Materialsammlung
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Fatzer<br />
<strong>Materialsammlung</strong><br />
Spielzeit 2012/13
Inhalt<br />
A) Zur Einführung: Der schwarze Stern Seite 3<br />
B) Bertolt Brecht: Die Fatzer-Zeit Seite 5<br />
Mittenzwei, Werner: »Das Leben des Bertolt Brecht«<br />
C) Zum Text: Entstehung und Inhalt Seite 21<br />
Knopf, Jan: »Fatzer« - aus: »Brecht-Handbuch«<br />
Völker, Klaus: »Brecht-Kommentar«<br />
Brecht, Bertolt: »Arbeitsjournal«<br />
D) Zur Form: Theater/Fragment Seite 32<br />
Barck, Karlheinz: »Fragment« - aus: »Ästhetische Grundbegriffe«<br />
Müller, Heiner. »Wir machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind«<br />
Bosse, Claudia: »vorbemerkung zu einer dokumentation«<br />
E) Das Lehrstück Seite 73<br />
Steinweg, Reiner: »Das Lehrstück«<br />
F) Wer ist der Chor? Seite 90<br />
Brecht, Müller, Mickel, Standfest, Bosse, Dupius, Szeiler<br />
G) Aufführungsgeschichte/Deutungen Seite 93<br />
Knopf, Jan: »Fatzer« - aus: »Brecht-Handbuch«<br />
Wyss, Monika: »Brecht in der Kritik«<br />
Müller, Tobi: »Brecht/Müller, mal melodisch«<br />
Bosse, Claudia/theatercombinat: »Dokumentation«<br />
andcompany&Co.: »FatzerBraz«<br />
Müller, Heiner: »Fatzer plusminus Keuner«<br />
Müller, Heiner. »Es gilt, eine neue Dramaturgie zu finden«<br />
Müller, Heiner: »Notate zu Fatzer«<br />
H) Geschichten von Herrn Keuner Seite115<br />
I) Miscellanea Seite121<br />
Marighella, Carlos: »Minihandbuch für Stadtguerilleros«<br />
Müller, Heiner/Kluge. Alexander: »Transkript: Anti-Oper«<br />
Enzensberger, Hans Magnus: »Die Schrecken der Weimarer Republik«<br />
Natan, Alex: »B.B. und der Boxer«<br />
Müller, Heiner: Zwei Gespräche (Frank M. Raddatz, Wolfgang Heise)<br />
2
A) Zur Einführung: Der schwarze Stern<br />
»Fatzer« ist ein Mythos des deutschen Theaters, selten gespielt doch oft umraunt, der schwarze<br />
Stern im System »Brecht« – ein unvollendetes Textgebirge aus unzähligen Fragmenten, die auf<br />
immer neuen Flugbahnen um immer wieder dieselben Themen kreisen. Die Logik des Umsturzes,<br />
die Ausgrenzung und Ablösung vom Kollektiv als notwendiges Element der Individuation, das<br />
Verhältnis von revolutionärer Aktion, Gruppe und einzelnem, die Utopie in schweren Zeiten, das<br />
Fressen und die Moral: Darum geht‘s. Aber nicht nur. Denn Brechts Anliegen als Theatermacher<br />
tritt hier noch deutlicher hervor als in seinen anderen, vollendeten Arbeiten: Der politische Aspekt<br />
des Theaters liegt nicht nur in dem, was verhandelt wird, sondern vor allem auch darin, wie es<br />
verhandelt wird. »›Fatzer‹ spielen heißt: den Aufstand proben«, hat der Frankfurter<br />
Theaterwissenschaftler und Fatzer-Experte Nikolaus Müller-Schöll einmal geschrieben. Wie probt<br />
man also den Aufstand?<br />
Brechts Theorie des Lehrstücks, die er um 1930, also erst gegen Ende der Arbeit an den »Fatzer«-<br />
Texten, vor allem zusammen mit Kurt Weill und Elisabeth Hauptmann entwickelte, ging es um<br />
eben das: Theaterspiel als Mittel zur Schulung des einzelnen in seinem Verhältnis zu<br />
Gemeinschaft und Gesellschaft, als Mittel zur Schulung politischen und damit auch:<br />
aufständischen Verhaltens. Schon der Begriff des »Lehrstücks« lädt dabei zu Missverständnissen<br />
ein. Er schmeckt nach Didaktik, nach sozialistischer Zeigefingermoral, nach Agitprop. Dabei hatten<br />
Brecht und seine Teams eigentlich nichts weniger im Sinn als die Verkündung ewiger Wahrheiten<br />
von der Rampe herab. Im Gegenteil: Das Lehrstück sollte gerade der Darstellung von<br />
Widersprüchen und Fehlern dienen, es sollte immer auch gegensätzlich interpretierbar sein und<br />
somit den Spielenden, aber auch den Verfassern und Zuschauern immer wieder erneutes Lernen<br />
ermöglichen. Das Lehrstück ist somit eigentlich ein Lernstück. Doch für wen?<br />
Mit der Frage nach der Zielgruppe schließt sich gleich das zweite grundlegende Missverständnis<br />
des Begriffs an. In einer seiner letzten Notizen aus dem Arbeitsjournal schreibt Brecht, der sich mit<br />
der Theorie des Lehrstücks, übrigens ebenso wie mit dem Fatzer-Fragment, im Laufe seines<br />
Lebens immer wieder auseinandergesetzt hatte: »Diese Bezeichnung gilt nur für Stücke, die für die<br />
Darstellenden lehrhaft sind. Sie benötigen also kein Publikum.« Theater ohne Zuschauer? Liegt<br />
hier etwa die Geburtsstunde der berüchtigten inszenatorischen Egomanie des deutschen<br />
Theatersystems, die das Publikum am liebsten ganz abgeschafft sähe?<br />
Wieder ist eher das Gegenteil der Fall. Niemand wusste besser als Brecht, dass Theater ohne<br />
Zuschauer kein Theater ist – niemand wusste auch besser, dass Theater unterhaltsam und<br />
vergnüglich sein muss, wenn es diese Zuschauer erreichen will. »Das Theater bleibt Theater, auch<br />
wenn es Lehrtheater ist, und soweit es gutes Theater ist, ist es amüsant«, schreibt er 1954 in dem
Aufsatz »Vergnügungstheater oder Lehrtheater?«. Brechts Projekt als Theatermacher war, die<br />
Gegensatzpaare von »vergnüglich« und »wertvoll«, »politisch« und »künstlerisch«, »Epik« und<br />
»Dramatik«, mithin also die bekannten Dichotomien der bürgerlichen Ästhetik in Richtung einer<br />
neuen, politisch wie künstlerisch revolutionären Kunst zu überwinden. Das Paradox eines<br />
»Theaters ohne Zuschauer«, wie es die Lehrstücktheorie fordert, übertrug dieses Projekt auf den<br />
Gegensatz zwischen Publikum und Spielern. Brechts Konzept eines Lernens durch Handlungen<br />
und Gesten, eines mithin zuerst körperlichen und erst danach kognitiven Lernens, war dabei die<br />
entscheidende Voraussetzung einer solchen Überwindung. Zum Zwecke nicht der Belehrung,<br />
sondern der Selbstbelehrung sollte »durch das Einnehmen bestimmter Haltungen und Gesten<br />
körperlich-szenisch ein Konflikt durchgespielt und diskutiert werden«, schreibt Hans-Thies<br />
Lehmann. Der Zuschauer, der diesen Prozess rein passiv betrachtet, wird dabei nicht ausgesperrt<br />
– es soll und darf ihn weiterhin geben. Er wird aber – und dies ist eher als utopischer Endpunkt zu<br />
verstehen denn als konkrete Maßgabe einer Inszenierung – irgendwann einmal nicht mehr<br />
benötigt.<br />
»Fatzer« ist entstanden, noch bevor Brecht seine Lehrstücktheorie vollständig formuliert hatte, und<br />
die Brecht-Experten streiten noch heute darüber, ob es sich überhaupt um ein Lehrstück handelt.<br />
Unbezweifelbar aber ist, dass der Aufstand gegen das Theater, der sich in der Lehrstücktheorie<br />
ebenso wie in der Dramaturgie des epischen Theaters formiert, in »Fatzer« seine vielleicht<br />
radikalste Form gefunden hat. Nicht zuletzt probte Brecht mit diesem Stück den Aufstand gegen<br />
sich selbst: »so ist das fatzerdokument zunächst hauptsächlich zum lernen des schreibenden<br />
gemacht. wird es späterhin zum lehrgegenstand so wird durch diesen gegenstand von den<br />
schülern etwas völlig anderes gelernt als der schreibende lernte.«<br />
»Fatzer« ist somit auch der Aufstand gegen das Naheliegende, gegen jeglichen Auftrag, gegen<br />
das bestehende Theater mit seinen literarischen und gattungsspezifischen Traditionen. Als ein<br />
solcher Aufstand bleibt »Fatzer« das vielleicht wichtigste, sicher aber das radikalste Stück Brechts:<br />
ein Traum von einem neuen Theater in einer anderen Zeit. Gerade die Tatsache, dass »Fatzer«<br />
ein aus Brechts Sicht unmögliches Theater darstellt, schreibt Nikolaus Müller-Schöll, lässt dieses<br />
Fragment gebliebene Stück aus der Distanz als einen der Texte Brechts erscheinen, die auf ein<br />
immer noch kommendes Theater verweisen, die größte Potentialität bergen – Möglichkeiten der<br />
Realisierung, an die Brecht noch nicht denken konnte.
B) Bertolt Brecht:<br />
Die Fatzer-Zeit<br />
aus: Mittenzwei, Werner: "Das Leben des Bertolt Brecht,<br />
oder Der Umgang mit den Welträtseln." FfM: Suhrkamp,<br />
1987 5
[...]<br />
13
[...]<br />
14
C) Zum Text: Entstehung und Inhalt<br />
aus: Jan Knopf (Hrsg.): "Brecht-Handbuch in fünf<br />
Bänden." Stuttgart: Metzler, 2001–2003<br />
Jan Knopfs "Brecht-Handbuch" ist eine der wohl umfangreichsten<br />
Übersichten zu Brechts Werk und ein Standardwerk der Brecht-<br />
Forschung. Wer ansonsten gar nichts lesen mag, sollte zumindest<br />
diesen Text kennen.<br />
Die Abschnitte "Analyse und Deutungen" sowie "Theaterrezeption"<br />
finden sich im Kapitel "Aufführungsgeschichte" dieser<br />
Materalsammlung.<br />
21
[...]
Eine kurzer Überblick über Entstehung, Inhalt, Werkkontext<br />
und Aufführungsgeschichte.<br />
Kennzeichnend für diese Bewertung, die aus dem eher<br />
konservativen Lager der Literaturwissenschaft stammt, ist<br />
die Einschätzung des Fatzer-Fragments als rein<br />
biographisch relevanter Text Brechts.<br />
25
aus: Völker, Klaus: "Brecht Kommentar", München:<br />
Winkler, 1983, S. 118ff.<br />
27
Brecht, Bertolt: "Arbeitsjournal", Bd. I 1938-1942.<br />
Hg. von Werner Hecht, FfM: Suhrkamp, 1973<br />
Unter Brechts persönlichen Äußerungen über seine Arbeit findet<br />
sich nicht allzu viel mit Bezug auf das "Fatzer"-Fragment. Ein Indiz<br />
für die Bedeutsamkeit, die dieser Text für seinen Autor wohl<br />
dennoch gehabt haben wird, ist die Dauer der Beschäftigung mit<br />
ihm. Von 1926/27, den Jahren der ersten Niederschrift von Fatzer-<br />
Texten, bis zu 1951, fünf Jahre vor seinem Tod, hat Brecht sich<br />
immer wieder mit "Fatzer" beschäftigt.<br />
29
D) Zur Form: Theater/Fragment<br />
aus: Barck, Karlheinz (et al.) (Hrsg.): "Ästhetische<br />
Grundbegriffe", Bd. II. Stuttgart/Weimar: Metzler,<br />
2001<br />
Ein übersichtlicher Abriss der Begriffs- und<br />
Ideengeschichte des Fragments in Philosophie,<br />
Literatur und Kunst.<br />
32
Wir machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind<br />
Heiner Müller im Gespräch mit Teilnehmern des Brecht-Oberseminars im Bereich<br />
Theaterwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin am 13. März 1984. Leitung: Prof. Dr. Ernst<br />
Schumacher<br />
ERNST SCHUMACHER Zur Eröffnung: Brechts Grund-Satz war: Die Welt ist nicht nur<br />
interpretierbar, sie ist auch veränderbar, es kann in sie eingegriffen werden, auch mit den Mitteln<br />
der Kunst. In Deinen Anfängen hast Du diese Überzeugung geteilt. Seit den Siebzigern scheint<br />
sich Dein Welt-, mit ihm Dein Menschenbild, eingeschwärzt zu haben. Man könnte es zugespitzt<br />
als pessimistisch geworden bezeichnen. Das liegt im Trend der »neuen Philosophen«, die sich<br />
nach ’68 vom Marxismus abgewandt haben und einen Neoexistentialismus begründet haben.<br />
Kunst auf dieser Basis zu produzieren – läuft das nicht letztlich auf bloßen Selbstausdruck, sprich<br />
Selbstbefriedigung, bestenfalls die Befriedigung eines elitären Bewußtseins über eine verfahrene<br />
Welt, der nicht zu helfen ist, hinaus?<br />
HEINER MÜLLER Nun, ich bin ja immerhin noch da, es kann ja nochmals werden ...<br />
MARIANNE STREISAND Diese Vorhaltung gegen Müller hat es schon in den späten fünfziger<br />
Jahren gegeben.<br />
MÜLLER Die wird es immer geben.<br />
STREISAND Damals lautete der Vorwurf noch nicht Geschichtspessimismus, sondern »negative<br />
Abbildung der Wirklichkeit«. Aber daß in den siebziger Jahren eine Änderung eingetreten ist, das<br />
glaube ich schon. Und da möchte ich doch fragen: Dieses Weggehen von Brecht ist sicher auch<br />
ein Hingehen, ja wohin? Mich interessiert in diesem Zusammenhang Dein Interesse an den<br />
Dunkelzonen, für die subjektiven Triebkräfte in der Geschichte oder Massenphänomene wie<br />
Faschismus, der ja auch subjektive Komponenten hatte. In Bezug auf das Kunstmachen sodann<br />
Deine Anerkennung von Traum als einer Form der Erkenntnismöglichkeit in Gestalt von Visionen<br />
oder Bildern.<br />
MÜLLER Es gibt in den Svendborger Gesprächen zwischen Brecht und Walter Benjamin einen<br />
Dialog über Stalin. Darin sagt Brecht, das ist zwar nicht eine Diktatur des Proletariats, aber eine<br />
Diktatur über das Proletariat im Interesse des Proletariats. Worauf Benjamin erwidert, das komme<br />
ihm vor, wie das Auftauchen eines gehörnten Fisches aus der Tiefsee. Das sind zwei Haltungen zu<br />
einem Problem. Die von Brecht ist sicher für eine ganze Weile die einzig produktive gewesen. Ich<br />
51
glaube, dass sie heute nicht mehr ganz ausreicht. Was den Vorwurf des Pessimismus betrifft: Das<br />
ist doch auch der Vorwurf, ein gutes Gedächtnis zu haben, und Optimismus beruht auf der<br />
Fähigkeit, zu vergessen und zu verdrängen.<br />
SCHUMACHER Das muss nicht unbedingt so sein.<br />
MÜLLER Aber das ist ein wesentlicher Bestandteil von Optimismus.<br />
SCHUMACHER Das hat die Menschheit immer so gehalten.<br />
MÜLLER Sicher, aber was mir jetzt an mir selber so unheimlich ist, wenn ich die Entwicklung von<br />
den frühen Stücken zu den letzten ansehe, das ist, dass mir dasselbe passiert wie Brecht, nämlich<br />
dieser Abflug ins Parabolische, diese Realitätsflucht bei Brecht genauso, bei Schiller genauso, bei<br />
Goethe genauso. Nur weil andere jung gestorben sind, haben sie das nicht mehr geschafft,<br />
Büchner zum Beispiel, der an der Realität gestorben ist. Das muss auch etwas zu tun haben mit<br />
einem Problem der deutschen Geschichte, mit diesen immer neuen Anläufen, die immer wieder<br />
versandet oder jedenfalls ins Stocken geraten sind. Das kann man also nicht abtun mit Begriffen<br />
wie Pessimismus oder Optimismus. Es gibt jetzt eine Situation, wo, poetisch gesagt, uns die<br />
Geschichte mit Sie anredet. Ich möchte mal wieder mit Du angeredet werden. Damals, in der Zeit<br />
der UMSIEDLERIN und des LOHNDRÜCKER, gab es, nicht nur subjektiv für mich, eine Situation,<br />
wo, poetisch gesagt, uns die Geschichte mit Du angeredet hat, auch wenn es viel härter zuging.<br />
Das hängt vielleicht unmittelbar damit zusammen, dass Sachen offen ausgetragen wurden,<br />
vielleicht auch brutal, aber es gab eine wirkliche Bewegung. Im Moment aber ist das aus Gründen,<br />
die nicht Schuld der DDR oder der Sowjetunion sind, viel schwieriger. Und das macht es auch<br />
schwieriger, unmittelbare Gegenwartsdramatik zu schreiben, wenn man nicht moralisiert, wie die<br />
sowjetische Dramatik es tut, da geht es um Verantwortung, das Ethos, die Qualität des Einzelnen,<br />
weil man auf dem Theater über Systemprobleme nicht handeln kann oder will; deshalb sind die<br />
Stücke hier so nützlich, die Stücke von Gelman und wer weiß noch. Das sind sicher gute Stücke,<br />
sie geben Impulse, aber es bleibt immer in den Grenzen der Moralität.<br />
SCHUMACHER Nun, Brecht wollte durch das Theater Impulse vermitteln, die die Menschen<br />
befähigen sollten, sich selbst als Veränderer zu verstehen, nicht bloß als Interpreten. Ist diese<br />
Haltung historisch überholt, ist sie nicht mehr brauchbar?<br />
MÜLLER Die Frage ist doch, wie man Impulse noch an und in die Leute bringt. Da ist die Methode<br />
Brechts inzwischen zu simpel, zu primitiv.<br />
SCHUMACHER Deine Haltung ist inzwischen die, die Leute zu schocken ...<br />
52
MÜLLER Nicht nur.<br />
SCHUMACHER Aber es sind Deine Formulierungen.<br />
MÜLLER Formulierungen sind Glücksache ...<br />
SCHUMACHER Nun, ich weiß, dass Du ein Bibelanhänger bist: Ärgernisse müssen sein, aber<br />
wehe dem, durch den Ärgernis kommt. Das hast Du für Dich einkalkuliert ... Aber doch<br />
nachgefragt: Welche Impulse sollen denn mit Deiner Schocktherapie vermittelt werden? Glaubst<br />
Du ernsthaft, dass Kunst schocken kann?<br />
MÜLLER Das wäre ja auch viel zu einfach. Worum es geht, und zwar in jedem Fall, ist,<br />
Gewohnheiten und Verdrängungen zu stören. Es geht gar nicht um Schock, das ist wirklich<br />
modisch, auch wenn ich es gesagt habe, das ist nicht so ernst zu nehmen. Es geht wirklich darum,<br />
Verdrängungen zu stören und die Auslöschung von Gedächtnis zu bekämpfen, die auf der ganzen<br />
Welt stattfindet.<br />
SCHUMACHER Zu welchem Zwecke willst Du dieses Gedächtnis bewahrt wissen? Du bist also<br />
doch »positiv geladen«?<br />
MÜLLER Es ist diese Auslöschung von Gedächtnis, ob sie im nationalen Rahmen oder individuell<br />
erfolgt, im Westen zum Beispiel ganz extrem durch diesen Videomarkt. Da wird Freizeit völlig<br />
besetzt, und es bleibt überhaupt kein Raum für Phantasie, auch nicht für soziale Phantasie. Alle<br />
Energien werden aufgesogen. Da braucht man gar keinen Faschismus mehr, das klappt schon mit<br />
viel Videokassettenkrieg, da braucht man nichts anderes mehr. Und wir hier sind nicht ’raus aus<br />
diesem Wirrwarr, und zwar nicht nur, weil es auch bei uns über das Westfernsehen geschieht,<br />
sondern weil es bei uns auf humanere Weise auch geschieht, dieser Versuch, das Gedächtnis<br />
auszulöschen und Verdrängung zu lehren als Pflichtfach. Diese Störung halte ich für ganz<br />
wesentlich, und das ist eine Variante, ein neuer Ansatz von Aufklärung von einer anderen Flanke<br />
her ...<br />
SCHUMACHER ... sozusagen von der »negativen Dialektik« her. Letztlich geht es also auch Dir<br />
darum, diese Menschheit nicht zugrunde gehen zu lassen.<br />
MÜLLER Ich will nur vorher noch herauskriegen, woran es gelegen haben könnte, das interessiert<br />
mich. Du kennst es ja, 1929 hat Freud die These aufgestellt, daß die Menschheit einfach auf<br />
Grund ihrer psychologischen Struktur eine Waffe entwickeln wird, die die Auslöschung der Gattung<br />
53
ermöglicht. Das war offenbar ausrechenbar, und es interessiert mich nun, woran das liegt.<br />
SCHUMACHER Einstein hat schon 1921 ausgerechnet, dass ein Kohleeimer von Atomenergie<br />
genügen wird, die Menschheit auszulöschen. Sie wussten, woran sie arbeiteten.<br />
MÜLLER Das ist natürlich ganz schwer, das ist ein wirkliches Problem für das Schreiben, was<br />
Christa Wolf vielleicht am simpelsten in ihrer Vorlesung formuliert hat: Niemand kann behaupten,<br />
dass das nicht passieren kann, das kann kein vernünftiger Mensch mehr behaupten. Aber wie<br />
kann man von Leuten verlangen, ihre Arbeit zu machen, sie so gut zu machen wie möglich, und<br />
dabei gleichzeitig dieses Bewusstsein zu haben: Es kann passieren, dass es alles nichts nützt.<br />
Das ist die neue Situation. Und Du merkst es in jedem Bereich, und gerade in der Literatur wie in<br />
den anderen Künsten auch, dass das Handwerk immer mehr verkommt. Das hat etwas mit dieser<br />
Situation zu tun, das ist eine schleichende Krankheit. Und dagegen muss man etwas tun. Dagegen<br />
kann man aber nichts tun, wenn man einfach die Augen davor verschließt. Ich glaube, auch wenn<br />
es religiös klingt, an so etwas wie die Schwerkraft einer Gesellschaft. Ich habe das mit großem<br />
Entzücken in der U-Bahn gelesen, dass ich das irgendwann gesagt habe, ich wusste das gar nicht<br />
mehr: Wenn man in die Luft gesprengt werden soll, muss man sich ganz schwer machen. Also<br />
schwer auch mit Kunst, nicht? Kunst gehört zum spezifischen Gewicht einer Gesellschaft und<br />
Kultur. Da darf man sich nichts wegnehmen lassen davon. Das ist keine sehr direkte, das ist eher<br />
(im Sinne von Marx) eine sehr vermittelte Verbindung.<br />
SCHUMACHER Aber warum hast Du die eine Linie in Deinem Schaffen, die näher an dieser<br />
Wirklichkeit dran war, fast völlig aufgegeben?<br />
MÜLLER Weil es der Gesellschaft nichts mehr bringt, unmittelbar an dieser Wirklichkeit zu bleiben.<br />
Nimm doch jetzt das neue Stück »Georgsberg« von Rainer Kerndl. Er wollte ein paar der aktuellen<br />
Probleme dieser Gesellschaft benennen, aber das ging nicht. Es ist lächerlich, aber es ist so. Mich<br />
interessieren diese Probleme gar nicht, sie sind für mich kein Vorwurf für ein Stück.<br />
BERT KOSS Aber mit der Konstruktion eines solchen Problems fängt es ja doch an. Für uns, die<br />
wir doch später Theater machen wollen, bleibt die Frage, wie stellt man sich einem solchen<br />
gesellschaftlichen Problem, dass alles kaputtgehen kann, wenn man sich soviel Optimismus, wie<br />
er offiziell verkündet wird, gar nicht zutrauen kann?<br />
MÜLLER Es gibt so einen schönen Satz von Brecht: »In der ›Roten Fahne‹ stand noch: ›Wir<br />
werden siegen‹, da hatte ich mein Geld schon auf einem Schweizer Konto.« Das äußerte er, als er<br />
für Erwin Strittmatter, der an »Katzgraben« arbeitete, Geld beschaffen wollte, es aber keinen gab,<br />
der das verantworten wollte.<br />
54
KOSS Der Optimismus, der aus dieser Haltung spricht, macht mich ja noch unglücklicher.<br />
MÜLLER Man muss doch grundsätzlich davon ausgehen, und jetzt wird es etwas theologisch, was<br />
Schumacher als Bayern ja nicht stört, dass der Einzelne sowieso weiß, dass er sterblich ist. Es gibt<br />
diesen schönen Spruch: Der Mensch ist das einzige Tier, das weiß, dass es sterben wird, und das<br />
macht seine Würde aus, und eben alles so zu tun, so gut zu machen, wie er kann, obwohl er weiß,<br />
dass er stirbt. Und das gilt inzwischen für die ganze Menschheit. Ich sehe darin keinen so<br />
wesentlichen Unterschied. Es geht nur darum, wie man sich darüber verständigt. Das Problem der,<br />
mal ganz doof gesagt, Völkerverständigung oder Kommunikation wird immer dringlicher. Sehr hoch<br />
gegriffen, geht es jetzt letztlich darum, so etwas wie ein Gattungsbewusstsein zu entwickeln. Das<br />
klingt sehr metaphysisch, aber das ist die einzige Chance. In dieser Situation gilt auf ganz andre<br />
Weise dieser Commune-Grundsatz: »Keiner oder alle ...«<br />
SCHUMACHER Das hört sich gut an, ich stimme dem voll zu. Aber wenn ich zum Beispiel an<br />
Deine letzte Inszenierung in der Volksbühne, nämlich von MACBETH, denke, da kommt als<br />
»Botschaft« zum Schluss doch nur das buddhistische Rad der ewigen Wiederkehr des Gleichen<br />
heraus, nämlich dass die Welt ein Schlachthaus sei.<br />
MÜLLER Aber eines wirst Du mir nicht widerlegen können: Die Welt, so wie wir sie bisher aus<br />
Überlieferung und Erfahrung kennen, ist nun mal ein Schlachthaus. Das muss nicht so bleiben.<br />
Aber bisher ist das Gegenteil nicht konkret geworden. So sieht das für mich mal aus.<br />
SCHUMACHER Tut mir leid, aber hier habe ich eine etwas andere Meinung.<br />
BERT BREDEMEYER Brechts Courage bringt mir auch nicht die Erfahrung, auch wird die<br />
mögliche Erkenntnis an die Zuschauer delegiert, und die Courage bringt mir auf alle Fälle aber<br />
weniger als Macbeth. Aber ich wollte ein anderes Problem berühren. In den Siebzigern tritt für Sie<br />
offensichtlich die Dritte Welt mehr in den Vordergrund, und zwar das Prinzip, das Lévy-Strauss im<br />
»Wilden Denken« beschreibt. Wie ist diese Erfahrung über die Bühne herunterzubringen?<br />
MÜLLER Da ist sicher was dran, wobei ich den Lévy-Strauss wahrscheinlich erst viel später<br />
gelesen habe. Zuerst habe ich den Fanon gelesen, wo das unter sehr politischem Aspekt formuliert<br />
ist, und das finde ich nach wie vor wichtig, dass diese Länder in der Dritten Welt nicht einfach<br />
europäische Modelle nachmachen, das geht auf jeden Fall schief. Und da gibt es auch immer<br />
wieder fürchterliche Enttäuschungen. Wir oder auch die Sowjetunion liefern Waffen für die<br />
Befreiung, und dann brauchen sie Geld, und da reicht unseres nicht, so dass jetzt zum Beispiel<br />
Moçambique einen Freundschaftsvertrag mit Südafrika schließt. Das ist natürlich tragisch, aber<br />
55
das ist eine reine Notlage.<br />
KOSS Aber auf den AUFTRAG bezogen, der ja letztlich an den Schwarzen, den Neger delegiert<br />
ist, kommt mir dieses »wilde Denken« schon ein bisschen komisch vor. Diese Dritte Welt ist ja<br />
schon in einer starken Form pervertiert, geprägt von dem sich nach dem Geldbeutel Strecken, vom<br />
Nachahmen des Konsumstrebens. Wir haben ja nicht den Einblick, aber ein bisschen hat man<br />
schon immer das Gefühl, dass da ein Pflänzchen heranwächst, das den falschen Saft eingesogen<br />
hat.<br />
MÜLLER Das ist vielleicht doch zu kurz gesehen. Zunächst doch noch der schöne Kommentar von<br />
Brecht aus der »Heiligen Johanna«: »Nicht der Armen Niedrigkeit hast du mir gezeigt, sondern der<br />
Armen Armut.« Das muss schon immer voraus gesagt werden. Dann glaube ich schon, dass das<br />
Schlussmanifest aus einem brasilianischen Roman stimmt: Der christlich-jüdische Zyklus ist zu<br />
Ende, es beginnt der lateinamerikanische Zyklus. Der dauert mindestens so lange.<br />
SCHUMACHER Das klingt nicht sehr überzeugend, denn dieser lateinamerikanische Zyklus beruht<br />
auf der Hispanisierung des südamerikanischen Kontinents, die nicht rückgängig gemacht werden<br />
kann.<br />
MÜLLER Jetzt bist du der Geschichtspessimist. Das wird ungeheuer lange dauern und es wird<br />
keine friedlichen Lösungen dafür geben. Das ist ja ein Problem der Friedensbewegung insgesamt,<br />
dieses Fixiertsein auf die Wahnidee, dass es je Frieden gegeben hat, außer einem solchen wie<br />
jetzt gerade in Europa. Der Frieden ist immer erkauft worden mit Kriegen woanders. Es geht daher<br />
im Moment auch eher darum, Krieg noch zu ermöglichen, einen sinnvollen Krieg. Man kann doch<br />
Menschen in solchen Situationen wie in Lateinamerika und ähnlichen Regionen nicht den Krieg<br />
verbieten.<br />
SCHUMACHER Aber das ist nicht das Kernproblem der Friedensbewegung heute.<br />
MÜLLER Grundfrage und Grundlage der Friedensbewegung heute ist doch das Überleben der<br />
Menschheit. Kann man einen solchen Krieg verhindern, der die Menschheit zu vernichten droht,<br />
den Atomkrieg oder diesen »Krieg der Sterne«, das ist die Grundfrage. Dass solche Kriege, wie Du<br />
sie angesprochen hast, unvermeidlich sind, das glaube ich auch.<br />
LOTHAR SACHS Ich möchte das Problem der Realitätsnähe oder -ferne von Dramatik durch eine<br />
Nachfrage zu Ihren Antike-Bearbeitungen stärker geklärt haben. War oder ist diese Verwendung<br />
der Antike notgedrungen, weil es nach der UMSIEDLERIN" nicht mehr möglich war, die Realität<br />
unmittelbar abzubilden?<br />
56
MÜLLER Der Abfolge nach ist das nicht so gewesen. PHILOKTET habe ich vor der<br />
UMSIEDLERIN zu schreiben angefangen. Das Gedicht, das sozusagen den ersten Entwurf<br />
enthielt, ist lange vor irgendeinem Bezug zur DDR-Realität entstanden. Es ergab sich aus der<br />
Schulbildung und daraus, dass ich sehr früh die antiken Werke gelesen habe. Dabei haben mich<br />
bestimmte Stoffe interessiert, u. a. eben Philoktet, und das sicher auch aus autobiographischen<br />
Gründen. Da kann man lange hin- und herrätseln. Es ist nicht einfach so, dass ich, weil das eine,<br />
eben diese realistische Abbildung der Wirklichkeit, nicht geklappt hat, das andere gemacht hätte.<br />
Das stimmt höchstens in dem einen Fall, als die Aufführung des BAUS im Deutschen Theater, die<br />
ja schon festgelegt war, nach dem 11. Plenum untersagt wurde und mir Benno Besson, der die<br />
Regie übernehmen sollte, noch für eine Weile Geld zukommen lassen wollte und mich fragte, ob<br />
ich einen Sinn darin sehen könnte, »Ödipus« zu bearbeiten. Er selbst konnte aus seiner Brecht-<br />
Tradition heraus und auch, weil er den Text nur aus einer von Voltaire kommentierten<br />
französischen Übersetzung kannte, wenig anfangen. Voltaire meinte ja, die Tragödie hätte sich<br />
vermeiden lassen, wenn es in Theben eine Kanalisation gegeben hätte, denn dann hätte es keine<br />
Pest gegeben, so daß es dann auch nicht zu diesem privaten Heckmeck gekommen wäre. Das ist<br />
jetzt etwas vereinfacht wiedergegeben, aber so ungefähr war die Version von Besson. Mir fiel<br />
jedoch rechtzeitig ein, daß es da auch die Übersetzung des »Ödipus« von Sophokles durch<br />
Hölderlin gibt, und ich dachte mir, da kann ich mit wenig Silben für eine Weile gutes Geld<br />
verdienen Und so verlief es dann ja auch. Ich habe einfach die Hölderlinsche Übertragung<br />
abgetippt und da und dort was geändert. Das war eine reine Gelegenheits- und Auftragsarbeit.<br />
Aber damit war ich dann auch schon abgestempelt. Wenn irgendeiner etwas Antikes wollte, wurde<br />
entweder ich oder Hacks angerufen. Plötzlich entsteht da eine Bewährung für etwas. Aber in<br />
keinem Fall war es so, dass diese Aneignung der Antike eine Fluchtbewegung gewesen wäre,<br />
dass ich gemeint hätte, hier sei eine Allegorisierung nötig. So etwas kann ich sowieso nicht, ein<br />
aktuelles Problem antik einkleiden. Wenn ein solcher Eindruck entsteht, so war das nicht kalkuliert,<br />
in jedem Fall nicht kalkuliert als ein Ausweichen vor der Unmöglichkeit, bestimmte Realitäten<br />
abzuhandeln, wie etwa Enzensberger anzunehmen schien, der mich als erster zu PHILOKTET<br />
fragte: »Müller, wo haben Sie die Stiche her?« Ich hatte keine Ahnung, er war viel gebildeter als<br />
ich, er hatte so etwas in der bildenden Kunst gesehen.<br />
WOLFGANG RINDFLEISCH Trifft das auch für die Antike-Bearbeitungen, wie etwa LANDSCHAFT<br />
MIT ARGONAUTEN im VERKOMMENEN UFER, in den sechziger und siebziger Jahren zu, oder<br />
ist da doch ein Unterschied im Kalkül, wenn man zum Beispiel an die Szenenanweisungen in<br />
»Strausberg« denkt?<br />
MÜLLER Also was mein Herangehen an die Antike betrifft: Brecht ist mit den antiken Vorlagen viel<br />
freier umgegangen als ich und auch viel ideologischer. Mein Umgang mit dem antiken Material war<br />
57
immer völlig unideologisch. Mich hat mehr die Schönheit des Materials gereizt, ich habe darin dann<br />
herumgegraben, aber nie mit einer Konzeption. Dass in die Arbeit Überlegungen einfließen, ist<br />
eine andere Frage, aber ich habe nie, wie es Brecht zum Beispiel bei der »Antigone« getan hat,<br />
einen Text mit einer klaren Konzeption bearbeitet. Das kann ich nicht, und ich habe nie<br />
ideologische Interessen in diesem Sinn gehabt und pädagogische auch nicht.<br />
SCHUMACHER Ideologische vielleicht schon, aber nicht unmittelbar pädagogische?<br />
MÜLLER Nein, ich meine, mein Impuls war nicht subjektiv, von irgendwelchen Absichten bestimmt.<br />
KOSS Ist dann Ihre Ausführung in »Rotwelsch«, wo Sie sagen, es geht um das Patt in der<br />
russischen Revolution, die Unmöglichkeit einer Revolution in Russland, ein Witz oder was?<br />
MÜLLER Das ist diese Schwierigkeit bei Interviews, ich sage da zu selten nein, dann kommen fast<br />
immer Missverständnisse heraus, weil man sich auf einer ganz anderen Ebene bewegt. Wenn man<br />
als Auskunftei über die eigenen Texte befragt wird, dann entwickelt man immer einen Nebentext,<br />
das ist nicht zu vermeiden.<br />
RINDFLEISCH Nochmals zur Gedächtnisauslöschung. Es ist ja doch so, dass man, wenn man<br />
Gedächtnis bemüht, in gewisser Weise auch Produktivität unterdrückt. Bei der<br />
Gedächtniserhaltung sind ja immer wieder Vorgänge in der Geschichte da, die diese Produktivität<br />
ausgelöscht haben. Gibt es, sagen wir mal, eine mögliche Produktivität, die man auch als eine<br />
optimistische Variante bewerten, sozusagen als Fahne hochhalten kann?<br />
MÜLLER Es gibt einen ganz bösen Satz dazu, von dem ich hoffe, dass er nicht stimmt:<br />
Kapitalismus ist eine ökonomische Kategorie, Sozialismus ist eine ethische. Bis jetzt. Das ist das<br />
Problem der Beantwortung einer solchen Frage.<br />
SCHUMACHER Machen wir einen Sprung von der Neuaneignung der Antike zum Verhältnis zur<br />
Klassik. Als Brecht noch gerade dabei war, Marxist zu werden, verfocht er die Auffassung, die<br />
Klassiker besäßen für die Zeitgenossen nur noch Materialwert. Um sie selbst für hier und heute<br />
lebendig zu halten, müssten sie umgeformt werden. Ist das eine Haltung, die auch gegenüber dem<br />
»Klassiker Brecht« anzuwenden ist, um ihn, falls er wirklich so tot sein sollte, wie verschiedentlich<br />
behauptet wird, wiederzubeleben? Was würdest Du mit Brecht anfangen, wenn Du mit ihm so<br />
umgehen könntest, wie Brecht es schließlich mit den Klassikern doch nicht getan hat?<br />
58
MÜLLER Ich habe mal mit dem Dokumentarfilmer Peter Vogt eine Bearbeitung der »Tage der<br />
Commune« gemacht. Das hätte ein Beispiel werden können, scheiterte aber natürlich an den<br />
Erben.<br />
SCHUMACHER Könntest Du das erläutern?<br />
MÜLLER Ich erinnere mich nicht mehr genügend. Ich weiß bloß, dass alles, was an dem Stück<br />
historiographisch ist, durch Dokumente visueller Art, also Fotos, Grafiken, Film ersetzt werden<br />
sollte, und dazu der Versuch, das Melodram der Familie Cabet herauszuschneiden. Das ging, das<br />
wurde eine schlanke Sache, zusammen mit dem Film ging das sehr gut.<br />
SCHUMACHER Bleibt die Frage, wie man mit dem klassischen Erbe darüber hinaus umgeht. Von<br />
Brecht stammt ja der Satz: »Wir können den Shakespeare ändern, wenn wir ihn ändern können.«<br />
Er billigt Shakespeare immerhin zu, mit seinen Stückschlüssen den jeweils letzten Schluss<br />
gefunden zu haben. Vielleicht, sagte Brecht, brauchen wir überhaupt keine Bearbeitung, wenn die<br />
Intelligenz, verbunden mit dem ästhetischen Vermögen, entwickelt genug ist, um das, was zu<br />
sehen und zu hören ist, richtig zu bewerten. Man braucht zum Beispiel im »Coriolan« die dort<br />
gezeigten Klassenverhältnisse auf keinen marxistischen Nenner zu bringen, weil die Zuschauer sie<br />
auch in der Shakespeareschen Darstellung richtig verstehen. Hat sich damit in der Zwischenzeit<br />
der Eingriff, oder sagen wir die verdeutlichende Darstellung der Klassenverhältnisse, wie sie<br />
Brecht bei »Coriolan« vorgenommen hat (oder jedenfalls anstrebte), erübrigt?<br />
MÜLLER Der erste Text, den Brecht doch sehr entscheidend bearbeitet hat, war ja »Leben<br />
Eduards II.« von Marlowe. Er blieb nahe an der überlieferten Geschichte, aber der Text war doch<br />
hauptsächlich ein sprachliches Manövergelände, um eine neue Verssprache zu finden. Das war,<br />
so glaube ich, ungemein wichtig. Auch für mich ist ein solches Verfahren sehr wichtig gewesen.<br />
Das nächste war dann für Brecht die Bearbeitung von »Maß für Maß« von Shakespeare, aus der<br />
schließlich »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe« hervorgegangen sind. Brecht hat damit schon um<br />
1931 begonnen. Durch die Situation in Deutschland, also durch das Heraufkommen des<br />
Faschismus, wurde Brecht immer mehr dazu gedrängt, ein Stück mit einem direkten Bezug darauf<br />
zu machen. Es ist eines seiner plattesten Stücke geworden, weil es so unmittelbar auf die aktuelle<br />
politische Situation reagieren wollte und sollte. Aber formal war es andererseits auch wieder ein<br />
richtiger Kramladen an Mitteln und Technik. Viel bescheidener in Umgang mit den alten Texten<br />
wurde er dann nach der Emigration. Im »Coriolan« ist der Eingriff mit ziemlich viel Respekt<br />
gemacht worden, aber er war trotzdem falsch, und was Brecht selbst dazu geschrieben hat, ist<br />
unsäglich.<br />
SCHUMACHER Es sind ja eigentlich nur Bruchstücke.<br />
59
MÜLLER Ja, aber zum Beispiel diese Begegnung der Bauern: »Bäckt sie immer noch die kleinen<br />
Fladen?«, also dieses Kunstgewerbevolk, das in den späten Brecht-Stücken so unerträglich ist.<br />
Aber da hat sich Shakespeare gerächt, weil der Ablauf bei Shakespeare viel mehr transportiert als<br />
die Mutter-Sohn-Geschichte. Er transportiert das Soziale mit, aber auf eine viel komplexere Weise.<br />
Ich glaube, daß hier Brechts Rechnung nicht aufgegangen ist, denn eigentlich war ja die<br />
»Coriolan«-Bearbeitung ein Stalin-Stück, angegangen noch vor, intensiviert nach dem Tod Stalins,<br />
in der Zeit vor dem XX. Parteitag der KpdSU. In dieser Zeit war der Eingriff, war die Verengung des<br />
Shakespeare-Materials aus aktuellem Anlass, richtig. Aber diese Bearbeitung dann zehn Jahre<br />
später so zu spielen, wie sie entstanden war unter den Verhältnissen der fünfziger Jahre, war<br />
Kunstgewerbe. Das war der Niedergang des Berliner Ensembles auch vom Bühnenbild her. Zum<br />
ersten Mal gab es ein nichtfunktionales Bühnenbild. Wenn Theater in seiner gesellschaftlichen<br />
Funktion so unsicher wird, dann werden die Bühnenbilder immer wichtiger. Es gibt jetzt eine<br />
Hypertrophie von Bühnenbild, und das konnte man an den Berliner Theatern in den letzten<br />
Jahrzehnten sehr gut verfolgen. Mit »Coriolan« hat es angefangen, dann kam »Der Drache« und<br />
dann alle Tiere aller Länder auf allen Bühnen.<br />
SCHUMACHER Dazu könnte man einiges bemerken, auch zum Bühnenbild der MACBETH-<br />
Inszenierung in der Volksbühne. Um aber in der Problemerörterung über Brecht heute<br />
voranzukommen, die sich dieses Oberseminar gestellt hat, würde ich gerne auf das Problem<br />
dramaturgischer Situations- und Typenschaffung zu sprechen kommen. Ein dramaturgisches<br />
Muster war die Szenenfolge »Furcht und Elend des dritten Reiches« von Brecht. Du hast es<br />
aufgenommen, zum Beispiel in DIE SCHLACHT. Könntest Du Dir eine Anwendung für die<br />
Gestaltung von typischen Situationen der gegenwärtigen sozialistischen Gesellschaft vorstellen?<br />
Franz Xaver Kroetz hat ja nach dem Brechtschen Vorbild seine Szenen »Furcht und Hoffnung der<br />
BRD« geschrieben, ich finde, kein sehr geglücktes Unternehmen, und hier in diesem Oberseminar<br />
werden wir noch Szenen von Bonaventura aus Kolumbien zur Erörterung bringen, in denen die<br />
Probleme Lateinamerikas dargestellt werden.<br />
MÜLLER »Furcht und Elend des dritten Reiches« ist für mich leider ein absolut missglücktes<br />
Produkt. Es gibt nämlich ein illusionäres Bild von Nazideutschland, ein Bild wirklich nach dem<br />
Schema der KPD. Zugrunde lag eine völlig unzureichende Faschismusanalyse, die mit dazu<br />
geführt hat, dass diese Partei vernichtet wurde. Brecht machte das viel zu sehr mit. Er war<br />
angewiesen auf Informationen von anderen und Berichte, und das funktionierte nicht. Ich glaube<br />
nicht, dass diese Dramaturgie hier und heute benutzt werden kann. Es gibt da diesen schönen<br />
Satz von Brecht: Eine Fotografie der Kruppwerke sagt nichts über die Kruppwerke. Und eine<br />
Fotografie der DDR sagt nichts über die DDR. Die Zukunftsstruktur der DDR findet man nur<br />
gleichzeitig mit der Vergangenheitsstruktur, und das ist sehr problemreich, das geht nicht mit einer<br />
60
so einschichtigen und simpel montierten Dramaturgie, und das kann auch bei Kroetz nicht<br />
aufgehen.<br />
MATTHIAS THALHEIM In diesem Zusammenhang möchte ich auf das »Fatzer«-Fragment zu<br />
sprechen kommen, weil das für mich heute noch modern ist, so in der Feinstruktur der Sprache, in<br />
ihrer Gebundenheit oder in dem, was man den Fatzer-Vers nennt, weil da noch eine<br />
Sprachanarchie oder -spontaneität möglich ist, die Bedeutung ausschreitet, die diese Sprach-<br />
Batzen von allen Seiten beschaut. Da ist noch ein ganzes Stück Valentin mit drin: »Also, wir gehen<br />
jetzt los, und wenn wir wohin kommen, bleiben wir halt da ...«, und dazu das Exotische, dieses<br />
Austasten der Situationen, das einem angenehme Fluchtfelder zur eigenen Nebenproduktion<br />
verschafft. Nun begegnet einem aber in Ihren letzteren Stücken tendenziell mehr eine sprödere<br />
Prosa, die weniger aus der besagten Rhythmisierung oder Spontaneität wie bei »Fatzer«<br />
herkommt.<br />
MÜLLER Das finde ich aus zwei Gründen interessant. Zum einen: Was die Qualität des »Fatzer«-<br />
Textes bis in die kleinsten Elemente ausmacht, ist das Provinzielle. Und ein Aspekt der<br />
Auslöschung von Gedächtnis ist die Zerstörung der Provinzen. Das ist ungeheuer wichtig, wenn<br />
man über Brecht redet, diese seine Verwurzelung im süddeutschen Sprachraum. Das ist der<br />
einzige wirkliche Kulturraum in Deutschland, den es je gegeben hat. Das ist leider wahr, obwohl<br />
Schumacher Bayer ist. Aber meine Großmutter stammt ja auch aus Rosenheim.<br />
SCHUMACHER Damit kommen wir auf alte Gespräche zurück, bei denen wir zum Schluß immer<br />
wieder festgestellt haben, wir müssen gemeinsame Urgroßväter haben, und das können nur die<br />
alten Römer gewesen sein, womit wir ja dann geadelt waren, und eben die Römer haben diesen<br />
Kulturraum geschaffen.<br />
MÜLLER Zum zweiten nun: Was in meinen letzten Texten mir selber unheimlich ist, und was etwas<br />
zerstört schon im VERKOMMENEN UFER vorkommt, das ist, dass sie immer rhetorischer werden.<br />
Das heißt, es sind nur noch Äußerungen eines »Clowns ohne Massen«, also eines Einzelnen. Und<br />
da kann man sich zwar gut anhängen, als Intellektueller, aber man sollte nicht übersehen, dass<br />
das ein Krisensymptom ist, dieses Abheben in die Rhetorik, was nicht nur bei mir so ist, dass es<br />
immer mehr ein Autorentext wird.<br />
SCHUMACHER Was macht das Theater dann damit, steht es ihnen hilflos gegenüber? Ich war<br />
jedenfalls mehrfach beeindruckt, wie Theater gerade aus solchen fragmentarisierten, scheinbar<br />
oberflächlich kollationierten, jedenfalls sehr mittelbaren, verschlüsselten, verfremdeten Texten zu<br />
ganz Eigenem inspiriert wurde.<br />
61
MÜLLER Ohne Zweifel ein echtes Problem. Ich fand ganz einleuchtend, was Robert Wilson zu mir<br />
sagte, nachdem er von mir einige Sachen in Übersetzung gelesen hat. Nach den Informationen,<br />
die er hat, denn er hat ja nichts gesehen, hat man, so sagte er, immer versucht, meine Texte – und<br />
es geht hier nur um meine letzten – dem Publikum mehr oder weniger nahezubringen. Nach seiner<br />
Meinung geht es aber darum, sie vom Publikum zu entfernen und sie in einen Kunstraum zu<br />
stellen, eben den, den das Theater schafft.<br />
SCHUMACHER Aber es gibt da die gegenläufige Behauptung, dass auch Deine Texte für Wilson<br />
nur Anlässe für illustratives Bildertheater waren.<br />
MÜLLER Das ist die Meinung von Herrn Merschmeier.<br />
SCHUMACHER Nicht nur, es gibt diese Meinung auch von anderen, dass in der Bilderflut dieses<br />
Theaters der Text und seine Bedeutung untergehen.<br />
MÜLLER Ich bin nicht ganz dieser Meinung. Es waren ja auch gar keine Texte von mir, ich habe<br />
nur collagiert und schnell gemerkt, das geht gar nicht, ich kann dafür nichts schreiben, insofern<br />
stimmt der Vorwurf. Aber wenn jetzt ein Text von mir da ist, und er macht Bilder dazu, ist das eine<br />
andere Situation. Dann geht es.<br />
SCHUMACHER Vielleicht für die Seminarteilnehmer noch einige Informationen, worum es ging.<br />
MÜLLER Ich wurde von Wilson gefragt, ob ich an dem deutschen Teil eines Riesenprojektes<br />
mitarbeiten würde, an dem er seit drei Jahren arbeitet. Der Ausgangspunkt für dieses Projekt<br />
waren Fotos aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, und das war der erste fotografisch<br />
dokumentierte Krieg überhaupt. Die Fotos haben wirklich eine ungeheure Qualität, eben die<br />
Qualität des ersten Blicks. So grausig ist ein Krieg nie wieder fotografiert worden, weil man es<br />
danach ja schon konnte. Das waren ja damals noch solche Monumentalkameras, die ungeheuer<br />
geschleppt, aufgebaut, wieder abgebaut werden mussten ...<br />
ZWISCHENRUF ... wie eine Haubitze ...<br />
MÜLLER So ähnlich, ja. Das war der Ausgangspunkt für dieses Projekt, das Wilson jetzt »Civil<br />
Wars« nennt, also Bürgerkriege, wobei er sich gegen diese Übersetzung wehrt, weil er auch zivile,<br />
familiäre Konflikte, Geschichten von Familien, berühmten Familien im Zusammenhang mit<br />
bürgerkriegsähnlichen Situationen meint. Da gibt es einen Teil in Japan mit japanischen Familien,<br />
einen Teil in Köln mit deutschem Material, einen in Holland mit holländischen Geschichten, einen in<br />
Frankreich, einen in Rom, einen in Minneapolis, und das Ganze soll dann für die Olympiade 1984<br />
62
zusammengestellt werden zu einem 12-Stunden-Spektakel, einer einmaligen Aufführung vor 6 000<br />
Leuten. Das ist der Plan, daran hat er drei Jahre gearbeitet, das heißt, er hat zunächst alles<br />
gezeichnet, denn er versteht sich ja als bildender Künstler, er sagt, er wäre gern ein guter Maler, ist<br />
es aber nicht, deswegen braucht er das Theater. Also, er kann seine Vorstellungen genau<br />
aufzeichnen, aber er kann sie als Maler nicht umsetzen, und deshalb benutzt er das Theater, damit<br />
er seine Bilder sehen kann. Das ist ein ganz legitimer Impuls, aber dafür braucht er Geld, sehr viel<br />
Geld. Fertig ist jetzt eigentlich nur der Kölner und der holländische Teil. Alle anderen existieren nur<br />
als Workshops. Auch für den Transport ist noch kein Geld da. PanAm wollte nicht und die<br />
Lufthansa auch nicht. Das Interessante an Wilson ist für mich, das stammt jetzt nicht von mir,<br />
sondern von Bernard Sobel, den Du ja kennst, ein französischer Regisseur, der mehrere Jahre am<br />
Berliner Ensemble gearbeitet hat, und der sagte zu mir, er habe schon vor fünf Jahren zu Strehler<br />
gesagt, der darauf einen Tobsuchtsanfall kriegte: »Was der Wilson macht, ist episches Theater,<br />
das ist ›Kleines Organon‹.« Und er meint auch etwas damit, und zwar ein Theater (und das ist von<br />
Brecht) mit einem Minimum an dramaturgischer Anstrengung, ein Theater, für das nicht der<br />
Unterschied zwischen Laien und Schauspielern essentiell ist, ein Theater also, das wirklich ein<br />
sozialer Freiraum ist, als Entwurf, als Möglichkeit. Und das Auffälligste an diesen Wilson-<br />
Produktionen ist wirklich, dass Wilson als Regisseur die meisten Schwierigkeiten mit<br />
Schauspielern, besonders mit deutschen – nicht mit japanischen! – hat, mit Laien aber überhaupt<br />
keine.<br />
SCHUMACHER Aber sind denn solche Laien, die für Wilson ein brauchbares Material abgeben,<br />
überhaupt in der Lage, solche hochkomplizierten, hochstrukturierten Texte vorzutragen, wie Du sie<br />
schreibst, oder kommt es schon gar nicht mehr auf den Sinn im einzelnen an?<br />
MÜLLER Das ist für mich wirklich eine Frage, die ich nicht so einfach beantworten kann. Das<br />
einzige Theater, das mich in der letzten Zeit wirklich nicht nur angeregt, sondern erschüttert hat,<br />
waren ein paar Aufführungen von Pina Bausch, ein Theater ohne Text. Das ist ein Theater, in dem<br />
die Tragödie plötzlich wieder da ist. Nicht bei Stein, nicht in der Schaubühne, in keiner noch so<br />
berühmten Aufführung. Bei Bausch, da findet etwas unterhalb von Text statt. Das hat sicher auch<br />
etwas zu tun mit der zunehmenden optischen Inflation, dieser Überschwemmung, und dass immer<br />
weniger Leute Zeit haben, ein Buch in die Hand zu nehmen und einen Text zu lesen, einfach weil<br />
es soviel zu sehen gibt.<br />
SCHUMACHER Aber genau das lässt sich gegen das Theater Wilsons einwenden: dass er<br />
vorrangig ein Bildermacher ist, nur dass er die Bilder in anderer Struktur und Abfolge präsentiert.<br />
MÜLLER Wobei die Bilder ja nicht alle von ihm waren, wir haben sie auch zusammen gemacht.<br />
Zwei Bilder sind leider rausgefallen, weil die Zeit zu knapp und der technische Aufwand zu<br />
63
wahnsinnig war. Das waren die besten, und das weiß er auch, das sagt er auch. Da war ein Bild<br />
dabei, in dem nichts passiert, als dass sämtliche Figuren einschließlich Friedrichs des Großen<br />
irgendwelche mechanischen Tätigkeiten ausführen, schalten, tippen oder so etwas, aber<br />
pantomimisch, und ganz blökend dazu ist ein Ton darunter, und dazu habe ich den Fahrstuhl-Text<br />
aus AUFTRAG gesprochen. Das ging, denn der Text ist völlig selbständig und das Bild auch. Ich<br />
bin ganz einfach zu spät hereingekommen, ich konnte nichts mehr dafür schreiben.<br />
SCHUMACHER Damit ist grundsätzlich das Problem des Verhältnisses zwischen dramatischem<br />
Text und Umsetzung im Theater, angemessener »Verkörperung«, angemessener »Demonstration«<br />
berührt.<br />
Brecht selber äußerte, zu seinen Lebzeiten könne er nur »30 %« einer idealen epischen<br />
Spielweise verwirklichen, nämlich verkürzt, mit starken Ellipsen, demonstrativ, mit gestischer<br />
Geprägtheit im Ausdruck, weil weder die Schauspieler zu mehr fähig noch das Publikum mehr<br />
hinzunehmen willig seien. Deine dramatischen Texte sind in einem weitaus stärkeren Maße als<br />
zumindest beim »klassischen« Brecht dialektisch strukturiert, elliptisch, assoziativ-andeutend,<br />
paradoxal zugespitzt. Wieviel Prozent der Brechtschen Verfremdungsmittel sind für sie<br />
angemessen?<br />
MÜLLER Ich glaube zum Beispiel, dass die hier schon mehrfach erwähnte MACBETH-<br />
Inszenierung in der Volksbühne, und soviel ich weiß, hast Du das auch geschrieben, ungeheuer<br />
viel mit Brecht zu tun hatte, freilich mit dem bei uns nicht bekannten Brecht ...<br />
SCHUMACHER ... oder dem nicht realisierten ...<br />
MÜLLER Ich erinnere mich, wie Peter Palitzsch, der bei der »Kreidekreis«-Inszenierung der<br />
Regieassistent von Brecht war, ein bisschen erschrocken war über das, was da rauskam: Alles war<br />
so harmlos und bunt, und er fragte Brecht: »Ist das nun episches Theater?« Und Brecht erwiderte:<br />
»Überhaupt nicht. Episches Theater kann es erst geben, wenn die Perversität aufhört, aus einem<br />
Luxus einen Beruf zu machen«, also den des Schauspielers, diese Spezialisierung. Aber Brecht<br />
war so eingespannt, auch in die Tageskämpfe hier, dass er gar nicht dazukam, seine radikalen<br />
Vorstellungen von Theater zu realisieren.<br />
SCHUMACHER Auch wegen des Publikums nicht.<br />
MÜLLER Ja, auch wegen des Publikums, klar. Und ich merke das jetzt wieder. Wolfgang Heinz<br />
sagt ganz ehrlich und ohne Bosheit: »Das hat ein Verrückter inszeniert.« MACBETH, das ist für ihn<br />
verrückt. Das kann man ihm auch nicht erklären, das versteh ich auch. Und er sagt: »Das werde<br />
ich in hundert Jahren auch nicht verstehen«, was ich einen optimistischen Satz finde. Bloß, da<br />
64
kann man sich kaum verständigen, glaube ich. Aber beim Publikum, da hat sich ein bisschen was<br />
geändert. Das Publikum unter dreißig ist jedenfalls ansprechbar für eine solche Art Theater, das<br />
über vierzig sowieso nicht.<br />
SCHUMACHER Wo siehst Du im europäischen Raum, der für die Studenten einigermaßen<br />
überblickbar ist, Theater entstehen und gehandhabt, das Deinen Vorstellungen einigermaßen<br />
entspricht, oder gilt auch für Dich immer noch die Situation von Brecht mit den »30 %«, wenn nicht<br />
gar von »10 %«?<br />
MÜLLER Da sind nur Pina Bausch, die mich wirklich interessiert hat, und einzelne Inszenierungen.<br />
Als Gesamttendenz sind es diese Sachen. Und ich frage mich, wie man das für einen Text<br />
produktiv machen kann. Das ist ein ungelöstes Problem. Es geht wahrscheinlich nur mit Mitteln,<br />
wie sie Brecht beschrieben hat, wo sie einen aber für verrückt erklären, wenn man sie anwendet,<br />
wenn man also mit einem Text so umgeht wie das Kabuki-Theater, ich meine in der Annäherung.<br />
Dann halten mich schon die Schauspieler für einen Irren und wollen erklärt haben, warum, und da<br />
bist Du schon verloren, denn erklären kann man das nicht.<br />
SCHUMACHER Man könnte es noch extremer formulieren, denn der Text ist im Kabuki überhaupt<br />
nur Anlaß für Aktion.<br />
MÜLLER Sprache als Material, Text als Material zu behandeln, die Mißverständnisse darüber,<br />
auch dass meine Texte schwierig sind, entstehen doch daraus, dass die Schauspieler sie für<br />
schwierig halten und Mühe haben, sie zu verstehen, und deswegen, dem Publikum gegenüber<br />
auch noch von der Regie dazu angehalten, die Haltung von Pädagogen oder Erklärern einnehmen.<br />
Wir sind ein bisschen klüger als ihr, ihr seid ein bisschen dümmer, wir erklären euch das jetzt,<br />
damit ihr es versteht. Und schon wird ein Text schwierig.<br />
Ein ganz einfaches Beispiel. Benno Besson wollte in der Volksbühne Brechts »Guten Menschen<br />
von Sezuan« inszenieren, was er dann ja auch getan hat. Er fragte mich: »Sag mal, wie mache ich<br />
das bei der Situation in Berlin, wo Shen Te sagt: ›Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht ...‹<br />
und so, dann ist es besser, daß sie ›untergeht / Durch ein Feuer, bevor es Nacht wird‹, wie mach<br />
ich das?« Ich sagte: »Das weiß ich auch nicht, das musst Du wissen.« Dann hat er probiert und<br />
sagte zu Karusseit: »Usch, mach mal, wie würdest Du das machen?« Und die Karusseit mit dem<br />
Instinkt der Theaterbestie ging natürlich an die Rampe und brüllte den Satz ins Publikum. Besson<br />
raufte sich die Haare und sagte: »Das ist falsch, ganz falsch. Du musst das ganz anders machen.<br />
Pass auf, Du bleibst hinten und sagst es ganz leise, und Du musst ganz anders betonen.« Und<br />
dann machte er ihr vor, ganz leise: »Wenn in einer Stadt« und so weiter, dann ganz laut »bevor es<br />
Nacht wird.« Das war wirklich die Erfindung des Manierismus. Kein Mensch verstand mehr den<br />
Satz, alle lachten darüber: warum nicht »nachher«? So entsteht der Manierismus in unseren<br />
65
Inszenierungen.<br />
SCHUMACHER Im Grunde diskutieren wir damit über den Zentralbegriff der Verfremdung bei<br />
Brecht. Wie weit weg von der Alltagswirklichkeit muss die theatrale Abbildung getrieben werden,<br />
um die Darstellung vom bloßen Imitat abzuheben, und wo erfährt die szenisch-darstellerische<br />
Auffälligmachung ihre Begrenzung, wenn sie noch den Sinn, irgendeine »Botschaft«, wie immer<br />
man das nennen will, mitvermitteln will, wenn sie »rational« kommunikabel bleiben soll. Deine<br />
Texte sind diesbezüglich vielfach sehr hermetisch, sie wirken wie Ausdruck der<br />
Selbstverständigung des Subjekts Heiner Müller, in dem die Widersprüche des 20. Jahrhunderts,<br />
wenn nicht des Menschseins, zusammenschießen und auf die komprimierteste Form gebracht<br />
sind. Hier ist schon im Text eine solche Verdichtung erreicht, dass ein Publikum, wie ich es zum<br />
Beispiel am Freitagabend im Metropol erlebt habe, damit gar nicht kommunizieren kann.<br />
MÜLLER Mit einem Goethe-Text auch nicht, mit Shakespeare auch nicht. Man muss sich, glaube<br />
ich, die Illusion abgewöhnen, dass es in einer Zeit der Massenmedien Volkstheater geben kann.<br />
Das hat Strehler schon vor zehn oder fünfzehn Jahren gesagt. Das ist eine sozialdemokratische<br />
Illusion, Volkstheater im Zeitalter der Massenmedien. Man muss also überlegen, wie man – und<br />
das ist ja auch ein Aspekt der Theatertheorie und -praxis von Brecht– das Theater gegen den Sog<br />
des Fernsehens und des Films absichern, wie man es gegen den zerstörenden Einfluss dieser<br />
Medien abdichten kann.<br />
SCHUMACHER Aber es gibt nun einmal das Bedürfnis nach einem Theater, das dem Publikum<br />
Unterhaltung in der herkömmlichsten Form bietet. In der von mir erwähnten Vorstellung im<br />
Metropol am Freitagabend war diese Unterhaltung auf das denkbar niedrigste Niveau gedrückt,<br />
»Die Tante aus Brasilien«, eine Variante von »Charly‘s Tante«, aus der Sowjetunion importiert,<br />
nachdem sie dort über 500mal gespielt worden ist, mit der schmissigen Rotzmusik der<br />
heruntergekommenen Operette. Aber das Publikum ließ sich das nicht nur um die Ohren hauen,<br />
sondern ging mit, bis nach der Pause ein Chargenschauspieler aus dem 19. Jahrhundert, der die<br />
Rolle eines Butlers spielt, das Publikum fragte: »Seid ihr noch alle da?« Da sprang im ersten Rang<br />
ein junger Mann auf und rief. »Das ist eine künstlerische und politische Instinktlosigkeit erster<br />
Güte, was hier passiert«, was den Mimen an der Rampe so verdatterte, dass er von einer<br />
Inspizientin hinter den Vorhang gezogen werden musste, und der Intendant oder Chefdramaturg<br />
des Metropol am nächsten Morgen die Zeitungen anrief, sie möchten keine Kritik veröffentlichen,<br />
weil es sich nicht um die Premiere, sondern um die Generalprobe gehandelt habe. Das Publikum<br />
hätte sich ohne den Zwischenrufer diese Art von heruntergekommenem Theater durchaus gefallen<br />
lassen. Wie unter diesen Umständen Theater machen, das schon in der textlichen Vorgabe eine<br />
solche Verdichtung erreicht hat, wie sie bei Deinen Texten erreicht ist, und dafür theatrale Formen<br />
der Versinnlichung finden, die sie kommunikabel machen und halten? Als Du noch Marxist und<br />
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Brechtianer warst, hast Du noch die Meinung von Theater als einem Laboratorium sozialer<br />
Phantasie gehabt. In der Konsequenz hieße das heute, einem Theater, das die Bedürfnisse breiter<br />
Massen befriedigt, eine Art experimentellen Theaters, eines avantgardistischen Theaters neuer Art<br />
hinzuzufügen oder gegenüberzustellen.<br />
MÜLLER Das ist doch ganz einfach. In der Antike gab es nur einmal im Jahr Theateraufführungen.<br />
Es gab da noch nicht diesen Repertoirezwang, dem heute der Theaterbetrieb unterliegt. In großen<br />
Theaterzeiten, so auch in den zwanziger Jahren, wurden doch die großen Stücke nicht fünfzigmal<br />
durchgejagt, wie es heute aus Mangel an Stücken und an Beweglichkeit der Apparate geschieht.<br />
Ich bin sicher, für jedes meiner vorhandenen Stücke gibt es in Berlin ein Publikum für zwanzig<br />
Vorstellungen, und mehr muss nicht sein. Der Rest ist eben wirklich dieser Bewegungslosigkeit der<br />
Apparate zu verdanken, der Dramaturgie, dem Ministerium, was immer, das sind doch alles<br />
Bremsen.<br />
SCHUMACHER Im Grunde gibt es für Dich in Berlin vier Theater: das Berliner Ensemble, die<br />
Volksbühne, das Gorki Theater und natürlich das Deutsche Theater. Aber in jedem dieser Theater<br />
vermag nur eine Minderheit der Leute, die dort reingehen, mit Deinem Theater, als Ausdruck eines<br />
neuen zeitgenössischen Theaters verstanden, etwas anzufangen. Könnte dem Problem ab- oder<br />
vorangeholfen werden, indem jedem Theater ein experimenteller Freiraum zugebilligt würde,<br />
jedem Theater eine Experimentierbühne?<br />
MÜLLER Das ist eine ganz pessimistische Einschätzung. In Westberlin ist jetzt etwas<br />
Merkwürdiges passiert. Am Schiller Theater hat ein sehr mittelmäßiger Regisseur Gundling<br />
inszeniert. Die Dramaturgie hatte Irene Böhme; Hilmar Thate und Angelica Domröse waren die<br />
wichtigsten Darsteller. Das Ergebnis war mittelmäßig, aber der Skandal riesig. Während der<br />
Premiere gingen zwei Drittel des Publikums weg, so ist mir erzählt worden.<br />
SCHUMACHER Das stimmt nicht. Ganze acht Leute sind rausgegangen, sah ich selber.<br />
MÜLLER Aber die Presse, die »Bildzeitung« und die ganze Springer-Presse waren entsprechend<br />
dagegen. Friedrich Luft schrieb: »Ich musste drei Schnäpse trinken, um das runterzuwürgen«.<br />
Aber vielleicht gerade deswegen sind die Leute dann reingegangen, die sonst nie ins Schiller<br />
Theater gingen. Man sollte also nicht so schnell aufgeben.<br />
SCHUMACHER Trotzdem die Frage: Hat Brechts Aufsatz von 1939 Ȇber experimentelles<br />
Theater«, mit dem er sein Entrée in Schweden vor Studenten der Stockholmer Universität gemacht<br />
hat, mit seiner Grundaussage, Theater des 20. Jahrhunderts müsse, wenn nicht in Gänze, so doch<br />
partiell einen experimentellen Charakter haben, auch noch Gültigkeit im Sozialismus?<br />
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MÜLLER Das Problem ist doch die Kulturpolitik. Es ist ja nicht so, dass es zu viel Kulturpolitik gibt,<br />
sondern zu wenig, und dass sie rein defensiv eingestellt ist. Es ist doch schon oft über dieses<br />
Projekt eines Theaters für solche Zwecke in Berlin gesprochen worden, was ja durchaus ginge.<br />
Aber es ging nie, weil die bestehenden Theater immer genügend Schwierigkeiten haben. Trotzdem<br />
muss man immer wieder darauf kommen.<br />
SCHUMACHER Wir haben über den Begriff der Verfremdung bei Brecht gesprochen. Kannst Du<br />
mit dem Komplementärbegriff der Historisierung noch etwas anfangen?<br />
MÜLLER Es ist die Frage, was man darunter versteht. Ich würde darunter nicht verstehen die<br />
sogenannte Treue des Details, dieses Stimmige im Umgang mit Geschichte. Es gibt da die<br />
Anekdote, dass Brecht Elisabeth Hauptmann angeregt hat, ein Stück über Karl XII. zu schreiben.<br />
Ihm gefiel an der Geschichte eine Episode: Karl XII. wird eingeschlossen, ich weiß jetzt nicht mehr,<br />
von welcher Armee, und es gibt nichts mehr zu essen, es ist Winter, die Soldaten erfrieren und<br />
verhungern, und als das Schloss dann eingenommen wird, entdecken die Eroberer unter einem<br />
Haufen gefrorener Leichen ganz unten das Gesicht von Karl XII., auch im Eis, und alle hatten sich<br />
um ein Stück Brot gekloppt; darüber wollte Brecht ein Stück. Die Hauptmann fing an, das zu<br />
schreiben, und dann kam sie irgendwann mit der Fabel oder ihrer Dramaturgie nicht weiter. Sie<br />
kam zu einem Punkt, wo sie sagt, jetzt im dritten Akt kann ich nur weiterschreiben, wenn eine<br />
Nachricht von einem Ort zum anderen gelangt, schneller als es mit den Transportmitteln der<br />
damaligen Zeit möglich war. Da sagte Brecht: »Dann lassen Sie doch telefonieren.« Das finde ich<br />
eine realistische Haltung zur Frage der Historisierung. Also wenn das der Aussage dient, dann soll<br />
man telefonieren.<br />
SCHUMACHER Der Begriff der Historisierung impliziert bei der praktischen Anwendung eine<br />
Paradoxie. Ideell gesehen soll das, was gezeigt werden soll, weit weggerückt werden, um den<br />
Schritt der Geschichte, der seitdem getan wurde und damit Veränderungen einschließt, bewusst zu<br />
machen. Praktisch lebt das Theater jedoch vom Gegenwärtigsein, das immer Gegenwärtigmachen<br />
bedingt.<br />
MÜLLER Das Verfahren hat ja eine zusätzliche Tücke. Diese so eng verstandene Historisierung<br />
wird dann eben auch benützt, um zu sagen, so schlimm war es einmal, aber mit uns hat das<br />
überhaupt nichts zu tun. Das hat auch mit dem platten Inhalt zu tun.<br />
THALHEIM Ich möchte nochmals auf die »Fatzer«-Bearbeitung für das Berliner Ensemble<br />
zurückkommen. Wie kam es dazu?<br />
68
MÜLLER Es gab in den Sechzigern einen Hospitanten oder Assistenten im Berliner Ensemble,<br />
Guy de Chambure. Das war der einzige Millionär, der je am Berliner Ensemble engagiert war, ein<br />
Rothschilderbe, der leider nach einer Entziehungskur vom Alkohol an einem Herzinfarkt gestorben<br />
ist, in Paris, wohin er zurückgekehrt war. Er war ein sehr intelligenter Mann, einfach eine schöne<br />
Farbe in dieser etwas grauen Mannschaft des Berliner Ensembles. Der besorgte immer Whisky für<br />
alle, na, ich kannte ihn ein bisschen, und wir sprachen einmal darüber, ob man mit diesem<br />
»Fatzer« Material etwas anfangen sollte. Das ging natürlich nur, wenn man es auf eine Darstellung<br />
durch Ekkehard Schall hin anlegte. Das haben wir dann auch gemacht. Da gab es dann ein paar<br />
Sitzungen, aber im wesentlichen ist nicht viel mehr herausgekommen, als was Alexander Stillmark<br />
davon aufgeschrieben hat. Das Vorhaben wurde irgendwie in der Dramaturgie nicht ernst<br />
genommen. Man hielt es nicht für machbar, und gab anderen Projekten, die für wichtiger gehalten<br />
wurden, den Vorzug. Es ist irgendwann eingeschlafen.<br />
BREDEMEYER Aber Sie haben ja den »Fatzer« später dann doch für eine Aufführung in Hamburg,<br />
glaube ich, bearbeitet.<br />
MÜLLER Ja. Zuerst hatte ich ja auch nur das Fragment in den »Versuchen« gelesen, ein Stück<br />
aus dem dritten Teil, die Fleischbeschaffung, die Schlägerei mit den Fleischern. Dann kam dieser<br />
Ansatz einer Bearbeitung im Berliner Ensemble. Schließlich die Aufführung in der Schaubühne, die<br />
schlecht war, weil die versuchten, das als eine Historie, also richtig mit Milieu und so, zu zeigen,<br />
was natürlich schief ging. Daraufhin habe ich mir das ganze Material aus dem Brecht-Archiv geben<br />
lassen. Das waren ungefähr 500 Seiten, was gewaltiger klingt, als es ist, denn manchmal ist auf<br />
einer Seite nur ein halber Satz oder eine Notiz oder eine Zeichnung. Und sehr viele Varianten.<br />
Dann habe ich mich allmählich durchgewühlt, es war ganz schwer, deswegen lüge ich dann immer,<br />
wenn ich versuche, das zu beschreiben, weil es eine so blinde Praxis war. Ich erinnere mich,<br />
Hanns Eisler hatte DIE UMSIEDLERIN gelesen und sagte daraufhin nicht zu mir, sondern zu Hans<br />
Bunge: »Er ist eine große Begabung, aber leider eine dumpfe.« Und da war aus seiner Sicht was<br />
dran. Das ist aber auch meine Sicht, denn meine Überlebensfähigkeit liegt in dieser Dumpfheit,<br />
dass ich wirklich nicht kalkuliert arbeite. Ich kann hinterher viel darüber reden, auch analytisch, und<br />
viel darüber nachdenken, aber es ist so instinktmäßig, mein Arbeiten. Ich habe also einfach diese<br />
Blätter in meinem Zimmer ausgebreitet, und das Zimmer reichte dann nicht, und dann bin ich von<br />
einem Platz zum anderen gegangen. Es musste ja anfangen mit dem ersten Weltkrieg, das war<br />
klar, und dann setzte sich allmählich eine Struktur zusammen. Es gilt ja wirklich der Satz: Wir<br />
machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind. Das erfährt man hinterher, wenn sie<br />
fertig sind. Daran muss man auch festhalten, glaube ich, und auf diesem Recht bestehen, dass<br />
man blind produziert. So entsteht Realismus. Sonst entstehen Plakate oder Allegorien oder was<br />
immer.<br />
69
RINDFLEISCH Gab es da nicht Schwierigkeiten mit den Erben?<br />
MÜLLER Überhaupt nicht. Barbara (Schall-Brecht) war sehr begeistert und sagte: »Du kriegst für<br />
die Bearbeitung 1 % der Tantiemen.« Ich habe dann zäh gehandelt, und sie sagte: »Also mehr hat<br />
noch keiner gekriegt. Aber weil Du es bist und weil es mir so gut gefallen hat, kriegst du 1 1/2<br />
Prozent.« Nun war ich sehr stolz auf dieses Verhandlungsergebnis.<br />
SCHUMACHER Wieviel hat denn Palitzsch jetzt für den »Jakob Geherda« ausgehandelt?<br />
MÜLLER Bestimmt nicht mehr als 1 1/2 Prozent. 1 1/2 krieg nur ich.<br />
SCHUMACHER Du stehst ja in einer außerordentlichen Gunst bei ihr, das ist erstaunlich. Sie hat<br />
eben doch nicht vergessen, dass Du von Brecht hergekommen bist.<br />
MÜLLER Na, zwischendurch war ich natürlich auch mal Verräter. Aber das gibt es bei so engen<br />
Beziehungen, das ist unvermeidlich.<br />
SCHUMACHER Irgendwie ist es traurig, dass alle diese Fragmente mit Ausnahme des<br />
»Brotladens« nicht im Berliner Ensemble, sondern außerhalb das Licht der Bühne erblickt haben.<br />
Das letzte Beispiel war die Aufführung des eben erwähnten Fragments »Das wirkliche Leben des<br />
Jakob Geherda« in Köln, das Peter Palitzsch inszeniert hat. Das liegt aber sicher nicht allein an<br />
der Leitung des Berliner Ensembles, sondern auch an der Vorsicht der Brecht-Erben, die das<br />
Brecht-Bild freihalten wollen von diesen unausgereiften, jedenfalls nicht vollendeten Entwürfen<br />
usw., um das Bild des wahren, guten, schönen Klassikers zu erhalten. Dabei zeigte die Aufführung<br />
des »Brotladens«, dass an solchen Fragmenten sich sehr viel demonstrieren lässt, was für die<br />
Lebendighaltung Brechts von Interesse ist. Zum Beispiel kam Agnes Kraus, die die Witwe Queck<br />
spielte, zum ersten Mal aus einer braven Mittelmäßigkeit heraus und war wirklich herausragend.<br />
Aber insgesamt geht es ja heute um die Frage, wie auch der »Klassiker« Brecht lebendig gehalten<br />
werden kann. Vor dieser Frage stehen Sie, meine Damen und Herren, ja bald selbst.<br />
KOSS Ich sehe das aber auch so: Was machen wir mit Heiner Müller?<br />
THALHEIM Da würde ich gerne eine Gretchenfrage stellen. Sie bezieht sich auf die so nebenbei,<br />
vielleicht ironisch gemachte Bemerkung von Professor Schumacher: »... als Du noch Marxist warst<br />
...« Wie steht es damit wirklich?<br />
MÜLLER Ich habe da Schwierigkeiten, genau zu sagen, wer Marxist und wer keiner ist. Ich bin<br />
Schriftsteller und schreibe Stücke. Ich würde nie sagen: Ich bin Marxist, das wäre mir ganz fremd.<br />
70
Das würde mir wie eine Pose vorkommen. Marx selbst hätte auch nie gesagt, ich bin Marxist. Da<br />
gibt es ja diesen Spruch: »Gott behüte mich vor den Marxisten.« Um es mal seriös zu behandeln:<br />
Natürlich geht es um eine solche Unterscheidung, das finde ich dann schon richtig. Godard hat das<br />
mal ganz gut formuliert: Es ist unsinnig, politische Filme zu machen, es geht darum, Filme politisch<br />
zu machen. Um diese Unterscheidung geht es eigentlich, dass man das nur auf seine Praxis<br />
beziehen kann. Deswegen kann ich nicht sagen, ich bin Marxist. Ich schreibe vielleicht mit<br />
marxistischem Wissen, das ich habe oder nicht habe, damit schreibe ich meine Texte, aber ich<br />
könnte das nie so sagen.<br />
SCHUMACHER Bringen wir doch das Problem nach christlichem Vorbild einfach auf die<br />
Überzeugung: Anima naturaliter marxistica ...<br />
MÜLLER Da möchte ich mit Brechts Galilei antworten. Als der von Virginia die ethischen<br />
Grundsätze von Montaigne vorgelesen bekommt, sagt er nur immer: »Weiter, weiter.« Aber als sie<br />
vorliest: »Bewundernswert ist das Gute«, sagt er: »Lauter«, und dann wiederholt sie:<br />
»Bewundernswert ist das Gute.« Das finde ich enorm.<br />
(Redaktion: Ernst Schumacher)<br />
71
Die Regisseurin Claudia Bosse (* 1969) zählt zu den Gründerinnen der experimentellen<br />
Theatergruppe »theatercombinat«. Von Januar 1999 bis Dezember 2000 erarbeitete das<br />
Kollektiv das Projekt »massakermykene«, eine zweijährige Forschungsarbeit zu den Themen<br />
Chor, Improvisation und Raum im 50.000 qm großen Schlachthof St. Marx, Wien. Zentrale<br />
Textgrundlagen der Arbeit waren die »Orestie« von Aischylos sowie das »Fatzer«-Fragment.<br />
Bereits im Jahr zuvor hatte Bosse »Fatzer« am Grütli-Theater in Genf inszeniert.<br />
Bosses Arbeit an und mit dem Fatzer-Text ist umfangreich im Netz dokumentiert. In der folgenden<br />
Vorbemerkung erläutert sie einige ihrer grundlegenden Gedanken zum Theater in<br />
diesem Kontext. Die fehlende Großschreibung (ein Markenzeichen u.a. Brechts) ist aus dem<br />
Originaltext übernommen.<br />
vorbemerkung zu einer dokumentation<br />
claudia bosse<br />
die wichtigkeit einer aufführung bezieht sich nicht primär aus der arbeit an der vorher bestimmten<br />
botschaft für das publikum, sondern aus dem produktionsprozess, d.h. der wichtigkeit für alle teilnehmenden.<br />
nur so kann eine produktion in einen direkten dialog mit dem zuschauer treten – in<br />
der individuellen konfrontation im arbeitskollektiv und danach mit dem zuschauer, dem keine bedeutung<br />
fertig geschnürt übermittelt wird, sondern der anhand der gezeigten haltungen seine bedeutung<br />
finden muß, in dem der raum für eine erfahrung zugestanden wird.<br />
die auslassung konfrontiert den zuschauer mit seiner realität, die präsentation bezieht daher ihre<br />
gesellschaftliche relevanz.<br />
das grundproblem betrifft das kommunikationsschema eines theaters, das mit seiner "wirkung" kalkuliert.<br />
die suche nach der vorherbestimmung der emotion des zuschauers, mit scheinbar aktiver<br />
kompositionsbeteiligung des zuschauers, ist ein produkt von spekulation. in der scheinbaren freiheit<br />
suche nach direkter manipulation. effektkonsum bei polizeilicher wiedererkennung der einzeleffekte.<br />
ein völlig autoritärer prozess nach beiden seiten: einerseits unterwerfe ich mich wirkungsstrategien,<br />
die aus einem abstrakten schema vom "zuschauer" bezogen sind, andererseits unterliegt<br />
der zuschauer der ideologischen unterweisung des machers. was will er mir mitteilen? was<br />
soll ich verstehen? die frage "was nehme ich wahr" kommt nicht auf.<br />
ein harmonisch geschlossenes kunstwerk ist einfacher rezipierbar, beschreibt einen geschlossenen<br />
kosmos und verhindert das eindringen in die wirklichkeit außerhalb des theaters. eine flucht in<br />
andere welten, und keine "sehnsucht nach einem anderen zustand der welt" (jean genet), weil die<br />
wirkung bei beendigung der aufführung aufhört.<br />
ausgangspunkt ist die wiederholung des bereits bekannten ausgehend von gewohnten emotionen,<br />
keine suche nach dem unbekannten, ungewohnten.<br />
ist die bestätigung oder die infragestellung von wirklichkeit das entscheidende in der kunst?<br />
was ist wahrheit? wer entscheidet darüber?<br />
im theater heute existiert wahrheit nur als konstruiertes schema von wirklichkeit, die es auch nur<br />
da als solche gibt, die aber vom zuschauer als wahrheit – und nicht bloß als wiedererkennen von<br />
bereits bekanntem – abgelehnt wird.<br />
ist die pathetische erregung eines darstellers oder einer szenischen führung gleichzusetzen mit der<br />
erregung des zuschauers? was erzeugt beim zuschauer erregung und lässt ihn aus einem zustand<br />
in den nächsten passieren?<br />
wo existiert ein theatraler raum, in dem der zuschauer erfahrungen machen kann und keine bereits<br />
gemachten zur konsumtion bekommt?<br />
in einer reihe von arbeiten mit dem theatercombinat wird versucht, diese fragen und das damit verbundene<br />
theatrale interesse praktisch zu entwickeln und zu präzisieren.<br />
im folgenden soll durch eine auswahl von arbeitsmaterial, überlegungen und kritiken zu der jüngsten<br />
arbeit, am fatzer-fragment von bertolt brecht (théatre du grütli, genf, märz bis juni 1998), ein<br />
anfang gemacht werden, diese arbeitsansätze zu dokumentieren.<br />
Quelle: http://www.theatercombinat.com/projekte/fatzer/fatzer_vorbemerkung.htm (23.3.2012)<br />
72
E) Das Lehrstück<br />
aus: Steinweg, Reiner: "Das Lehrstück. Brechts<br />
Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung."<br />
Stuttgart: Metzler, 1972. 13ff.<br />
73
aus: Steinweg, Reiner: "Das<br />
Lehrstück. Brechts Theorie einer<br />
politisch-ästhetischen Erziehung."<br />
Stuttgart: Metzler, 1972. 87ff.<br />
80
[...]
F) Wer ist der Chor?<br />
B21<br />
WER IST DER CHOR?<br />
Vor dem Schluss:<br />
Aber auch er ist doch<br />
Ein Mensch wie ihr!<br />
Unbestimmt von Ausdruck<br />
Frühzeitig verhärtet, vieles<br />
Versuchend<br />
Äußerte er viel:<br />
Haltend ihn doch<br />
Nicht bei dem was er sagte bald<br />
Ändert er´s...<br />
Nichts Endgültiges saht ihr und alles<br />
Änderte sich vor es einging<br />
Warum<br />
Nehmt ihr ihn beim Wort?<br />
Wen ihr beim Wort nehmt der<br />
Ist´s der euch enttäuscht!<br />
Aber sie brauchen doch auch<br />
Obdach und Wasser und Fleisch!<br />
Bertolt Brecht, aus »Fatzer«<br />
»Die Schwerkraft der Massen« - der Chor ist ein Gravitationszentrum und dadurch provoziert er<br />
Bewegung. Es gibt diese alte Formel: der Chor als Instrument der Dialektik, aber Instrument, nicht<br />
Lehrer, der Chor hat überhaupt keinen didaktischen Zug, im Gegensatz zu dem, was im christlichen<br />
Drama und bei Brecht daraus geworden ist, wo der Chor im Besitz einer Wahrheit ist. Hier<br />
ist der Chor nicht im Besitz einer oder der Wahrheit. Er will vielleicht die Wahrheit wissen, aber er<br />
weiß sie nicht, er gibt nicht vor, sie zu wissen. Sie wird ihm dann gesagt; der Chor provoziert das<br />
durch die Schwerkraft, er fragt die Bewegung nach der Richtung, dadurch, daß er stehen bleibt.<br />
Heiner Müller in Aischylos, Die Perser<br />
Fatzer-Fragment: der Chor ist aus der Gesellschaft verschwunden. Entinnert. Der Fatzer-Text<br />
formuliert ein ständiges Ringen gegen die Unmöglichkeit des Chors. Es existiert kein bindendes<br />
Verhältnis zwischen den Figuren und dem Chor. Die Chortexte bezeichnen die Differenz. Chor und<br />
Individuum scheitern.<br />
Karl Mickel zitiert Brecht<br />
nach Paul Dessau: »Aus Gesprächen«, Leipzig 1974<br />
Im Chor vervielfältigen sich die Schreckensmomente. Der Sprechvorgang alleine hat als Widerstände<br />
gegen diese Selbstzersetzung zunächst Statisches: den Text, den Raum. Oder findet in gesetzten<br />
szenischen Ordnungen statt, als Dialog z.B. oder als Bericht, Erzählung, Bezeichnung.<br />
D.h., es gibt ein Minimum an Richtungen, an Entfernungen, die gegeben sind, die ich von mir aus<br />
überwinden, ansteuern und so, durch Hören z.B., überprüfen, korrigieren kann. Mit Raum und Zeit<br />
dazwischen. Im Chor fehlt dieses individuelle Raum-Zeit-Kontrollmoment. Jegliche Differenz,<br />
90
falsche Nähe oder falsche Distanz ist hörbar, jede Ängstlichkeit oder allgemeiner, jede Differenz<br />
trägt sich im Moment (in Echtzeit) aus: wer beginnt, wer nicht, wer folgt, wer nicht, wer ist stärker,<br />
schwächer, wer findet den Text gut, wer nicht, verhält sich dazu oder nicht. Wiederum: Furcht. Vor<br />
dem Alleinsein im Chor genauso wie vor dem Zusammensein im Chor. Begreift man den Chor als<br />
spezifische Kommunikationsform und nicht als ästhetisches Mittel für irgendwelche Effekte, d.h.<br />
verzichtet man auf technische Instrumentarien der Steigerung und der Synchronisation, auf den<br />
Dirigenten als Sinnstifter, ist der Chor Brennglas sozialen Verhaltens und seiner Grenzen. Auch<br />
das ist eine Konditionsfrage. Auch das geht nur über Training, nicht über Interpretation und<br />
Ausdruck.<br />
Christine Standfest/theatercombinat<br />
Auszug aus einem Dokumentationsentwurf zur Arbeit an Fatzer, Genf 1998<br />
In der Orestie ist der Chor das Ausgangsmoment. Durch die Präsenz des Chors lassen sich die<br />
Protagonistenhaltungen (Agamemnon, Klytaimnestra, Orestes) vorführen; durch die Protagonisten<br />
werden die Chorhaltungen befragt. Die Orestie zeichnet das Verschwinden des Chors über den<br />
Verlauf der drei Teile. Orest geht aus dem tragischen Diskurs hervor. Die chorische Ordnung verliert<br />
sich.<br />
Der Chor in der Tragödie ist nicht die Wahrheit der antiken Seele. Es sind Chöre: der Chor der<br />
Greise, der Sklavinnen, der Erinyen. Chöre sind Kommunikationsschemata. Sie repräsentieren keine<br />
Identität, schon gar nicht die Identität des Publikums. Der Chor ist eine Konstellation, zu der<br />
sich der Betrachter in Beziehung setzen muss.<br />
Claudia Bosse/theatercombinat<br />
Fatzer-Fragment. Der Chor ist aus der Gesellschaft verschwunden. Entinnert. Der Fatzer-Text formuliert<br />
ein ständiges Ringen gegen die Unmöglichkeit des Chors. Es existiert kein bindendes Verhältnis<br />
zwischen den Figuren und dem Chor. Die Chortexte bezeichnen die Differenz. Chor und Individuum<br />
scheitern.<br />
Claudia Bosse/theatercombinat<br />
Josef Szeiler: ... daß ein Fragment die Präzision im Detail braucht. D.h. je präziser der Chor ist,<br />
desto fragmentarischer wird das andere, was ja real so ist. (...) Schlicht und ergreifend die<br />
Präzision oder die Genauigkeit oder die Energie oder die Freude, was alles der Chor vermittelt, je<br />
mehr man das hat, desto mehr fragmentiert sich das andere.<br />
Rein technisch muß man ja mal fragen, was das heißt, in dem Jahrhundert den Chor wieder zu installieren,<br />
nicht als irgendein Beiwerk, sondern als die zentrale Qualität. Diese Versuche von<br />
Brecht, letztlich auch irgendwie von Müller, im deutschen Sprachraum wieder auf den Chor zu gehen.<br />
Als zentralem Punkt der Dramatik. Nicht nur ein Chörchen irgendwo, sondern dass der Chor<br />
im Zentrum ist. Und du kannst dieses Verhältnis natürlich nicht mehr so installieren wie in der Antike,<br />
das ist Quatsch.<br />
Sylviane Dupuis: Das erste Mal, dass mich das wirklich interessierte, einen Chor zu sehen. Es<br />
gab keine Einheit, und gleichzeitig, denn das ist die einfachste, die uninteressanteste Art wenn alle<br />
gleichzeitig sprechen, aber es gab eine Einheit, die sich mit den Differenzen konstituiert. Das ist<br />
sehr schön, und das ist die einzige Art, den Chor zu arbeiten, was mich die ganze Zeit über an der<br />
Arbeit interessiert.<br />
JS:... aus der Präzision des Chores heraus kann man jegliche andere Unpräzision oder Präzision<br />
aktivieren, installieren, zerfallen lassen, neu konstruieren, aber das braucht den Moment. Ich persönlich<br />
glaube, der zentrale Moment von Fatzer ist der Chor. Auch im Schreiben. Und dass das<br />
misslungen ist, hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass Brecht nicht damit umgehen konnte,<br />
dem Verhältnis Chor und Protagonist, mit dem parteiischen Verhältnis von Chor und Protagonist.<br />
91
Das hat er in allen Dingen hingekriegt und zwar über den Kompromiss, dass er den Chor negiert<br />
oder musikalisiert hat in einer populären Weise.<br />
(aus einem Arbeitsgespräch zu »Fatzer« mit Sylviane Dupuis und Josef Szeiler, Genf 1998<br />
Auszug aus einem Dokumentationsentwurf von theatercombinat)<br />
Quelle: http://www.consyder.com/massakermykene (22.12.2012)<br />
92
G) Aufführungsgeschichte/<br />
Deutungen<br />
aus: Jan Knopf (Hrsg.): "Brecht-<br />
Handbuch in fünf Bänden." Stuttgart:<br />
Metzler, 2001–2003<br />
93
aus: Wyss, Monika: "Brecht in der Kritik. Rezensionen<br />
aller Brecht-Uraufführungen", München: Kindler 1977,<br />
S. 440ff.<br />
96
Brecht/Müller, mal melodisch<br />
Zum Gastspiel des Teatro Stabile an der Volksbühne Berlin<br />
22. Januar 2012<br />
Tobi Müller<br />
Der Fatzer-Stoff ist im deutschsprachigen Theater ein Mythos im eigentlichen Sinn. Ein<br />
Mythos, weil unentziffert. Es gibt vier- bis fünfhundert Seiten, aber kein Stück. Nicht von<br />
Brecht jedenfalls. Es gibt eine Fassung der alten Schaubühne, noch so ein deutscher<br />
Mythos. Und es gibt Heiner Müllers Bearbeitung. Müller, Master of Myth, der Herrscher<br />
über die Rückprojektion der deutschen Geschichte in die Unerbittlichkeit der Antike. Über<br />
Fatzer wird vor allem geraunt: Brechts Schock der Großstadt, als er nach Berlin kam; die<br />
Konsequenz des Umsturzes, seine Logik der immer neuen Ausgrenzung; das Verhältnis<br />
von Individuum und Kollektiv, das ist der Kern, der die berühmteren Lehrstücke wie »Die<br />
Maßnahme« umtreibt. Ein Mythos bleibt nur so lange Mythos, wie an seiner Interpretation<br />
gearbeitet wird und er also unverstanden bleibt. Ich bin nicht sicher, ob das für Heiner<br />
Müller zutrifft. Oder auf die Figur Brechts. Sicher aber auf diesen einen Un-Text, das<br />
Fatzer-Fragment.<br />
Wer Müllers Fassung liest, hört das ästhetische Familienverhältnis der beiden wichtigsten<br />
deutschen Theaterautoren des 20. Jahrhunderts einmal mehr sofort. Der Schrecken des<br />
Krieges wird einerseits ein Stück weit gebannt in der Sprache, und doch wieder in ihrer<br />
Deutlichkeit abgebildet. Man hört die Drastik dialektisch in der strengen Formalisierung<br />
mitzittern. In Pausen, Sprachbildern wie Kirchen, ein Denken und Schreiben, das die<br />
Abgeschiedenheit der Emigration – der äußeren bei Brecht, der inneren bei Müller? –<br />
vorwegnimmt.<br />
Die Geschichte der Deserteure, die aus dem Ersten Weltkrieg flüchten, die Revolution<br />
wollen und sogleich wieder scheitern, ist das Gegenteil des Geplauders. Nun sehen wir<br />
aber italienische Schauspieler in der Volksbühne, sie kommen aus Turin, aus dem Teatro<br />
Stabile, und zeigen uns »Fatzer Fragment – Getting Lost Faster« mit deutschen Übertiteln.<br />
Und es sieht, trotz einiger angedeuteten Tableaux vivants, die man auch von Müllers<br />
Inszenierungen oder mehr noch: von jenen Einar Schleefs kannte, es sieht einfach sehr,<br />
sehr anders aus. Wo kein Text mehr hilft, wird improvisiert. Für deutschsprachige Ohren<br />
oft: wortreich charmiert. Man gibt sich diesem Sound hin, der die Melodie stärker gewichtet<br />
als das Deutsche mit seinen harten Rhythmen, zumal wenn sie im Vers gehalten werden<br />
wie bei Brecht/Müller. Das Italienische wirbt um den Hörer, um das Deutsche muss man<br />
als Hörer selbst werben. Das ist eine ungewöhnliche, im Sinne der Unterbrechung des<br />
Bekannten, des vermeintlich Verstandenen auch: eine sinnliche Erfahrung.<br />
Die Revolution als Casting Show mit dem Publikum, die Musik als oft romantisches<br />
Elektro-Intermezzo: Der Text, und es ist viel Text, erscheint so nicht als Evangelium,<br />
sondern als Projektion. Für Müller war es die RAF. Für die Turiner sind es die kommenden<br />
Aufstände unserer Zeit. Dass man zwischen diesen Klängen und Improvisationen auch<br />
immer wieder den Text nach dem Buchstaben zu spielen versucht und auf dieser großen,<br />
Brecht- wie Müller-gestählten Bühne nur schwerlich durchdringt, ist am Ende vielleicht<br />
nebensächlich.<br />
wanderlust blog http://www.wanderlust-blog.de/?p=4531 (27.1.2012)<br />
99
Ein weiterer Auszug aus der Dokumentation der Schweizer Erstaufführung von "Fatzer" am Theater Grütli in Genf,<br />
1998. Weiteres Material (siehe Inhaltsverzeichnis links) befindet sich unter http://www.theatercombinat.com/projekte/<br />
fatzer/<br />
theatercombinat | 1998 fatzer-fragment brecht - 4 monate + 18 präsentationen, schweizer erstaufführung, th<br />
grütli, genf (ch)<br />
sprache: deutsch<br />
vorbemerkung<br />
raum<br />
improvisation<br />
komposition<br />
thesen<br />
fragen<br />
zusammenfassung der<br />
arbeitsansätze<br />
probenprotokolle<br />
gespräch zu regie<br />
gespräch zur position des<br />
zuschauer<br />
fotos<br />
raum<br />
der raum war wesentlicher bestandteil der theatralen auseinandersetzung, teil der<br />
theatralen komposition. der theaterraum des theatre du grütli wurde skeletiert, di<br />
zuschauertribühne abgebaut, die funktionsräume, d.h. die werkstätten, der gang z<br />
lagerung von scheinwerfern und die zugänge zu den notausgängen wurden geöffn<br />
bar leergeräumt. alle türen und die fenster des theatersaals, die nach teils in das<br />
und teils nach außen gehen, wurden ebenfalls aufgemacht. es gab spuren von fatz<br />
haus und an der fassade des grütli, große tafeln in der farbe der hocker mit fatzer<br />
die züge sowie der inspizientenraum waren sowohl dem spieler, als auch dem zusc<br />
zugänglich. das theater wurde in seinen funktionen offengelegt, eine räumliche tr<br />
von zuschauer und spieler war nicht mehr vorhanden. der bezug zur aussenwelt w<br />
durch sichtbar vorbeigehende füsse von passanten. der theaterraum wurde zum<br />
seiner funktion. die illusion fand nicht mehr statt. lichteffekte ausser durch wech<br />
tageslicht durch die fenster waren nicht vorhanden. jeder der räume wurde in sein<br />
funktionslicht benutzt, d.h. es gab unterschiedliche lichtqualitäten bei unterschied<br />
raumgrösse und struktur, wobei alle räume miteinander verbunden waren.<br />
die zentralperspektive war abgeschafft, da es keinen punkt in der raumanlage gab<br />
dem aus man alles überblicken konnte. die spieler sahen sich nicht immer, der zus<br />
mußte sich entscheiden, wohin er sich bewegte, im bewußtsein stets etwas zu verp<br />
die wahl des blickwinkels und der akustischen auswahl lag beim betrachter; ebens<br />
entscheidung, inwieweit er sich räumlich thematisiert oder in kommunikation mit<br />
spielern tritt.<br />
den zuschauern war immer alles zugänglich. als angebote gab es einzeln gestellte<br />
in der gesamtraumanlage, deren anordnung sich aus den jeweiligen räumen ergab<br />
weiteres angebot waren auf den boden geschriebene schriftspuren mit fabelentwü<br />
brecht zu fatzer, die die räume verbanden: den zuschauer lesend zu bewegung an<br />
die raumstruktur für die spieler war rigider geordnet.<br />
für jede arbeitsphase gab es eine räumliche grundstruktur:<br />
I<br />
die spieler des fatzerchors durften sich nur ausserhalb des zentralen theaterraums<br />
bewegen, ihn nur durchqueren, aber keine aktionen entwicklen. bei jeder ansage<br />
fragmentwechsels, die von mir laut während der aufführungen angesagt wurde, m<br />
jeder spieler auf seinen körperlich genau von ihm bestimmten (manchmal von mir<br />
korrigierten) ausgangspunkt zurückkehren und wieder beginnen für das nächste, v<br />
nicht im voraus im ablauf gewusste fragment. der spielerin des kommentartexts w<br />
während der 1. arbeitsphase der zentrale theaterraum zugeordnet, wo sich zu beg<br />
gewohnheit, meist die größte anzahl von zuschauern befand. akustisch waren alle<br />
verbunden, dialoge fanden z t. über eine distanz von 30 metern statt. um jedoch d<br />
aktionen der spieler zu sehen, mußten sich die zuschauer zu einzelnen spielern<br />
hinbewegen, andere sichten erkunden.<br />
II<br />
in der II. arbeitsphase, bei der die texte weniger entwurfscharakter als theatral sz<br />
charakter haben, sammelten sich alle spieler im zentralen raum, um zu einer vorh<br />
angesagten reihenfolge mit den textfragmenten zu improvisieren. meine möglichk<br />
jederzeit einzuschreiten, zu unterbrechen, zu schneiden, indem ich vor beendigun<br />
fragments ein anderes ansagte oder währendessen die reihenfolge veränderte. die<br />
stets abhängig von den jeweiligen entwürfen der spieler, den reaktionen der zusch<br />
dem rhythmus der kommunikation. d.h. die komposition fand hinsichtlich aller erw<br />
bedingungen im augenblick statt, wobei material der improvisationen thematische<br />
fixierungen, genauere räumliche fixierungen, textliche fixierungen sein konnte (in<br />
regel bestimmten die spieler, wer aufgrund welcher räumlichen konstellation welch<br />
sprach, wobei die genaue interpunktion und der fragmentinterne rhythmus eingeh<br />
werden mußten. jeder spieler beherrschte den kompletten text in der präzisen<br />
rhythmischen struktur.)<br />
of 2 5.11.2012 20:58<br />
100
die spielerin der kommentartexte, die sich immer in distanz zu den anderen spiele<br />
dennoch in beziehung, verhalten mußte, bewegte sich und sprach die kommentart<br />
den gängen, werkstätten, im foyer etc. jedoch durfte sie den zentralen raum nicht<br />
betreten.<br />
während der ganzen aufführungszeit gab es einen für alle zugänglichen tisch, an d<br />
material auslag und parallel an der übersetzung der arbeitsphasen 4 und 5<br />
weitergearbeitet wurde.<br />
III<br />
in der dritten arbeitsphase war für alle spieler der gesamtraum frei (entwickelt au<br />
veränderten textqualität diese phase), mit der bedingung, den gesamtraum zu hal<br />
immer in kommunikation zu bleiben, räumlich und akkustisch.<br />
ein mögliches ende der versuchsreihe z.B. war mit dem fragment a 31, während d<br />
spieler die raumkonstruktion verliessen und sich ausserhalb des theaterraums im<br />
zum innenraum an den unterschiedlichen fenstern positionierten. die zuschauer w<br />
theaterraum zurückgelassen.<br />
der ablauf wurde von abend zu abend variiert, unter verschiedenen inhaltlichen<br />
gesichtspunkten, wobei die räumliche grundstruktur der jeweiligen arbeitsphase g<br />
blieb. die dauer der öffentlichen versuche betrug zwischen 2 und 5 ½ stunden. un<br />
erarbeitetes material umfasste ca. 7 stunden, was aus ökonomischen gründen auf<br />
auflage des theaters, drei wochen lang jeden abend zu spielen, nicht gezeigt werd<br />
konnte. was der erklärten absicht, die arbeit am fragment auch als solche zu beha<br />
und kein logisches ganzes zu konstruieren, nahekommt.<br />
www.theatercombinat.com theatrale produktion und rezeption<br />
of 2 5.11.2012 20:58<br />
101
Théâtre du Grütli, Genf<br />
1998<br />
theatercombinat/Claudia Bosse<br />
102
FatzerBraz<br />
Noch ist Lulas Nachfolgerin Dilma, ehemals Guerillakämpferin der im Untergrund entstandenen<br />
brasilianischen Arbeiterpartei PT, nicht ganz ins Präsidentenamt gewählt, da zeigt die Berliner<br />
Performanceguerilla andcompany&Co. auch schon, was übrigblieb von der tropikalischen Revolution. Am<br />
Vorabend des zweiten Wahlgangs erlebt Berlin am Beispiel von Brechts Fragment vom „Untergang des<br />
Egoisten Johann Fatzer“ (1927), was aus der Welt werden könnte, wenn sie nach allen Regeln des<br />
„Antropophagen Manifests“ (1928) von Oswald de Andrade von Brasilien verschlungen würde.<br />
Gemeinsam mit vier Mitstreitern aus brasilianischen Aktions- und Theatergruppen erarbeitete die<br />
andcompany&Co. in São Paulo aus dem umfangreichen Fatzer-Material die zweisprachige,<br />
antropophagische Performance „FatzerBraz“ – als Spaziergänge, Expeditionen, Vertilgungen und<br />
Verherrlichungen eines asozialen, anarchischen „Helden ohne Charakter“ (wie es über Macunaima heißt,<br />
den emblematischsten Protagonisten der brasilianischen Moderne). Brechts Deserteure aus dem Ersten<br />
Weltkrieg treffen auf Marighellas Stadtguerilla, und die RAF auf den Zorn Gottes, Fitzcarraldo&Co.<br />
Die Fragen nach Desertion, revolutionärem Defätismus und Guerillakampf stehen im Zentrum des »Fatzer«-<br />
Fragments von Bertolt Brecht. Eine Gruppe Soldaten des Ersten Weltkriegs beschließt, »keinen Krieg mehr<br />
zu machen« und versteckt sich in Mülheim an der Ruhr, um auf einen allgemeinen Aufstand zu warten.<br />
Bevor es jedoch zu einer Erhebung gegen den Krieg kommt, zerfleischt sich die Gruppe gegeseitig. Die<br />
Situation im Untergrund erinnert an das Schicksal der Stadtguerilla, deren »Minihandbuch« Carlos<br />
Marighella verfasst hat, ein brasilianischer Abgeordneter und Widerstandskämpfer gegen die<br />
Militärdiktatur. Im Milieu der Studentenbewegung wurde dieses »Handbuch« auch in Deutschland<br />
folgenreich (Bewegung 2. Juni, RAF).<br />
Diese Texte bilden den Ausgangspunkt für »FatzerBraz«, die neueste Inszenierung von andcompany&Co.<br />
Das internationale Künstlerkollektiv um Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma inszeniert<br />
das Stück in São Paulo gemeinsam mit brasilianischen Künstlern. Diese Zusammenarbeit bietet die Chance<br />
einer gegenseitigen Verfremdung: von São Paulo und dem Ruhrgebiet, Erstem Weltkrieg und Stadtguerilla,<br />
revolutionärer Bewegung und Reformregierung. Dabei geht es darum, mit Hilfe der stark entwickelten<br />
brasilianischen Brecht-Tradition Wege zu einem »anderen«, tropikalischen Brecht zu finden. Der kulturelle<br />
und ideologische »Remix«, charakteristisch für die Arbeiten von andcompany&Co., lässt neue Formen der<br />
Aneignung und Einverleibung zu, die in Brasilien eine lange Tradition haben. Am Ende wird es darum gehen,<br />
Fatzer zu fressen…<br />
http://www.andco.de/index.php?context=project_detail&id=3822<br />
Ein weiteres Beispiel, nach dem theatercombinat, für die Auseinandersetzung einer experimentell orientierten<br />
Theatergruppe mit den "Fatzer"-Texten. Das Frankfurter Kollektiv andcompany&Co. wurde 2003 von Nicola Nord,<br />
Alexander Karschnia und Sascha Sulimma gegründet und zählt mittlerweile zu den etablierten Playern des<br />
internationalen Festival- und Performance Art-Betriebs.<br />
103
Heiner Müller<br />
FATZER ± KEUNER<br />
Ich scheiße<br />
auf die Ordnung der Welt<br />
Ich bin<br />
verloren<br />
Das Ausbleiben der bürgerlichen Revolution in Deutschland ermöglichte zugleich und erzwang die<br />
Weimarer Klassik als Aufhebung der Positionen des Sturm und Drang. Klassik als<br />
Revolutionsersatz. Literatur einer besiegten Klasse, Form als Ausgleich, Kultur als Umgangsform<br />
mit der Macht und Transport von falschem Bewusstsein. Goethes bewußte Entscheidung gegen<br />
die hungernden Weber von Apolda für die Jamben der Iphigenie ist paradigmatisch. Das vielleicht<br />
folgenreichste Unglück in der neueren Geschichte war das Scheitern der proletarischen Revolution<br />
in Deutschland und ihre Abwürgung durch den Faschismus, seine schlimmste Konsequenz die<br />
Isolierung des sozialistischen Experiments in der Sowjetunion auf ein Versuchsfeld mit<br />
unentwickelten Bedingungen. Die Folgen sind bekannt und nicht überwunden. Die Amputation des<br />
deutschen Sozialismus durch die Teilung der Nation gehört nicht zu den schlimmsten. Die DDR<br />
kann damit leben.<br />
Für Brecht bedeuteten die Austreibung aus Deutschland, die Entfernung von den deutschen<br />
Klassenkämpfen und die Unmöglichkeit, seine Arbeit in der Sowjetunion fortzusetzen: die<br />
Emigration in die Klassizität. Die Versuche 1-8 enthalten, was die mögliche unmittelbar politische<br />
Wirkung angeht, den lebendigen Teil seiner Arbeit, den im Sinn von Benjamins<br />
Marxismusverständnis theologischen Glutkern. Hollywood wurde das Weimar der deutschen<br />
antifaschistischen Emigration. Die Notwendigkeit, über Stalin zu schweigen, weil sein Name,<br />
solange Hitler an der Macht war, für die Sowjetunion stand, erzwang die Allgemeinheit der Parabel.<br />
Die von Benjamin referierten Svendborger Gespräche geben darüber Auskunft. Die Situation der<br />
DDR im nationalen und im internationalen Kontext bot in Brechts Lebenszeit keinen Ausweg aus<br />
dem klassischen Dilemma.<br />
Zu den Svendborger Gesprächsthemen von Brecht und Benjamin gehört Kafka. Zwischen den<br />
Zeilen Benjamins steht die Frage, ob nicht Kafkas Parabel geräumiger ist, mehr Realität<br />
aufnehmen kann (und mehr hergibt) als die Parabel Brechts. Und das nicht obwohl, sondern weil<br />
sie Gesten ohne Bezugssystem beschreibt/darstellt, nicht orientiert auf eine Bewegung (Praxis),<br />
auf eine Bedeutung nicht reduzierbar, eher fremd als verfremdend, ohne Moral. Die Steinschläge<br />
der jüngsten Geschichte haben dem Modell der »Strafkolonie« weniger Schaden zugefügt als der<br />
dialektischen Idealkonstruktion der Lehrstücke. Die Blindheit von Kafkas Erfahrung ist der Ausweis<br />
ihrer Authentizität. (Kafkas Blick als Blick in die Sonne. Die Unfähigkeit, der Geschichte ins Weiße<br />
im Auge zu sehen als Grundlage der Politik.) Nur der zunehmende Druck authentischer Erfahrung,<br />
104
vorausgesetzt, daß er »die Massen ergreift«, entwickelt die Fähigkeit, der Geschichte ins Weiße im<br />
Auge zu sehen, die das Ende der Politik und der Beginn einer Geschichte des Menschen sein<br />
kann. Der Autor ist klüger als die Allegorie, die Metapher klüger als der Autor.<br />
Gertrude Stein, in einem Text über die elisabethanische Literatur, erklärt ihre Gewalt mit dem<br />
Tempo des Bedeutungswandels in der Sprache: »Es bewegt sich alles so sehr.« Der<br />
Bedeutungswandel ist das Barometer des Erfahrungsdrucks in der Morgenröte des Kapitalismus,<br />
der die Welt als Markt zu entdecken beginnt. Das Tempo des Bedeutungswandels konstituiert das<br />
Primat der Metapher, die als Sichtblende gegen das Bombardement der Bilder dient. »Der Druck<br />
der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung.« (Eliot) Die Angst vor der Metapher ist die Angst<br />
vor der Eigenbewegung des Materials. Die Angst vor der Tragödie ist die Angst vor der Permanenz<br />
der Revolution.<br />
Ich erinnere mich an eine Bemerkung von Wekwerth bei der Vorbereitung seiner Inszenierung der<br />
»Heiligen Johanna der Schlachthöfe«. Es käme darauf an, was Brecht klargelegt hätte, zu<br />
verdunkeln, damit es neu gesehen werden kann; Hegel: das Bekannte ist nicht erkannt usw. Die<br />
Geschichte der europäischen Linken legt den Gedanken nahe, ob Hegel nicht auch in diesem Fall<br />
vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss. Noch in jedem Territorium, das die Aufklärung<br />
besetzt hat, haben sich »unversehens« unbekannte Dunkelzonen aufgetan. Immer neu hat die<br />
Allianz mit dem Rationalismus der linken den Rücken entblößt für die Dolche der Reaktion, die in<br />
diesen Dunkelzonen geschmiedet wurden. Das Erkannte ist nicht bekannt. Brechts Insistieren, in<br />
seinen letzten Gesprächen mit Wekwerth, auf der Naivität als der primären Kategorie seiner<br />
Ästhetik beleuchtet diesen Sachverhalt.<br />
Brechts Anstrengung, Kafka nicht oder wenigstens falsch zu verstehen, ist in Benjamins Notierung<br />
der (Svendborger) Gespräche ablesbar.<br />
Etwa 1948 sendete der NDR ein Programm über zwei Repräsentanten engagierter Literatur, den<br />
Katholiken T. S. Eliot und den Kommunisten Brecht. Als Klammer musste ein Satz von Eliot<br />
herhalten: poetry doesn't matter. Ich erinnere mich an einen Satz aus dem Interview mit Brecht:<br />
das Weitermachen, die Kontinuität, schafft die Zerstörung. Brecht hat das später, in einem Text,<br />
der von der Theatersituation im Nachkriegsdeutschland ausgeht, näher ausgeführt: die Keller sind<br />
noch nicht ausgeräumt, schon werden neue Häuser darauf gebaut usw. Die Parallele zu Thomas<br />
Manns Bemerkung über die deutsche Geschichte, in der keine Epoche zu Ende gelebt worden ist,<br />
weil keine Revolution erfolgreich war, ablesbar am deutschen Stadtbild, ist offensichtlich. Was nicht<br />
bedeutet, dass Brecht den »Faustus« gelesen haben muss. Der Germanist Gerhard Scholz erzählt<br />
von einem Gespräch mit Brecht im gemeinsamen skandinavischen Exil über die Zukunft des<br />
Sozialismus in Deutschland. Brecht polemisierte, zumindest halb ernsthaft, gegen die<br />
Volksfrontkonzeption mit dem »Fatzer«-Traum von der Konstituierung einer kommunistischen<br />
Diktatur (Zelle) z. B. in Ratibor oder sonstwo, um ein Beispiel zu schaffen.<br />
Im gleichen Jahr 1948, in einer Diskussion mit Studenten in Leipzig, formulierte Brecht als die<br />
Zielstellung seiner Arbeit in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands: 20 Jahre<br />
105
Ideologiezertrümmerung und sein Bedürfnis nach einem eigenen Theater »zur wissenschaftlichen<br />
Erzeugung von Skandalen«, ausgehend auf die politische Spaltung des Publikums statt auf eine<br />
illusionäre »Vereinigung« im ästhetischen Schein. Mit anderen Worten: seine Hoffnung auf ein<br />
politisches Theater jenseits der Verkaufszwänge des Marktes. Ein Theater, das im Widerspruch<br />
zwischen Erfolg und Wirkung seine Chance hat, statt, wie in der kapitalistischen Gesellschaft, sein<br />
Dilemma. Das war ein Vorgriff, eine Projektion auf eine Zukunft, die auch 23 Jahre nach Brechts<br />
Tod noch nicht Gegenwart ist. Die Skandale fanden nicht, als Initialzündung für die große<br />
Diskussion, im Theater statt, sondern, als Behinderung der Diskussion, auf den Kulturseiten der<br />
Presse. Die neuen Häuser mussten schneller gebaut werden als die Keller ausgeräumt werden<br />
konnten. Der Belagerungszustand, in den die DDR durch den Kalten Krieg versetzt war, der, was<br />
die gesamtdeutsche Situation betrifft, andauert, brauchte und braucht Ideologie. Zwischen dem<br />
Leipziger Statement und dem Satz im späten Vorwort zu den frühen Stücken, der den Verzicht auf<br />
das Ideal der tabula rasa, des reinen Beispiels, formuliert: die Geschichte macht vielleicht einen<br />
reinen Tisch, aber sie scheut den leeren... liegt Brechts DDR-Erfahrung. Ein wesentlicher Teil<br />
dieser Erfahrung ist die Entdeckung der Freundlichkeit als einer politischen Kategorie. Brechts<br />
Theaterarbeit: ein heroischer Versuch, die Keller auszuräumen, ohne die Statik der neuen<br />
Gebäude zu gefährden. (Die Formulierung enthält das Basisproblem der DDR-Kulturpolitik.) In<br />
diesem Kontext sind die Klassikerbearbeitungen kein Ausweichen vor der Forderung des Tages,<br />
sondern Revision des Revisionismus der Klassik, bzw. ihrer Tradierung.<br />
Brechts Schwierigkeit, ein DDR-Material in den Griff zu bekommen, ist an der Geschichte des<br />
»Büsching«-Projekts abzulesen. Der erste Entwurf geht auf ein Historienstück, der Arbeiter<br />
(Garbe) als historische Figur. Mit dem epochalen Unterschied zu Plutarch-Holinshed-Shakespeare,<br />
dass der Held sein eigener Chronist war. (Brecht ließ von Käte Rülicke nach<br />
Tonbandaufzeichnungen von Erzählungen Garbes ein Material herstellen.) Der Unterschied steht<br />
für das Problem: das Petroleum sträubt sich gegen die fünf Akte, der bewusstlose Held ist nicht<br />
dramatisch oder es muss ein andres Drama her. Brecht hatte sein Formenarsenal ausgebildet im<br />
Umgang mit einer anderen Wirklichkeit, ausgehend von der Klassenlage und den Interessen des<br />
europäischen Proletariats vor der Revolution.<br />
Die Revolution in der DDR konnte nur für die Arbeiterklasse gemacht werden, nach Dezimierung<br />
der Avantgarde, Depravierung der Masse, Zerstörungen des zweiten Weltkriegs im Osten<br />
Deutschlands und in der Sowjetunion - nicht von ihr. Der Nachvollzug im Bewusstsein musste ihr<br />
unter den Bedingungen des Kalten Krieges abgefordert werden, in einem besetzten und geteilten<br />
Land, im Trommelfeuer der täglichen Werbung für die Wunder des Kapitalismus im anderen<br />
deutschen Staat, Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, gesundgeschrumpft in zwei<br />
Weltkriegen. Diese Wirklichkeit ist mit den klassisch marxistischen Kategorien nicht zu greifen: sie<br />
schneiden ins Fleisch.<br />
Mit der Bemerkung, das ganze reiche nur für einen Einakter, er, Brecht, sähe keine Möglichkeit,<br />
seinem Helden die Ausdrucksskala zu verleihen, die er brauche, um ein Stück zu schreiben, wurde<br />
106
das »Büsching«-Projekt zunächst aufgegeben. Das erinnert an Plechanows These von der<br />
(positiven) Uninteressantheit des proletarischen im Gegensatz zur negativen Interessantheit des<br />
bürgerlichen Helden, die erste Qualität des Proletariats, seine Quantität usw. ... Brecht nahm das<br />
Projekt wieder auf, diesmal als Lehrstück »mit Chören, im Stil der Maßnahme« nach dem 17. Juni<br />
53, wo er zum ersten Mal wieder »die Klasse« hatte sprechen hören und auftreten sehn, wie<br />
depraviert immer und manipuliert von ihren Feinden. Die Konfrontation als Chance zur Eröffnung<br />
der Großen Diskussion, die die Voraussetzung der Produktion ist. Es blieb Fragment.<br />
Das Netz seiner (Brechts) Dramaturgie war zu weitmaschig für die Mikrostruktur der neuen<br />
Probleme: schon »die Klasse« war eine Fiktion, in Wahrheit ein Konglomerat aus alten und neuen<br />
Elementen, gerade die Bauarbeiter, die den ersten Streik in der damaligen Stalinallee in Berlin<br />
initiierten, zu großen Teilen deklassierter Mittelstand: ehemalige Wehrmachtsoffiziere, Beamte des<br />
faschistischen Staatsapparates, Studienräte usw., dazu gescheiterte Funktionäre der neuen<br />
Bürokratie; der Große Entwurf zugeschüttet vom Sandsturm der Realitäten, nicht<br />
einsehbar/freizulegen mit der einfachen Verfremdung, die auf der Negation der Negation<br />
basiert/beruht. In diesem Zusammenhang mag Brechts Griff nach Gerhart Hauptmann und sein<br />
Scheitern mit der Bearbeitung von »Biberpelz/Roter Hahn« interessant sein: die Gewalt des<br />
Tribalismus und die Schrecken der Provinz.<br />
»Die Tage der Commune«, geschrieben mit bewusster Senkung des »technischen Standards« für<br />
das Repertoire eines sozialistischen Theaters, verhält sich zum realen Sozialismus wie »Don<br />
Carlos« zur bürgerlichen Revolution. Seine Schönheit ist die Schönheit der Oper, sein Pathos das<br />
der Utopie. Brecht selbst sah bis zu seinem Tod offenbar keine Möglichkeit, das Stück ohne<br />
Wirklichkeits(Wirkungs-) Verlust aufzuführen. Der Zeitpunkt der Premiere am Berliner Ensemble,<br />
1961 nach der Schließung der Grenze, war der erste mögliche. Die Anwendung des Modells auf<br />
die gegebenen Verhältnisse, die nur mit der nachfolgenden Aufführung neuer Stücke hätte<br />
geleistet werden können, blieb aus. Als isoliertes Ereignis kam die Inszenierung gleichzeitig zu<br />
spät und zu früh: zu viele Möglichkeiten waren verpasst, zu viele Probleme vertagt worden.<br />
»Turandot«, Brechts letzter Versuch, im Rekurs auf die Parabel mit der alten Scheiße<br />
aufzuräumen, die er neu hochkommen sah, ist ein genuines Fragment. Die gewaltsame<br />
Vollendung im Rekurs auf den Antifaschismus, der, was die Verhältnisse in der DDR anging,<br />
Alibicharakter hat, zerstört die Struktur/das Stück. In andern Verhältnissen, z. B. Militärdiktaturen<br />
der dritten Welt, mag der Riss, der durch das Stück geht, den Durchblick freigeben/ermöglichen,<br />
der die Voraussetzung des Eingriffs ist. Brecht: was den Kunstwerken die Dauer verleiht, sind ihre<br />
Fehler.<br />
Der Name Büsching, wie andre Namen im Garbeprojekt, verweist auf das Fatzermaterial, Brechts<br />
größten Entwurf und einzigen Text, in dem er sich, wie Goethe mit dem Fauststoff, die Freiheit des<br />
Experiments herausnahm, Freiheit vom Zwang zur Vollendung für Eliten der Mit- oder Nachwelt,<br />
zur Verpackung und Auslieferung an ein Publikum, an einen Markt. Ein inkommensurables<br />
Produkt, geschrieben zur Selbstverständigung.<br />
107
Der Text ist präideologisch, die Sprache formuliert nicht Denkresultate, sondern skandiert den<br />
Denkprozeß. Er hat die Authentizität des ersten Blicks auf ein Unbekanntes, den Schrecken der<br />
ersten Erscheinung des Neuen. Mit den Topoi des Egoisten, des Massenmenschen, des Neuen<br />
Tiers kommen, unter dem dialektischen Muster der marxistischen Terminologie,<br />
Bewegungsgesetze in Sicht, die in der jüngsten Geschichte dieses Muster perforiert haben. Der<br />
Schreibgestus ist der des Forschers, nicht der des Gelehrten, der Forschungsergebnisse<br />
interpretiert, oder des Lehrers, der sie weitergibt. Brecht gehört am wenigsten in diesem Text zu<br />
den Marxisten, die der letzte Angsttraum von Marx gewesen sind. (Warum soll nicht auch für Marx<br />
gelten, dass die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken ist, die erste Gestalt der Hoffnung<br />
die Furcht.) Mit der Einführung der Keunerfigur (Verwandlung Kaumann/Koch in Keuner) beginnt<br />
der Entwurf zur Moralität auszutrocknen. Der Schatten der Lenin‘schen Parteidisziplin, Keuner der<br />
Kleinbürger im Mao-Look, die Rechenmaschine der Revolution. »Fatzer« als Materialschlacht<br />
Brecht gegen Brecht (= Nietzsche gegen Marx, Marx gegen Nietzsche). Brecht überlebt sie, indem<br />
er sich herausschießt. Brecht gegen Brecht mit dem schweren Geschütz des<br />
Marxismus/Leninismus. Hier, auf der Drehscheibe vom Anarchisten zum Funktionär, wird Adornos<br />
höhnische Kritik an den vorindustriellen Zügen in Brechts Werk einsichtig. Hier, aus der<br />
revolutionären Ungeduld gegen unreife Verhältnisse, kommt der Trend zur Substitution des<br />
Proletariats auf, die in den Paternalismus mündet, die Krankheit der kommunistischen Parteien. Es<br />
beginnt, in der Abwehr des anarchisch-natürlichen Matriarchats, der Umbau des rebellischen<br />
Sohns in die Vaterfigur, der Brechts Erfolg ausmacht und seine Wirkung behindert. Der Rückgriff<br />
auf die Volkstümlichkeit durch Wiedereinführung des Kulinarischen (in sein Theater), der das<br />
Spätwerk bestimmt, geriet im Verblödungssog der Medien und angesichts posthumer<br />
Zementierung der Vaterfigur durch sozialistische Kulturpolitik zum Vorgriff. Was ausfiel, war die<br />
Gegenwart, die Weisheit das zweite Exil.<br />
Brecht ein Autor ohne Gegenwart, ein Werk zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ich zögere, das<br />
kritisch zu meinen: die Gegenwart ist die Zeit der Industrienationen: die kommende Geschichte<br />
wird, das ist zu hoffen, von ihnen nicht gemacht; ob sie zu fürchten ist, wird von ihrer Politik<br />
abhängen. Die Kategorien falsch oder richtig greifen am Kunstwerk vorbei. Die Freiheitsstatue<br />
trägt bei Kafka ein Schwert statt der Fackel. Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.<br />
1979<br />
(In: Heiner Müller Material, Fatzer ± Keuner, Leipzig 1989, S. 30-36)<br />
108
Es gilt, eine neue Dramaturgie zu finden<br />
Ein Gespräch mit Wend Kässens und Michael Töteberg über Terrorismus und Nibelungentreue<br />
sowie das »Fatzer«-Fragment<br />
FRAGE Der Klassiker Brecht scheint Allgemeingut geworden zu sein. So liest man es wenigstens<br />
in den bürgerlichen Geburtstagsfeuilletons. Sie bringen, indem Sie den Blick auf das »Fatzer«-<br />
Fragment lenken, eine wenig bekannte, schwer zu goutierende Seite Brechts ans Tageslicht. Was<br />
interessiert Sie, was könnte uns interessieren an der Geschichte vom Untergang des Egoisten<br />
Johann Fatzer?<br />
HEINER MÜLLER Für eine produktive Auseinandersetzung mit Brecht sind meiner Meinung nach<br />
die Texte aus den zwanziger Jahren interessant, die noch in direktem Bezug zu den<br />
Klassenkämpfen in Deutschland entstanden sind. Das »Fatzer«-Fragment ist schon deshalb<br />
bedeutsam, weil Brecht irgendwann gemerkt hat, daß er daraus kein Ganzes machen kann, und<br />
es dann als Experimentierfeld benutzt hat. Er hat daran gearbeitet, ohne auf ein Resultat zu zielen,<br />
ohne darauf zu sehen, daß etwas Verkäufliches daraus wird. Das ermöglichte eine ungeheure<br />
Freiheit im Umgang mit dem Material. Zugleich blieb der Prozeßcharakter gewahrt. Denn die<br />
Fragmentarisierung verhindert das Verschwinden der Produktion im Produkt, die Vermarktung.<br />
FRAGE Sie haben das ganze Material im Ostberliner Brecht-Archiv einsehen können. Der größte<br />
Teil ist in den Jahren zwischen 1927 bis 1932 entstanden. Was hat sich innerhalb dieses<br />
Zeitraums verändert?<br />
MÜLLER Wenn man das Material durchschaut, kann man sehr genau verschiedene Schichten<br />
feststellen. Die ersten Entwürfe stammen aus einer Zeit, in der Brechts Beschäftigung mit dem<br />
Marxismus noch ganz frisch war, noch keine selbstverständliche Voraussetzung. Der Marxismus<br />
hat Brecht Erkenntnisse vermittelt, die er vorher nicht gehabt hat. Aber zugleich hat er Sachen aus<br />
dem Blick verloren, die er vorher genauer gesehen hat. So z. B. das Problem »Massenmensch«,<br />
ein Begriff, der nicht orthodox marxistisch ist, der aber ein zentrales Thema des »Fatzer«-<br />
Fragments ist. »Dieser Geist des Massenmenschen lähmt mich besonders, seine Art ist<br />
mechanisch, einzig durch Bewegung zeigt er sich, jedes Glied auswechselbar, selbst die Person<br />
mittelpunktlos«, heißt es im Chor vom Massenmenschen. Da bekommt Brecht die technologische<br />
Seite des Geschichtsprozesses in den Griff, die von der gegenwärtigen marxistischen Analyse viel<br />
zu wenig wahrgenommen wird. »Die großen Städte«, so lautet die Metapher Brechts für die neuen<br />
Formen menschlicher Existenz. Das war ein soziologisches, meinetwegen soziologistisches<br />
Konzept, das später von der marxistischen Analyse abgelöst wurde. Zugleich ging etwas verloren<br />
an Detailgenauigkeit.<br />
109
FRAGE Heißt das, dass der Marxismus nicht mehr in der Lage ist, die wesentlichen<br />
gesellschaftlichen Erscheinungsformen zu erkennen?<br />
MÜLLER Nein. Sobald aber der Marxismus an die Existenz eines Staates gebunden ist, so etwas<br />
wie eine Staatsphilosophie wird (und das ist er faktisch seit 1917), entsteht eine neue Situation für<br />
die marxistische Analyse. Die Lage der Sowjetunion in der kapitalistischen Einkreisung bedingte<br />
gewisse Reduktionen. Das hat sich bis heute nicht geändert; obwohl diese Reduktionen nicht mehr<br />
nötig wären, ist es schwierig, so etwas wieder aufzubrechen. Ich denke, man sollte die<br />
vormarxistischen Philosophen stärker beachten, z. B. die Thesen zur Kriminalität bei Charles<br />
Fourier einmal nachlesen. Sie sind wichtig, fallen bei Marx aber unter den Tisch. Bei Fourier steht,<br />
daß Kriminalität im Kapitalismus immer etwas sei, was mit der Zukunft schwanger geht. Auch in<br />
einem Typ wie Fatzer sind Kräfte wirksam, die sich mit dem Gegebenen nicht abfinden, also<br />
potentiell revolutionär sind.<br />
FRAGE »Das Neue ist das Böse« ist ein zentraler Satz im »Fatzer«. Wer davon ausgeht, kann<br />
keinen positiven Helden mehr auf der Bühne präsentieren.<br />
MÜLLER Brecht hat das einmal so formuliert: Die Gesellschaft könne aus der Vorführung asozialer<br />
Verhaltensmuster den größten Nutzen ziehen. Die Darstellung des Asozialen löst mehr Impulse<br />
aus als irgendeine Beispielgebung. Nicht nur Fatzer hat asoziale Züge, sondern auch der Leninist<br />
Koch. Seine Reaktion auf das asoziale Verhalten Fatzers läßt ihn so radikal werden, daß er den<br />
Boden der Tatsachen verläßt und reine Ideologie fabriziert. Er baut ein ungeheures ideologisches<br />
Gebäude auf, hetzt die Gruppe in einen Amoklauf. Koch hat die Illusion, daß man etwas wirklich<br />
bereinigen kann: indem er die Liquidierung Fatzers fordert und durchsetzt. Was am Ende steht, ist<br />
nicht ein reiner Tisch, sondern ein leerer.<br />
FRAGE Die Selbstzerfleischung der Revolutionäre um Fatzer erinnert an die isolierten,<br />
destruktiven Aktionen der Baader, Meinhof usw. Würden Sie so weit gehen und auch diese<br />
Terroranschläge mit dem Satz »Das Neue ist das Böse« kommentieren? Enthält auch hier die<br />
Kriminalität Elemente einer zukünftigen Gesellschaft? An einer Stelle Ihrer »Fatzer«-Montage<br />
schlagen Sie als Regieanweisung die Projektion von Fotos von Luxemburg, Liebknecht und<br />
Meinhof vor, der Chor spricht in diesem Moment von den »Besten«.<br />
MÜLLER Das ist natürlich etwas provokant und soll es auch sein. Ich finde es ziemlich widerlich,<br />
wenn eine Bevölkerung sich immer alles hat gefallen lassen, immer alles gemacht hat, ohne den<br />
geringsten Skrupel und ohne das geringste moralische Aufstoßen, obwohl ihr Wohlstand auf<br />
Ausbeutung von großen Teilen der Welt beruht. Nun entdeckt diese Bevölkerung plötzlich ihr Ethos<br />
gegenüber Leuten, die aus Verzweiflung in die Kriminalität getrieben werden. Konkret zum<br />
110
»Fatzer«-Text: Ich sehe die aktuellen Bezüge gar nicht so sehr im ideologischen Bereich. Das ist<br />
ein sehr deutlicher Stoff, man kann darin das »Faust«-Modell und auch die Nibelungengeschichte<br />
entdecken. Zunächst einmal ist es die Geschichte von vier Leuten, die isoliert von der Masse auf<br />
eine Revolution hoffen. Es ist die Misere der Linken in Deutschland, die seit den Bauernkriegen<br />
isoliert ist. Da, wo politische Bewegung stattfinden sollte, ist ein Vakuum Auf der einen Seite dieses<br />
Vakuums steht die konservative Mehrheit, auf der anderen Seite eine durch die Isolation<br />
radikalisierte Linke. Es gibt keine linke Mitte in Deutschland, überhaupt keine polemische Mitte,<br />
das entspricht dem Nibelungen-Modell.<br />
FRAGE Und der Nibelungen-Treue bei den Revolutionären ...<br />
MÜLLER Was sollen sie anderes machen? Wenn man in diesem Kessel ist, da bleibt gar nichts als<br />
Treue, wenn man so abgeschnitten ist, jegliche Verbindung zur Bevölkerung verloren hat. Daraus<br />
ergibt sich zwangsläufig auch die starke Ideologisierung der Treue. Wie sich Fatzer verhält und wie<br />
sich Baader/Meinhof verhalten: das ist ja mehr ein Produkt von Verzweiflung als von politischem<br />
Kalkül. Sie tun es in der Hoffnung, daß andere nachfolgen. Wenn das nicht stattfindet, bleibt nur<br />
der Weg in den individuellen Terror, ein sehr romantischer Import, der viel schlimmere Folgen hat<br />
als die beabsichtigten. Der Terrorismus – besonders in seiner deutschen Form – ist doch nichts<br />
weiter als eine Verlängerung des bürgerlichen Humanismus. In diesem Sinn – etwas pointiert<br />
formuliert – ist ein Molotowcocktail das letzte bürgerliche Bildungserlebnis.<br />
FRAGE Das »Fatzer«-Fragment wird in Hamburg zusammen mit Kleists »Prinz von Homburg«<br />
gespielt – eine sicher ungewöhnliche Kombination. Worin bestehen die Zusammenhänge?<br />
MÜLLER Man kann den »Prinzen von Homburg« lesen als ein Stück über eine Zähmung, die<br />
Zähmung eines Außenseiters, der angepaßt wird mit diesem groben Scherz der gespielten<br />
Hinrichtung.<br />
FRAGE Aber Fatzer läßt sich nicht anpassen ...<br />
MÜLLER Eben, da gehts tödlich aus. Bei Kleist geht es gut aus – und darum ist es viel tödlicher.<br />
Wenn ich diese beiden Stücke in einen Zusammenhang stelle, dann deshalb, weil ich etwas<br />
herausfinden will. Ich versuche meine Unruhe, mein Aufgestörtsein durch einen Stoff auf das<br />
Publikum zu übertragen. Wenn diese Homburg-/Fatzer-Verbindung Proteste im Zuschauerraum<br />
auslöst, dann wäre schon eine Störung des Geschäftsablaufs erreicht.<br />
FRAGE »Störung des Geschäftsablaufs«, so könnte man auch Ihre Funktion in der DDR nennen.<br />
In den letzten Wochen war wieder einmal im »Neuen Deutschland« zu lesen, der Dramatiker<br />
111
Heiner Müller sei kein Marxist. Schränken solche Angriffe Ihre Arbeitsmöglichkeiten ein?<br />
MÜLLER Ganz und gar nicht. Ich bin froh, daß es wieder so heftige Polemiken gibt. Das war im<br />
letzten Jahr nicht so, da hat man alles mit dem Mäntelchen des allgemeinen Konsensus’<br />
zugedeckt. Daß man jetzt wieder etwas schärfer formuliert, das finde ich eher angenehm.<br />
FRAGE In welchem Zusammenhang steht das »Fatzer«-Projekt zu Ihrem eigenen Schaffen?<br />
MÜLLER Seit ich Teile aus dem »Fatzer«-Stück in Brechts »Versuchen« gelesen habe, war mir<br />
klar, daß ich damit das Interessanteste von Brecht entdeckt hatte. Schon vor zehn Jahren habe ich<br />
versucht, ein »Fatzer«-Projekt am Berliner Ensemble zu verwirklichen. Damals sah es nicht so<br />
aus, als wenn man aus diesem Rohmaterial etwas Spielbares zusammenstellen könnte. Was mit<br />
dem Konflikt Fatzer–Koch beschrieben wird, das ist auch ein bißchen Vorgeschichte von<br />
Konfliktkonstellationen in meinen Stücken. An dieser Problematik ist mir jetzt auch einiges über<br />
meine Stücke aus den letzten zwanzig Jahren deutlich geworden. »Fatzer« war für mich wichtig,<br />
um eine Phase abschließen zu können, sie wirklich wegräumen zu können. Jetzt stehe ich vor<br />
dem Nichts und muß etwas Neues finden. Vom LOHNDRÜCKER bis zur HAMLETMASCHINE ist<br />
alles eine Geschichte, ein langsamer Prozeß von Reduktion. Mit meinem letzten Stück<br />
HAMLETMASCHINE hat das ein Ende gefunden. Es besteht keine Substanz für einen Dialog<br />
mehr, weil es keine Geschichte mehr gibt. Ich muß eine andere Möglichkeit finden, die Probleme<br />
der Restaurationsphase darzustellen.<br />
FRAGE Zeit der Restauration – gilt das für beide deutschen Staaten?<br />
MÜLLER Ich rede immer nur von dem Staat, an dem ich primär interessiert bin: die DDR. Und da<br />
befinden wir uns in einer Zeit der Stagnation, wo die Geschichte auf der Stelle tritt, die Geschichte<br />
einen mit »Sie« anredet. Es gilt, eine neue Dramaturgie zu entwickeln oder das Stückeschreiben<br />
aufzugeben. Vor dieser Alternative stehe ich. Da weiß ich selbst nicht weiter.<br />
1978<br />
112
17.03.1978 - 07:00 Uhr<br />
KULTUR<br />
Einige Überlegungen zu meiner Brecht-Bearbeitung<br />
Von Heiner Müller<br />
Die Frage, die mich beschäftigt und auf die ich keine schlüssige Antwort habe, ist die<br />
Interessantheit des Fragmentarischen. Es gibt noch ein paar Leute, die perfekte Stücke<br />
schreiben. Die sind langweilig, außer für das Publikum. Es geht um die Frage, was Literatur<br />
überhaupt noch soll. Ich selbst kann keine Geschichten mehr lesen, kann auch keine<br />
Geschichten mehr erzählen und schreiben. Ich glaube auch, daß das jedenfalls für sehr lange<br />
Zeit, vielleicht nur in Europa, vorbei ist, Geschichten zu schreiben. Und das bedeutet fürs<br />
Theater einen Verzicht auf Publikum. Ich glaube nicht an irgendeine besonders eingreifende<br />
Funktion oder Möglichkeit von Theater. Im Moment muß man diese Apparate benutzen, um<br />
das zu machen, was einen interessiert, ohne Rücksicht darauf, was das Publikum interessiert.<br />
Stückeschreiben wird immer mehr eine Sache der Leute, die die Stücke schreiben, das Stücke-<br />
Inszenieren wird immer mehr eine Sache der Leute, die die Stücke inszenierte Das heißt die<br />
Bedürfnisse der Autoren, Regisseure der Schauspieler und des Publikums fallen immer weiter<br />
auseinander. Das ist im Moment die Situation des Theaters.<br />
Keine Dramatik hat sich als so wenig veränderbar erwiesen wie die von Brecht. Man müßte mal<br />
ein Stück aus dem klassischen Brechtkanon bearbeiten, um zu sehen, was da überhaupt zu<br />
machen ist. Ich glaube nicht sehr an die Veränderbarkeit der klassischen Brecht-Stücke.<br />
Während man Shakespeare immer und vielfach verändern kann. Aber wenn gesagt wird, das<br />
Fatzer-Fragment ist ein mit Theaterwimpeln behängtes Sentenzensammelsurium, dann muß ich<br />
sagen: Ich glaube nicht, daß das Sentenzen sind. Es gibt keinen Satz darin, der nicht in dem<br />
Brechtschen Sinn gestisch formuliert ist. Keiner ist ablösbar von der Situation und von der<br />
Figur. Man kann so was nicht zitieren, wie man Schiller zitiert.<br />
Was an ‚Fatzer‘ wichtig ist, das hängt zusammen mit dem Fragment-Charakter. Da geht es gar<br />
nicht um Literatur, da geht es um Geschichte und Politik. Und was wichtig ist, ist der Fragment-<br />
Charakter der deutschen Geschichte, der dazu führt, daß so ein Stück, das ganz unmittelbar mit<br />
deutscher Geschichte zu tun hat, Fragment bleibt. Der Fabelansatz von Brecht: vier Leute<br />
desertieren aus dem Ersten Weltkrieg, weil sie glauben, die Revolution kommt bald, verstecken<br />
sich in der Wohnung des einen, warten auf die Revolution, und die kommt nicht. Und nun sind<br />
sie ausgestiegen aus der Gesellschaft. Da es keine besseren, keine expansiven Möglichkeiten gibt<br />
für ihre angestauten revolutionären Bedürfnisse, radikalisieren sie sich gegeneinander und<br />
Fortsetzung nächste Seite<br />
Fortsetzung von Seite 9<br />
negieren sich gegenseitig. Das ist eine große Formulierung einer Situation, die sich in der<br />
deutschen Geschichte immer wieder ergeben, immer wiederholt hat. Also die Isolierung der<br />
Linken seit den Bauernkriegen. Das ist ein deutsches Thema. Und da drin steckt ein noch viel<br />
älteres. Es ist wichtig für die Wirksamkeit von Theatertexten, daß möglichst viele alte<br />
Modellsituationen vorkommen: die Nibelungen-Situation, ein Faust-Entwurf, ‚Die Räuber‘,<br />
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113
Danton. Es gibt von Brecht keinen einzigen anderen Entwurf, kein ausgeführtes Stück, das<br />
diesen Ansatz aufnimmt oder fortsetzt.<br />
Die Rede ist von der Isolierung der Linken. Da es nun aber nur bürgerliches Theater in<br />
Deutschland gibt, denunziert die Theaterform das Stück, und das Stück denunziert die<br />
Theaterform. Das ist der Grund, warum ich mich trotzdem szenisch mit dem Text beschäftigt<br />
habe, um das evident zu machen. Ich fürchte, das gilt auch für einen großen Teil meiner Arbeit.<br />
Für mich ist jetzt eine Phase abgeschlossen, und diese Arbeit mit dem Fatzer-Material gehört zu<br />
diesem Abschluß. Jetzt muß ich einen neuen Ansatz finden. Die historische Substanz ist für<br />
mich jetzt unter dem Gesichtspunkt, unter dem ich sie versucht habe zu notieren – verbraucht.<br />
Jetzt wäre interessant, die Geschichte der Beziehung von zwei oder drei Leuten, und zwar in<br />
ihrer privaten oder sogenannten privaten Beziehung zu beschreiben. Das wäre jetzt interessant.<br />
Ibsen-Renaissance jetzt, und Tschechow sowieso, deuten da auf ein Bedürfnis und die<br />
Möglichkeiten des Eingreifens in eine Mikrostruktur. In die Makrostrukturen kann man nicht<br />
mehr eingreifen mit Literatur. Jetzt geht es in die Mikrostruktur. Dafür hat Brecht nur in<br />
seinem Frühwerk Techniken und Formen angeboten, Instrumentarien angeboten, aber nicht in<br />
den „klassischen“ Stücken. Deshalb sind die jetzt auch so sakrosankt und langweilig.<br />
Es geht darum, daß es nicht mehr erlaubt ist, nicht über sich selbst zu reden, wenn man<br />
schreibt. Der Autor kann nicht mehr von sich absehen. Wenn ich nicht über mich rede, erreiche<br />
ich keinen mehr.<br />
Dabei gibt es einen wesentlichen West-Ost-Unterschied: Ich/DDR kann über mich nicht reden,<br />
ohne über Politik/DDR zu reden. Während es in Westdeutschland ein ganz abgeschirmter<br />
Bereich ist oder sein kann. Der Intimbereich kann in der DDR nie so abgeschirmt sein. Nach<br />
wie vor ein Vorteil.<br />
Mein Problem dabei ist, herauszukommen aus Rollentexten. Der Brecht redet sehr viel über<br />
sich. Aber er ist immer, auch wenn er sagt: „Ich, der Stückeschreiber“, nicht Brecht. Es ist nicht<br />
die Person Brecht, es ist immer auch die Rolle – also immer auch die Figur.<br />
Interessant ist das Problem des Verhältnisses von Fatzer und Koch, vor allem, was Brecht den<br />
„Typus Fatzer“ nennt. In der ersten Arbeitsphase bei Brecht ist dieser Fatzer ziemlich deutlich<br />
eine Identifikationsfigur und der Koch wird erst allmählich zum Korrektiv. Später versucht<br />
Brecht den Fatzer zu verurteilen, historisch abzuschaffen, oder seine Abschaffung zu<br />
empfehlen. Und da hat sich inzwischen, seit der Entstehungszeit dieses Materials, wieder etwas<br />
verschoben: heute muß man, von der DDR aus gesehen, den Typus Koch sehr viel kritischer<br />
sehen – den Funktionär. Damit liefert es, liefert Brecht Kritik an der eigenen Person.<br />
QUELLE: DIE ZEIT, 17.3.1978 Nr. 12<br />
ADRESSE: http://www.zeit.de/1978/12/notate-zu-fatzer/komplettansicht<br />
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114
H) Geschichten von Herrn Keuner<br />
aus: Brecht, Bertolt; "Geschichten von Herrn<br />
Keuner. Zürcher Fassung". FfM: Suhrkamp, 2004<br />
115
116
Auszug aus: Wizisla, Erdmut: "Wie dürfte ich jedem die<br />
gleiche Geschichte erzählen?" Nachwort zur Keuner-<br />
Ausgabe, FfM: Suhrkamp 2004<br />
[...]<br />
[...]<br />
117
aus: Steinweg, Reiner: "Das<br />
Lehrstück. Brechts Theorie einer<br />
politisch-ästhetischen Erziehung."<br />
Stuttgart: Metzler, 1972. 104ff.<br />
118
119
[...]
I) Miscellanea<br />
Carlos Marighella (* 5. Dezember 1911 in Salvador da Bahia; † 4. November 1969 in São<br />
Paulo) war ein brasilianischer Revolutionär und Theoretiker der Stadtguerilla.<br />
Das ehemalige Mitglied des Kongresses gründete unter der brasilianischen Militärdiktatur<br />
eine Guerillabewegung (Stadtguerilla) und wurde zum bedeutendsten Vertreter der These,<br />
die Guerilla müsse vom Land in die Großstädte geführt werden. Marighella wurde am 4.<br />
November 1969 in Brasilien in einem Hinterhalt von Militärs erschossen. Zur Zeit seines<br />
Todes operierten mindestens sechs verschiedene, bewaffnete revolutionäre Gruppen in<br />
Brasilien, so das Comando de Libertação Nacional.<br />
Dieser Text, der sich heute liest wie eine Anleitung zum »James-Bond-Werden«, ist bitter<br />
ernst gemeint. Carlos Marighellas »Minimanual of the Urban Guerilla« wurde in der<br />
amerikanischen Zeitschrift »Tricontinental« (Nr. 16, Jan./Feb. 1970) in vollem Wortlaut<br />
abgedruckt. Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel »Minihandbuch des Stadtguerilleros«<br />
erschien kurz darauf in »Sozialistische Politik« (Hg: Otto-Suhr-Institut Berlin. 2.Jg., Nr. 6/7<br />
1970, S. 143-166).<br />
Diese Schrift hatte maßgeblichen Einfluss auf westeuropäische Stadtguerillagruppen,<br />
darunter auch die Rote Armee Fraktion. Es war eines der ersten derartigen Anleitungsbücher,<br />
das Flugzeugentführungen als Aktion der bewaffneten Propaganda aufführte. Von Mai 1970<br />
bis 1996 erschien der Text immer wieder in mindestens fünf unterschiedlichen<br />
selbstständigen deutschsprachigen Ausgaben als Untergrundschrift.<br />
Carlos Marighella<br />
»Minihandbuch des Stadtguerilleros«<br />
Der Stadtguerillero<br />
Der Stadtguerillero muss sich ein Minimum an politischen Kenntnissen aneignen und daher versuchen,<br />
gedruckte oder in Form von Pamphleten abgezogene Arbeiten zu lesen, z.B. »Der Guerilla-<br />
Krieg« von Che Guevara. »Die Erinnerungen eines Terroristen«, »Aktionen und Taktiken der Guerillas«,<br />
»Über strategische Probleme und Prinzipien«, »Einige taktische Prinzipien für die Kameraden,<br />
die Guerillaaktionen durchführen«, »Organisationsfragen«, »O Guerillero« u.a.<br />
Persönliche Eigenschaften des Stadtguerilleros<br />
Der Stadtguerillero ist durch seinen Mut und seine Entscheidungskraft gekennzeichnet. Er muss<br />
ein guter Taktiker sein und gut schießen können. Er muss schlau und umsichtig sein, um damit die<br />
Tatsache zu kompensieren, dass er an Waffen, Munition und Ausrüstung nicht stark genug ist. Das<br />
BerufsmiIitär und die Polizei, die der Regierung dient, verfügen über moderne Waffen und Fahrzeuge<br />
und können sich frei zu jedem beliebigen Ort bewegen, wobei sie alle Mittel der bestehenden<br />
Staatsmacht zur Verfügung haben. Der Stadtguerillero verfügt nicht über solche Mittel – seine<br />
Praxis ist die des Untergrunds. Die moralische Überlegenheit ist die Stütze des Stadtguerillero, mit<br />
der er seine wichtigste Pflicht erfüllen kann, nämlich anzugreifen und zu überleben. Dazu muss der<br />
Stadtguerillero auf seinen Erfindungsgeist zurückgreifen, jene Fähigkeit, ohne die er nicht in der<br />
Lage wäre, seine revolutionäre Rolle auszuüben.<br />
121
Die Eigenschaften des Stadtguerilleros sind Initiative, Einfallsreichtum, Flexibilität, Vielseitigkeit<br />
und Geistesgegenwart. Vor allem die Fähigkeit zur Initiative muss er in besonderem Masse besitzen.<br />
Es ist nicht möglich, alle Situationen vorauszusehen; trotzdem darf es nicht vorkommen, das<br />
der Stadtguerillero nicht weiß, was zu tun ist, nur weil die entsprechende Anweisungen fehlen. Es<br />
ist seine Pflicht zu handeln, eine angemessene Lösung für jedes auf tretende Problem zu finden<br />
und diesem nicht auszuweichen. Es ist besser, zu handeln und Fehler zu machen als nicht zu handeln,<br />
um Fehler zu vermeiden. Ohne Initiative gibt es keine Stadtguerillera.<br />
Weitere notwendige Fähigkeiten des Stadtguerilleros sind die folgenden: Er muss ein guter Läufer<br />
sein, muss Müdigkeit, Hunger, Regen und Hitze ertragen können. Er muss Wache halten und sich<br />
verstecken, sich verkleiden und jeder Gefahr ins Auge sehen können. Er muss bei Tag und bei<br />
Nacht handeln, darf sich nicht überhasten, muss eine unbegrenzte Geduld haben. Er muss stets<br />
die Ruhe bewahren und seine Nerven auch unter ungünstigsten Bedingungen und in ausweglosen<br />
Situationen kontrollieren können. Niemals darf er Spuren oder Hinweise hinterlassen. Vor allem<br />
darf er sich nicht entmutigen lassen. Nicht selten desertieren oder entfernen sich Kameraden von<br />
der Stadtguerilla, wenn sie sich vor nahezu unüberwindbaren Schwierigkeiten gestellt sehen.<br />
Die Aktion der Stadtguerilla ist aber nicht das Geschäft einer Handelsgesellschaft, die Tätigkeit an<br />
einem gewöhnlichen Arbeitsplatz oder die Vorführung eines Theaterstücks. Die Stadtguerilla ist -<br />
wie auch die Landguerilla eine Verpflichtung, die der Guerillero sich selbst gegenüber auf sich<br />
nimmt. Wenn er nicht in der Lage ist, den Schwierigkeiten entgegenzutreten oder nicht aber die<br />
notwendige Geduld verfügt, um abwarten zu können, ohne die Nerven zu verlieren, oder zu verzweifeln,<br />
dann ist es besser für ihn, von dieser Verpflichtung Abstand zu nehmen, fehlen ihm doch<br />
die in der Tat elementarsten Fähigkeiten, um ein Stadtguerillero zu werden.<br />
Wie lebt und erhält sich der StadtgueriIIero?<br />
Der Stadtguerillero muss es verstehen, inmitten des Volkes zu leben, er muss darauf achten, nicht<br />
als Fremder zu erscheinen oder sich vom normalen Leben eines Durchschnittsbürgers zu unter-<br />
scheiden. Er darf in seiner Kleidung nicht von der gewöhnlichen anderer Personen abweichen.<br />
Ausgefallene Kleidung und die neueste Mode für Männer und Frauen sind oft unangebracht, wenn<br />
der Stadtguerillero beauftragt ist, in Arbeiterbezirke oder dorthin zu gehen, wo eine solche Mode<br />
nicht üblich ist. Wichtig ist für jeden Stadtguerillero, sich jederzeit bewusst zu sein, das er nur überleben<br />
kann, wenn er entschlossen ist, Polizisten und all jene zu töten, die der Repression als ausführende<br />
Organe dienen, und wenn er entschlossen ist, wirklich entschlossen ist, die großen Kapitalisten,<br />
die Großgrundbesitzer und Imperialisten zu enteignen.<br />
Die Revolution versucht durch die Enteignung der gefährlichsten Feinde des Volkes diese in ihren<br />
lebenswichtigen Zentren zu treffen; sie greift daher vornehmlich und in systematischer Form das<br />
Banknetz an, d.h. sie versetzt dem Nervensystem des Kapitalismus ihre konzentriertesten Schläge.<br />
Dies ist der Grund dafür, das der Stadtguerillero zur bewaffneten Aktion übergeht und sich nur<br />
erhalten kann, wenn er seine Aktivität auf die physische Beseitigung der Agenten der Repression<br />
konzentriert und sich 24 Stunden am Tag der Enteignung der Enteigner des Volkes widmet.<br />
Die technische Vorbereitung des Stadtguerillero<br />
Niemand kann ein Stadtguerillero werden, der nicht seiner technischen Vorbereitung besondere<br />
Aufmerksamkeit widmet. Diese technische Vorbereitung reicht vom körperlichen Training bis zur<br />
Perfektionierung oder ErIernung von Berufen und Fähigkeiten aller Art, vor allem einer handwerklichen<br />
Geschicklichkeit.<br />
Der StadtguerilIero kann nur dann eine gute physische Widerstandskraft haben, wenn er systematisch<br />
trainiert. Er kann kein guter Kämpfer sein, wenn er nicht die Kunst des Kämpfens erlernt hat.<br />
Er muss mehrere Formen des Kampfes, des Angriffes und der Selbstverteidigung erlernen und<br />
üben. Weitere sinnvolle Formen physischen Trainings sind Wanderungen, Zelten, Übungen im<br />
Dschungel, Besteigen von Bergen, Rudern, Schwimmen, Tauchen, Training als Froschmann, Fischen,<br />
Tiefseejagd und alle Arten von Kampfsportarten.<br />
Wichtig ist, ein Auto fahren, ein Flugzeug führen und Schiffe steuern zu können, sowohl Motor- als<br />
auch Segelschiffe, weiter Kenntnisse der Kraftfahrzeugmechanik und der Elektrotechnik zu besitzen,<br />
um z.B. Radios und Telefone reparieren zu können.<br />
122
Von gleicher Wichtigkeit sind elementare Kenntnisse der Topographie sowie die Fähigkeit, sich mit<br />
Instrumenten und praktischen Mitteln zu orientieren, Entfernungen abschätzen, Landkarten und<br />
Lagepläne herzustellen, eine Skala benutzen, Zeitrechnungen herstellen, mit dem WinkeItransporter,<br />
mit Kompass usw. umgehen zu können. Kenntnisse der Chemie, die Mischung von Farben, die<br />
Herstellung von Stempeln, das Beherrschen der Schreibtechnik und Schriftfälschung sowie andere<br />
Fertigkeiten bilden einen Teil der technischen Vorbereitung des Stadtguerilleros, der gezwungen<br />
ist, Dokumente zu fälschen, um in einer Gesellschaft leben zu können, die er zerstören will.<br />
Das Leben des Stadtguerilleros ist abhängig von seiner Schießkunst, von seiner Fähigkeit, die vorhandenen<br />
Waffen einzusetzen und selbst nicht getroffen zu werden. Wenn wir von Schießen reden,<br />
so meinen wir die Treffsicherheit.<br />
Diese muss solange geübt werden, bis das Schießen und das Treffen des Stadtguerillero zu einer<br />
Reflexreaktion geworden ist. Um gut und treffsicher zu bleiben, muss er systematisch trainieren<br />
und dabei die verschiedensten Methoden anwenden. Jede Gelegenheit zu Schießübungen ist auszunutzen,<br />
auch auf Rummelplätzen und zu Hause mit dem Luftgewehr.<br />
Logistik der Stadtguerilla<br />
Die konventionelle Logistik kann durch die FormeI ausgedrückt werden »N K A M«.<br />
N (Nahrungsmittel), K (Kraftstoff), A (Ausrüstung), M (Munition). Die Logistik des Stadtguerillero<br />
der bei NULL anfängt und zunächst über keine Stütze verfügt, kann mit der Formel »M G W M S«<br />
beschrieben werden: M (Motorisierung), G (Geld), W (Waffen), M (Munition) und S (Sprengstoff).<br />
Ursprüngliche Vorteile sind:<br />
1. Überraschung des Feindes;<br />
2. die bessere Kenntnis des Gebietes, in dem die Aktion durchgeführt wird;<br />
3. eine größere Beweglichkeit als die Polizei und die übrigen Kräfte der Repression;<br />
4. ein Informationsapparat, der besser ist als der des Feindes;<br />
5. eine Entschlossenheit und Geistesgegenwart, die alle unserer Seite Kämpfenden stimuliert<br />
und nicht schwanken lässt, die feindliche Seite entmutigt und paralysiert, damit zur Gegenwehr<br />
unfähig macht.<br />
Der Banküberfall, populärste Art des Überfalls<br />
Banküberfälle sind zu der populärsten Art von Überfällen geworden. Diese Überfallart wird heute<br />
weitestgehend benutzt und dient dem Stadtguerillero als eine Art Vorexamen, in dem die Technik<br />
der Revolution erlernt wird.<br />
Die Stadtguerilla, Auswahlschule des Guerilleros<br />
Die Intellektuellen stellen die zentrale Säule des Widerstandes gegen die Willkür und gegen die<br />
gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten dar. Sie geben der Revolution ständig neue Impulse und sie<br />
haben ein riesiges Kommunikationspotential und einen großen Einfluss auf das Volk. Der Intellektuelle<br />
Stadtguerillero oder der Künstler- Stadtguerillero sind die Neueste Bereicherungen des revolutionären<br />
Krieges.<br />
123
Transkript: Anti-Oper<br />
Ein Gespräch zwischen Heiner Müller und Alexander Kluge<br />
[...]<br />
KLUGE Du hast ja einen Dramenentwurf, den du machen willst, und deine Anspielung auf 24<br />
Stunden verstehe ich so, dass von Stalingrad bis Berlin das ein 24-Stunden-Werk wird. Wenn du<br />
aber jetzt die Aufgabe auf dich nehmen müsstest, zur Strafe, du solltest einen Abschied von 1914<br />
machen, Abschied von 1916 und Abschied von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs - Fortsetzung,<br />
also "Fatzer", zweiter Teil. Was würdest du machen? "Faust", zweiter Teil, "Fatzer", zweiter Teil<br />
MÜLLER Das ist ein wirkliches Problem, das weiß ich nicht. Weil im Moment sieht es für mich so<br />
aus, dass in diesem »Fatzer«-Text alles auch beschrieben ist, was jetzt passiert, was im Zweiten<br />
Weltkrieg passiert ist. Und was jetzt, 1989, passiert. In dem »Fatzer«-Material gibt es am Anfang<br />
eine Szene im Ersten Weltkrieg. Sie beschreibt die Erfahrung der Materialschlacht, das ist eine<br />
Verzweiflungsreaktion darauf, und der Koch, der später Funktionär wird, schreit ...<br />
KLUGE Der Koch? Oder heißt der Koch?<br />
MÜLLER Koch, er heißt Koch.<br />
KLUGE Er heißt Koch, er ist kein Schauspieler?<br />
MÜLLER Später, in einer anderen Version, heißt er Keuner, und das wird dann eine Lenin-Figur,<br />
das war aber nur geplant von Brecht, nicht geschrieben. Und der schreit in der Schlacht, überall ist<br />
der Feind und es wird geschossen. Und dann kommt dieser enorme Schluss, wo er sagt, wo soll<br />
man da hinfliehen, überall ist der Mensch. Und dann sagt Büsching, der Mensch ist der Feind und<br />
muss aufhören.<br />
KLUGE Was verstehst du unter Materialschlacht?<br />
MÜLLER Verdun, oder die Somme, und einfach diese Erfahrung des Angenageltseins an den<br />
Boden oder in den Graben ...<br />
KLUGE Der Mensch ist angeschmiedet durch Befehl, und die Materialschlacht ist im Grunde die<br />
tote Arbeit gegen die tote Arbeit?<br />
MÜLLER Ja, ja. Und deswegen ist der logische Schluss, der Mensch ist der Feind und muss<br />
124
aufhören. Der Mensch, der sich so materialisiert hat, mitten in dieser Maschine. Das finde ich<br />
einen ganz enormen Punkt in dem Text. Die Materialschlacht ist eigentlich der Entwurf von<br />
Auschwitz. Wenn man eine Entsprechung sucht zu dem nationalen Stoff von Shakespeare, die<br />
Rosenkriege gibt’s in Deutschland nicht. Es gibt in Deutschland keinen nationalen Stoff. Deswegen<br />
ist die Schwärmerei von Schiller, auch von Goethe über Friedrich den Großen eine Zeitlang ganz<br />
interessant. Das war die Hoffnung auf einen nationalen Stoff, aber es ging nicht. Schreiben konnte<br />
man es nicht. Das war nicht dramenfähig.<br />
KLUGE Nun gibt es eine Kontinuität. Wenn ich die Kürze der Wiedervereinigung betrachte, also<br />
’70/’71, das reicht bis ’45, und jetzt kommt wieder eine neue Wiedervereinigung auf der einen<br />
Seite, auf der anderen Seite die hohe Kontinuität der beiden Weltkriege. Also was 1914 begann, ist<br />
1918 nicht beendet und geht über die Freicorps und über alle möglichen Dinge ...<br />
MÜLLER Und das ist der Punkt bei »Fatzer«. Schon die Namen. Ich muss vielleicht kurz die<br />
Geschichte erzählen. Sie ist nicht zu Ende geschrieben bei Brecht, aber es gibt eine<br />
Fabelerzählung von Brecht selbst. Soldaten beschließen im Ersten Weltkrieg in Frankreich, den<br />
Krieg zu beenden, also zu desertieren. Der Titel ist »Liquidation des Ersten Weltkriegs durch<br />
Johann Fatzer«. Fatzer ist die führende Figur bei dieser Desertion. Er erklärt den anderen die Lage<br />
und macht eine Zeichnung, wo er beschreibt, dass Feuer und Wasser auf beiden Seiten<br />
gegeneinander stehen, d. h. der, auf den wir schießen, ist unser Bruder, hinter ihm steht unser<br />
Feind, hinter uns steht unser Feind, der auch sein Feind ist. Sein letztes Argument macht die<br />
anderen zögern: Ich rauche jetzt meinen Tabak auf, weil es die eiserne Ration ist, damit ihr hier<br />
nichts mehr habt, denn sonst macht ihr noch weiter, dann ist Schluss. Und dann gehen sie nach<br />
Mülheim, da ist auch die Ortswahl interessant ...<br />
KLUGE Mülheim/Ruhr?<br />
MÜLLER Mülheim/Ruhr. Und sie verstecken sich in der Wohnung eines der vier, der aus Mülheim<br />
stammt, und warten auf die Revolution.<br />
KLUGE Und die kommt nicht.<br />
MÜLLER Und die kommt nicht. Und dann gibt es den Kernsatz, der Krieg hat uns nicht<br />
umgebracht, aber bei ruhiger Luft im stillen Zimmer bringen wir uns selber um.<br />
KLUGE Wenn du das Wort Gaskrieg hörst, was stellst du dir da vor? Du hast ja Gaskrieg selber<br />
nicht kennengelernt?<br />
125
MÜLLER Ja, ich habe noch eine Gasmaske getragen, aber es gab keinen Gaskrieg mehr. Und das<br />
ist ja auch interessant, dass das im Zweiten Weltkrieg keine Erfahrung mehr geworden ist. Der<br />
Erste Weltkrieg war eine Erfahrung für alle Beteiligten.<br />
KLUGE Hitler, der wusste, was Gaskrieg ist, hat widerstanden. Das war einer der wenigen Punkte,<br />
an denen dieser Mann irgendeine Hemmung hatte. Und wenn du aber mal das Wort Gaskrieg<br />
hörst, wie stellst du dir das vor?<br />
MÜLLER Ja, der Hauptpunkt ist die absolute Hilflosigkeit, das Zurückgeworfensein auf animalische<br />
Reaktionen. Für mich ist eine Metapher für den Gaskrieg was ganz Dummes. Ich war in<br />
Disneyland bei Los Angeles und bin mit dieser Montblanc-Bahn gefahren, ich weiß nicht, ob du die<br />
kennst. Du fährst also durch einen kleinen Montblanc mit einer ungeheuer schnellen Bahn, und es<br />
ist stockdunkel da drin, und die Kurven sind gewaltig, und plötzlich bist du völlig zurückgeworfen<br />
auf eine ganz kreatürliche Angst, dich festzuhalten in den Kurven, das ist die Erfahrung des<br />
Gaskriegs, die ich kenne.<br />
KLUGE Die Lunge versagt als letztes, du kannst ja nicht willkürlich ertrinken, also du kannst dich<br />
nicht selber ertränken, denn im letzten Moment würde die Lunge, im Gegensatz zu deinem<br />
Verstand oder Herzen, dich wieder hochtreiben.<br />
MÜLLER Der Erstickungstod ist der schrecklichste.<br />
KLUGE Gleichzeitig die dauerhafte Westwindrichtung unseres Planeten.<br />
MÜLLER Ja, ja.<br />
KLUGE So dass man Windstille oder Ostwind auf deutscher Seite brauchte.<br />
MÜLLER Deswegen sind die Armenviertel ja immer im Osten der Städte.<br />
(Quelle. http://muller-kluge.library.cornell.edu/de/video_transcript.php?f=100 – 5.1.2013)<br />
126
In diesem kurzen Aufsatz, einem Ausschnitt aus seiner Monographie »Hammerstein<br />
oder der Eigensinn« (Frankfurt: Suhrkamp, 2008), gibt der deutsche Schriftsteller Hans<br />
Magnus Enzensberger (*11. November 1929) einen prägnanten Überblick über die<br />
politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zur Entstehungszeit der »Fatzer«-<br />
Fragmente.<br />
Hans Magnus Enzensberger: Die Schrecken der Weimarer Republik<br />
Wir sollten dankbar dafür sein, dass wir nicht dabei gewesen sind.<br />
Die Weimarer Republik war von Anfang an eine Fehlgeburt. Das ist keine besserwisserische<br />
Charakteristik aus der Retrospektive. So hat sie bereits Ernst Troeltsch in seinen Spectator-<br />
Briefen aus den Jahren 1918-1922 beschrieben, und er war nicht der einzige. Ein Blick in Joseph<br />
Roths frühe Romane und Reportagen sollten jeden überzeugen, der daran zweifelt.<br />
Nicht nur, dass die alten Eliten nicht bereit waren, sich mit der Republik abzufinden. Viele,<br />
die aus dem verlorenen Kriege nach Hause kamen, mochten den »Kampf als inneres<br />
Erlebnis« nicht aufgeben und sannen auf Revanche. Sie erfanden die »Dolchstoßlegende«,<br />
später hieß es dann ein Jahrzehnt lang: »Und ihr habt doch gesiegt.« Justiz und Polizei<br />
klammerten sich an ihre wilhelminischen Normen und Gewohnheiten. An den Hochschulen<br />
überwogen autoritäre, antiparlamentarische und antisemitische Stimmungen. Mehr als<br />
einmal entlud sich die gereizte Atmosphäre in dilettantischen Putsch- und Umsturzplänen.<br />
Auf der Seite der Linken sah es nicht viel besser aus. Auch sie hielt wenig von der Demokratie<br />
und ihre Kader planten den Aufstand. Die wirtschaftliche Misere trug zur Instabilität der<br />
deutschen Gesellschaft bei. Die Kriegsschulden und Reparationszahlungen belasteten den<br />
Haushalt der Republik schwer. Die Inflation ruinierte den Mittelstand und das Kleinbürgertum.<br />
Dazu kam die endemische Korruption, die bis in die höchsten Staats- und Parteiämter<br />
reichte und unmittelbar politische Folgen hatte. Der Fall des Reichspräsidenten Hindenburg<br />
ist notorisch. Die einzige ökonomische Atempause, die an eine Erholung denken ließ, dauerte<br />
ganze vier Jahre, von 1924 bis 1928. Dann machte ihr die Weltwirtschaftskrise ein brutales<br />
Ende. Der ökonomische Zusammenbruch und die folgende Massenarbeitslosigkeit führten<br />
zur Verbitterung der Lohnabhängigen und zu massiven Deklassierungsängsten.<br />
Dazu kamen die außenpolitischen Belastungen, die zeitweise ein unerträgliches Maß annahmen.<br />
Der Versailler Vertrag, weit entfernt von dem intelligenten Frieden, den die Briten und<br />
die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg ins Auge fassten, rief in der deutschen Gesellschaft<br />
vehemente Ressentiments hervor. Die Ruhrbesetzung, der Separatismus und die ethischen<br />
Konflikte begünstigen und verschärften die chauvinistischen Stimmungen. Die unmittelbaren<br />
Nachbarn, vor allem die Franzosen und die Polen taten alles, was in ihrer Macht<br />
stand, um die Deutschen weiter zu demütigen, und auch die Sowjetunion versuchte, die Republik,<br />
so gut sie konnte, zu destabilisieren.<br />
Mit einem Wort, das Land befand sich in einem latenten Bürgerkrieg, der nicht nur mit politischen<br />
Mitteln ausgetragen wurde, sondern immer wieder gewaltsame Formen annahm.<br />
Vorm Spartakus-Aufstand bis zu den Aggressionen und Fememorden der Freikorps und der<br />
»Schwarzen Reichswehr«, von den mitteldeutschen Märzkämpfen bis zum Aufmarsch der<br />
Nationalsozialisten vor der Münchner Feldherrenhalle, von den Hamburger und Wiener Arbeiterkämpfen<br />
bis zum Berliner »Blutmai« wurde die Demokratie von den Militanten beider<br />
127
Seiten immer wieder in die Zange genommen.<br />
Unter dem Stichwort Systemzeit findet man heute folgende politisch unverdächtige Definition:<br />
»S., die in einem Computer von der internen Uhr bereitgestellte und durch das Betriebssystem<br />
an die Software weitergegebene Uhrzeit.« In den zwanziger und dreißiger Jahren las<br />
man es anders. >Das System< war ein Kampfbegriff, der in der Weimarer Zeit geprägt wurde<br />
(und der 1968 eine sonderbare Renaissance erlebte). Er wurde von rechts und von links, von<br />
Goebbels ebenso wie von Thälmann, gegen die Republik ins Feld geführt.<br />
In den Jahren 1932 und 1933 nahm die Spaltung der Gesellschaft, nicht nur in Deutschland,<br />
sondern auch in Österreich, geradezu libanesische Formen an. Milizen – SA, Roter Frontkämpferbund,<br />
Stahlhelm, Hammerschaften, Reichsbanner, Schutzbund und Heimwehr – bekämpften<br />
sich auf offener Straße, und die Agonie der Weimarer Republik erreichte ihren kritischen<br />
Punkt.<br />
Dass die Lüge von den »Goldenen Zwanziger Jahren« von den Nachgeborenen jemals geglaubt<br />
werden konnte, ist rätselhaft und weder durch Ignoranz zu entschuldigen, noch durch<br />
Mangel an historischer Vorstellungskraft zu erklären. Dieser fragile Mythos nährt sich viel<br />
eher aus eine Mischung von Neid, Bewunderung und Kitsch: Neid auf die Vitalität und Bewunderung<br />
für die Leistung einer Generation von großen Begabungen, aber auch wohlfeile<br />
Nostalgie. Man sieht sich die tausendste Vorstellung der Dreigroschenoper an, staunt über<br />
die Preise, die Beckmann, Schwitters und Schad auf den Aktionen erzielen, begeistert sich<br />
für die Repliken der Bauhausmöbeln und weidet sich an Filmen wie Cabarét, die ein hysterisches,<br />
polymorph perverses, »verruchtes« Berlin zeigen. Ein wenig Dekadenz, eine Prise Risiko<br />
und eine starke Dosis Avantgarde lassen den Bewohnern des Wohlfahrtsstaates angenehme<br />
Schauer über den Rücken rieseln.<br />
Diese Blüte einer höchst minoritären Kultur lässt den Sumpf vergessen, auf dem sie gedieh.<br />
Denn auch die intellektuelle und künstlerische Welt der zwanziger Jahre war durchaus nicht<br />
immun gegen die Erregungszustände des Bürgerkriegs. Dichter und Philosophen wie Heidegger,<br />
Carl Schmitt oder Ernst Jünger, aber auch Brecht, Horkheimer und Korsch setzten<br />
der Hasenherzigkeit der politischen Klasse das Pathos der Entschlossenheit entgegen –<br />
wozu entschlossen, darauf kam es ihnen erst in zweiter Linie an. Auch ihre Mitläufer, die linken<br />
wie die rechten, schwelgten in der Attitüde des Unbedingten.<br />
Die Politiker des Mittelmaßes konnten da nicht mithalten. Sie wirkten blass und hilflos. Die<br />
Fähigkeit, die Ängste, die Ressentiments, die Begeisterungsfähigkeit und die destruktive<br />
Energie der Massen zu mobilisieren, fehlte ihnen ganz und gar. Auch aus diesem Grund<br />
haben sie Hitler, der sich darauf wie kein anderer verstand, ausnahmslos unterschätzt. Es<br />
blieb der politischen Klasse am Ende kaum mehr übrig, als zwischen Panik und Lähmung zu<br />
lavieren.<br />
Das Gefühl der Ohnmacht verführte die meisten zur Flucht ins Extrem. Schutz und Sicherheit<br />
glaubten die Leute nur noch in den Organisationen wie der KPD, der NSDAP, dem Reichsbund<br />
oder der SA zu finden. Die Massen schwankten zwischen links und rechts; die Fluktuation<br />
zwischen beiden Polen nahm epidemische Formen an. Aus Furcht vor der Isolation suchen<br />
die Menschen das Kollektiv, flohen in die Volksgemeinschaft oder in den Sowjetkommunismus.<br />
Paradoxerweise endete diese Flucht für viele die sie antraten, in der totalen Einsamkeit:<br />
im Exil, im KZ, in den Säuberungen, im Gulag oder in der Vertreibung.<br />
128
Der Bühnenbildentwurf zur Fatzer-Produktion in Marburg sah zunächst einen stilisierten Boxring<br />
vor. Dieser ist zwar mittlerweile wieder verschwunden bzw. hat sich weiterentwickelt,<br />
dennoch sind die Querverbindungen zwischen Brecht, Bühne und Boxsport nicht uninteressant<br />
im Kontext der Fatzer-Themen. Der Boxring ist ein Ort des Kampfes zwischen zwei<br />
herausgehobenen Antagonisten, ein mythischer Schauplatz eines Stellvertreterkampfes,<br />
vergleichbar etwa der römischen Gladiatorenarena. Insofern der Boxer Stellvertreter einer<br />
Masse ist, ist aber jeder Boxkampf auch ein Kampf zwischen dem Einzelnen und dem<br />
Kollektiv.<br />
B. B. und der Boxer<br />
Als Bert Brecht sich von Samson-Körner inspirieren ließ<br />
Von Alex Natan<br />
Die großen Schriftsteller unserer Zeit, die eine sportliche Begebenheit zum Thema ihrer Kunst gewählt<br />
haben – Hemingway, Schulberg, Gallico, Jack London oder Greuze –, haben stets das Problem<br />
in den krassen, naturalistischen Schattenseiten des Sports gefunden. Sie spürten unter der<br />
ölig glänzenden Haut eines geschäftig propagierten Olympioniken die wirkliche Tragödie des<br />
Kämpfers, die der Sykophant unter den Sport-Portraitisten durch Lorbeergewedel von sich zu<br />
scheuchen weiß. Sport als Thema für einen großen Schriftsteller bedeutet eine Goya-Vision, den<br />
Dunst von Blut und Schweiß und Verrat, die großartige Einsamkeit der Niederlage, die Entfesselung<br />
aller Triebe, wie sie sich beim Boxkampf, beim Sechs-Tage-Rennen oder im Catcherzelt offenbaren,<br />
wo es um mehr als die Ehre, wo es um die Existenz selbst geht.<br />
Neben Gerhart Hauptmann ist Bertolt Brecht der größte Dramatiker, der in deutscher Sprache in<br />
diesem Jahrhundert geschrieben hat. Es sollte deswegen nicht ohne Interesse sein, wie sich<br />
Brecht zum Sport als auffälligem Phänomen seiner Zeit gestellt hat, selbst wenn sich die eigene<br />
Betätigung auf das Autofahren beschränkt hat. Bert Brecht versuchte erstmalig zu Beginn der<br />
zwanziger Jahre, als es in Deutschland zur Mode geworden war, angelsächsische Klischees nachzuahmen.<br />
Damals herrschte eine unechte Vergötterung englischer Lebenseinstellung vor. Bertolt<br />
Brecht nannte sich »Bert«, Georg Grosz wurde zu »George«. Walter Mehring gab sich zeitweise<br />
als »Walt Merin« aus, während der Dadaist und Pazifist Hellmut Herzfelde sich »John Hartfield«<br />
hieß. Sport, der in der angelsächsischen Welt die Realität einer Selbstverständlichkeit besitzt, wurde<br />
der damaligen Generation genauso zu einer mythischen Vorstellung, wie ihr der Negerjazz ein<br />
musikalisches Ideal und die Heilsarmee eine esoterische Welterlöserreligion bedeutete. Bereits<br />
Wedekind und Bernard Shaw hatten in dem seltsamen Milieu der Heilsarmee und in ihren naturalistischen<br />
Hymnen eine ähnliche Anziehungskraft verspürt wie in dem Kraftmeiertum des damaligen<br />
Sports. Es war die gleiche lärmende, trunkene, ungebärdige volkstümliche Mischung, die wohl<br />
auf Rimbaud zurückzuführen ist, die auch andere Dichter der zwanziger Jahre, wie etwa Cocteau,<br />
Lorca und Mayakowski faszinierte.<br />
Sport, Whisky und »Virginia«<br />
Boxen, Ringkampf, Sechs-Tage-Rennen wurden ihnen allen zu symbolischen Formen des Kampfs<br />
ums Dasein, um eine Welt, die seit 1914 aus den Fugen geraten war. Ähnlich dem Sport nahmen<br />
auch Whisky und Gin und der fremde »Virginia«-Tabak symbolische Bedeutung für eine Wandlung<br />
an, die im Zeichen einer neuen Gesellschaft stehen würde. Lion Feuchtwanger, einer der frühesten<br />
Freunde Brechts, drückte dieses neue kraftprotzende Gefühl in »J. L. Wetcheek’s Amerikanischem<br />
Liederbuch« aus. Der expressionistische Dramatiker Georg Kaiser ließ seinen betrügerischen Kassierer<br />
den Abglanz des Lebens in »Von Morgens bis Mitternachts« auf einem Sechs-Tage-Rennen<br />
und im Vereinslokal der Heilsarmee erleben. Joachim Ringelnatz mokierte sich über Boxen, Ringen<br />
und Radfahren in seinen »Turngedichten« ebenso wie über die teutonische Mentalität der Turner.<br />
Arnolt Bronnen, auch einer der frühesten Freunde Brechts, schrieb in der Zeitschrift »Die Sze-<br />
129
ne« über die zeitgenössische Literatur: »Für mich sind ihre Aspekte grenzenlos. Sie reichen von einem<br />
Boxkampf bis zur Jazzband.« Walter Mehring schreibt in einem Sketch aus dem Jahre 1924,<br />
den er bezeichnenderweise »Kult des Sports« nannte, über ein Sechs-Tage-Rennen:<br />
»Hart<br />
Am Start<br />
Die Muskeln auf der Lauer<br />
Zweimalhunderttausend<br />
Augen:«<br />
Jedenfalls hatte der sogenannte »Kulturbolschewismus« den Sport früher entdeckt als seine späteren<br />
nationalistischen Schönfärber.<br />
Es ist die gleiche schweißgetränkte Atmosphäre des Rings, die für Bert Brecht symbolischen Charakter<br />
erhält. Im Vorspruch zu seinem Stück »Im Dickicht der Städte« (1921 bis 1924 verfaßt) gibt<br />
der Dichter dem Leser den folgenden Rat: »Sie befinden sich im Jahre 1912 in der Stadt Chicago.<br />
Sie betrachten den unerklärlichen Ringkampf zweier Menschen und Sie wohnen dem Untergang<br />
einer Familie bei, die aus den Savannen in das Dickicht der großen Stadt gekommen ist. Zerbrechen<br />
Sie sich nicht den Kopf über die Motive dieses Kampfes, sondern beteiligen Sie sich an den<br />
menschlichen Einsätzen, beurteilen Sie unparteiisch die Kampfform der Gegner und lenken Sie Ihr<br />
Interesse auf das Finish.«<br />
»Kunst und Boxsport«<br />
In den Bühnenanweisungen zum Schlussakt des »Elephantenkalbes« heißt es: »Alle ab zum Boxkampf«.<br />
Der Kampfsport der Berufssportler interessierte Brecht enorm, so dass dieser Zug in den<br />
meisten seiner Stücke zu spüren ist, besonders stark in seiner Kurzgeschichte »Der Kinnhaken«.<br />
Brecht beriet 1930 seinen Freund Ferdinand Reyher, der damals sein Stück »Harte Bandagen«<br />
veröffentlichte. Es war typischer Zeitgeist, der sich hier bemerkbar machte. Als der Kunsthändler<br />
Alfred Flechtheim seine Galeriemitteilungen in den »Querschnitt« umwandelte, nannte er ihn eine<br />
»Zeitschrift für Kunst und Boxsport«. In seinem Kreis galt es als »chic«, in der Körperschule von<br />
Breitensträter zu boxen oder sich dort den Leib wegmassieren zu lassen. De Fiori schuf damals<br />
seinen »Schmeling«, Belling seinen »Neusel« und Renée Sintenis ihren »Nurmi«. Mit seinem<br />
Freund, dem damaligen Schwergewichtsmeister Samson-Körner ging Brecht bei Flechtheim aus<br />
und ein. Gemeinsam mit diesem Boxer begann Brecht ein neues Werk »Die Menschliche Kampfmaschine«<br />
zu schreiben, das indessen nicht vollendet wurde. Als die »Literarische Welt« 1926 ein<br />
lyrisches Preisausschreiben veranstaltete, war Brecht einer der Richter. Er entschied sich für ein<br />
Gedicht seines Freundes Hannes Küpper, das in einer Radsportzeitschrift erschienen war. Es<br />
schilderte die Legende des australischen Sechs-Tage-Fahrers Mac Namara, den man den »Eisernen<br />
Mac« auf dem Heuboden, des Berliner Sportpalastes nannte. Jede Strophe des Gedichtes<br />
schloß bezeichnenderweise mit dem englisch geschriebenen Refrain : »Hé, hé! The Iron Man!«<br />
Bühne und Boxring<br />
Wir wissen heute, daß Brecht seinen Posten als Dramaturg bei Max Reinhardt aufgab, weil ihm die<br />
Plüschatmosphäre eines Theaters für den wohlhabenden Mittelstand nichts mehr zu sagen hatte.<br />
Carl Zuckmayer hat darüber 1948 in Iherings »Theaterstadt Berlin« berichtet. Damals schwebte<br />
Brecht ein »Theater der Raucher und des Schweiß’ « vor. Er wollte von seinem Publikum den<br />
Schauspieler wie einen kämpfenden Sportsmann beurteilt sehen. Ihn zog der Boxring mit seinen<br />
hölzernen Sitzen und seinen grellen, unbarmherzigen Bogenlampen immer wieder an. Im Jahre<br />
1926 schrieb er dann einen Artikel für den Berliner Börsen-Courier, den er »Mehr guten Sport«<br />
(Hinweis, den guten Sportbetrieb aufs Theater anzuwenden) nannte. Diese Gedanken führte er<br />
130
dann im gleichen Jahre in seinem Stück »Mann ist Mann« durch. Sein Regisseur, Jakob Geis, hat<br />
darüber in einem Aufsatz in »Die Szene« berichtet, wie Brecht danach gestrebt hätte, die neutrale,<br />
unbestechliche, glasklare Atmosphäre eines Boxkampfes auf die Bühne zu bringen. Im gleichen<br />
Jahren wurde die Bühne auch wirklich zum Boxring, als Melchior Vischer Brechts Einakter »Die<br />
Hochzeit« in Frankfurt zur Aufführung brachte. Der Regisseur kommentierte danach: »Sport muss<br />
zum Sammelpunkt des Theaters werden, eines neuen Theaters.« Unter dem direkten Einfluss<br />
Brechts schrieb Vischer dann ein Stück »Fußballspieler und Indianer«. Die Analogie des Boxrings<br />
taucht auch noch in der »Dreigroschenoper« auf, wie dies gleichfalls die Inszenierungen des Singspiels<br />
»Mahagonny« und des Lehrstücks »Die Maßnahme« erwiesen haben, wo ganze Szenen<br />
auf einem Podium stattfinden, das durch Seile vom Rest der Bühne abgeteilt war.<br />
Brecht hat seine grundsätzliche Einstellung zum Sport in einem Beitrag »Die Krise des Sports«<br />
niedergelegt, den er 1928 für Willy Meisls Buch »Der Sport am Scheidewege« verfasst hatte. Darin<br />
äußert er sein Misstrauen einem Sport gegenüber, der ihm immer mehr zu einer politischen Bemühung<br />
des deutschen Bürgertums wird, ihn gesellschaftsfähig zu machen. »Das Scheußlichste, was<br />
man sich ausdenken kann, ist Sport als Äquivalent.« Hier liegt die Antwort an alle jene, die aus<br />
dem Sport eine Lebensideologie machen möchten. Brecht weist es als unwürdig ab, im Sport den<br />
Ausgleich für den Geist zu sehen, um dann wörtlich zu schließen: »Ich bin gegen alle Bemühungen,<br />
den Sport zu einem Kulturgut zu machen, schon darum, weil ich weiß, was diese Gesellschaft<br />
mit Kulturgütern alles treibt, und der Sport dazu wirklich zu schade ist. Ich bin für den Sport, weil<br />
und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist.«<br />
Aus: DIE ZEIT, 22.2.1963 Nr. 08<br />
Quellle: http://www.zeit.de/1963/08/b-b-und-der-boxer/komplettansicht (14.11.2012)<br />
131
Ein Gespräch zwischen Wolfgang Heise und Heiner Müller<br />
[...]<br />
HEISE Wie verstehst du »Schrecken«?<br />
MÜLLER Der Augenblick der Wahrheit, wenn im Spiegel das Feindbild auftaucht. Ich habe kürzlich<br />
einen Text von Brecht gelesen, zitiert in einer Beschreibung einer »Fatzer«-Aufführung in Wien:<br />
»Nicht nahe kommen sollten sich die Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollten sie<br />
sich voneinander. Jeder sollte sich von sich selber entfernen, sonst fällt der Schrecken weg, der<br />
zum Erkennen nötig ist.« Das ist, glaube ich, ein sehr zentraler Punkt bei Brecht, und viele seiner<br />
Innovationen oder Techniken lassen sich da subsumieren unter diese Kategorie der Entfernung.<br />
Man sieht ja nur aus der Distanz; wenn man mit dem Auge auf dem Gegenstand liegt, sieht man<br />
ihn nicht. Wer bei sich bleibt, lernt nicht. »Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren,<br />
um ihm Courage zu machen.«<br />
HEISE Das wäre Distanzlosigkeit und Herstellen von Distanz in einem Akt und durch einen Akt,<br />
Zusammenhang von Zerstörung und Produktivität, da steckt die Dialektik drin, die Marx für die<br />
Scham entwickelt hat.<br />
MÜLLER In diesen Zusammenhang gehört der Begriff Furchtzentrum im »Fatzer«-Material. Jetzt<br />
kann man das wieder in Beziehung setzen zu Aristoteles, aber es ist schon eine Dialektisierung,<br />
glaube ich. Es geht grundsätzlich darum, das Furchtzentrum einer Geschichte zu finden, einer<br />
Situation und der Figuren, und dem Publikum das auch zu vermitteln als Furchtzentrum. Nur wenn<br />
es ein Furchtzentrum ist, kann es ein Kraftzentrum werden. Aber wenn man das Furchtzentrum<br />
verschleiert oder zudeckt, kommt man auch nicht an die Energie heran, die daraus zu beziehen ist.<br />
Überwindung von Furcht durch Konfrontation mit Furcht. Und keine Angst wird man los, die man<br />
verdrängt.<br />
HEISE Da wäre Katharsis vielleicht gegenüber Brechts Kritik zu rehabilitieren: aber nicht in einem<br />
nur psychologischen Sinne der Abfuhr, sondern sehr komplexer Aktivitäten, sich von Furcht zu<br />
befreien. Und mir scheint, dass du den Schrecken extremisierst, ihn jedoch – ich denke dabei an<br />
deine Theaterarbeit, aber auch an die Texte – mit Komischem konterst, verfremdest, damit weniger<br />
die Person, mehr die Zuschauerbeziehung wertmäßig organisierst. Das Komische ließe sich als<br />
besiegter Schrecken, komische Form als Form des besiegten oder besser besiegbaren<br />
Schreckens begreifen. Das hängt freilich jeweils vom Gegenstand ab. Ich möchte noch einmal auf<br />
Galilei zurückkommen. Er ist – in unserem Text – am Ende, auf dem Grund. Das scheint analog<br />
der Endsituation des »Fatzer«-Fragments, die zugleich Produktionskrise und Ausweglosigkeit<br />
132
anzeigt. Offensichtlich ist das Fatzer-Problem für Brecht nicht erledigt mit dem Übergang zur<br />
kommunistischen Position, zu den Lehrstücken, zum »Me-ti« etc., es muss auf neuer Ebene immer<br />
wieder angegangen werden ...<br />
MÜLLER Die in »Fatzer« formulierte Endposition ist eigentlich die: Und von heute an und für eine<br />
lange Zeit wird es auf dieser Welt keine Sieger mehr geben, sondern nur noch Besiegte. Das ist<br />
eine Formulierung von 1932. Und das Furchtzentrum, wenn man mal etwas vereinfacht<br />
formulieren will, war die Angst vor dem unauflösbaren Clinch von Revolution und Konterrevolution.<br />
HEISE Das führt auf Gegenwartsprobleme, die wir uns ja nicht ausgesucht haben, ist also<br />
individuell und gesellschaftlich allgemein, auch ein Hintergrundgedanke von »An die<br />
Nachgeborenen«.<br />
MÜLLER Ich lese mal ein in den Sammlungen nicht veröffentlichtes Gedicht dazu vor, das offenbar<br />
keinen Titel hat:<br />
»Und er verglich nicht jene / mit andern / und auch nicht sich mit / einem andern / sondern /<br />
schickte sich an / bedroht / sich rasch zu verwandeln in / unbedrohbaren Staub. / Und alles, was<br />
noch geschah, / vollzog er wie / ausgemachtes, / als erfülle er / einen Vertrag. / Und ausgelöscht /<br />
waren ihm / im Innern die Wünsche. / Jegliche Bewegung / untersagte er sich streng. / Sein<br />
Inneres schrumpfte / ein und verschwand / wie ein leeres Blatt, / entging er allem, / außer der<br />
Beschreibung.«<br />
HEISE Schwer scheint mir hier der Punkt angebbar, wo äußerste, verzweifelte Not nicht in<br />
Schicksalstugend umschlägt.<br />
MÜLLER Ich würde es nicht nur so sehen. Ich glaube, das ist geschrieben ungefähr in der Zeit von<br />
»Fatzer«, auch in der Zeit von dem Gedicht »Fatzer komm«. Und das ist die private Formulierung<br />
dieses »Fatzer komm«. Und was mich interessiert daran, ist der Nullpunkt, den er erreicht hat.<br />
Einfach aus seiner genaueren, pessimistischen Einsicht in den Gang der Dinge. Vor 1933. Er<br />
wusste es besser als die andern. Er wusste, was kommt, besser als die meisten anderen Linken.<br />
Und er hatte auch nicht die Illusion über die kurze Dauer dieser Sache. Und das, meine ich, ist<br />
interessant, weil, von da ab kommt dann die Erfüllung des Vertrags, die Parabelstücke. Also im<br />
Abgeschnittensein von der konkreten Situation in Deutschland, in der Entscheidung für Stalin, nicht<br />
mit Churchill, gegen Hitler.<br />
HEISE Im Gedicht »Fatzer komm« hat Brecht den Nullpunkt objektiv und politisch gefasst.<br />
»Verlass deinen Posten. / Die Siege sind erfochten. Die Niederlagen sind / Erfochten: / Verlass<br />
jetzt deinen Posten.«<br />
133
Und die zweite Strophe heißt: »Tauche wieder unter in die Tiefe, Sieger. / Der Jubel dringt dorthin,<br />
wo das Gefecht war. / Sei nicht mehr dort. / Erwarte das Geschrei der Niederlage dort, wo es am<br />
lautesten ist: / In der Tiefe. / Verlass den alten Posten.« Und die letzte Strophe dieses Gedichts<br />
lautet:<br />
»Der Geschlagene entrinnt nicht / Der Weisheit. / Halte dich fest und sinke! Fürchte dich! Sinke<br />
doch! Auf dem Grunde / Erwartet dich die Lehre. / Zu viel Gefragter / Werde teilhaftig des<br />
unschätzbaren / Unterrichts der Masse: / Beziehe den neuen Posten.«<br />
Der Unterricht der Masse ist natürlich nicht nur ein Unterricht durch Kenntnisnahme der Meinungen<br />
von Massen, sondern auch durch ihr wirkliches Verhalten.<br />
MÜLLER Vor allem auch dadurch, daß er selbst Teil der Masse wird. Zu dieser Strophe hat Walter<br />
Benjamin einen Kommentar geschrieben, der mir wichtig erscheint. »Sinke doch ... Im<br />
Hoffnungslosen soll Fatzer Fuß fassen. Fuß, nicht Hoffnung. Trost hat nichts mit Hoffnung zu<br />
schaffen. Und Trost gibt Brecht ihm: Der Mensch kann im Hoffnungslosen leben, wenn er weiß,<br />
wie er dahin gekommen ist. Dann kann er darin leben, weil sein hoffnungsloses Leben dann<br />
wichtig ist. Zugrunde gehen heißt hier immer: auf den Grund der Dinge gelangen.«<br />
HEISE Diese Einsicht Brechts betrifft ihn selbst mit – vielleicht hat er sie auch beiseite geschoben<br />
– im Festhalten einer Überlegenheits- und Wissenshaltung, als die Erfahrung ihm widersprach.<br />
Das Wörtliche ist zugleich metaphorisch und anwendbar: »Der Geschlagene entrinnt nicht / Der<br />
Weisheit / Halte dich fest und sinke!« Das ist keine Selbstaufgabe, sondern ein Selbstsuchen in<br />
der Extremsituation von Ohnmacht und Fragwürdigwerden des als sicher Gewussten und<br />
Behaupteten. Dies »Fatzer«-Gedicht weist schon auf den Weg des »Me-ti« – und mir scheint, er<br />
beleuchtet auch das Bemühen um den »Büsching«-Stoff.<br />
MÜLLER Etwas verbindet »Galilei« und »Fatzer«. »Fatzer« ist eins der persönlichsten Stücke von<br />
Brecht, von der ganzen Textur her, und »Galilei« ist von den ganzen späten Stücken das einzige<br />
persönliche, wo auch direkt Autobiografisches verarbeitet ist. In den letzten Proben, die er gemacht<br />
hat – und das hatte, finde ich, durchaus auch eine tragische Note –, hat er sich immer mit Busch<br />
gestritten, ihm gesagt: Busch, Sie spielen einen Verbrecher, das ist ein Krimineller, ein Mann, der<br />
die Wahrheit weiß und sie nicht sagt. Und Busch sagte immer: Aber Brecht, das haben Sie nicht<br />
geschrieben. Und Brecht bestand immer darauf: Busch, Sie sind ein Krimineller. Und Busch sagte<br />
immer wieder: Brecht, das haben Sie nicht geschrieben.<br />
Die Wunde im Text erscheint auf dem Theater als Narbe. Da liegt ja auch ein Dilemma von<br />
Theater, das Brecht selbst mal formuliert hat: Dramatik ist immer avancierter als das gleichzeitige<br />
Theater. Weil, um Neuerungen im Theater durchzusetzen oder zu präsentieren, muß man einen<br />
riesigen Apparat bewegen, da ist also viel mehr Materialaufwand als beim Schreiben. Und das<br />
andere Dilemma: Theater hängt auch immer oder lebt in der Spannung zwischen Aktualität und<br />
134
Material, zwischen der politisch-moralischen Intention mit der Eigenbewegung des Materials. Das<br />
ist eben besonders deutlich bei »Galilei«. Ein Punkt, der überhaupt wichtig ist, wenn man über<br />
Brecht redet: dass die politischen Impulse, die der Motor seiner ästhetischen Innovationen sind,<br />
auch als Bremse funktionieren.<br />
HEISE Das hat Brecht selbst gesagt, 1941 notierte er im Arbeitsjournal: »wann wird die zeit<br />
kommen, wo ein realismus möglich ist, wie die dialektik ihn ermöglichen könnte? schon die<br />
darstellung von zuständen als latente, balancen sich zusammenbrauender konflikte stößt heute auf<br />
enorme schwierigkeiten, die zielstrebigkeit des schreibers eliminiert allzu viele tendenzen des zu<br />
beschreibenden zustandes. unaufhörlich müssen wir idealisieren, da wir eben unaufhörlich partei<br />
nehmen und damit propagandieren müssen.« (31. 1. 1941) Mir scheint das objektiv historisch<br />
bedingt zu sein. Welche Wahl hatte er? Darin liegt zugleich ein moralisch-politisches<br />
Verantwortungsbewusstsein, das den Hass auf die Tuis ebenso durchdringt wie sein Verarbeiten<br />
der Erfahrung des 17. Juni - so in den »Buckower Elegien«, besonders: »Böser Morgen«. Da<br />
kommt das Verhältnis von »Erfahrung« und »Urteil« unter andrem Aspekt wieder hoch, mit allem,<br />
was darin liegt: der selbstgesetzte Auftrag, seine gewählte Identität und Rolle in den<br />
Klassenkämpfen der Zeit, die seine Möglichkeiten nicht schlechthin erschöpfte, Unterschiede und<br />
Widersprüche zwischen dem Philosophen, dem Moralisten und dem Poeten, zwischen Gewolltem<br />
und Erreichtem, Erwartetem und Gefundenem ... Von diesem Drama (»viele Männer sind in einem<br />
Mann«) kennen wir ja nur einige Bruchstücke.<br />
in: Theater der Zeit, Jg. 43, Nr. 2 (Februar 1988), S. 22-26<br />
135
Aus einem Gespräch zwischen Heiner Müller und Frank M.<br />
Raddatz<br />
Unsere Zivilisation hat Auschwitz hervorgebracht. Bataille unterscheidet zwischen Zivilisationen<br />
der Verschwendung – er macht das an den indianischen Hochkulturen fest – und der europäischen<br />
Zivilisation der Ökonomie, die allein auf den Nutzen ausgerichtet ist. Ich sehe den Katholizismus<br />
mehr in der Nähe einer Zivilisation der Verschwendung. In einer Zivilisation der Verschwendung<br />
wäre Auschwitz nicht möglich gewesen. Unsere Zivilisation ist eine Zivilisation der Ausgrenzung.<br />
Dass Marx und Engels das Lumpenproletariat aus der revolutionären Bewegung ausgegrenzt<br />
haben, war die Grundlage der stalinistischen Perversion. Jetzt geht es um die Wiedergewinnung<br />
des Lumpenproletariats, um alle, die aus den herrschenden Strukturen herausfallen. Alle Energie<br />
der kapitalistischen Staaten zielt auf die Ausgrenzung und auf das Vergessenmachen der<br />
Ausgegrenzten. Und gegen dieses Vergessen muss man arbeiten. Zu den Ausgegrenzten gehören<br />
alle, die sich nicht mit der hier als Realität gehandelten Wirklichkeit zufriedengeben oder<br />
identifizieren. Das ist das Fatzer-Problem, es ist das Grundthema des Jahrhunderts, und<br />
Auschwitz ist das Modell des Jahrhunderts.<br />
Nach Auschwitz hat das Gute geführt, nicht das Böse. Das Gute will selektieren, also Minderheiten<br />
produzieren. Die sind dann böse und müssen ausgerottet werden.<br />
Die Unterdrückung des Bösen führt nach Auschwitz. Das Gute produziert eine Struktur, die auf<br />
Ausgrenzung und Selektion basiert, daraus entsteht das massenhaft, das institutionell Böse.<br />
Auschwitz fängt damit an, dass man einem Kind auf die Finger haut, wenn es die linke Hand<br />
benutzt, weil es Linkshänder ist, und sagt: die gute Hand.<br />
Es gibt in den herrschenden Strukturen kein rationales Argument gegen Auschwitz. Wenn das<br />
nicht gefunden wird, geht diese Zivilisation unter. Das ist die Grundfrage, und die kann nur<br />
beantwortet werden durch die Mobilisierung der Ränder – nicht nur der sozialen, geographischen,<br />
sondern auch der intellektuellen Ränder.<br />
Wenn die Intellektuellen ins Zentrum drängen, verlieren sie die Kraft zur Veränderung. Sie müssen<br />
am Rand bleiben, am Rand arbeiten. Vom Zentrum aus kann man nichts mehr bewegen. Ins<br />
Zentrum gehören die Beamten. Die Intellektuellen müssen raus aus der Politik. Da verlieren sie<br />
ihre Kraft. Susan Sontag kehrte neulich von einer Konferenz über das Schicksal Osteuropas<br />
zurück und meinte: »Jedesmal, wenn man als Intellektueller an so einer Konferenz teilnimmt,<br />
verliert man ein Stück seiner Unschuld.« Unschuld ist Kraft und gehört zum Rand wie die Naivität<br />
oder der Traum.<br />
136