

(2) Öffentliche Straßen im Sinne dieser Polizeiverordnung sind alle Straßen, Wege und Plätze, die dem öffentlichen<br />

Verkehr gewidmet sind oder auf denen ein tatsächlicher Verkehr stattfindet. Zu den öffentlichen Straßen<br />

gehören insbesondere die Fahrbahnen, Haltestellenbuchten, Haltestellen der öffentlichen Verkehrsbetriebe einschließlich<br />

der Zu- und Abgänge <strong>zu</strong> den Stationen, Verteilerebenen, Treppen und Bahnsteige, Parkplätze, Gehwege,<br />

ausgewiesene Fußgängerzonen, Fußgängerunterführungen sowie alle sonstigen Gehflächen in unterirdischen<br />

Verkehrsbauwerken, Böschungen, Stützmauern, Durchlässe, Brücken und Tunnels.<br />

(3) Öffentliche Anlagen im Sinne dieser Polizeiverordnung sind alle der Öffentlichkeit dienenden und <strong>zu</strong>gänglichen<br />

Gärten, Anpflan<strong>zu</strong>ngen, Alleen, sonstige Grünanlagen und Kinderspielplätze.<br />

§ 2 Straßen<br />

(1) Auf öffentlichen Straßen ist untersagt [...] das Betteln, [...].<br />

§ 3 Anlagen<br />

In den öffentlichen Anlagen ist untersagt [...] das Betteln, [...].<br />

Die Polizeiverordnung wurde auf § 55 ASOG Bln gestützt, ordnungsgemäß bekannt gemacht und trat<br />

am Tag nach der Bekanntgabe in Kraft.<br />

Zum Erlass der Verordnung haben den Senat verschiedene Erwägungen veranlasst. Zum einen stelle<br />

das Betteln schon aufgrund eines Verstoßes gegen § 11 des <strong>Berlin</strong>er Straßengesetzes eine abstrakte<br />

Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Daneben verstoße sowohl "einfaches", als auch besonders<br />

aggressives Betteln gegen die öffentliche Ordnung, da es in jedweder Form den Wertvorstellungen der<br />

Allgemeinheit von einem geordneten menschlichen Zusammenleben widerspreche.<br />

Wenig später wird Bettler B beim Betteln vor dem U-Bahnhof Wittenbergplatz angetroffen. Die Polizeibeamten<br />

verweisen B unter Hinweis auf die Verordnung, „nicht nochmals Passanten <strong>zu</strong> belästigen“.<br />

Welche rechtlichen Möglichkeiten hat B, wenn sein Widerspruch gegen die Verfügung keinen Erfolg<br />

hat?<br />

Aus<strong>zu</strong>g aus dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG):<br />

§ 118. Belästigung der Allgemeinheit.<br />

(1) Ordnungswidrig handelt, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit <strong>zu</strong><br />

belästigen oder <strong>zu</strong> gefährden und die öffentliche Ordnung <strong>zu</strong> beeinträchtigen.<br />

(2) ...<br />

<strong>Universität</strong>s-Repetitorium der HUB / Öffentliches Recht / WS 2009/2010<br />

Polizei- und Ordnungsrecht / Prof. Dr. Alexander Blankenagel<br />

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<strong>Universität</strong>s-Repetitorium der <strong>Humboldt</strong>-<strong>Universität</strong> <strong>zu</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Lösungsskizze <strong>Fall</strong> 3<br />

Vorüberlegung: Es kommt sowohl ein Vorgehen gegen die Verbotsverfügung, als auch ein Vorgehen<br />

gegen die Verordnung in Betracht.<br />

Direktes Vorgehen gegen die Verordnung:<br />

Die B könnten die Rechtmäßigkeit der StrAnlPoVO direkt gerichtlich überprüfen lassen, wenn das<br />

<strong>Berlin</strong>er Landesrecht die Normenkontrolle für untergesetzliches Recht gem. § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO<br />

vorsehen würde. Da das jedoch nicht der <strong>Fall</strong> ist (vgl. AGVwGO Bln), ist ihnen dieser Weg des direkten<br />

Rechtsschutzes versperrt.<br />

Vorgehen gegen die Verbotsverfügungen:<br />

Obersatz: In Betracht kommt eine Klage beim VG <strong>Berlin</strong>. Diese hätte Aussicht auf Erfolg, wenn sie<br />

<strong>zu</strong>lässig und begründet wäre.<br />

A. Zulässigkeit<br />

I. Verwaltungsrechtsweg § 40 Abs. 1 VwGO<br />

Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet, wenn es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit handelt.<br />

Hier treten die Polizeibeamten dem B hoheitlich gegenüber. Streitentscheidend sind Normen des öffentlichen<br />

Polizei- und Ordnungsrechts heran<strong>zu</strong>ziehen. Somit handelt es sich um eine öffentlicherechtliche<br />

Streitigkeit. Diese ist nicht verfassungsrechtlicher Art. Sonder<strong>zu</strong>weisungen sind nicht ersichtlich.<br />

II. Beteiligten- und Prozessfähigkeit<br />

A ist als natürliche Person und das Land <strong>Berlin</strong> als juristische Person gem. § 61 Nr. l VwGO beteiligtenfähig.<br />

Prozessfähigkeit ergibt sich aus § 62 I Nr. l VwGO für A als geschäftsfähige nat. Person und<br />

aus § 62 Abs. 3 VwGO für das Land <strong>Berlin</strong> als Vereinigung bei ordnungsgemäßer Vertretung.<br />

III. Statthafte Klageart<br />

Als statthafte Klageart kommt eine Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO in Betracht. Dafür<br />

müsste sich B gegen einen Verwaltungsakt wenden. Die Verfügung, keine Passanten mehr <strong>zu</strong> belästigen,<br />

stellt einen Verwaltungsakt gem. § 35 VwVfG dar. Sofern man, wofür allerdings der Sachverhalt<br />

nicht spricht, den Verweis nur als informativen Hinweis auf die Rechtslage versteht, wäre die allgemeine<br />

Leistungs/Unterlassungsklage einschlägig.<br />

IV. Klagebefugnis § 42 Abs. 2 VwGO<br />

Als Adressat der belastenden Verfügung besteht die Möglichkeit, dass B <strong>zu</strong>mindest in seinem Rechten<br />

aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt ist. Er ist somit klagebefugt gem. § 42 Abs. 2 VwGO (Adressatentheorie).<br />

V. Vorverfahren<br />

Ein Vorverfahren gem. §§ 68 ff. VwGO hat statt gefunden.<br />

VI. Form und Frist<br />

Die Klage müsste innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids erhoben werden<br />

(§ 74 Abs. 1 VwGO). Die Klage ist formgerecht gem. §§ 81, 82 VwGO <strong>zu</strong> erheben.<br />

VII. Richtiger Klagegegner<br />

Richtiger Klagegegner ist gem. § 78 Abs. 1 VwGO das Land <strong>Berlin</strong> als Rechtsträger.<br />

VIII. Ergebnis<br />

Eine Anfechtungsklage des B wäre <strong>zu</strong>lässig.<br />

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Polizei- und Ordnungsrecht / Prof. Dr. Alexander Blankenagel<br />

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B. Begründetheit<br />

Die Klage des B wäre begründet, wenn die Verfügung rechtswidrig und der B dadurch in seinen Rechten<br />

verletzt ist (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).<br />

I. Ermächtigungsgrundlage<br />

Als Ermächtigungsgrundlage für die Verfügung kommt § 17 Abs. 1 ASOG (Generalsklausel) in Betracht.<br />

§ 14 Abs. 1 BerlStrG wäre dagegen einschlägig, wenn es ausschließlich um die Beseitigung<br />

einer genehmigungspflichtigen Sondernut<strong>zu</strong>ng ginge.<br />

II. Formelle Rechtmäßigkeit<br />

1. Zuständigkeit der Ordnungsbehörde nach § 4 Abs. 2 AZG, § 2 Abs. 4 ASOG iVm ZustKatOrd<br />

kann dahin stehen, da die Eil<strong>zu</strong>ständigkeit der Polizei gem. § 4 Abs. 1 ASOG gegeben ist.<br />

2. Verfahren und mündliche Form gem. § 37 Abs. 2 VwVfG ordnungsgemäß.<br />

III. Materielle Rechtmäßigkeit<br />

1. Schutzgut<br />

Vorausset<strong>zu</strong>ng ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Von der öffentlichen Sicherheit<br />

sind umfasst der Schutz der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen sowie Unversehrtheit<br />

von Leben, Gesundheit, Ehre, Freiheit, Eigentum und Vermögen der Bürger. Hier kommt ein<br />

Verstoß gegen die StrAnlPoVO als Bestandteil der objektiven Rechtsordnung und damit Teil des<br />

Schutzgutes der öffentlichen Sicherheit in Betracht.<br />

Vorausset<strong>zu</strong>ng dafür ist allerdings, dass die Verordnung ihrerseits rechtmäßig ist.<br />

a) Rechtsgrundlage für die Verordnung<br />

Als Rechtsgrundlage ist in der Verordnung § 55 ASOG Bln genannt. Alternativ könnte man überlegen,<br />

ob § 25 des <strong>Berlin</strong>er Straßengesetzes ebenfalls eine solche Verordnungsermächtigung bietet. Die Verfassung<br />

von <strong>Berlin</strong> (Art.64 Abs. 1 S. 3 VvB) schreibt jedoch vor, dass die Rechtsgrundlage in jeder<br />

Verordnung an<strong>zu</strong>geben ist. Diese Formvorschrift hat dergestalt zwingenden Charakter, dass die Verordnung<br />

in ihrer Gültigkeit auch davon abhängig ist, ob die in ihr selbst bezeichneten Rechtsgrundlagen<br />

hinreichende Ermächtigungsgrundlage für ihren Erlass sind.<br />

Als Rechtsgrundlage ist daher ausschließlich der in der Verordnung genannte § 55 ASOG Bln <strong>zu</strong> prüfen.<br />

b) Formelle Rechtmäßigkeit der Verordnung<br />

Zu Zweifeln an der Einhaltung der Verfahrens- und Formvorschriften durch den Senat gibt der vorliegende<br />

Sachverhalt keinen Anlass.<br />

c) Materielle Rechtmäßigkeit<br />

aa) Abstrakte Gefahr: § 55 ASOG ermächtigt <strong>zu</strong>m Erlass einer Verordnung <strong>zu</strong>r Abwehr abstrakter<br />

Gefahren für die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt. Abstrakte Gefahr ist ein Sachverhalt,<br />

der typischer Weise und regelmäßig den Eintritt eines Schadens für ein polizeiliches Schutzgut<br />

befürchten lässt. Vorausset<strong>zu</strong>ng dafür wäre, dass die Bettelei typischerweise und regelmäßig <strong>zu</strong> konkreten<br />

Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung führt. (VGH Ba-Wü, DVBl 1999, 333ff).<br />

Unter einer konkreten polizeilichen Gefahr wird eine tatsächliche Sachlage verstanden, die bei ungehindertem<br />

weiteren Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit <strong>zu</strong> einem Schaden führt.<br />

Konkret ist die Gefahr, wenn sie im Einzelfall tatsächlich besteht (vgl. § 17 Abs. 1 ASOG). Welcher<br />

Wahrscheinlichkeitsgrad jeweils für die Schadensprognose erforderlich ist, ist, hängt sowohl vom Wert<br />

des <strong>zu</strong> schützenden Rechtsguts, als auch vom Rang desjenigen Rechtsguts ab, in das eingegriffen werden<br />

soll. Für den Verordnungsgeber, der eine abstrakte Gefahrenlage regelt, folgt, dass die ursächliche<br />

Verknüpfung zwischen dem verbotenen Tun und dem befürchteten Schaden um so wahrscheinlicher<br />

sein muss, je geringer dieser Schaden und je bedeutender das Rechtsgut ist, das durch den Eingriff, dh<br />

die Verbost-VO, beschränkt wird.<br />

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bb) Schutzgut: Das Betteln könnte <strong>zu</strong>nächst typischerweise und regelmäßig eine Gefahr für die öffentliche<br />

Sicherheit darstellen. Das polizeiliche Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfasst die<br />

Unversehrtheit von Leben, Freiheit, Ehre und Vermögen der Bürger, weiter die Unverletzlichkeit des<br />

Staates, seiner Einrichtungen und Veranstaltungen sowie der objektiven Rechtsordnung allgemein.<br />

Nach den Erwägungen des Senats soll ein Verstoß gegen das Straßengesetz vorliegen und daher eine<br />

Gefahr für die öffentliche Sicherheit unter dem Gesichtspunkt der <strong>zu</strong> schützenden objektiven Rechtsordnung<br />

bestehen. Während nach § 10 Abs. 2 BerlStrG der Gemeingebrauch der öffentlichen Straßen<br />

jedermann gestattet ist, bedarf die Sondernut<strong>zu</strong>ng der öffentlichen Straßen gem. § 11 Abs. 1 BerlStrG<br />

einer Erlaubnis. Gem. § 10 Abs. 1 BerlStrG ist Gemeingebrauch die widmungsgemäße Nut<strong>zu</strong>ng einer<br />

öffentlichen Straße im Rahmen der verkehrsrechtlichen Vorschriften. Kein Gemeingebrauch liegt<br />

dagegen vor, wenn jemand die Straße nicht vorwiegend <strong>zu</strong>m Verkehr, sondern <strong>zu</strong> anderen Zwecken<br />

benutzt. Der Begriff des Verkehrs ist dabei verfassungskonform so aus<strong>zu</strong>legen, dass er als "kommunikativer<br />

Verkehr" auch den individuellen Meinungs- und Informationsaustausch mit anderen Verkehrsteilnehmern<br />

umfasst. Ein Verstoß gegen die Erlaubnispflicht läge danach vor, wenn es sich beim<br />

verbotenen Betteln nicht mehr um Gemeingebrauch, sondern um eine Sondernut<strong>zu</strong>ng handelte.<br />

Bettler nutzen die öffentlichen Verkehrsflächen wie andere Verkehrsteilnehmer <strong>zu</strong>r Fortbewegung oder<br />

<strong>zu</strong>m Verweilen sowie <strong>zu</strong>m Meinungs- und Informationsaustausch. Ihr Verhalten bekommt straßenrechtlich<br />

keine andere Relevanz, weil es ggf. <strong>zu</strong>r Erwirtschaftung einer Lebensgrundlage dient. Ihr<br />

Verhalten unterfällt demnach straßenrechtlichen Gemeingebrauch und bedarf daher keiner Sondernut<strong>zu</strong>ngserlaubnis.<br />

Das Betteln verstößt danach also nicht regelmäßig und typischer Weise gegen das<br />

<strong>Berlin</strong>er Straßengesetz.<br />

Das Betteln könnte noch gegen Strafgesetze verstoßen. Der Bettel-Straftatbestand ist allerdings 1974<br />

gestrichen worden. Ein Bettelbetrug (§ 263 StGB) liegt nur vor, wenn die Bedürftigkeit nur vorgespiegelt<br />

wird und damit eine Täuschungshandlung iSd § 263 StGB unternommen wird. Davon ist nicht<br />

regelmäßig und typischerweise aus<strong>zu</strong>gehen. Von einer Nötigung gem. § 240 StGB kann jedenfalls beim<br />

(auch) untersagten Betteln in seiner "stillen" Form nicht ausgegangen werden. Ob eine aggressive,<br />

insbesondere mit Körperkontakt oder einem Verstellen des Weges verbundene Vorgehensweise des<br />

oder der Bettler unter § 240 StGB subsumiert werden kann und damit eine Verlet<strong>zu</strong>ng der öffentlichen<br />

Sicherheit begründet werden kann, ist vorliegend nicht relevant, da die StrAnlPoVO das Betteln generell<br />

und damit auch in seiner strafrechtlich unbedenklichen "stillen" Erscheinungsform erfasst.<br />

Das Betteln könnte regelmäßig und typischerweise gegen § 118 OWiG verstoßen, wenn es eine grob<br />

ungehörige Handlung darstellt, die geeignet ist, die Allgemeinheit <strong>zu</strong> belästigen oder <strong>zu</strong> gefährden und<br />

die öffentliche Ordnung <strong>zu</strong> beeinträchtigen. "Daß das Betteln als solches regelmäßig gegen die weithin<br />

anerkannten Regeln von Sitte, Anstand und Ordnung verstößt, kann nicht festgestellt werden. Zumindest<br />

das "stille" Betteln ist da<strong>zu</strong> nicht geeignet. Das seelische Unbehagen (schlechte Gewissen), das der<br />

regelmäßig still auf dem Bürgersteig sitzende Bettler einem nicht unerheblichen Teil der Passanten<br />

bereiten mag, erfüllt nicht den Tatbestand des § 118 OWiG.“ (VGH Ba-Wü, Rs 1 S 2630/97, Beschluß<br />

vom 6.7.1998, S. 11).<br />

Mangels Verstoßes gegen die objektive Rechtsordnung könnte das generelle Bettelverbot allenfalls<br />

noch <strong>zu</strong>lässig sein, wenn Betteln regelmäßig und typischerweise gegen die öffentliche Ordnung verstieße.<br />

"Die öffentliche Ordnung umfasst die Gesamtheit der sozialen Normen über das Verhalten des<br />

einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach ― durch die grundrechtlichen Wertmaßstäbe<br />

geprägter ― Anschauung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung unerlässliche Vorausset<strong>zu</strong>ng<br />

eines gedeihlichen staatsbürgerlichen und menschlichen Zusammenlebens ist. Vorausset<strong>zu</strong>ng für das<br />

polizeiliche Einschreiten ist ein sozial abträgliches Verhalten, welches das menschliche Miteinander<br />

nicht unerheblich beeinträchtigt und Gegenmaßnahmen gerade<strong>zu</strong> herausfordert. Danach kann von einer<br />

Störung der öffentlichen Ordnung jedenfalls durch ‚stilles’ Betteln nicht ausgegangen werden. Die<br />

Anwesenheit auf dem Bürgersteig sitzender Menschen, die in Not geraten sind und an das Mitleid und<br />

an die Hilfsbereitschaft von Passanten appellieren, muss von der Gemeinschaft jedenfalls in Zonen des<br />

öffentlichen Straßenverkehrs als eine Erscheinungsform des menschlichen Zusammenlebens hingenommen<br />

werden und kann folglich nicht –generell- als ein sozial abträglicher und damit polizeiwidriger<br />

Zustand gewertet werden." (VGH BA-Wü, aaO)<br />

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Polizei- und Ordnungsrecht / Prof. Dr. Alexander Blankenagel<br />

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Ob das auf Belästigung anderer angelegte "aggressive" Betteln eine Störung der öffentlichen Ordnung<br />

darstellt und Gegenmaßnahmen zwingend erforderlich macht, um ein gedeihliches Zusammenleben <strong>zu</strong><br />

gewährleisten, kann dahingestellt bleiben, da die StrAnlPoVO alle Formen des Bettelns erfasst. Der<br />

Einwand dagegen, dass die Differenzierung zwischen den verschiedenen Formen des Bettelns für den<br />

Normgeber nicht möglich und unpraktikabel sei, verkennt, dass durch eine Verordnung nur solche<br />

Handlungsweisen untersagt werden dürfen, die hinreichend klar und bestimmt schon abstrakt als eine<br />

Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung angesehen werden können.<br />

d) Ergebnis<br />

Für den Erlass der StrAnlPoVO fehlte es daher an den tatbestandlichen Vorausset<strong>zu</strong>ngen des § 55<br />

ASOG Bln. Die StrAnlPoVO ist somit rechtswidrig und daher nichtig.<br />

Im Weiteren könnte sich eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im konkreten <strong>Fall</strong><br />

ergeben, wenn das konkrete Betteln des B gegen die objektive Rechtsordnung verstieße. Die Ungültigkeit<br />

der StrAnlPoVO berührt nicht die Möglichkeit der Polizei, im Einzelfall nach der Generalklausel<br />

des § 17 Abs. 1 ASOG Bln gegen Bettler ein<strong>zu</strong>schreiten, wenn sie durch ihr konkretes Verhalten eine<br />

Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung begründen. Aber auch im konkreten <strong>Fall</strong> ist nicht<br />

davon aus<strong>zu</strong>gehen, dass das Betteln des als besonders aggressives oder betrügerisches Betteln eine<br />

Nötigung oder einen Betrug darstellt. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass das Betteln des B im konkreten<br />

<strong>Fall</strong> gemeinschädlich ist und damit ein Verstoß gegen § 118 OwiG oder die öffentliche Ordnung bedeuten<br />

würde.<br />

Einer im konkreten <strong>Fall</strong> unerlaubten Sondernut<strong>zu</strong>ng wäre nach § 14 Abs. 1 BerlStrG <strong>zu</strong> begegnen. Dies<br />

kann also keinen Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit im Rahmen von § 17 Abs. 1 ASOG darstellen<br />

(Spezialität des Straßenrechts).<br />

Folglich ist ein polizeiliches Schutzgut durch das Betteln des B nicht betroffen. Eine Maßnahme dagegen<br />

aufgrund des § 17 Abs. 1 ASOG ist rechtswidrig.<br />

2. Gefahr (Hilfs-)gutachtliche Prüfung<br />

Sollte die Verordnung entgegen der hier vertretenen Ansicht für rechtmäßig gehalten werden, müsste<br />

als weitere Vorausset<strong>zu</strong>ng des § 17 Abs. 1 ASOG im <strong>Fall</strong> die konkrete Gefahr des Verstoßes gegeben<br />

sein. Da B bettelnd angetroffen wurde, läge diese konkrete Gefahr vor, wenn angenommen wird, dass<br />

die Verordnung das Betteln rechtmäßig verbietet.<br />

3. Pflichtigkeit<br />

B ist als Verhaltensstörer gem. § 13 Abs. 1 ASOG polizeipflichtig.<br />

4. Bestimmtheit<br />

Polizei- und ordnungsbehördliche Verfügungen müssen den allgemeinen Grundsätzen an deren Bestimmtheit<br />

in § 37 Abs. 1 VwVfG genügen. Fraglich ist, ob die Verfügung „Passanten nicht nochmals<br />

<strong>zu</strong> belästigen“ diesen Anforderungen genügt. Der Betroffene als Adressat der Verfügung muss ihr<br />

zweifelsfrei entnehmen können, welches Verhalten von ihm verlangt wird. Maßgeblich ist der objektive<br />

Erklärungswert, wobei die Umstände des <strong>Fall</strong>s und die konkrete Situation berücksichtigt werden<br />

müssen. Dies gilt insbesondere bei mündlichen VAen. Hier wird B beim Betteln angetroffen und daraufhin<br />

angewiesen, Passanten nicht <strong>zu</strong> belästigen. Für den objektiven Empfänger ist eindeutig, dass<br />

damit das Betteln gemeint ist, auch wenn die Formulierung für sich genommen auch auf andere Verhaltensweisen<br />

bezogen werden könnte.<br />

5. Verhältnismäßigkeit<br />

Unterstellt die Tatbestandsvorausset<strong>zu</strong>ngen der Ermächtigungsgrundlage lägen vor, wäre die Aufforderung,<br />

das Betteln <strong>zu</strong> unterlassen geeignet, erforderlich und angemessen.<br />

6. Ermessen<br />

Ermessensfehler sind nicht ersichtlich.<br />

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IV. Ergebnis<br />

Die Verfügung ist mangels Gefahr für die öffentliche Sicherheit rechtswidrig.<br />

Gesamtergebnis:<br />

Eine Klage des B wäre <strong>zu</strong>lässig und begründet. Die Verfügung gegen ihn wird gem. § 113 Abs. 1 S. 1<br />

VwGO durch das Gericht aufgehoben.<br />

Rechtsprechung:<br />

• <strong>Fall</strong> entschieden für VO der Stadt Stuttgart von VGH Ba-Wü, Beschluß vom 6.7.1998, DVBl 1999, 333-335;<br />

DÖV 1998, 1015-1017.<br />

• Parallelfall <strong>zu</strong>m Betteln und Niederlassen <strong>zu</strong>m Zwecke des Alkoholgenusses in der Stadt Ravensburg entschieden<br />

vom VGH Ba-Wü am 6.10.1998, VBlBW 1999, 101-105.<br />

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