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Fatzer<br />

<strong>Materialsammlung</strong><br />

Spielzeit 2012/13


Inhalt<br />

A) Zur Einführung: Der schwarze Stern Seite 3<br />

B) Bertolt Brecht: Die Fatzer-Zeit Seite 5<br />

Mittenzwei, Werner: »Das Leben des Bertolt Brecht«<br />

C) Zum Text: Entstehung und Inhalt Seite 21<br />

Knopf, Jan: »Fatzer« - aus: »Brecht-Handbuch«<br />

Völker, Klaus: »Brecht-Kommentar«<br />

Brecht, Bertolt: »Arbeitsjournal«<br />

D) Zur Form: Theater/Fragment Seite 32<br />

Barck, Karlheinz: »Fragment« - aus: »Ästhetische Grundbegriffe«<br />

Müller, Heiner. »Wir machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind«<br />

Bosse, Claudia: »vorbemerkung zu einer dokumentation«<br />

E) Das Lehrstück Seite 73<br />

Steinweg, Reiner: »Das Lehrstück«<br />

F) Wer ist der Chor? Seite 90<br />

Brecht, Müller, Mickel, Standfest, Bosse, Dupius, Szeiler<br />

G) Aufführungsgeschichte/Deutungen Seite 93<br />

Knopf, Jan: »Fatzer« - aus: »Brecht-Handbuch«<br />

Wyss, Monika: »Brecht in der Kritik«<br />

Müller, Tobi: »Brecht/Müller, mal melodisch«<br />

Bosse, Claudia/theatercombinat: »Dokumentation«<br />

andcompany&Co.: »FatzerBraz«<br />

Müller, Heiner: »Fatzer plusminus Keuner«<br />

Müller, Heiner. »Es gilt, eine neue Dramaturgie zu finden«<br />

Müller, Heiner: »Notate zu Fatzer«<br />

H) Geschichten von Herrn Keuner Seite115<br />

I) Miscellanea Seite121<br />

Marighella, Carlos: »Minihandbuch für Stadtguerilleros«<br />

Müller, Heiner/Kluge. Alexander: »Transkript: Anti-Oper«<br />

Enzensberger, Hans Magnus: »Die Schrecken der Weimarer Republik«<br />

Natan, Alex: »B.B. und der Boxer«<br />

Müller, Heiner: Zwei Gespräche (Frank M. Raddatz, Wolfgang Heise)<br />

2


A) Zur Einführung: Der schwarze Stern<br />

»Fatzer« ist ein Mythos des deutschen Theaters, selten gespielt doch oft umraunt, der schwarze<br />

Stern im System »Brecht« – ein unvollendetes Textgebirge aus unzähligen Fragmenten, die auf<br />

immer neuen Flugbahnen um immer wieder dieselben Themen kreisen. Die Logik des Umsturzes,<br />

die Ausgrenzung und Ablösung vom Kollektiv als notwendiges Element der Individuation, das<br />

Verhältnis von revolutionärer Aktion, Gruppe und einzelnem, die Utopie in schweren Zeiten, das<br />

Fressen und die Moral: Darum geht‘s. Aber nicht nur. Denn Brechts Anliegen als Theatermacher<br />

tritt hier noch deutlicher hervor als in seinen anderen, vollendeten Arbeiten: Der politische Aspekt<br />

des Theaters liegt nicht nur in dem, was verhandelt wird, sondern vor allem auch darin, wie es<br />

verhandelt wird. »›Fatzer‹ spielen heißt: den Aufstand proben«, hat der Frankfurter<br />

Theaterwissenschaftler und Fatzer-Experte Nikolaus Müller-Schöll einmal geschrieben. Wie probt<br />

man also den Aufstand?<br />

Brechts Theorie des Lehrstücks, die er um 1930, also erst gegen Ende der Arbeit an den »Fatzer«-<br />

Texten, vor allem zusammen mit Kurt Weill und Elisabeth Hauptmann entwickelte, ging es um<br />

eben das: Theaterspiel als Mittel zur Schulung des einzelnen in seinem Verhältnis zu<br />

Gemeinschaft und Gesellschaft, als Mittel zur Schulung politischen und damit auch:<br />

aufständischen Verhaltens. Schon der Begriff des »Lehrstücks« lädt dabei zu Missverständnissen<br />

ein. Er schmeckt nach Didaktik, nach sozialistischer Zeigefingermoral, nach Agitprop. Dabei hatten<br />

Brecht und seine Teams eigentlich nichts weniger im Sinn als die Verkündung ewiger Wahrheiten<br />

von der Rampe herab. Im Gegenteil: Das Lehrstück sollte gerade der Darstellung von<br />

Widersprüchen und Fehlern dienen, es sollte immer auch gegensätzlich interpretierbar sein und<br />

somit den Spielenden, aber auch den Verfassern und Zuschauern immer wieder erneutes Lernen<br />

ermöglichen. Das Lehrstück ist somit eigentlich ein Lernstück. Doch für wen?<br />

Mit der Frage nach der Zielgruppe schließt sich gleich das zweite grundlegende Missverständnis<br />

des Begriffs an. In einer seiner letzten Notizen aus dem Arbeitsjournal schreibt Brecht, der sich mit<br />

der Theorie des Lehrstücks, übrigens ebenso wie mit dem Fatzer-Fragment, im Laufe seines<br />

Lebens immer wieder auseinandergesetzt hatte: »Diese Bezeichnung gilt nur für Stücke, die für die<br />

Darstellenden lehrhaft sind. Sie benötigen also kein Publikum.« Theater ohne Zuschauer? Liegt<br />

hier etwa die Geburtsstunde der berüchtigten inszenatorischen Egomanie des deutschen<br />

Theatersystems, die das Publikum am liebsten ganz abgeschafft sähe?<br />

Wieder ist eher das Gegenteil der Fall. Niemand wusste besser als Brecht, dass Theater ohne<br />

Zuschauer kein Theater ist – niemand wusste auch besser, dass Theater unterhaltsam und<br />

vergnüglich sein muss, wenn es diese Zuschauer erreichen will. »Das Theater bleibt Theater, auch<br />

wenn es Lehrtheater ist, und soweit es gutes Theater ist, ist es amüsant«, schreibt er 1954 in dem


Aufsatz »Vergnügungstheater oder Lehrtheater?«. Brechts Projekt als Theatermacher war, die<br />

Gegensatzpaare von »vergnüglich« und »wertvoll«, »politisch« und »künstlerisch«, »Epik« und<br />

»Dramatik«, mithin also die bekannten Dichotomien der bürgerlichen Ästhetik in Richtung einer<br />

neuen, politisch wie künstlerisch revolutionären Kunst zu überwinden. Das Paradox eines<br />

»Theaters ohne Zuschauer«, wie es die Lehrstücktheorie fordert, übertrug dieses Projekt auf den<br />

Gegensatz zwischen Publikum und Spielern. Brechts Konzept eines Lernens durch Handlungen<br />

und Gesten, eines mithin zuerst körperlichen und erst danach kognitiven Lernens, war dabei die<br />

entscheidende Voraussetzung einer solchen Überwindung. Zum Zwecke nicht der Belehrung,<br />

sondern der Selbstbelehrung sollte »durch das Einnehmen bestimmter Haltungen und Gesten<br />

körperlich-szenisch ein Konflikt durchgespielt und diskutiert werden«, schreibt Hans-Thies<br />

Lehmann. Der Zuschauer, der diesen Prozess rein passiv betrachtet, wird dabei nicht ausgesperrt<br />

– es soll und darf ihn weiterhin geben. Er wird aber – und dies ist eher als utopischer Endpunkt zu<br />

verstehen denn als konkrete Maßgabe einer Inszenierung – irgendwann einmal nicht mehr<br />

benötigt.<br />

»Fatzer« ist entstanden, noch bevor Brecht seine Lehrstücktheorie vollständig formuliert hatte, und<br />

die Brecht-Experten streiten noch heute darüber, ob es sich überhaupt um ein Lehrstück handelt.<br />

Unbezweifelbar aber ist, dass der Aufstand gegen das Theater, der sich in der Lehrstücktheorie<br />

ebenso wie in der Dramaturgie des epischen Theaters formiert, in »Fatzer« seine vielleicht<br />

radikalste Form gefunden hat. Nicht zuletzt probte Brecht mit diesem Stück den Aufstand gegen<br />

sich selbst: »so ist das fatzerdokument zunächst hauptsächlich zum lernen des schreibenden<br />

gemacht. wird es späterhin zum lehrgegenstand so wird durch diesen gegenstand von den<br />

schülern etwas völlig anderes gelernt als der schreibende lernte.«<br />

»Fatzer« ist somit auch der Aufstand gegen das Naheliegende, gegen jeglichen Auftrag, gegen<br />

das bestehende Theater mit seinen literarischen und gattungsspezifischen Traditionen. Als ein<br />

solcher Aufstand bleibt »Fatzer« das vielleicht wichtigste, sicher aber das radikalste Stück Brechts:<br />

ein Traum von einem neuen Theater in einer anderen Zeit. Gerade die Tatsache, dass »Fatzer«<br />

ein aus Brechts Sicht unmögliches Theater darstellt, schreibt Nikolaus Müller-Schöll, lässt dieses<br />

Fragment gebliebene Stück aus der Distanz als einen der Texte Brechts erscheinen, die auf ein<br />

immer noch kommendes Theater verweisen, die größte Potentialität bergen – Möglichkeiten der<br />

Realisierung, an die Brecht noch nicht denken konnte.


B) Bertolt Brecht:<br />

Die Fatzer-Zeit<br />

aus: Mittenzwei, Werner: "Das Leben des Bertolt Brecht,<br />

oder Der Umgang mit den Welträtseln." FfM: Suhrkamp,<br />

1987 5


[...]<br />

13


[...]<br />

14


C) Zum Text: Entstehung und Inhalt<br />

aus: Jan Knopf (Hrsg.): "Brecht-Handbuch in fünf<br />

Bänden." Stuttgart: Metzler, 2001–2003<br />

Jan Knopfs "Brecht-Handbuch" ist eine der wohl umfangreichsten<br />

Übersichten zu Brechts Werk und ein Standardwerk der Brecht-<br />

Forschung. Wer ansonsten gar nichts lesen mag, sollte zumindest<br />

diesen Text kennen.<br />

Die Abschnitte "Analyse und Deutungen" sowie "Theaterrezeption"<br />

finden sich im Kapitel "Aufführungsgeschichte" dieser<br />

Materalsammlung.<br />

21


[...]


Eine kurzer Überblick über Entstehung, Inhalt, Werkkontext<br />

und Aufführungsgeschichte.<br />

Kennzeichnend für diese Bewertung, die aus dem eher<br />

konservativen Lager der Literaturwissenschaft stammt, ist<br />

die Einschätzung des Fatzer-Fragments als rein<br />

biographisch relevanter Text Brechts.<br />

25


aus: Völker, Klaus: "Brecht Kommentar", München:<br />

Winkler, 1983, S. 118ff.<br />

27


Brecht, Bertolt: "Arbeitsjournal", Bd. I 1938-1942.<br />

Hg. von Werner Hecht, FfM: Suhrkamp, 1973<br />

Unter Brechts persönlichen Äußerungen über seine Arbeit findet<br />

sich nicht allzu viel mit Bezug auf das "Fatzer"-Fragment. Ein Indiz<br />

für die Bedeutsamkeit, die dieser Text für seinen Autor wohl<br />

dennoch gehabt haben wird, ist die Dauer der Beschäftigung mit<br />

ihm. Von 1926/27, den Jahren der ersten Niederschrift von Fatzer-<br />

Texten, bis zu 1951, fünf Jahre vor seinem Tod, hat Brecht sich<br />

immer wieder mit "Fatzer" beschäftigt.<br />

29


D) Zur Form: Theater/Fragment<br />

aus: Barck, Karlheinz (et al.) (Hrsg.): "Ästhetische<br />

Grundbegriffe", Bd. II. Stuttgart/Weimar: Metzler,<br />

2001<br />

Ein übersichtlicher Abriss der Begriffs- und<br />

Ideengeschichte des Fragments in Philosophie,<br />

Literatur und Kunst.<br />

32


Wir machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind<br />

Heiner Müller im Gespräch mit Teilnehmern des Brecht-Oberseminars im Bereich<br />

Theaterwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin am 13. März 1984. Leitung: Prof. Dr. Ernst<br />

Schumacher<br />

ERNST SCHUMACHER Zur Eröffnung: Brechts Grund-Satz war: Die Welt ist nicht nur<br />

interpretierbar, sie ist auch veränderbar, es kann in sie eingegriffen werden, auch mit den Mitteln<br />

der Kunst. In Deinen Anfängen hast Du diese Überzeugung geteilt. Seit den Siebzigern scheint<br />

sich Dein Welt-, mit ihm Dein Menschenbild, eingeschwärzt zu haben. Man könnte es zugespitzt<br />

als pessimistisch geworden bezeichnen. Das liegt im Trend der »neuen Philosophen«, die sich<br />

nach ’68 vom Marxismus abgewandt haben und einen Neoexistentialismus begründet haben.<br />

Kunst auf dieser Basis zu produzieren – läuft das nicht letztlich auf bloßen Selbstausdruck, sprich<br />

Selbstbefriedigung, bestenfalls die Befriedigung eines elitären Bewußtseins über eine verfahrene<br />

Welt, der nicht zu helfen ist, hinaus?<br />

HEINER MÜLLER Nun, ich bin ja immerhin noch da, es kann ja nochmals werden ...<br />

MARIANNE STREISAND Diese Vorhaltung gegen Müller hat es schon in den späten fünfziger<br />

Jahren gegeben.<br />

MÜLLER Die wird es immer geben.<br />

STREISAND Damals lautete der Vorwurf noch nicht Geschichtspessimismus, sondern »negative<br />

Abbildung der Wirklichkeit«. Aber daß in den siebziger Jahren eine Änderung eingetreten ist, das<br />

glaube ich schon. Und da möchte ich doch fragen: Dieses Weggehen von Brecht ist sicher auch<br />

ein Hingehen, ja wohin? Mich interessiert in diesem Zusammenhang Dein Interesse an den<br />

Dunkelzonen, für die subjektiven Triebkräfte in der Geschichte oder Massenphänomene wie<br />

Faschismus, der ja auch subjektive Komponenten hatte. In Bezug auf das Kunstmachen sodann<br />

Deine Anerkennung von Traum als einer Form der Erkenntnismöglichkeit in Gestalt von Visionen<br />

oder Bildern.<br />

MÜLLER Es gibt in den Svendborger Gesprächen zwischen Brecht und Walter Benjamin einen<br />

Dialog über Stalin. Darin sagt Brecht, das ist zwar nicht eine Diktatur des Proletariats, aber eine<br />

Diktatur über das Proletariat im Interesse des Proletariats. Worauf Benjamin erwidert, das komme<br />

ihm vor, wie das Auftauchen eines gehörnten Fisches aus der Tiefsee. Das sind zwei Haltungen zu<br />

einem Problem. Die von Brecht ist sicher für eine ganze Weile die einzig produktive gewesen. Ich<br />

51


glaube, dass sie heute nicht mehr ganz ausreicht. Was den Vorwurf des Pessimismus betrifft: Das<br />

ist doch auch der Vorwurf, ein gutes Gedächtnis zu haben, und Optimismus beruht auf der<br />

Fähigkeit, zu vergessen und zu verdrängen.<br />

SCHUMACHER Das muss nicht unbedingt so sein.<br />

MÜLLER Aber das ist ein wesentlicher Bestandteil von Optimismus.<br />

SCHUMACHER Das hat die Menschheit immer so gehalten.<br />

MÜLLER Sicher, aber was mir jetzt an mir selber so unheimlich ist, wenn ich die Entwicklung von<br />

den frühen Stücken zu den letzten ansehe, das ist, dass mir dasselbe passiert wie Brecht, nämlich<br />

dieser Abflug ins Parabolische, diese Realitätsflucht bei Brecht genauso, bei Schiller genauso, bei<br />

Goethe genauso. Nur weil andere jung gestorben sind, haben sie das nicht mehr geschafft,<br />

Büchner zum Beispiel, der an der Realität gestorben ist. Das muss auch etwas zu tun haben mit<br />

einem Problem der deutschen Geschichte, mit diesen immer neuen Anläufen, die immer wieder<br />

versandet oder jedenfalls ins Stocken geraten sind. Das kann man also nicht abtun mit Begriffen<br />

wie Pessimismus oder Optimismus. Es gibt jetzt eine Situation, wo, poetisch gesagt, uns die<br />

Geschichte mit Sie anredet. Ich möchte mal wieder mit Du angeredet werden. Damals, in der Zeit<br />

der UMSIEDLERIN und des LOHNDRÜCKER, gab es, nicht nur subjektiv für mich, eine Situation,<br />

wo, poetisch gesagt, uns die Geschichte mit Du angeredet hat, auch wenn es viel härter zuging.<br />

Das hängt vielleicht unmittelbar damit zusammen, dass Sachen offen ausgetragen wurden,<br />

vielleicht auch brutal, aber es gab eine wirkliche Bewegung. Im Moment aber ist das aus Gründen,<br />

die nicht Schuld der DDR oder der Sowjetunion sind, viel schwieriger. Und das macht es auch<br />

schwieriger, unmittelbare Gegenwartsdramatik zu schreiben, wenn man nicht moralisiert, wie die<br />

sowjetische Dramatik es tut, da geht es um Verantwortung, das Ethos, die Qualität des Einzelnen,<br />

weil man auf dem Theater über Systemprobleme nicht handeln kann oder will; deshalb sind die<br />

Stücke hier so nützlich, die Stücke von Gelman und wer weiß noch. Das sind sicher gute Stücke,<br />

sie geben Impulse, aber es bleibt immer in den Grenzen der Moralität.<br />

SCHUMACHER Nun, Brecht wollte durch das Theater Impulse vermitteln, die die Menschen<br />

befähigen sollten, sich selbst als Veränderer zu verstehen, nicht bloß als Interpreten. Ist diese<br />

Haltung historisch überholt, ist sie nicht mehr brauchbar?<br />

MÜLLER Die Frage ist doch, wie man Impulse noch an und in die Leute bringt. Da ist die Methode<br />

Brechts inzwischen zu simpel, zu primitiv.<br />

SCHUMACHER Deine Haltung ist inzwischen die, die Leute zu schocken ...<br />

52


MÜLLER Nicht nur.<br />

SCHUMACHER Aber es sind Deine Formulierungen.<br />

MÜLLER Formulierungen sind Glücksache ...<br />

SCHUMACHER Nun, ich weiß, dass Du ein Bibelanhänger bist: Ärgernisse müssen sein, aber<br />

wehe dem, durch den Ärgernis kommt. Das hast Du für Dich einkalkuliert ... Aber doch<br />

nachgefragt: Welche Impulse sollen denn mit Deiner Schocktherapie vermittelt werden? Glaubst<br />

Du ernsthaft, dass Kunst schocken kann?<br />

MÜLLER Das wäre ja auch viel zu einfach. Worum es geht, und zwar in jedem Fall, ist,<br />

Gewohnheiten und Verdrängungen zu stören. Es geht gar nicht um Schock, das ist wirklich<br />

modisch, auch wenn ich es gesagt habe, das ist nicht so ernst zu nehmen. Es geht wirklich darum,<br />

Verdrängungen zu stören und die Auslöschung von Gedächtnis zu bekämpfen, die auf der ganzen<br />

Welt stattfindet.<br />

SCHUMACHER Zu welchem Zwecke willst Du dieses Gedächtnis bewahrt wissen? Du bist also<br />

doch »positiv geladen«?<br />

MÜLLER Es ist diese Auslöschung von Gedächtnis, ob sie im nationalen Rahmen oder individuell<br />

erfolgt, im Westen zum Beispiel ganz extrem durch diesen Videomarkt. Da wird Freizeit völlig<br />

besetzt, und es bleibt überhaupt kein Raum für Phantasie, auch nicht für soziale Phantasie. Alle<br />

Energien werden aufgesogen. Da braucht man gar keinen Faschismus mehr, das klappt schon mit<br />

viel Videokassettenkrieg, da braucht man nichts anderes mehr. Und wir hier sind nicht ’raus aus<br />

diesem Wirrwarr, und zwar nicht nur, weil es auch bei uns über das Westfernsehen geschieht,<br />

sondern weil es bei uns auf humanere Weise auch geschieht, dieser Versuch, das Gedächtnis<br />

auszulöschen und Verdrängung zu lehren als Pflichtfach. Diese Störung halte ich für ganz<br />

wesentlich, und das ist eine Variante, ein neuer Ansatz von Aufklärung von einer anderen Flanke<br />

her ...<br />

SCHUMACHER ... sozusagen von der »negativen Dialektik« her. Letztlich geht es also auch Dir<br />

darum, diese Menschheit nicht zugrunde gehen zu lassen.<br />

MÜLLER Ich will nur vorher noch herauskriegen, woran es gelegen haben könnte, das interessiert<br />

mich. Du kennst es ja, 1929 hat Freud die These aufgestellt, daß die Menschheit einfach auf<br />

Grund ihrer psychologischen Struktur eine Waffe entwickeln wird, die die Auslöschung der Gattung<br />

53


ermöglicht. Das war offenbar ausrechenbar, und es interessiert mich nun, woran das liegt.<br />

SCHUMACHER Einstein hat schon 1921 ausgerechnet, dass ein Kohleeimer von Atomenergie<br />

genügen wird, die Menschheit auszulöschen. Sie wussten, woran sie arbeiteten.<br />

MÜLLER Das ist natürlich ganz schwer, das ist ein wirkliches Problem für das Schreiben, was<br />

Christa Wolf vielleicht am simpelsten in ihrer Vorlesung formuliert hat: Niemand kann behaupten,<br />

dass das nicht passieren kann, das kann kein vernünftiger Mensch mehr behaupten. Aber wie<br />

kann man von Leuten verlangen, ihre Arbeit zu machen, sie so gut zu machen wie möglich, und<br />

dabei gleichzeitig dieses Bewusstsein zu haben: Es kann passieren, dass es alles nichts nützt.<br />

Das ist die neue Situation. Und Du merkst es in jedem Bereich, und gerade in der Literatur wie in<br />

den anderen Künsten auch, dass das Handwerk immer mehr verkommt. Das hat etwas mit dieser<br />

Situation zu tun, das ist eine schleichende Krankheit. Und dagegen muss man etwas tun. Dagegen<br />

kann man aber nichts tun, wenn man einfach die Augen davor verschließt. Ich glaube, auch wenn<br />

es religiös klingt, an so etwas wie die Schwerkraft einer Gesellschaft. Ich habe das mit großem<br />

Entzücken in der U-Bahn gelesen, dass ich das irgendwann gesagt habe, ich wusste das gar nicht<br />

mehr: Wenn man in die Luft gesprengt werden soll, muss man sich ganz schwer machen. Also<br />

schwer auch mit Kunst, nicht? Kunst gehört zum spezifischen Gewicht einer Gesellschaft und<br />

Kultur. Da darf man sich nichts wegnehmen lassen davon. Das ist keine sehr direkte, das ist eher<br />

(im Sinne von Marx) eine sehr vermittelte Verbindung.<br />

SCHUMACHER Aber warum hast Du die eine Linie in Deinem Schaffen, die näher an dieser<br />

Wirklichkeit dran war, fast völlig aufgegeben?<br />

MÜLLER Weil es der Gesellschaft nichts mehr bringt, unmittelbar an dieser Wirklichkeit zu bleiben.<br />

Nimm doch jetzt das neue Stück »Georgsberg« von Rainer Kerndl. Er wollte ein paar der aktuellen<br />

Probleme dieser Gesellschaft benennen, aber das ging nicht. Es ist lächerlich, aber es ist so. Mich<br />

interessieren diese Probleme gar nicht, sie sind für mich kein Vorwurf für ein Stück.<br />

BERT KOSS Aber mit der Konstruktion eines solchen Problems fängt es ja doch an. Für uns, die<br />

wir doch später Theater machen wollen, bleibt die Frage, wie stellt man sich einem solchen<br />

gesellschaftlichen Problem, dass alles kaputtgehen kann, wenn man sich soviel Optimismus, wie<br />

er offiziell verkündet wird, gar nicht zutrauen kann?<br />

MÜLLER Es gibt so einen schönen Satz von Brecht: »In der ›Roten Fahne‹ stand noch: ›Wir<br />

werden siegen‹, da hatte ich mein Geld schon auf einem Schweizer Konto.« Das äußerte er, als er<br />

für Erwin Strittmatter, der an »Katzgraben« arbeitete, Geld beschaffen wollte, es aber keinen gab,<br />

der das verantworten wollte.<br />

54


KOSS Der Optimismus, der aus dieser Haltung spricht, macht mich ja noch unglücklicher.<br />

MÜLLER Man muss doch grundsätzlich davon ausgehen, und jetzt wird es etwas theologisch, was<br />

Schumacher als Bayern ja nicht stört, dass der Einzelne sowieso weiß, dass er sterblich ist. Es gibt<br />

diesen schönen Spruch: Der Mensch ist das einzige Tier, das weiß, dass es sterben wird, und das<br />

macht seine Würde aus, und eben alles so zu tun, so gut zu machen, wie er kann, obwohl er weiß,<br />

dass er stirbt. Und das gilt inzwischen für die ganze Menschheit. Ich sehe darin keinen so<br />

wesentlichen Unterschied. Es geht nur darum, wie man sich darüber verständigt. Das Problem der,<br />

mal ganz doof gesagt, Völkerverständigung oder Kommunikation wird immer dringlicher. Sehr hoch<br />

gegriffen, geht es jetzt letztlich darum, so etwas wie ein Gattungsbewusstsein zu entwickeln. Das<br />

klingt sehr metaphysisch, aber das ist die einzige Chance. In dieser Situation gilt auf ganz andre<br />

Weise dieser Commune-Grundsatz: »Keiner oder alle ...«<br />

SCHUMACHER Das hört sich gut an, ich stimme dem voll zu. Aber wenn ich zum Beispiel an<br />

Deine letzte Inszenierung in der Volksbühne, nämlich von MACBETH, denke, da kommt als<br />

»Botschaft« zum Schluss doch nur das buddhistische Rad der ewigen Wiederkehr des Gleichen<br />

heraus, nämlich dass die Welt ein Schlachthaus sei.<br />

MÜLLER Aber eines wirst Du mir nicht widerlegen können: Die Welt, so wie wir sie bisher aus<br />

Überlieferung und Erfahrung kennen, ist nun mal ein Schlachthaus. Das muss nicht so bleiben.<br />

Aber bisher ist das Gegenteil nicht konkret geworden. So sieht das für mich mal aus.<br />

SCHUMACHER Tut mir leid, aber hier habe ich eine etwas andere Meinung.<br />

BERT BREDEMEYER Brechts Courage bringt mir auch nicht die Erfahrung, auch wird die<br />

mögliche Erkenntnis an die Zuschauer delegiert, und die Courage bringt mir auf alle Fälle aber<br />

weniger als Macbeth. Aber ich wollte ein anderes Problem berühren. In den Siebzigern tritt für Sie<br />

offensichtlich die Dritte Welt mehr in den Vordergrund, und zwar das Prinzip, das Lévy-Strauss im<br />

»Wilden Denken« beschreibt. Wie ist diese Erfahrung über die Bühne herunterzubringen?<br />

MÜLLER Da ist sicher was dran, wobei ich den Lévy-Strauss wahrscheinlich erst viel später<br />

gelesen habe. Zuerst habe ich den Fanon gelesen, wo das unter sehr politischem Aspekt formuliert<br />

ist, und das finde ich nach wie vor wichtig, dass diese Länder in der Dritten Welt nicht einfach<br />

europäische Modelle nachmachen, das geht auf jeden Fall schief. Und da gibt es auch immer<br />

wieder fürchterliche Enttäuschungen. Wir oder auch die Sowjetunion liefern Waffen für die<br />

Befreiung, und dann brauchen sie Geld, und da reicht unseres nicht, so dass jetzt zum Beispiel<br />

Moçambique einen Freundschaftsvertrag mit Südafrika schließt. Das ist natürlich tragisch, aber<br />

55


das ist eine reine Notlage.<br />

KOSS Aber auf den AUFTRAG bezogen, der ja letztlich an den Schwarzen, den Neger delegiert<br />

ist, kommt mir dieses »wilde Denken« schon ein bisschen komisch vor. Diese Dritte Welt ist ja<br />

schon in einer starken Form pervertiert, geprägt von dem sich nach dem Geldbeutel Strecken, vom<br />

Nachahmen des Konsumstrebens. Wir haben ja nicht den Einblick, aber ein bisschen hat man<br />

schon immer das Gefühl, dass da ein Pflänzchen heranwächst, das den falschen Saft eingesogen<br />

hat.<br />

MÜLLER Das ist vielleicht doch zu kurz gesehen. Zunächst doch noch der schöne Kommentar von<br />

Brecht aus der »Heiligen Johanna«: »Nicht der Armen Niedrigkeit hast du mir gezeigt, sondern der<br />

Armen Armut.« Das muss schon immer voraus gesagt werden. Dann glaube ich schon, dass das<br />

Schlussmanifest aus einem brasilianischen Roman stimmt: Der christlich-jüdische Zyklus ist zu<br />

Ende, es beginnt der lateinamerikanische Zyklus. Der dauert mindestens so lange.<br />

SCHUMACHER Das klingt nicht sehr überzeugend, denn dieser lateinamerikanische Zyklus beruht<br />

auf der Hispanisierung des südamerikanischen Kontinents, die nicht rückgängig gemacht werden<br />

kann.<br />

MÜLLER Jetzt bist du der Geschichtspessimist. Das wird ungeheuer lange dauern und es wird<br />

keine friedlichen Lösungen dafür geben. Das ist ja ein Problem der Friedensbewegung insgesamt,<br />

dieses Fixiertsein auf die Wahnidee, dass es je Frieden gegeben hat, außer einem solchen wie<br />

jetzt gerade in Europa. Der Frieden ist immer erkauft worden mit Kriegen woanders. Es geht daher<br />

im Moment auch eher darum, Krieg noch zu ermöglichen, einen sinnvollen Krieg. Man kann doch<br />

Menschen in solchen Situationen wie in Lateinamerika und ähnlichen Regionen nicht den Krieg<br />

verbieten.<br />

SCHUMACHER Aber das ist nicht das Kernproblem der Friedensbewegung heute.<br />

MÜLLER Grundfrage und Grundlage der Friedensbewegung heute ist doch das Überleben der<br />

Menschheit. Kann man einen solchen Krieg verhindern, der die Menschheit zu vernichten droht,<br />

den Atomkrieg oder diesen »Krieg der Sterne«, das ist die Grundfrage. Dass solche Kriege, wie Du<br />

sie angesprochen hast, unvermeidlich sind, das glaube ich auch.<br />

LOTHAR SACHS Ich möchte das Problem der Realitätsnähe oder -ferne von Dramatik durch eine<br />

Nachfrage zu Ihren Antike-Bearbeitungen stärker geklärt haben. War oder ist diese Verwendung<br />

der Antike notgedrungen, weil es nach der UMSIEDLERIN" nicht mehr möglich war, die Realität<br />

unmittelbar abzubilden?<br />

56


MÜLLER Der Abfolge nach ist das nicht so gewesen. PHILOKTET habe ich vor der<br />

UMSIEDLERIN zu schreiben angefangen. Das Gedicht, das sozusagen den ersten Entwurf<br />

enthielt, ist lange vor irgendeinem Bezug zur DDR-Realität entstanden. Es ergab sich aus der<br />

Schulbildung und daraus, dass ich sehr früh die antiken Werke gelesen habe. Dabei haben mich<br />

bestimmte Stoffe interessiert, u. a. eben Philoktet, und das sicher auch aus autobiographischen<br />

Gründen. Da kann man lange hin- und herrätseln. Es ist nicht einfach so, dass ich, weil das eine,<br />

eben diese realistische Abbildung der Wirklichkeit, nicht geklappt hat, das andere gemacht hätte.<br />

Das stimmt höchstens in dem einen Fall, als die Aufführung des BAUS im Deutschen Theater, die<br />

ja schon festgelegt war, nach dem 11. Plenum untersagt wurde und mir Benno Besson, der die<br />

Regie übernehmen sollte, noch für eine Weile Geld zukommen lassen wollte und mich fragte, ob<br />

ich einen Sinn darin sehen könnte, »Ödipus« zu bearbeiten. Er selbst konnte aus seiner Brecht-<br />

Tradition heraus und auch, weil er den Text nur aus einer von Voltaire kommentierten<br />

französischen Übersetzung kannte, wenig anfangen. Voltaire meinte ja, die Tragödie hätte sich<br />

vermeiden lassen, wenn es in Theben eine Kanalisation gegeben hätte, denn dann hätte es keine<br />

Pest gegeben, so daß es dann auch nicht zu diesem privaten Heckmeck gekommen wäre. Das ist<br />

jetzt etwas vereinfacht wiedergegeben, aber so ungefähr war die Version von Besson. Mir fiel<br />

jedoch rechtzeitig ein, daß es da auch die Übersetzung des »Ödipus« von Sophokles durch<br />

Hölderlin gibt, und ich dachte mir, da kann ich mit wenig Silben für eine Weile gutes Geld<br />

verdienen Und so verlief es dann ja auch. Ich habe einfach die Hölderlinsche Übertragung<br />

abgetippt und da und dort was geändert. Das war eine reine Gelegenheits- und Auftragsarbeit.<br />

Aber damit war ich dann auch schon abgestempelt. Wenn irgendeiner etwas Antikes wollte, wurde<br />

entweder ich oder Hacks angerufen. Plötzlich entsteht da eine Bewährung für etwas. Aber in<br />

keinem Fall war es so, dass diese Aneignung der Antike eine Fluchtbewegung gewesen wäre,<br />

dass ich gemeint hätte, hier sei eine Allegorisierung nötig. So etwas kann ich sowieso nicht, ein<br />

aktuelles Problem antik einkleiden. Wenn ein solcher Eindruck entsteht, so war das nicht kalkuliert,<br />

in jedem Fall nicht kalkuliert als ein Ausweichen vor der Unmöglichkeit, bestimmte Realitäten<br />

abzuhandeln, wie etwa Enzensberger anzunehmen schien, der mich als erster zu PHILOKTET<br />

fragte: »Müller, wo haben Sie die Stiche her?« Ich hatte keine Ahnung, er war viel gebildeter als<br />

ich, er hatte so etwas in der bildenden Kunst gesehen.<br />

WOLFGANG RINDFLEISCH Trifft das auch für die Antike-Bearbeitungen, wie etwa LANDSCHAFT<br />

MIT ARGONAUTEN im VERKOMMENEN UFER, in den sechziger und siebziger Jahren zu, oder<br />

ist da doch ein Unterschied im Kalkül, wenn man zum Beispiel an die Szenenanweisungen in<br />

»Strausberg« denkt?<br />

MÜLLER Also was mein Herangehen an die Antike betrifft: Brecht ist mit den antiken Vorlagen viel<br />

freier umgegangen als ich und auch viel ideologischer. Mein Umgang mit dem antiken Material war<br />

57


immer völlig unideologisch. Mich hat mehr die Schönheit des Materials gereizt, ich habe darin dann<br />

herumgegraben, aber nie mit einer Konzeption. Dass in die Arbeit Überlegungen einfließen, ist<br />

eine andere Frage, aber ich habe nie, wie es Brecht zum Beispiel bei der »Antigone« getan hat,<br />

einen Text mit einer klaren Konzeption bearbeitet. Das kann ich nicht, und ich habe nie<br />

ideologische Interessen in diesem Sinn gehabt und pädagogische auch nicht.<br />

SCHUMACHER Ideologische vielleicht schon, aber nicht unmittelbar pädagogische?<br />

MÜLLER Nein, ich meine, mein Impuls war nicht subjektiv, von irgendwelchen Absichten bestimmt.<br />

KOSS Ist dann Ihre Ausführung in »Rotwelsch«, wo Sie sagen, es geht um das Patt in der<br />

russischen Revolution, die Unmöglichkeit einer Revolution in Russland, ein Witz oder was?<br />

MÜLLER Das ist diese Schwierigkeit bei Interviews, ich sage da zu selten nein, dann kommen fast<br />

immer Missverständnisse heraus, weil man sich auf einer ganz anderen Ebene bewegt. Wenn man<br />

als Auskunftei über die eigenen Texte befragt wird, dann entwickelt man immer einen Nebentext,<br />

das ist nicht zu vermeiden.<br />

RINDFLEISCH Nochmals zur Gedächtnisauslöschung. Es ist ja doch so, dass man, wenn man<br />

Gedächtnis bemüht, in gewisser Weise auch Produktivität unterdrückt. Bei der<br />

Gedächtniserhaltung sind ja immer wieder Vorgänge in der Geschichte da, die diese Produktivität<br />

ausgelöscht haben. Gibt es, sagen wir mal, eine mögliche Produktivität, die man auch als eine<br />

optimistische Variante bewerten, sozusagen als Fahne hochhalten kann?<br />

MÜLLER Es gibt einen ganz bösen Satz dazu, von dem ich hoffe, dass er nicht stimmt:<br />

Kapitalismus ist eine ökonomische Kategorie, Sozialismus ist eine ethische. Bis jetzt. Das ist das<br />

Problem der Beantwortung einer solchen Frage.<br />

SCHUMACHER Machen wir einen Sprung von der Neuaneignung der Antike zum Verhältnis zur<br />

Klassik. Als Brecht noch gerade dabei war, Marxist zu werden, verfocht er die Auffassung, die<br />

Klassiker besäßen für die Zeitgenossen nur noch Materialwert. Um sie selbst für hier und heute<br />

lebendig zu halten, müssten sie umgeformt werden. Ist das eine Haltung, die auch gegenüber dem<br />

»Klassiker Brecht« anzuwenden ist, um ihn, falls er wirklich so tot sein sollte, wie verschiedentlich<br />

behauptet wird, wiederzubeleben? Was würdest Du mit Brecht anfangen, wenn Du mit ihm so<br />

umgehen könntest, wie Brecht es schließlich mit den Klassikern doch nicht getan hat?<br />

58


MÜLLER Ich habe mal mit dem Dokumentarfilmer Peter Vogt eine Bearbeitung der »Tage der<br />

Commune« gemacht. Das hätte ein Beispiel werden können, scheiterte aber natürlich an den<br />

Erben.<br />

SCHUMACHER Könntest Du das erläutern?<br />

MÜLLER Ich erinnere mich nicht mehr genügend. Ich weiß bloß, dass alles, was an dem Stück<br />

historiographisch ist, durch Dokumente visueller Art, also Fotos, Grafiken, Film ersetzt werden<br />

sollte, und dazu der Versuch, das Melodram der Familie Cabet herauszuschneiden. Das ging, das<br />

wurde eine schlanke Sache, zusammen mit dem Film ging das sehr gut.<br />

SCHUMACHER Bleibt die Frage, wie man mit dem klassischen Erbe darüber hinaus umgeht. Von<br />

Brecht stammt ja der Satz: »Wir können den Shakespeare ändern, wenn wir ihn ändern können.«<br />

Er billigt Shakespeare immerhin zu, mit seinen Stückschlüssen den jeweils letzten Schluss<br />

gefunden zu haben. Vielleicht, sagte Brecht, brauchen wir überhaupt keine Bearbeitung, wenn die<br />

Intelligenz, verbunden mit dem ästhetischen Vermögen, entwickelt genug ist, um das, was zu<br />

sehen und zu hören ist, richtig zu bewerten. Man braucht zum Beispiel im »Coriolan« die dort<br />

gezeigten Klassenverhältnisse auf keinen marxistischen Nenner zu bringen, weil die Zuschauer sie<br />

auch in der Shakespeareschen Darstellung richtig verstehen. Hat sich damit in der Zwischenzeit<br />

der Eingriff, oder sagen wir die verdeutlichende Darstellung der Klassenverhältnisse, wie sie<br />

Brecht bei »Coriolan« vorgenommen hat (oder jedenfalls anstrebte), erübrigt?<br />

MÜLLER Der erste Text, den Brecht doch sehr entscheidend bearbeitet hat, war ja »Leben<br />

Eduards II.« von Marlowe. Er blieb nahe an der überlieferten Geschichte, aber der Text war doch<br />

hauptsächlich ein sprachliches Manövergelände, um eine neue Verssprache zu finden. Das war,<br />

so glaube ich, ungemein wichtig. Auch für mich ist ein solches Verfahren sehr wichtig gewesen.<br />

Das nächste war dann für Brecht die Bearbeitung von »Maß für Maß« von Shakespeare, aus der<br />

schließlich »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe« hervorgegangen sind. Brecht hat damit schon um<br />

1931 begonnen. Durch die Situation in Deutschland, also durch das Heraufkommen des<br />

Faschismus, wurde Brecht immer mehr dazu gedrängt, ein Stück mit einem direkten Bezug darauf<br />

zu machen. Es ist eines seiner plattesten Stücke geworden, weil es so unmittelbar auf die aktuelle<br />

politische Situation reagieren wollte und sollte. Aber formal war es andererseits auch wieder ein<br />

richtiger Kramladen an Mitteln und Technik. Viel bescheidener in Umgang mit den alten Texten<br />

wurde er dann nach der Emigration. Im »Coriolan« ist der Eingriff mit ziemlich viel Respekt<br />

gemacht worden, aber er war trotzdem falsch, und was Brecht selbst dazu geschrieben hat, ist<br />

unsäglich.<br />

SCHUMACHER Es sind ja eigentlich nur Bruchstücke.<br />

59


MÜLLER Ja, aber zum Beispiel diese Begegnung der Bauern: »Bäckt sie immer noch die kleinen<br />

Fladen?«, also dieses Kunstgewerbevolk, das in den späten Brecht-Stücken so unerträglich ist.<br />

Aber da hat sich Shakespeare gerächt, weil der Ablauf bei Shakespeare viel mehr transportiert als<br />

die Mutter-Sohn-Geschichte. Er transportiert das Soziale mit, aber auf eine viel komplexere Weise.<br />

Ich glaube, daß hier Brechts Rechnung nicht aufgegangen ist, denn eigentlich war ja die<br />

»Coriolan«-Bearbeitung ein Stalin-Stück, angegangen noch vor, intensiviert nach dem Tod Stalins,<br />

in der Zeit vor dem XX. Parteitag der KpdSU. In dieser Zeit war der Eingriff, war die Verengung des<br />

Shakespeare-Materials aus aktuellem Anlass, richtig. Aber diese Bearbeitung dann zehn Jahre<br />

später so zu spielen, wie sie entstanden war unter den Verhältnissen der fünfziger Jahre, war<br />

Kunstgewerbe. Das war der Niedergang des Berliner Ensembles auch vom Bühnenbild her. Zum<br />

ersten Mal gab es ein nichtfunktionales Bühnenbild. Wenn Theater in seiner gesellschaftlichen<br />

Funktion so unsicher wird, dann werden die Bühnenbilder immer wichtiger. Es gibt jetzt eine<br />

Hypertrophie von Bühnenbild, und das konnte man an den Berliner Theatern in den letzten<br />

Jahrzehnten sehr gut verfolgen. Mit »Coriolan« hat es angefangen, dann kam »Der Drache« und<br />

dann alle Tiere aller Länder auf allen Bühnen.<br />

SCHUMACHER Dazu könnte man einiges bemerken, auch zum Bühnenbild der MACBETH-<br />

Inszenierung in der Volksbühne. Um aber in der Problemerörterung über Brecht heute<br />

voranzukommen, die sich dieses Oberseminar gestellt hat, würde ich gerne auf das Problem<br />

dramaturgischer Situations- und Typenschaffung zu sprechen kommen. Ein dramaturgisches<br />

Muster war die Szenenfolge »Furcht und Elend des dritten Reiches« von Brecht. Du hast es<br />

aufgenommen, zum Beispiel in DIE SCHLACHT. Könntest Du Dir eine Anwendung für die<br />

Gestaltung von typischen Situationen der gegenwärtigen sozialistischen Gesellschaft vorstellen?<br />

Franz Xaver Kroetz hat ja nach dem Brechtschen Vorbild seine Szenen »Furcht und Hoffnung der<br />

BRD« geschrieben, ich finde, kein sehr geglücktes Unternehmen, und hier in diesem Oberseminar<br />

werden wir noch Szenen von Bonaventura aus Kolumbien zur Erörterung bringen, in denen die<br />

Probleme Lateinamerikas dargestellt werden.<br />

MÜLLER »Furcht und Elend des dritten Reiches« ist für mich leider ein absolut missglücktes<br />

Produkt. Es gibt nämlich ein illusionäres Bild von Nazideutschland, ein Bild wirklich nach dem<br />

Schema der KPD. Zugrunde lag eine völlig unzureichende Faschismusanalyse, die mit dazu<br />

geführt hat, dass diese Partei vernichtet wurde. Brecht machte das viel zu sehr mit. Er war<br />

angewiesen auf Informationen von anderen und Berichte, und das funktionierte nicht. Ich glaube<br />

nicht, dass diese Dramaturgie hier und heute benutzt werden kann. Es gibt da diesen schönen<br />

Satz von Brecht: Eine Fotografie der Kruppwerke sagt nichts über die Kruppwerke. Und eine<br />

Fotografie der DDR sagt nichts über die DDR. Die Zukunftsstruktur der DDR findet man nur<br />

gleichzeitig mit der Vergangenheitsstruktur, und das ist sehr problemreich, das geht nicht mit einer<br />

60


so einschichtigen und simpel montierten Dramaturgie, und das kann auch bei Kroetz nicht<br />

aufgehen.<br />

MATTHIAS THALHEIM In diesem Zusammenhang möchte ich auf das »Fatzer«-Fragment zu<br />

sprechen kommen, weil das für mich heute noch modern ist, so in der Feinstruktur der Sprache, in<br />

ihrer Gebundenheit oder in dem, was man den Fatzer-Vers nennt, weil da noch eine<br />

Sprachanarchie oder -spontaneität möglich ist, die Bedeutung ausschreitet, die diese Sprach-<br />

Batzen von allen Seiten beschaut. Da ist noch ein ganzes Stück Valentin mit drin: »Also, wir gehen<br />

jetzt los, und wenn wir wohin kommen, bleiben wir halt da ...«, und dazu das Exotische, dieses<br />

Austasten der Situationen, das einem angenehme Fluchtfelder zur eigenen Nebenproduktion<br />

verschafft. Nun begegnet einem aber in Ihren letzteren Stücken tendenziell mehr eine sprödere<br />

Prosa, die weniger aus der besagten Rhythmisierung oder Spontaneität wie bei »Fatzer«<br />

herkommt.<br />

MÜLLER Das finde ich aus zwei Gründen interessant. Zum einen: Was die Qualität des »Fatzer«-<br />

Textes bis in die kleinsten Elemente ausmacht, ist das Provinzielle. Und ein Aspekt der<br />

Auslöschung von Gedächtnis ist die Zerstörung der Provinzen. Das ist ungeheuer wichtig, wenn<br />

man über Brecht redet, diese seine Verwurzelung im süddeutschen Sprachraum. Das ist der<br />

einzige wirkliche Kulturraum in Deutschland, den es je gegeben hat. Das ist leider wahr, obwohl<br />

Schumacher Bayer ist. Aber meine Großmutter stammt ja auch aus Rosenheim.<br />

SCHUMACHER Damit kommen wir auf alte Gespräche zurück, bei denen wir zum Schluß immer<br />

wieder festgestellt haben, wir müssen gemeinsame Urgroßväter haben, und das können nur die<br />

alten Römer gewesen sein, womit wir ja dann geadelt waren, und eben die Römer haben diesen<br />

Kulturraum geschaffen.<br />

MÜLLER Zum zweiten nun: Was in meinen letzten Texten mir selber unheimlich ist, und was etwas<br />

zerstört schon im VERKOMMENEN UFER vorkommt, das ist, dass sie immer rhetorischer werden.<br />

Das heißt, es sind nur noch Äußerungen eines »Clowns ohne Massen«, also eines Einzelnen. Und<br />

da kann man sich zwar gut anhängen, als Intellektueller, aber man sollte nicht übersehen, dass<br />

das ein Krisensymptom ist, dieses Abheben in die Rhetorik, was nicht nur bei mir so ist, dass es<br />

immer mehr ein Autorentext wird.<br />

SCHUMACHER Was macht das Theater dann damit, steht es ihnen hilflos gegenüber? Ich war<br />

jedenfalls mehrfach beeindruckt, wie Theater gerade aus solchen fragmentarisierten, scheinbar<br />

oberflächlich kollationierten, jedenfalls sehr mittelbaren, verschlüsselten, verfremdeten Texten zu<br />

ganz Eigenem inspiriert wurde.<br />

61


MÜLLER Ohne Zweifel ein echtes Problem. Ich fand ganz einleuchtend, was Robert Wilson zu mir<br />

sagte, nachdem er von mir einige Sachen in Übersetzung gelesen hat. Nach den Informationen,<br />

die er hat, denn er hat ja nichts gesehen, hat man, so sagte er, immer versucht, meine Texte – und<br />

es geht hier nur um meine letzten – dem Publikum mehr oder weniger nahezubringen. Nach seiner<br />

Meinung geht es aber darum, sie vom Publikum zu entfernen und sie in einen Kunstraum zu<br />

stellen, eben den, den das Theater schafft.<br />

SCHUMACHER Aber es gibt da die gegenläufige Behauptung, dass auch Deine Texte für Wilson<br />

nur Anlässe für illustratives Bildertheater waren.<br />

MÜLLER Das ist die Meinung von Herrn Merschmeier.<br />

SCHUMACHER Nicht nur, es gibt diese Meinung auch von anderen, dass in der Bilderflut dieses<br />

Theaters der Text und seine Bedeutung untergehen.<br />

MÜLLER Ich bin nicht ganz dieser Meinung. Es waren ja auch gar keine Texte von mir, ich habe<br />

nur collagiert und schnell gemerkt, das geht gar nicht, ich kann dafür nichts schreiben, insofern<br />

stimmt der Vorwurf. Aber wenn jetzt ein Text von mir da ist, und er macht Bilder dazu, ist das eine<br />

andere Situation. Dann geht es.<br />

SCHUMACHER Vielleicht für die Seminarteilnehmer noch einige Informationen, worum es ging.<br />

MÜLLER Ich wurde von Wilson gefragt, ob ich an dem deutschen Teil eines Riesenprojektes<br />

mitarbeiten würde, an dem er seit drei Jahren arbeitet. Der Ausgangspunkt für dieses Projekt<br />

waren Fotos aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, und das war der erste fotografisch<br />

dokumentierte Krieg überhaupt. Die Fotos haben wirklich eine ungeheure Qualität, eben die<br />

Qualität des ersten Blicks. So grausig ist ein Krieg nie wieder fotografiert worden, weil man es<br />

danach ja schon konnte. Das waren ja damals noch solche Monumentalkameras, die ungeheuer<br />

geschleppt, aufgebaut, wieder abgebaut werden mussten ...<br />

ZWISCHENRUF ... wie eine Haubitze ...<br />

MÜLLER So ähnlich, ja. Das war der Ausgangspunkt für dieses Projekt, das Wilson jetzt »Civil<br />

Wars« nennt, also Bürgerkriege, wobei er sich gegen diese Übersetzung wehrt, weil er auch zivile,<br />

familiäre Konflikte, Geschichten von Familien, berühmten Familien im Zusammenhang mit<br />

bürgerkriegsähnlichen Situationen meint. Da gibt es einen Teil in Japan mit japanischen Familien,<br />

einen Teil in Köln mit deutschem Material, einen in Holland mit holländischen Geschichten, einen in<br />

Frankreich, einen in Rom, einen in Minneapolis, und das Ganze soll dann für die Olympiade 1984<br />

62


zusammengestellt werden zu einem 12-Stunden-Spektakel, einer einmaligen Aufführung vor 6 000<br />

Leuten. Das ist der Plan, daran hat er drei Jahre gearbeitet, das heißt, er hat zunächst alles<br />

gezeichnet, denn er versteht sich ja als bildender Künstler, er sagt, er wäre gern ein guter Maler, ist<br />

es aber nicht, deswegen braucht er das Theater. Also, er kann seine Vorstellungen genau<br />

aufzeichnen, aber er kann sie als Maler nicht umsetzen, und deshalb benutzt er das Theater, damit<br />

er seine Bilder sehen kann. Das ist ein ganz legitimer Impuls, aber dafür braucht er Geld, sehr viel<br />

Geld. Fertig ist jetzt eigentlich nur der Kölner und der holländische Teil. Alle anderen existieren nur<br />

als Workshops. Auch für den Transport ist noch kein Geld da. PanAm wollte nicht und die<br />

Lufthansa auch nicht. Das Interessante an Wilson ist für mich, das stammt jetzt nicht von mir,<br />

sondern von Bernard Sobel, den Du ja kennst, ein französischer Regisseur, der mehrere Jahre am<br />

Berliner Ensemble gearbeitet hat, und der sagte zu mir, er habe schon vor fünf Jahren zu Strehler<br />

gesagt, der darauf einen Tobsuchtsanfall kriegte: »Was der Wilson macht, ist episches Theater,<br />

das ist ›Kleines Organon‹.« Und er meint auch etwas damit, und zwar ein Theater (und das ist von<br />

Brecht) mit einem Minimum an dramaturgischer Anstrengung, ein Theater, für das nicht der<br />

Unterschied zwischen Laien und Schauspielern essentiell ist, ein Theater also, das wirklich ein<br />

sozialer Freiraum ist, als Entwurf, als Möglichkeit. Und das Auffälligste an diesen Wilson-<br />

Produktionen ist wirklich, dass Wilson als Regisseur die meisten Schwierigkeiten mit<br />

Schauspielern, besonders mit deutschen – nicht mit japanischen! – hat, mit Laien aber überhaupt<br />

keine.<br />

SCHUMACHER Aber sind denn solche Laien, die für Wilson ein brauchbares Material abgeben,<br />

überhaupt in der Lage, solche hochkomplizierten, hochstrukturierten Texte vorzutragen, wie Du sie<br />

schreibst, oder kommt es schon gar nicht mehr auf den Sinn im einzelnen an?<br />

MÜLLER Das ist für mich wirklich eine Frage, die ich nicht so einfach beantworten kann. Das<br />

einzige Theater, das mich in der letzten Zeit wirklich nicht nur angeregt, sondern erschüttert hat,<br />

waren ein paar Aufführungen von Pina Bausch, ein Theater ohne Text. Das ist ein Theater, in dem<br />

die Tragödie plötzlich wieder da ist. Nicht bei Stein, nicht in der Schaubühne, in keiner noch so<br />

berühmten Aufführung. Bei Bausch, da findet etwas unterhalb von Text statt. Das hat sicher auch<br />

etwas zu tun mit der zunehmenden optischen Inflation, dieser Überschwemmung, und dass immer<br />

weniger Leute Zeit haben, ein Buch in die Hand zu nehmen und einen Text zu lesen, einfach weil<br />

es soviel zu sehen gibt.<br />

SCHUMACHER Aber genau das lässt sich gegen das Theater Wilsons einwenden: dass er<br />

vorrangig ein Bildermacher ist, nur dass er die Bilder in anderer Struktur und Abfolge präsentiert.<br />

MÜLLER Wobei die Bilder ja nicht alle von ihm waren, wir haben sie auch zusammen gemacht.<br />

Zwei Bilder sind leider rausgefallen, weil die Zeit zu knapp und der technische Aufwand zu<br />

63


wahnsinnig war. Das waren die besten, und das weiß er auch, das sagt er auch. Da war ein Bild<br />

dabei, in dem nichts passiert, als dass sämtliche Figuren einschließlich Friedrichs des Großen<br />

irgendwelche mechanischen Tätigkeiten ausführen, schalten, tippen oder so etwas, aber<br />

pantomimisch, und ganz blökend dazu ist ein Ton darunter, und dazu habe ich den Fahrstuhl-Text<br />

aus AUFTRAG gesprochen. Das ging, denn der Text ist völlig selbständig und das Bild auch. Ich<br />

bin ganz einfach zu spät hereingekommen, ich konnte nichts mehr dafür schreiben.<br />

SCHUMACHER Damit ist grundsätzlich das Problem des Verhältnisses zwischen dramatischem<br />

Text und Umsetzung im Theater, angemessener »Verkörperung«, angemessener »Demonstration«<br />

berührt.<br />

Brecht selber äußerte, zu seinen Lebzeiten könne er nur »30 %« einer idealen epischen<br />

Spielweise verwirklichen, nämlich verkürzt, mit starken Ellipsen, demonstrativ, mit gestischer<br />

Geprägtheit im Ausdruck, weil weder die Schauspieler zu mehr fähig noch das Publikum mehr<br />

hinzunehmen willig seien. Deine dramatischen Texte sind in einem weitaus stärkeren Maße als<br />

zumindest beim »klassischen« Brecht dialektisch strukturiert, elliptisch, assoziativ-andeutend,<br />

paradoxal zugespitzt. Wieviel Prozent der Brechtschen Verfremdungsmittel sind für sie<br />

angemessen?<br />

MÜLLER Ich glaube zum Beispiel, dass die hier schon mehrfach erwähnte MACBETH-<br />

Inszenierung in der Volksbühne, und soviel ich weiß, hast Du das auch geschrieben, ungeheuer<br />

viel mit Brecht zu tun hatte, freilich mit dem bei uns nicht bekannten Brecht ...<br />

SCHUMACHER ... oder dem nicht realisierten ...<br />

MÜLLER Ich erinnere mich, wie Peter Palitzsch, der bei der »Kreidekreis«-Inszenierung der<br />

Regieassistent von Brecht war, ein bisschen erschrocken war über das, was da rauskam: Alles war<br />

so harmlos und bunt, und er fragte Brecht: »Ist das nun episches Theater?« Und Brecht erwiderte:<br />

»Überhaupt nicht. Episches Theater kann es erst geben, wenn die Perversität aufhört, aus einem<br />

Luxus einen Beruf zu machen«, also den des Schauspielers, diese Spezialisierung. Aber Brecht<br />

war so eingespannt, auch in die Tageskämpfe hier, dass er gar nicht dazukam, seine radikalen<br />

Vorstellungen von Theater zu realisieren.<br />

SCHUMACHER Auch wegen des Publikums nicht.<br />

MÜLLER Ja, auch wegen des Publikums, klar. Und ich merke das jetzt wieder. Wolfgang Heinz<br />

sagt ganz ehrlich und ohne Bosheit: »Das hat ein Verrückter inszeniert.« MACBETH, das ist für ihn<br />

verrückt. Das kann man ihm auch nicht erklären, das versteh ich auch. Und er sagt: »Das werde<br />

ich in hundert Jahren auch nicht verstehen«, was ich einen optimistischen Satz finde. Bloß, da<br />

64


kann man sich kaum verständigen, glaube ich. Aber beim Publikum, da hat sich ein bisschen was<br />

geändert. Das Publikum unter dreißig ist jedenfalls ansprechbar für eine solche Art Theater, das<br />

über vierzig sowieso nicht.<br />

SCHUMACHER Wo siehst Du im europäischen Raum, der für die Studenten einigermaßen<br />

überblickbar ist, Theater entstehen und gehandhabt, das Deinen Vorstellungen einigermaßen<br />

entspricht, oder gilt auch für Dich immer noch die Situation von Brecht mit den »30 %«, wenn nicht<br />

gar von »10 %«?<br />

MÜLLER Da sind nur Pina Bausch, die mich wirklich interessiert hat, und einzelne Inszenierungen.<br />

Als Gesamttendenz sind es diese Sachen. Und ich frage mich, wie man das für einen Text<br />

produktiv machen kann. Das ist ein ungelöstes Problem. Es geht wahrscheinlich nur mit Mitteln,<br />

wie sie Brecht beschrieben hat, wo sie einen aber für verrückt erklären, wenn man sie anwendet,<br />

wenn man also mit einem Text so umgeht wie das Kabuki-Theater, ich meine in der Annäherung.<br />

Dann halten mich schon die Schauspieler für einen Irren und wollen erklärt haben, warum, und da<br />

bist Du schon verloren, denn erklären kann man das nicht.<br />

SCHUMACHER Man könnte es noch extremer formulieren, denn der Text ist im Kabuki überhaupt<br />

nur Anlaß für Aktion.<br />

MÜLLER Sprache als Material, Text als Material zu behandeln, die Mißverständnisse darüber,<br />

auch dass meine Texte schwierig sind, entstehen doch daraus, dass die Schauspieler sie für<br />

schwierig halten und Mühe haben, sie zu verstehen, und deswegen, dem Publikum gegenüber<br />

auch noch von der Regie dazu angehalten, die Haltung von Pädagogen oder Erklärern einnehmen.<br />

Wir sind ein bisschen klüger als ihr, ihr seid ein bisschen dümmer, wir erklären euch das jetzt,<br />

damit ihr es versteht. Und schon wird ein Text schwierig.<br />

Ein ganz einfaches Beispiel. Benno Besson wollte in der Volksbühne Brechts »Guten Menschen<br />

von Sezuan« inszenieren, was er dann ja auch getan hat. Er fragte mich: »Sag mal, wie mache ich<br />

das bei der Situation in Berlin, wo Shen Te sagt: ›Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht ...‹<br />

und so, dann ist es besser, daß sie ›untergeht / Durch ein Feuer, bevor es Nacht wird‹, wie mach<br />

ich das?« Ich sagte: »Das weiß ich auch nicht, das musst Du wissen.« Dann hat er probiert und<br />

sagte zu Karusseit: »Usch, mach mal, wie würdest Du das machen?« Und die Karusseit mit dem<br />

Instinkt der Theaterbestie ging natürlich an die Rampe und brüllte den Satz ins Publikum. Besson<br />

raufte sich die Haare und sagte: »Das ist falsch, ganz falsch. Du musst das ganz anders machen.<br />

Pass auf, Du bleibst hinten und sagst es ganz leise, und Du musst ganz anders betonen.« Und<br />

dann machte er ihr vor, ganz leise: »Wenn in einer Stadt« und so weiter, dann ganz laut »bevor es<br />

Nacht wird.« Das war wirklich die Erfindung des Manierismus. Kein Mensch verstand mehr den<br />

Satz, alle lachten darüber: warum nicht »nachher«? So entsteht der Manierismus in unseren<br />

65


Inszenierungen.<br />

SCHUMACHER Im Grunde diskutieren wir damit über den Zentralbegriff der Verfremdung bei<br />

Brecht. Wie weit weg von der Alltagswirklichkeit muss die theatrale Abbildung getrieben werden,<br />

um die Darstellung vom bloßen Imitat abzuheben, und wo erfährt die szenisch-darstellerische<br />

Auffälligmachung ihre Begrenzung, wenn sie noch den Sinn, irgendeine »Botschaft«, wie immer<br />

man das nennen will, mitvermitteln will, wenn sie »rational« kommunikabel bleiben soll. Deine<br />

Texte sind diesbezüglich vielfach sehr hermetisch, sie wirken wie Ausdruck der<br />

Selbstverständigung des Subjekts Heiner Müller, in dem die Widersprüche des 20. Jahrhunderts,<br />

wenn nicht des Menschseins, zusammenschießen und auf die komprimierteste Form gebracht<br />

sind. Hier ist schon im Text eine solche Verdichtung erreicht, dass ein Publikum, wie ich es zum<br />

Beispiel am Freitagabend im Metropol erlebt habe, damit gar nicht kommunizieren kann.<br />

MÜLLER Mit einem Goethe-Text auch nicht, mit Shakespeare auch nicht. Man muss sich, glaube<br />

ich, die Illusion abgewöhnen, dass es in einer Zeit der Massenmedien Volkstheater geben kann.<br />

Das hat Strehler schon vor zehn oder fünfzehn Jahren gesagt. Das ist eine sozialdemokratische<br />

Illusion, Volkstheater im Zeitalter der Massenmedien. Man muss also überlegen, wie man – und<br />

das ist ja auch ein Aspekt der Theatertheorie und -praxis von Brecht– das Theater gegen den Sog<br />

des Fernsehens und des Films absichern, wie man es gegen den zerstörenden Einfluss dieser<br />

Medien abdichten kann.<br />

SCHUMACHER Aber es gibt nun einmal das Bedürfnis nach einem Theater, das dem Publikum<br />

Unterhaltung in der herkömmlichsten Form bietet. In der von mir erwähnten Vorstellung im<br />

Metropol am Freitagabend war diese Unterhaltung auf das denkbar niedrigste Niveau gedrückt,<br />

»Die Tante aus Brasilien«, eine Variante von »Charly‘s Tante«, aus der Sowjetunion importiert,<br />

nachdem sie dort über 500mal gespielt worden ist, mit der schmissigen Rotzmusik der<br />

heruntergekommenen Operette. Aber das Publikum ließ sich das nicht nur um die Ohren hauen,<br />

sondern ging mit, bis nach der Pause ein Chargenschauspieler aus dem 19. Jahrhundert, der die<br />

Rolle eines Butlers spielt, das Publikum fragte: »Seid ihr noch alle da?« Da sprang im ersten Rang<br />

ein junger Mann auf und rief. »Das ist eine künstlerische und politische Instinktlosigkeit erster<br />

Güte, was hier passiert«, was den Mimen an der Rampe so verdatterte, dass er von einer<br />

Inspizientin hinter den Vorhang gezogen werden musste, und der Intendant oder Chefdramaturg<br />

des Metropol am nächsten Morgen die Zeitungen anrief, sie möchten keine Kritik veröffentlichen,<br />

weil es sich nicht um die Premiere, sondern um die Generalprobe gehandelt habe. Das Publikum<br />

hätte sich ohne den Zwischenrufer diese Art von heruntergekommenem Theater durchaus gefallen<br />

lassen. Wie unter diesen Umständen Theater machen, das schon in der textlichen Vorgabe eine<br />

solche Verdichtung erreicht hat, wie sie bei Deinen Texten erreicht ist, und dafür theatrale Formen<br />

der Versinnlichung finden, die sie kommunikabel machen und halten? Als Du noch Marxist und<br />

66


Brechtianer warst, hast Du noch die Meinung von Theater als einem Laboratorium sozialer<br />

Phantasie gehabt. In der Konsequenz hieße das heute, einem Theater, das die Bedürfnisse breiter<br />

Massen befriedigt, eine Art experimentellen Theaters, eines avantgardistischen Theaters neuer Art<br />

hinzuzufügen oder gegenüberzustellen.<br />

MÜLLER Das ist doch ganz einfach. In der Antike gab es nur einmal im Jahr Theateraufführungen.<br />

Es gab da noch nicht diesen Repertoirezwang, dem heute der Theaterbetrieb unterliegt. In großen<br />

Theaterzeiten, so auch in den zwanziger Jahren, wurden doch die großen Stücke nicht fünfzigmal<br />

durchgejagt, wie es heute aus Mangel an Stücken und an Beweglichkeit der Apparate geschieht.<br />

Ich bin sicher, für jedes meiner vorhandenen Stücke gibt es in Berlin ein Publikum für zwanzig<br />

Vorstellungen, und mehr muss nicht sein. Der Rest ist eben wirklich dieser Bewegungslosigkeit der<br />

Apparate zu verdanken, der Dramaturgie, dem Ministerium, was immer, das sind doch alles<br />

Bremsen.<br />

SCHUMACHER Im Grunde gibt es für Dich in Berlin vier Theater: das Berliner Ensemble, die<br />

Volksbühne, das Gorki Theater und natürlich das Deutsche Theater. Aber in jedem dieser Theater<br />

vermag nur eine Minderheit der Leute, die dort reingehen, mit Deinem Theater, als Ausdruck eines<br />

neuen zeitgenössischen Theaters verstanden, etwas anzufangen. Könnte dem Problem ab- oder<br />

vorangeholfen werden, indem jedem Theater ein experimenteller Freiraum zugebilligt würde,<br />

jedem Theater eine Experimentierbühne?<br />

MÜLLER Das ist eine ganz pessimistische Einschätzung. In Westberlin ist jetzt etwas<br />

Merkwürdiges passiert. Am Schiller Theater hat ein sehr mittelmäßiger Regisseur Gundling<br />

inszeniert. Die Dramaturgie hatte Irene Böhme; Hilmar Thate und Angelica Domröse waren die<br />

wichtigsten Darsteller. Das Ergebnis war mittelmäßig, aber der Skandal riesig. Während der<br />

Premiere gingen zwei Drittel des Publikums weg, so ist mir erzählt worden.<br />

SCHUMACHER Das stimmt nicht. Ganze acht Leute sind rausgegangen, sah ich selber.<br />

MÜLLER Aber die Presse, die »Bildzeitung« und die ganze Springer-Presse waren entsprechend<br />

dagegen. Friedrich Luft schrieb: »Ich musste drei Schnäpse trinken, um das runterzuwürgen«.<br />

Aber vielleicht gerade deswegen sind die Leute dann reingegangen, die sonst nie ins Schiller<br />

Theater gingen. Man sollte also nicht so schnell aufgeben.<br />

SCHUMACHER Trotzdem die Frage: Hat Brechts Aufsatz von 1939 Ȇber experimentelles<br />

Theater«, mit dem er sein Entrée in Schweden vor Studenten der Stockholmer Universität gemacht<br />

hat, mit seiner Grundaussage, Theater des 20. Jahrhunderts müsse, wenn nicht in Gänze, so doch<br />

partiell einen experimentellen Charakter haben, auch noch Gültigkeit im Sozialismus?<br />

67


MÜLLER Das Problem ist doch die Kulturpolitik. Es ist ja nicht so, dass es zu viel Kulturpolitik gibt,<br />

sondern zu wenig, und dass sie rein defensiv eingestellt ist. Es ist doch schon oft über dieses<br />

Projekt eines Theaters für solche Zwecke in Berlin gesprochen worden, was ja durchaus ginge.<br />

Aber es ging nie, weil die bestehenden Theater immer genügend Schwierigkeiten haben. Trotzdem<br />

muss man immer wieder darauf kommen.<br />

SCHUMACHER Wir haben über den Begriff der Verfremdung bei Brecht gesprochen. Kannst Du<br />

mit dem Komplementärbegriff der Historisierung noch etwas anfangen?<br />

MÜLLER Es ist die Frage, was man darunter versteht. Ich würde darunter nicht verstehen die<br />

sogenannte Treue des Details, dieses Stimmige im Umgang mit Geschichte. Es gibt da die<br />

Anekdote, dass Brecht Elisabeth Hauptmann angeregt hat, ein Stück über Karl XII. zu schreiben.<br />

Ihm gefiel an der Geschichte eine Episode: Karl XII. wird eingeschlossen, ich weiß jetzt nicht mehr,<br />

von welcher Armee, und es gibt nichts mehr zu essen, es ist Winter, die Soldaten erfrieren und<br />

verhungern, und als das Schloss dann eingenommen wird, entdecken die Eroberer unter einem<br />

Haufen gefrorener Leichen ganz unten das Gesicht von Karl XII., auch im Eis, und alle hatten sich<br />

um ein Stück Brot gekloppt; darüber wollte Brecht ein Stück. Die Hauptmann fing an, das zu<br />

schreiben, und dann kam sie irgendwann mit der Fabel oder ihrer Dramaturgie nicht weiter. Sie<br />

kam zu einem Punkt, wo sie sagt, jetzt im dritten Akt kann ich nur weiterschreiben, wenn eine<br />

Nachricht von einem Ort zum anderen gelangt, schneller als es mit den Transportmitteln der<br />

damaligen Zeit möglich war. Da sagte Brecht: »Dann lassen Sie doch telefonieren.« Das finde ich<br />

eine realistische Haltung zur Frage der Historisierung. Also wenn das der Aussage dient, dann soll<br />

man telefonieren.<br />

SCHUMACHER Der Begriff der Historisierung impliziert bei der praktischen Anwendung eine<br />

Paradoxie. Ideell gesehen soll das, was gezeigt werden soll, weit weggerückt werden, um den<br />

Schritt der Geschichte, der seitdem getan wurde und damit Veränderungen einschließt, bewusst zu<br />

machen. Praktisch lebt das Theater jedoch vom Gegenwärtigsein, das immer Gegenwärtigmachen<br />

bedingt.<br />

MÜLLER Das Verfahren hat ja eine zusätzliche Tücke. Diese so eng verstandene Historisierung<br />

wird dann eben auch benützt, um zu sagen, so schlimm war es einmal, aber mit uns hat das<br />

überhaupt nichts zu tun. Das hat auch mit dem platten Inhalt zu tun.<br />

THALHEIM Ich möchte nochmals auf die »Fatzer«-Bearbeitung für das Berliner Ensemble<br />

zurückkommen. Wie kam es dazu?<br />

68


MÜLLER Es gab in den Sechzigern einen Hospitanten oder Assistenten im Berliner Ensemble,<br />

Guy de Chambure. Das war der einzige Millionär, der je am Berliner Ensemble engagiert war, ein<br />

Rothschilderbe, der leider nach einer Entziehungskur vom Alkohol an einem Herzinfarkt gestorben<br />

ist, in Paris, wohin er zurückgekehrt war. Er war ein sehr intelligenter Mann, einfach eine schöne<br />

Farbe in dieser etwas grauen Mannschaft des Berliner Ensembles. Der besorgte immer Whisky für<br />

alle, na, ich kannte ihn ein bisschen, und wir sprachen einmal darüber, ob man mit diesem<br />

»Fatzer« Material etwas anfangen sollte. Das ging natürlich nur, wenn man es auf eine Darstellung<br />

durch Ekkehard Schall hin anlegte. Das haben wir dann auch gemacht. Da gab es dann ein paar<br />

Sitzungen, aber im wesentlichen ist nicht viel mehr herausgekommen, als was Alexander Stillmark<br />

davon aufgeschrieben hat. Das Vorhaben wurde irgendwie in der Dramaturgie nicht ernst<br />

genommen. Man hielt es nicht für machbar, und gab anderen Projekten, die für wichtiger gehalten<br />

wurden, den Vorzug. Es ist irgendwann eingeschlafen.<br />

BREDEMEYER Aber Sie haben ja den »Fatzer« später dann doch für eine Aufführung in Hamburg,<br />

glaube ich, bearbeitet.<br />

MÜLLER Ja. Zuerst hatte ich ja auch nur das Fragment in den »Versuchen« gelesen, ein Stück<br />

aus dem dritten Teil, die Fleischbeschaffung, die Schlägerei mit den Fleischern. Dann kam dieser<br />

Ansatz einer Bearbeitung im Berliner Ensemble. Schließlich die Aufführung in der Schaubühne, die<br />

schlecht war, weil die versuchten, das als eine Historie, also richtig mit Milieu und so, zu zeigen,<br />

was natürlich schief ging. Daraufhin habe ich mir das ganze Material aus dem Brecht-Archiv geben<br />

lassen. Das waren ungefähr 500 Seiten, was gewaltiger klingt, als es ist, denn manchmal ist auf<br />

einer Seite nur ein halber Satz oder eine Notiz oder eine Zeichnung. Und sehr viele Varianten.<br />

Dann habe ich mich allmählich durchgewühlt, es war ganz schwer, deswegen lüge ich dann immer,<br />

wenn ich versuche, das zu beschreiben, weil es eine so blinde Praxis war. Ich erinnere mich,<br />

Hanns Eisler hatte DIE UMSIEDLERIN gelesen und sagte daraufhin nicht zu mir, sondern zu Hans<br />

Bunge: »Er ist eine große Begabung, aber leider eine dumpfe.« Und da war aus seiner Sicht was<br />

dran. Das ist aber auch meine Sicht, denn meine Überlebensfähigkeit liegt in dieser Dumpfheit,<br />

dass ich wirklich nicht kalkuliert arbeite. Ich kann hinterher viel darüber reden, auch analytisch, und<br />

viel darüber nachdenken, aber es ist so instinktmäßig, mein Arbeiten. Ich habe also einfach diese<br />

Blätter in meinem Zimmer ausgebreitet, und das Zimmer reichte dann nicht, und dann bin ich von<br />

einem Platz zum anderen gegangen. Es musste ja anfangen mit dem ersten Weltkrieg, das war<br />

klar, und dann setzte sich allmählich eine Struktur zusammen. Es gilt ja wirklich der Satz: Wir<br />

machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind. Das erfährt man hinterher, wenn sie<br />

fertig sind. Daran muss man auch festhalten, glaube ich, und auf diesem Recht bestehen, dass<br />

man blind produziert. So entsteht Realismus. Sonst entstehen Plakate oder Allegorien oder was<br />

immer.<br />

69


RINDFLEISCH Gab es da nicht Schwierigkeiten mit den Erben?<br />

MÜLLER Überhaupt nicht. Barbara (Schall-Brecht) war sehr begeistert und sagte: »Du kriegst für<br />

die Bearbeitung 1 % der Tantiemen.« Ich habe dann zäh gehandelt, und sie sagte: »Also mehr hat<br />

noch keiner gekriegt. Aber weil Du es bist und weil es mir so gut gefallen hat, kriegst du 1 1/2<br />

Prozent.« Nun war ich sehr stolz auf dieses Verhandlungsergebnis.<br />

SCHUMACHER Wieviel hat denn Palitzsch jetzt für den »Jakob Geherda« ausgehandelt?<br />

MÜLLER Bestimmt nicht mehr als 1 1/2 Prozent. 1 1/2 krieg nur ich.<br />

SCHUMACHER Du stehst ja in einer außerordentlichen Gunst bei ihr, das ist erstaunlich. Sie hat<br />

eben doch nicht vergessen, dass Du von Brecht hergekommen bist.<br />

MÜLLER Na, zwischendurch war ich natürlich auch mal Verräter. Aber das gibt es bei so engen<br />

Beziehungen, das ist unvermeidlich.<br />

SCHUMACHER Irgendwie ist es traurig, dass alle diese Fragmente mit Ausnahme des<br />

»Brotladens« nicht im Berliner Ensemble, sondern außerhalb das Licht der Bühne erblickt haben.<br />

Das letzte Beispiel war die Aufführung des eben erwähnten Fragments »Das wirkliche Leben des<br />

Jakob Geherda« in Köln, das Peter Palitzsch inszeniert hat. Das liegt aber sicher nicht allein an<br />

der Leitung des Berliner Ensembles, sondern auch an der Vorsicht der Brecht-Erben, die das<br />

Brecht-Bild freihalten wollen von diesen unausgereiften, jedenfalls nicht vollendeten Entwürfen<br />

usw., um das Bild des wahren, guten, schönen Klassikers zu erhalten. Dabei zeigte die Aufführung<br />

des »Brotladens«, dass an solchen Fragmenten sich sehr viel demonstrieren lässt, was für die<br />

Lebendighaltung Brechts von Interesse ist. Zum Beispiel kam Agnes Kraus, die die Witwe Queck<br />

spielte, zum ersten Mal aus einer braven Mittelmäßigkeit heraus und war wirklich herausragend.<br />

Aber insgesamt geht es ja heute um die Frage, wie auch der »Klassiker« Brecht lebendig gehalten<br />

werden kann. Vor dieser Frage stehen Sie, meine Damen und Herren, ja bald selbst.<br />

KOSS Ich sehe das aber auch so: Was machen wir mit Heiner Müller?<br />

THALHEIM Da würde ich gerne eine Gretchenfrage stellen. Sie bezieht sich auf die so nebenbei,<br />

vielleicht ironisch gemachte Bemerkung von Professor Schumacher: »... als Du noch Marxist warst<br />

...« Wie steht es damit wirklich?<br />

MÜLLER Ich habe da Schwierigkeiten, genau zu sagen, wer Marxist und wer keiner ist. Ich bin<br />

Schriftsteller und schreibe Stücke. Ich würde nie sagen: Ich bin Marxist, das wäre mir ganz fremd.<br />

70


Das würde mir wie eine Pose vorkommen. Marx selbst hätte auch nie gesagt, ich bin Marxist. Da<br />

gibt es ja diesen Spruch: »Gott behüte mich vor den Marxisten.« Um es mal seriös zu behandeln:<br />

Natürlich geht es um eine solche Unterscheidung, das finde ich dann schon richtig. Godard hat das<br />

mal ganz gut formuliert: Es ist unsinnig, politische Filme zu machen, es geht darum, Filme politisch<br />

zu machen. Um diese Unterscheidung geht es eigentlich, dass man das nur auf seine Praxis<br />

beziehen kann. Deswegen kann ich nicht sagen, ich bin Marxist. Ich schreibe vielleicht mit<br />

marxistischem Wissen, das ich habe oder nicht habe, damit schreibe ich meine Texte, aber ich<br />

könnte das nie so sagen.<br />

SCHUMACHER Bringen wir doch das Problem nach christlichem Vorbild einfach auf die<br />

Überzeugung: Anima naturaliter marxistica ...<br />

MÜLLER Da möchte ich mit Brechts Galilei antworten. Als der von Virginia die ethischen<br />

Grundsätze von Montaigne vorgelesen bekommt, sagt er nur immer: »Weiter, weiter.« Aber als sie<br />

vorliest: »Bewundernswert ist das Gute«, sagt er: »Lauter«, und dann wiederholt sie:<br />

»Bewundernswert ist das Gute.« Das finde ich enorm.<br />

(Redaktion: Ernst Schumacher)<br />

71


Die Regisseurin Claudia Bosse (* 1969) zählt zu den Gründerinnen der experimentellen<br />

Theatergruppe »theatercombinat«. Von Januar 1999 bis Dezember 2000 erarbeitete das<br />

Kollektiv das Projekt »massakermykene«, eine zweijährige Forschungsarbeit zu den Themen<br />

Chor, Improvisation und Raum im 50.000 qm großen Schlachthof St. Marx, Wien. Zentrale<br />

Textgrundlagen der Arbeit waren die »Orestie« von Aischylos sowie das »Fatzer«-Fragment.<br />

Bereits im Jahr zuvor hatte Bosse »Fatzer« am Grütli-Theater in Genf inszeniert.<br />

Bosses Arbeit an und mit dem Fatzer-Text ist umfangreich im Netz dokumentiert. In der folgenden<br />

Vorbemerkung erläutert sie einige ihrer grundlegenden Gedanken zum Theater in<br />

diesem Kontext. Die fehlende Großschreibung (ein Markenzeichen u.a. Brechts) ist aus dem<br />

Originaltext übernommen.<br />

vorbemerkung zu einer dokumentation<br />

claudia bosse<br />

die wichtigkeit einer aufführung bezieht sich nicht primär aus der arbeit an der vorher bestimmten<br />

botschaft für das publikum, sondern aus dem produktionsprozess, d.h. der wichtigkeit für alle teilnehmenden.<br />

nur so kann eine produktion in einen direkten dialog mit dem zuschauer treten – in<br />

der individuellen konfrontation im arbeitskollektiv und danach mit dem zuschauer, dem keine bedeutung<br />

fertig geschnürt übermittelt wird, sondern der anhand der gezeigten haltungen seine bedeutung<br />

finden muß, in dem der raum für eine erfahrung zugestanden wird.<br />

die auslassung konfrontiert den zuschauer mit seiner realität, die präsentation bezieht daher ihre<br />

gesellschaftliche relevanz.<br />

das grundproblem betrifft das kommunikationsschema eines theaters, das mit seiner "wirkung" kalkuliert.<br />

die suche nach der vorherbestimmung der emotion des zuschauers, mit scheinbar aktiver<br />

kompositionsbeteiligung des zuschauers, ist ein produkt von spekulation. in der scheinbaren freiheit<br />

suche nach direkter manipulation. effektkonsum bei polizeilicher wiedererkennung der einzeleffekte.<br />

ein völlig autoritärer prozess nach beiden seiten: einerseits unterwerfe ich mich wirkungsstrategien,<br />

die aus einem abstrakten schema vom "zuschauer" bezogen sind, andererseits unterliegt<br />

der zuschauer der ideologischen unterweisung des machers. was will er mir mitteilen? was<br />

soll ich verstehen? die frage "was nehme ich wahr" kommt nicht auf.<br />

ein harmonisch geschlossenes kunstwerk ist einfacher rezipierbar, beschreibt einen geschlossenen<br />

kosmos und verhindert das eindringen in die wirklichkeit außerhalb des theaters. eine flucht in<br />

andere welten, und keine "sehnsucht nach einem anderen zustand der welt" (jean genet), weil die<br />

wirkung bei beendigung der aufführung aufhört.<br />

ausgangspunkt ist die wiederholung des bereits bekannten ausgehend von gewohnten emotionen,<br />

keine suche nach dem unbekannten, ungewohnten.<br />

ist die bestätigung oder die infragestellung von wirklichkeit das entscheidende in der kunst?<br />

was ist wahrheit? wer entscheidet darüber?<br />

im theater heute existiert wahrheit nur als konstruiertes schema von wirklichkeit, die es auch nur<br />

da als solche gibt, die aber vom zuschauer als wahrheit – und nicht bloß als wiedererkennen von<br />

bereits bekanntem – abgelehnt wird.<br />

ist die pathetische erregung eines darstellers oder einer szenischen führung gleichzusetzen mit der<br />

erregung des zuschauers? was erzeugt beim zuschauer erregung und lässt ihn aus einem zustand<br />

in den nächsten passieren?<br />

wo existiert ein theatraler raum, in dem der zuschauer erfahrungen machen kann und keine bereits<br />

gemachten zur konsumtion bekommt?<br />

in einer reihe von arbeiten mit dem theatercombinat wird versucht, diese fragen und das damit verbundene<br />

theatrale interesse praktisch zu entwickeln und zu präzisieren.<br />

im folgenden soll durch eine auswahl von arbeitsmaterial, überlegungen und kritiken zu der jüngsten<br />

arbeit, am fatzer-fragment von bertolt brecht (théatre du grütli, genf, märz bis juni 1998), ein<br />

anfang gemacht werden, diese arbeitsansätze zu dokumentieren.<br />

Quelle: http://www.theatercombinat.com/projekte/fatzer/fatzer_vorbemerkung.htm (23.3.2012)<br />

72


E) Das Lehrstück<br />

aus: Steinweg, Reiner: "Das Lehrstück. Brechts<br />

Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung."<br />

Stuttgart: Metzler, 1972. 13ff.<br />

73


aus: Steinweg, Reiner: "Das<br />

Lehrstück. Brechts Theorie einer<br />

politisch-ästhetischen Erziehung."<br />

Stuttgart: Metzler, 1972. 87ff.<br />

80


[...]


F) Wer ist der Chor?<br />

B21<br />

WER IST DER CHOR?<br />

Vor dem Schluss:<br />

Aber auch er ist doch<br />

Ein Mensch wie ihr!<br />

Unbestimmt von Ausdruck<br />

Frühzeitig verhärtet, vieles<br />

Versuchend<br />

Äußerte er viel:<br />

Haltend ihn doch<br />

Nicht bei dem was er sagte bald<br />

Ändert er´s...<br />

Nichts Endgültiges saht ihr und alles<br />

Änderte sich vor es einging<br />

Warum<br />

Nehmt ihr ihn beim Wort?<br />

Wen ihr beim Wort nehmt der<br />

Ist´s der euch enttäuscht!<br />

Aber sie brauchen doch auch<br />

Obdach und Wasser und Fleisch!<br />

Bertolt Brecht, aus »Fatzer«<br />

»Die Schwerkraft der Massen« - der Chor ist ein Gravitationszentrum und dadurch provoziert er<br />

Bewegung. Es gibt diese alte Formel: der Chor als Instrument der Dialektik, aber Instrument, nicht<br />

Lehrer, der Chor hat überhaupt keinen didaktischen Zug, im Gegensatz zu dem, was im christlichen<br />

Drama und bei Brecht daraus geworden ist, wo der Chor im Besitz einer Wahrheit ist. Hier<br />

ist der Chor nicht im Besitz einer oder der Wahrheit. Er will vielleicht die Wahrheit wissen, aber er<br />

weiß sie nicht, er gibt nicht vor, sie zu wissen. Sie wird ihm dann gesagt; der Chor provoziert das<br />

durch die Schwerkraft, er fragt die Bewegung nach der Richtung, dadurch, daß er stehen bleibt.<br />

Heiner Müller in Aischylos, Die Perser<br />

Fatzer-Fragment: der Chor ist aus der Gesellschaft verschwunden. Entinnert. Der Fatzer-Text<br />

formuliert ein ständiges Ringen gegen die Unmöglichkeit des Chors. Es existiert kein bindendes<br />

Verhältnis zwischen den Figuren und dem Chor. Die Chortexte bezeichnen die Differenz. Chor und<br />

Individuum scheitern.<br />

Karl Mickel zitiert Brecht<br />

nach Paul Dessau: »Aus Gesprächen«, Leipzig 1974<br />

Im Chor vervielfältigen sich die Schreckensmomente. Der Sprechvorgang alleine hat als Widerstände<br />

gegen diese Selbstzersetzung zunächst Statisches: den Text, den Raum. Oder findet in gesetzten<br />

szenischen Ordnungen statt, als Dialog z.B. oder als Bericht, Erzählung, Bezeichnung.<br />

D.h., es gibt ein Minimum an Richtungen, an Entfernungen, die gegeben sind, die ich von mir aus<br />

überwinden, ansteuern und so, durch Hören z.B., überprüfen, korrigieren kann. Mit Raum und Zeit<br />

dazwischen. Im Chor fehlt dieses individuelle Raum-Zeit-Kontrollmoment. Jegliche Differenz,<br />

90


falsche Nähe oder falsche Distanz ist hörbar, jede Ängstlichkeit oder allgemeiner, jede Differenz<br />

trägt sich im Moment (in Echtzeit) aus: wer beginnt, wer nicht, wer folgt, wer nicht, wer ist stärker,<br />

schwächer, wer findet den Text gut, wer nicht, verhält sich dazu oder nicht. Wiederum: Furcht. Vor<br />

dem Alleinsein im Chor genauso wie vor dem Zusammensein im Chor. Begreift man den Chor als<br />

spezifische Kommunikationsform und nicht als ästhetisches Mittel für irgendwelche Effekte, d.h.<br />

verzichtet man auf technische Instrumentarien der Steigerung und der Synchronisation, auf den<br />

Dirigenten als Sinnstifter, ist der Chor Brennglas sozialen Verhaltens und seiner Grenzen. Auch<br />

das ist eine Konditionsfrage. Auch das geht nur über Training, nicht über Interpretation und<br />

Ausdruck.<br />

Christine Standfest/theatercombinat<br />

Auszug aus einem Dokumentationsentwurf zur Arbeit an Fatzer, Genf 1998<br />

In der Orestie ist der Chor das Ausgangsmoment. Durch die Präsenz des Chors lassen sich die<br />

Protagonistenhaltungen (Agamemnon, Klytaimnestra, Orestes) vorführen; durch die Protagonisten<br />

werden die Chorhaltungen befragt. Die Orestie zeichnet das Verschwinden des Chors über den<br />

Verlauf der drei Teile. Orest geht aus dem tragischen Diskurs hervor. Die chorische Ordnung verliert<br />

sich.<br />

Der Chor in der Tragödie ist nicht die Wahrheit der antiken Seele. Es sind Chöre: der Chor der<br />

Greise, der Sklavinnen, der Erinyen. Chöre sind Kommunikationsschemata. Sie repräsentieren keine<br />

Identität, schon gar nicht die Identität des Publikums. Der Chor ist eine Konstellation, zu der<br />

sich der Betrachter in Beziehung setzen muss.<br />

Claudia Bosse/theatercombinat<br />

Fatzer-Fragment. Der Chor ist aus der Gesellschaft verschwunden. Entinnert. Der Fatzer-Text formuliert<br />

ein ständiges Ringen gegen die Unmöglichkeit des Chors. Es existiert kein bindendes Verhältnis<br />

zwischen den Figuren und dem Chor. Die Chortexte bezeichnen die Differenz. Chor und Individuum<br />

scheitern.<br />

Claudia Bosse/theatercombinat<br />

Josef Szeiler: ... daß ein Fragment die Präzision im Detail braucht. D.h. je präziser der Chor ist,<br />

desto fragmentarischer wird das andere, was ja real so ist. (...) Schlicht und ergreifend die<br />

Präzision oder die Genauigkeit oder die Energie oder die Freude, was alles der Chor vermittelt, je<br />

mehr man das hat, desto mehr fragmentiert sich das andere.<br />

Rein technisch muß man ja mal fragen, was das heißt, in dem Jahrhundert den Chor wieder zu installieren,<br />

nicht als irgendein Beiwerk, sondern als die zentrale Qualität. Diese Versuche von<br />

Brecht, letztlich auch irgendwie von Müller, im deutschen Sprachraum wieder auf den Chor zu gehen.<br />

Als zentralem Punkt der Dramatik. Nicht nur ein Chörchen irgendwo, sondern dass der Chor<br />

im Zentrum ist. Und du kannst dieses Verhältnis natürlich nicht mehr so installieren wie in der Antike,<br />

das ist Quatsch.<br />

Sylviane Dupuis: Das erste Mal, dass mich das wirklich interessierte, einen Chor zu sehen. Es<br />

gab keine Einheit, und gleichzeitig, denn das ist die einfachste, die uninteressanteste Art wenn alle<br />

gleichzeitig sprechen, aber es gab eine Einheit, die sich mit den Differenzen konstituiert. Das ist<br />

sehr schön, und das ist die einzige Art, den Chor zu arbeiten, was mich die ganze Zeit über an der<br />

Arbeit interessiert.<br />

JS:... aus der Präzision des Chores heraus kann man jegliche andere Unpräzision oder Präzision<br />

aktivieren, installieren, zerfallen lassen, neu konstruieren, aber das braucht den Moment. Ich persönlich<br />

glaube, der zentrale Moment von Fatzer ist der Chor. Auch im Schreiben. Und dass das<br />

misslungen ist, hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass Brecht nicht damit umgehen konnte,<br />

dem Verhältnis Chor und Protagonist, mit dem parteiischen Verhältnis von Chor und Protagonist.<br />

91


Das hat er in allen Dingen hingekriegt und zwar über den Kompromiss, dass er den Chor negiert<br />

oder musikalisiert hat in einer populären Weise.<br />

(aus einem Arbeitsgespräch zu »Fatzer« mit Sylviane Dupuis und Josef Szeiler, Genf 1998<br />

Auszug aus einem Dokumentationsentwurf von theatercombinat)<br />

Quelle: http://www.consyder.com/massakermykene (22.12.2012)<br />

92


G) Aufführungsgeschichte/<br />

Deutungen<br />

aus: Jan Knopf (Hrsg.): "Brecht-<br />

Handbuch in fünf Bänden." Stuttgart:<br />

Metzler, 2001–2003<br />

93


aus: Wyss, Monika: "Brecht in der Kritik. Rezensionen<br />

aller Brecht-Uraufführungen", München: Kindler 1977,<br />

S. 440ff.<br />

96


Brecht/Müller, mal melodisch<br />

Zum Gastspiel des Teatro Stabile an der Volksbühne Berlin<br />

22. Januar 2012<br />

Tobi Müller<br />

Der Fatzer-Stoff ist im deutschsprachigen Theater ein Mythos im eigentlichen Sinn. Ein<br />

Mythos, weil unentziffert. Es gibt vier- bis fünfhundert Seiten, aber kein Stück. Nicht von<br />

Brecht jedenfalls. Es gibt eine Fassung der alten Schaubühne, noch so ein deutscher<br />

Mythos. Und es gibt Heiner Müllers Bearbeitung. Müller, Master of Myth, der Herrscher<br />

über die Rückprojektion der deutschen Geschichte in die Unerbittlichkeit der Antike. Über<br />

Fatzer wird vor allem geraunt: Brechts Schock der Großstadt, als er nach Berlin kam; die<br />

Konsequenz des Umsturzes, seine Logik der immer neuen Ausgrenzung; das Verhältnis<br />

von Individuum und Kollektiv, das ist der Kern, der die berühmteren Lehrstücke wie »Die<br />

Maßnahme« umtreibt. Ein Mythos bleibt nur so lange Mythos, wie an seiner Interpretation<br />

gearbeitet wird und er also unverstanden bleibt. Ich bin nicht sicher, ob das für Heiner<br />

Müller zutrifft. Oder auf die Figur Brechts. Sicher aber auf diesen einen Un-Text, das<br />

Fatzer-Fragment.<br />

Wer Müllers Fassung liest, hört das ästhetische Familienverhältnis der beiden wichtigsten<br />

deutschen Theaterautoren des 20. Jahrhunderts einmal mehr sofort. Der Schrecken des<br />

Krieges wird einerseits ein Stück weit gebannt in der Sprache, und doch wieder in ihrer<br />

Deutlichkeit abgebildet. Man hört die Drastik dialektisch in der strengen Formalisierung<br />

mitzittern. In Pausen, Sprachbildern wie Kirchen, ein Denken und Schreiben, das die<br />

Abgeschiedenheit der Emigration – der äußeren bei Brecht, der inneren bei Müller? –<br />

vorwegnimmt.<br />

Die Geschichte der Deserteure, die aus dem Ersten Weltkrieg flüchten, die Revolution<br />

wollen und sogleich wieder scheitern, ist das Gegenteil des Geplauders. Nun sehen wir<br />

aber italienische Schauspieler in der Volksbühne, sie kommen aus Turin, aus dem Teatro<br />

Stabile, und zeigen uns »Fatzer Fragment – Getting Lost Faster« mit deutschen Übertiteln.<br />

Und es sieht, trotz einiger angedeuteten Tableaux vivants, die man auch von Müllers<br />

Inszenierungen oder mehr noch: von jenen Einar Schleefs kannte, es sieht einfach sehr,<br />

sehr anders aus. Wo kein Text mehr hilft, wird improvisiert. Für deutschsprachige Ohren<br />

oft: wortreich charmiert. Man gibt sich diesem Sound hin, der die Melodie stärker gewichtet<br />

als das Deutsche mit seinen harten Rhythmen, zumal wenn sie im Vers gehalten werden<br />

wie bei Brecht/Müller. Das Italienische wirbt um den Hörer, um das Deutsche muss man<br />

als Hörer selbst werben. Das ist eine ungewöhnliche, im Sinne der Unterbrechung des<br />

Bekannten, des vermeintlich Verstandenen auch: eine sinnliche Erfahrung.<br />

Die Revolution als Casting Show mit dem Publikum, die Musik als oft romantisches<br />

Elektro-Intermezzo: Der Text, und es ist viel Text, erscheint so nicht als Evangelium,<br />

sondern als Projektion. Für Müller war es die RAF. Für die Turiner sind es die kommenden<br />

Aufstände unserer Zeit. Dass man zwischen diesen Klängen und Improvisationen auch<br />

immer wieder den Text nach dem Buchstaben zu spielen versucht und auf dieser großen,<br />

Brecht- wie Müller-gestählten Bühne nur schwerlich durchdringt, ist am Ende vielleicht<br />

nebensächlich.<br />

wanderlust blog http://www.wanderlust-blog.de/?p=4531 (27.1.2012)<br />

99


Ein weiterer Auszug aus der Dokumentation der Schweizer Erstaufführung von "Fatzer" am Theater Grütli in Genf,<br />

1998. Weiteres Material (siehe Inhaltsverzeichnis links) befindet sich unter http://www.theatercombinat.com/projekte/<br />

fatzer/<br />

theatercombinat | 1998 fatzer-fragment brecht - 4 monate + 18 präsentationen, schweizer erstaufführung, th<br />

grütli, genf (ch)<br />

sprache: deutsch<br />

vorbemerkung<br />

raum<br />

improvisation<br />

komposition<br />

thesen<br />

fragen<br />

zusammenfassung der<br />

arbeitsansätze<br />

probenprotokolle<br />

gespräch zu regie<br />

gespräch zur position des<br />

zuschauer<br />

fotos<br />

raum<br />

der raum war wesentlicher bestandteil der theatralen auseinandersetzung, teil der<br />

theatralen komposition. der theaterraum des theatre du grütli wurde skeletiert, di<br />

zuschauertribühne abgebaut, die funktionsräume, d.h. die werkstätten, der gang z<br />

lagerung von scheinwerfern und die zugänge zu den notausgängen wurden geöffn<br />

bar leergeräumt. alle türen und die fenster des theatersaals, die nach teils in das<br />

und teils nach außen gehen, wurden ebenfalls aufgemacht. es gab spuren von fatz<br />

haus und an der fassade des grütli, große tafeln in der farbe der hocker mit fatzer<br />

die züge sowie der inspizientenraum waren sowohl dem spieler, als auch dem zusc<br />

zugänglich. das theater wurde in seinen funktionen offengelegt, eine räumliche tr<br />

von zuschauer und spieler war nicht mehr vorhanden. der bezug zur aussenwelt w<br />

durch sichtbar vorbeigehende füsse von passanten. der theaterraum wurde zum<br />

seiner funktion. die illusion fand nicht mehr statt. lichteffekte ausser durch wech<br />

tageslicht durch die fenster waren nicht vorhanden. jeder der räume wurde in sein<br />

funktionslicht benutzt, d.h. es gab unterschiedliche lichtqualitäten bei unterschied<br />

raumgrösse und struktur, wobei alle räume miteinander verbunden waren.<br />

die zentralperspektive war abgeschafft, da es keinen punkt in der raumanlage gab<br />

dem aus man alles überblicken konnte. die spieler sahen sich nicht immer, der zus<br />

mußte sich entscheiden, wohin er sich bewegte, im bewußtsein stets etwas zu verp<br />

die wahl des blickwinkels und der akustischen auswahl lag beim betrachter; ebens<br />

entscheidung, inwieweit er sich räumlich thematisiert oder in kommunikation mit<br />

spielern tritt.<br />

den zuschauern war immer alles zugänglich. als angebote gab es einzeln gestellte<br />

in der gesamtraumanlage, deren anordnung sich aus den jeweiligen räumen ergab<br />

weiteres angebot waren auf den boden geschriebene schriftspuren mit fabelentwü<br />

brecht zu fatzer, die die räume verbanden: den zuschauer lesend zu bewegung an<br />

die raumstruktur für die spieler war rigider geordnet.<br />

für jede arbeitsphase gab es eine räumliche grundstruktur:<br />

I<br />

die spieler des fatzerchors durften sich nur ausserhalb des zentralen theaterraums<br />

bewegen, ihn nur durchqueren, aber keine aktionen entwicklen. bei jeder ansage<br />

fragmentwechsels, die von mir laut während der aufführungen angesagt wurde, m<br />

jeder spieler auf seinen körperlich genau von ihm bestimmten (manchmal von mir<br />

korrigierten) ausgangspunkt zurückkehren und wieder beginnen für das nächste, v<br />

nicht im voraus im ablauf gewusste fragment. der spielerin des kommentartexts w<br />

während der 1. arbeitsphase der zentrale theaterraum zugeordnet, wo sich zu beg<br />

gewohnheit, meist die größte anzahl von zuschauern befand. akustisch waren alle<br />

verbunden, dialoge fanden z t. über eine distanz von 30 metern statt. um jedoch d<br />

aktionen der spieler zu sehen, mußten sich die zuschauer zu einzelnen spielern<br />

hinbewegen, andere sichten erkunden.<br />

II<br />

in der II. arbeitsphase, bei der die texte weniger entwurfscharakter als theatral sz<br />

charakter haben, sammelten sich alle spieler im zentralen raum, um zu einer vorh<br />

angesagten reihenfolge mit den textfragmenten zu improvisieren. meine möglichk<br />

jederzeit einzuschreiten, zu unterbrechen, zu schneiden, indem ich vor beendigun<br />

fragments ein anderes ansagte oder währendessen die reihenfolge veränderte. die<br />

stets abhängig von den jeweiligen entwürfen der spieler, den reaktionen der zusch<br />

dem rhythmus der kommunikation. d.h. die komposition fand hinsichtlich aller erw<br />

bedingungen im augenblick statt, wobei material der improvisationen thematische<br />

fixierungen, genauere räumliche fixierungen, textliche fixierungen sein konnte (in<br />

regel bestimmten die spieler, wer aufgrund welcher räumlichen konstellation welch<br />

sprach, wobei die genaue interpunktion und der fragmentinterne rhythmus eingeh<br />

werden mußten. jeder spieler beherrschte den kompletten text in der präzisen<br />

rhythmischen struktur.)<br />

of 2 5.11.2012 20:58<br />

100


die spielerin der kommentartexte, die sich immer in distanz zu den anderen spiele<br />

dennoch in beziehung, verhalten mußte, bewegte sich und sprach die kommentart<br />

den gängen, werkstätten, im foyer etc. jedoch durfte sie den zentralen raum nicht<br />

betreten.<br />

während der ganzen aufführungszeit gab es einen für alle zugänglichen tisch, an d<br />

material auslag und parallel an der übersetzung der arbeitsphasen 4 und 5<br />

weitergearbeitet wurde.<br />

III<br />

in der dritten arbeitsphase war für alle spieler der gesamtraum frei (entwickelt au<br />

veränderten textqualität diese phase), mit der bedingung, den gesamtraum zu hal<br />

immer in kommunikation zu bleiben, räumlich und akkustisch.<br />

ein mögliches ende der versuchsreihe z.B. war mit dem fragment a 31, während d<br />

spieler die raumkonstruktion verliessen und sich ausserhalb des theaterraums im<br />

zum innenraum an den unterschiedlichen fenstern positionierten. die zuschauer w<br />

theaterraum zurückgelassen.<br />

der ablauf wurde von abend zu abend variiert, unter verschiedenen inhaltlichen<br />

gesichtspunkten, wobei die räumliche grundstruktur der jeweiligen arbeitsphase g<br />

blieb. die dauer der öffentlichen versuche betrug zwischen 2 und 5 ½ stunden. un<br />

erarbeitetes material umfasste ca. 7 stunden, was aus ökonomischen gründen auf<br />

auflage des theaters, drei wochen lang jeden abend zu spielen, nicht gezeigt werd<br />

konnte. was der erklärten absicht, die arbeit am fragment auch als solche zu beha<br />

und kein logisches ganzes zu konstruieren, nahekommt.<br />

www.theatercombinat.com theatrale produktion und rezeption<br />

of 2 5.11.2012 20:58<br />

101


Théâtre du Grütli, Genf<br />

1998<br />

theatercombinat/Claudia Bosse<br />

102


FatzerBraz<br />

Noch ist Lulas Nachfolgerin Dilma, ehemals Guerillakämpferin der im Untergrund entstandenen<br />

brasilianischen Arbeiterpartei PT, nicht ganz ins Präsidentenamt gewählt, da zeigt die Berliner<br />

Performanceguerilla andcompany&Co. auch schon, was übrigblieb von der tropikalischen Revolution. Am<br />

Vorabend des zweiten Wahlgangs erlebt Berlin am Beispiel von Brechts Fragment vom „Untergang des<br />

Egoisten Johann Fatzer“ (1927), was aus der Welt werden könnte, wenn sie nach allen Regeln des<br />

„Antropophagen Manifests“ (1928) von Oswald de Andrade von Brasilien verschlungen würde.<br />

Gemeinsam mit vier Mitstreitern aus brasilianischen Aktions- und Theatergruppen erarbeitete die<br />

andcompany&Co. in São Paulo aus dem umfangreichen Fatzer-Material die zweisprachige,<br />

antropophagische Performance „FatzerBraz“ – als Spaziergänge, Expeditionen, Vertilgungen und<br />

Verherrlichungen eines asozialen, anarchischen „Helden ohne Charakter“ (wie es über Macunaima heißt,<br />

den emblematischsten Protagonisten der brasilianischen Moderne). Brechts Deserteure aus dem Ersten<br />

Weltkrieg treffen auf Marighellas Stadtguerilla, und die RAF auf den Zorn Gottes, Fitzcarraldo&Co.<br />

Die Fragen nach Desertion, revolutionärem Defätismus und Guerillakampf stehen im Zentrum des »Fatzer«-<br />

Fragments von Bertolt Brecht. Eine Gruppe Soldaten des Ersten Weltkriegs beschließt, »keinen Krieg mehr<br />

zu machen« und versteckt sich in Mülheim an der Ruhr, um auf einen allgemeinen Aufstand zu warten.<br />

Bevor es jedoch zu einer Erhebung gegen den Krieg kommt, zerfleischt sich die Gruppe gegeseitig. Die<br />

Situation im Untergrund erinnert an das Schicksal der Stadtguerilla, deren »Minihandbuch« Carlos<br />

Marighella verfasst hat, ein brasilianischer Abgeordneter und Widerstandskämpfer gegen die<br />

Militärdiktatur. Im Milieu der Studentenbewegung wurde dieses »Handbuch« auch in Deutschland<br />

folgenreich (Bewegung 2. Juni, RAF).<br />

Diese Texte bilden den Ausgangspunkt für »FatzerBraz«, die neueste Inszenierung von andcompany&Co.<br />

Das internationale Künstlerkollektiv um Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma inszeniert<br />

das Stück in São Paulo gemeinsam mit brasilianischen Künstlern. Diese Zusammenarbeit bietet die Chance<br />

einer gegenseitigen Verfremdung: von São Paulo und dem Ruhrgebiet, Erstem Weltkrieg und Stadtguerilla,<br />

revolutionärer Bewegung und Reformregierung. Dabei geht es darum, mit Hilfe der stark entwickelten<br />

brasilianischen Brecht-Tradition Wege zu einem »anderen«, tropikalischen Brecht zu finden. Der kulturelle<br />

und ideologische »Remix«, charakteristisch für die Arbeiten von andcompany&Co., lässt neue Formen der<br />

Aneignung und Einverleibung zu, die in Brasilien eine lange Tradition haben. Am Ende wird es darum gehen,<br />

Fatzer zu fressen…<br />

http://www.andco.de/index.php?context=project_detail&id=3822<br />

Ein weiteres Beispiel, nach dem theatercombinat, für die Auseinandersetzung einer experimentell orientierten<br />

Theatergruppe mit den "Fatzer"-Texten. Das Frankfurter Kollektiv andcompany&Co. wurde 2003 von Nicola Nord,<br />

Alexander Karschnia und Sascha Sulimma gegründet und zählt mittlerweile zu den etablierten Playern des<br />

internationalen Festival- und Performance Art-Betriebs.<br />

103


Heiner Müller<br />

FATZER ± KEUNER<br />

Ich scheiße<br />

auf die Ordnung der Welt<br />

Ich bin<br />

verloren<br />

Das Ausbleiben der bürgerlichen Revolution in Deutschland ermöglichte zugleich und erzwang die<br />

Weimarer Klassik als Aufhebung der Positionen des Sturm und Drang. Klassik als<br />

Revolutionsersatz. Literatur einer besiegten Klasse, Form als Ausgleich, Kultur als Umgangsform<br />

mit der Macht und Transport von falschem Bewusstsein. Goethes bewußte Entscheidung gegen<br />

die hungernden Weber von Apolda für die Jamben der Iphigenie ist paradigmatisch. Das vielleicht<br />

folgenreichste Unglück in der neueren Geschichte war das Scheitern der proletarischen Revolution<br />

in Deutschland und ihre Abwürgung durch den Faschismus, seine schlimmste Konsequenz die<br />

Isolierung des sozialistischen Experiments in der Sowjetunion auf ein Versuchsfeld mit<br />

unentwickelten Bedingungen. Die Folgen sind bekannt und nicht überwunden. Die Amputation des<br />

deutschen Sozialismus durch die Teilung der Nation gehört nicht zu den schlimmsten. Die DDR<br />

kann damit leben.<br />

Für Brecht bedeuteten die Austreibung aus Deutschland, die Entfernung von den deutschen<br />

Klassenkämpfen und die Unmöglichkeit, seine Arbeit in der Sowjetunion fortzusetzen: die<br />

Emigration in die Klassizität. Die Versuche 1-8 enthalten, was die mögliche unmittelbar politische<br />

Wirkung angeht, den lebendigen Teil seiner Arbeit, den im Sinn von Benjamins<br />

Marxismusverständnis theologischen Glutkern. Hollywood wurde das Weimar der deutschen<br />

antifaschistischen Emigration. Die Notwendigkeit, über Stalin zu schweigen, weil sein Name,<br />

solange Hitler an der Macht war, für die Sowjetunion stand, erzwang die Allgemeinheit der Parabel.<br />

Die von Benjamin referierten Svendborger Gespräche geben darüber Auskunft. Die Situation der<br />

DDR im nationalen und im internationalen Kontext bot in Brechts Lebenszeit keinen Ausweg aus<br />

dem klassischen Dilemma.<br />

Zu den Svendborger Gesprächsthemen von Brecht und Benjamin gehört Kafka. Zwischen den<br />

Zeilen Benjamins steht die Frage, ob nicht Kafkas Parabel geräumiger ist, mehr Realität<br />

aufnehmen kann (und mehr hergibt) als die Parabel Brechts. Und das nicht obwohl, sondern weil<br />

sie Gesten ohne Bezugssystem beschreibt/darstellt, nicht orientiert auf eine Bewegung (Praxis),<br />

auf eine Bedeutung nicht reduzierbar, eher fremd als verfremdend, ohne Moral. Die Steinschläge<br />

der jüngsten Geschichte haben dem Modell der »Strafkolonie« weniger Schaden zugefügt als der<br />

dialektischen Idealkonstruktion der Lehrstücke. Die Blindheit von Kafkas Erfahrung ist der Ausweis<br />

ihrer Authentizität. (Kafkas Blick als Blick in die Sonne. Die Unfähigkeit, der Geschichte ins Weiße<br />

im Auge zu sehen als Grundlage der Politik.) Nur der zunehmende Druck authentischer Erfahrung,<br />

104


vorausgesetzt, daß er »die Massen ergreift«, entwickelt die Fähigkeit, der Geschichte ins Weiße im<br />

Auge zu sehen, die das Ende der Politik und der Beginn einer Geschichte des Menschen sein<br />

kann. Der Autor ist klüger als die Allegorie, die Metapher klüger als der Autor.<br />

Gertrude Stein, in einem Text über die elisabethanische Literatur, erklärt ihre Gewalt mit dem<br />

Tempo des Bedeutungswandels in der Sprache: »Es bewegt sich alles so sehr.« Der<br />

Bedeutungswandel ist das Barometer des Erfahrungsdrucks in der Morgenröte des Kapitalismus,<br />

der die Welt als Markt zu entdecken beginnt. Das Tempo des Bedeutungswandels konstituiert das<br />

Primat der Metapher, die als Sichtblende gegen das Bombardement der Bilder dient. »Der Druck<br />

der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung.« (Eliot) Die Angst vor der Metapher ist die Angst<br />

vor der Eigenbewegung des Materials. Die Angst vor der Tragödie ist die Angst vor der Permanenz<br />

der Revolution.<br />

Ich erinnere mich an eine Bemerkung von Wekwerth bei der Vorbereitung seiner Inszenierung der<br />

»Heiligen Johanna der Schlachthöfe«. Es käme darauf an, was Brecht klargelegt hätte, zu<br />

verdunkeln, damit es neu gesehen werden kann; Hegel: das Bekannte ist nicht erkannt usw. Die<br />

Geschichte der europäischen Linken legt den Gedanken nahe, ob Hegel nicht auch in diesem Fall<br />

vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss. Noch in jedem Territorium, das die Aufklärung<br />

besetzt hat, haben sich »unversehens« unbekannte Dunkelzonen aufgetan. Immer neu hat die<br />

Allianz mit dem Rationalismus der linken den Rücken entblößt für die Dolche der Reaktion, die in<br />

diesen Dunkelzonen geschmiedet wurden. Das Erkannte ist nicht bekannt. Brechts Insistieren, in<br />

seinen letzten Gesprächen mit Wekwerth, auf der Naivität als der primären Kategorie seiner<br />

Ästhetik beleuchtet diesen Sachverhalt.<br />

Brechts Anstrengung, Kafka nicht oder wenigstens falsch zu verstehen, ist in Benjamins Notierung<br />

der (Svendborger) Gespräche ablesbar.<br />

Etwa 1948 sendete der NDR ein Programm über zwei Repräsentanten engagierter Literatur, den<br />

Katholiken T. S. Eliot und den Kommunisten Brecht. Als Klammer musste ein Satz von Eliot<br />

herhalten: poetry doesn't matter. Ich erinnere mich an einen Satz aus dem Interview mit Brecht:<br />

das Weitermachen, die Kontinuität, schafft die Zerstörung. Brecht hat das später, in einem Text,<br />

der von der Theatersituation im Nachkriegsdeutschland ausgeht, näher ausgeführt: die Keller sind<br />

noch nicht ausgeräumt, schon werden neue Häuser darauf gebaut usw. Die Parallele zu Thomas<br />

Manns Bemerkung über die deutsche Geschichte, in der keine Epoche zu Ende gelebt worden ist,<br />

weil keine Revolution erfolgreich war, ablesbar am deutschen Stadtbild, ist offensichtlich. Was nicht<br />

bedeutet, dass Brecht den »Faustus« gelesen haben muss. Der Germanist Gerhard Scholz erzählt<br />

von einem Gespräch mit Brecht im gemeinsamen skandinavischen Exil über die Zukunft des<br />

Sozialismus in Deutschland. Brecht polemisierte, zumindest halb ernsthaft, gegen die<br />

Volksfrontkonzeption mit dem »Fatzer«-Traum von der Konstituierung einer kommunistischen<br />

Diktatur (Zelle) z. B. in Ratibor oder sonstwo, um ein Beispiel zu schaffen.<br />

Im gleichen Jahr 1948, in einer Diskussion mit Studenten in Leipzig, formulierte Brecht als die<br />

Zielstellung seiner Arbeit in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands: 20 Jahre<br />

105


Ideologiezertrümmerung und sein Bedürfnis nach einem eigenen Theater »zur wissenschaftlichen<br />

Erzeugung von Skandalen«, ausgehend auf die politische Spaltung des Publikums statt auf eine<br />

illusionäre »Vereinigung« im ästhetischen Schein. Mit anderen Worten: seine Hoffnung auf ein<br />

politisches Theater jenseits der Verkaufszwänge des Marktes. Ein Theater, das im Widerspruch<br />

zwischen Erfolg und Wirkung seine Chance hat, statt, wie in der kapitalistischen Gesellschaft, sein<br />

Dilemma. Das war ein Vorgriff, eine Projektion auf eine Zukunft, die auch 23 Jahre nach Brechts<br />

Tod noch nicht Gegenwart ist. Die Skandale fanden nicht, als Initialzündung für die große<br />

Diskussion, im Theater statt, sondern, als Behinderung der Diskussion, auf den Kulturseiten der<br />

Presse. Die neuen Häuser mussten schneller gebaut werden als die Keller ausgeräumt werden<br />

konnten. Der Belagerungszustand, in den die DDR durch den Kalten Krieg versetzt war, der, was<br />

die gesamtdeutsche Situation betrifft, andauert, brauchte und braucht Ideologie. Zwischen dem<br />

Leipziger Statement und dem Satz im späten Vorwort zu den frühen Stücken, der den Verzicht auf<br />

das Ideal der tabula rasa, des reinen Beispiels, formuliert: die Geschichte macht vielleicht einen<br />

reinen Tisch, aber sie scheut den leeren... liegt Brechts DDR-Erfahrung. Ein wesentlicher Teil<br />

dieser Erfahrung ist die Entdeckung der Freundlichkeit als einer politischen Kategorie. Brechts<br />

Theaterarbeit: ein heroischer Versuch, die Keller auszuräumen, ohne die Statik der neuen<br />

Gebäude zu gefährden. (Die Formulierung enthält das Basisproblem der DDR-Kulturpolitik.) In<br />

diesem Kontext sind die Klassikerbearbeitungen kein Ausweichen vor der Forderung des Tages,<br />

sondern Revision des Revisionismus der Klassik, bzw. ihrer Tradierung.<br />

Brechts Schwierigkeit, ein DDR-Material in den Griff zu bekommen, ist an der Geschichte des<br />

»Büsching«-Projekts abzulesen. Der erste Entwurf geht auf ein Historienstück, der Arbeiter<br />

(Garbe) als historische Figur. Mit dem epochalen Unterschied zu Plutarch-Holinshed-Shakespeare,<br />

dass der Held sein eigener Chronist war. (Brecht ließ von Käte Rülicke nach<br />

Tonbandaufzeichnungen von Erzählungen Garbes ein Material herstellen.) Der Unterschied steht<br />

für das Problem: das Petroleum sträubt sich gegen die fünf Akte, der bewusstlose Held ist nicht<br />

dramatisch oder es muss ein andres Drama her. Brecht hatte sein Formenarsenal ausgebildet im<br />

Umgang mit einer anderen Wirklichkeit, ausgehend von der Klassenlage und den Interessen des<br />

europäischen Proletariats vor der Revolution.<br />

Die Revolution in der DDR konnte nur für die Arbeiterklasse gemacht werden, nach Dezimierung<br />

der Avantgarde, Depravierung der Masse, Zerstörungen des zweiten Weltkriegs im Osten<br />

Deutschlands und in der Sowjetunion - nicht von ihr. Der Nachvollzug im Bewusstsein musste ihr<br />

unter den Bedingungen des Kalten Krieges abgefordert werden, in einem besetzten und geteilten<br />

Land, im Trommelfeuer der täglichen Werbung für die Wunder des Kapitalismus im anderen<br />

deutschen Staat, Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, gesundgeschrumpft in zwei<br />

Weltkriegen. Diese Wirklichkeit ist mit den klassisch marxistischen Kategorien nicht zu greifen: sie<br />

schneiden ins Fleisch.<br />

Mit der Bemerkung, das ganze reiche nur für einen Einakter, er, Brecht, sähe keine Möglichkeit,<br />

seinem Helden die Ausdrucksskala zu verleihen, die er brauche, um ein Stück zu schreiben, wurde<br />

106


das »Büsching«-Projekt zunächst aufgegeben. Das erinnert an Plechanows These von der<br />

(positiven) Uninteressantheit des proletarischen im Gegensatz zur negativen Interessantheit des<br />

bürgerlichen Helden, die erste Qualität des Proletariats, seine Quantität usw. ... Brecht nahm das<br />

Projekt wieder auf, diesmal als Lehrstück »mit Chören, im Stil der Maßnahme« nach dem 17. Juni<br />

53, wo er zum ersten Mal wieder »die Klasse« hatte sprechen hören und auftreten sehn, wie<br />

depraviert immer und manipuliert von ihren Feinden. Die Konfrontation als Chance zur Eröffnung<br />

der Großen Diskussion, die die Voraussetzung der Produktion ist. Es blieb Fragment.<br />

Das Netz seiner (Brechts) Dramaturgie war zu weitmaschig für die Mikrostruktur der neuen<br />

Probleme: schon »die Klasse« war eine Fiktion, in Wahrheit ein Konglomerat aus alten und neuen<br />

Elementen, gerade die Bauarbeiter, die den ersten Streik in der damaligen Stalinallee in Berlin<br />

initiierten, zu großen Teilen deklassierter Mittelstand: ehemalige Wehrmachtsoffiziere, Beamte des<br />

faschistischen Staatsapparates, Studienräte usw., dazu gescheiterte Funktionäre der neuen<br />

Bürokratie; der Große Entwurf zugeschüttet vom Sandsturm der Realitäten, nicht<br />

einsehbar/freizulegen mit der einfachen Verfremdung, die auf der Negation der Negation<br />

basiert/beruht. In diesem Zusammenhang mag Brechts Griff nach Gerhart Hauptmann und sein<br />

Scheitern mit der Bearbeitung von »Biberpelz/Roter Hahn« interessant sein: die Gewalt des<br />

Tribalismus und die Schrecken der Provinz.<br />

»Die Tage der Commune«, geschrieben mit bewusster Senkung des »technischen Standards« für<br />

das Repertoire eines sozialistischen Theaters, verhält sich zum realen Sozialismus wie »Don<br />

Carlos« zur bürgerlichen Revolution. Seine Schönheit ist die Schönheit der Oper, sein Pathos das<br />

der Utopie. Brecht selbst sah bis zu seinem Tod offenbar keine Möglichkeit, das Stück ohne<br />

Wirklichkeits(Wirkungs-) Verlust aufzuführen. Der Zeitpunkt der Premiere am Berliner Ensemble,<br />

1961 nach der Schließung der Grenze, war der erste mögliche. Die Anwendung des Modells auf<br />

die gegebenen Verhältnisse, die nur mit der nachfolgenden Aufführung neuer Stücke hätte<br />

geleistet werden können, blieb aus. Als isoliertes Ereignis kam die Inszenierung gleichzeitig zu<br />

spät und zu früh: zu viele Möglichkeiten waren verpasst, zu viele Probleme vertagt worden.<br />

»Turandot«, Brechts letzter Versuch, im Rekurs auf die Parabel mit der alten Scheiße<br />

aufzuräumen, die er neu hochkommen sah, ist ein genuines Fragment. Die gewaltsame<br />

Vollendung im Rekurs auf den Antifaschismus, der, was die Verhältnisse in der DDR anging,<br />

Alibicharakter hat, zerstört die Struktur/das Stück. In andern Verhältnissen, z. B. Militärdiktaturen<br />

der dritten Welt, mag der Riss, der durch das Stück geht, den Durchblick freigeben/ermöglichen,<br />

der die Voraussetzung des Eingriffs ist. Brecht: was den Kunstwerken die Dauer verleiht, sind ihre<br />

Fehler.<br />

Der Name Büsching, wie andre Namen im Garbeprojekt, verweist auf das Fatzermaterial, Brechts<br />

größten Entwurf und einzigen Text, in dem er sich, wie Goethe mit dem Fauststoff, die Freiheit des<br />

Experiments herausnahm, Freiheit vom Zwang zur Vollendung für Eliten der Mit- oder Nachwelt,<br />

zur Verpackung und Auslieferung an ein Publikum, an einen Markt. Ein inkommensurables<br />

Produkt, geschrieben zur Selbstverständigung.<br />

107


Der Text ist präideologisch, die Sprache formuliert nicht Denkresultate, sondern skandiert den<br />

Denkprozeß. Er hat die Authentizität des ersten Blicks auf ein Unbekanntes, den Schrecken der<br />

ersten Erscheinung des Neuen. Mit den Topoi des Egoisten, des Massenmenschen, des Neuen<br />

Tiers kommen, unter dem dialektischen Muster der marxistischen Terminologie,<br />

Bewegungsgesetze in Sicht, die in der jüngsten Geschichte dieses Muster perforiert haben. Der<br />

Schreibgestus ist der des Forschers, nicht der des Gelehrten, der Forschungsergebnisse<br />

interpretiert, oder des Lehrers, der sie weitergibt. Brecht gehört am wenigsten in diesem Text zu<br />

den Marxisten, die der letzte Angsttraum von Marx gewesen sind. (Warum soll nicht auch für Marx<br />

gelten, dass die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken ist, die erste Gestalt der Hoffnung<br />

die Furcht.) Mit der Einführung der Keunerfigur (Verwandlung Kaumann/Koch in Keuner) beginnt<br />

der Entwurf zur Moralität auszutrocknen. Der Schatten der Lenin‘schen Parteidisziplin, Keuner der<br />

Kleinbürger im Mao-Look, die Rechenmaschine der Revolution. »Fatzer« als Materialschlacht<br />

Brecht gegen Brecht (= Nietzsche gegen Marx, Marx gegen Nietzsche). Brecht überlebt sie, indem<br />

er sich herausschießt. Brecht gegen Brecht mit dem schweren Geschütz des<br />

Marxismus/Leninismus. Hier, auf der Drehscheibe vom Anarchisten zum Funktionär, wird Adornos<br />

höhnische Kritik an den vorindustriellen Zügen in Brechts Werk einsichtig. Hier, aus der<br />

revolutionären Ungeduld gegen unreife Verhältnisse, kommt der Trend zur Substitution des<br />

Proletariats auf, die in den Paternalismus mündet, die Krankheit der kommunistischen Parteien. Es<br />

beginnt, in der Abwehr des anarchisch-natürlichen Matriarchats, der Umbau des rebellischen<br />

Sohns in die Vaterfigur, der Brechts Erfolg ausmacht und seine Wirkung behindert. Der Rückgriff<br />

auf die Volkstümlichkeit durch Wiedereinführung des Kulinarischen (in sein Theater), der das<br />

Spätwerk bestimmt, geriet im Verblödungssog der Medien und angesichts posthumer<br />

Zementierung der Vaterfigur durch sozialistische Kulturpolitik zum Vorgriff. Was ausfiel, war die<br />

Gegenwart, die Weisheit das zweite Exil.<br />

Brecht ein Autor ohne Gegenwart, ein Werk zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ich zögere, das<br />

kritisch zu meinen: die Gegenwart ist die Zeit der Industrienationen: die kommende Geschichte<br />

wird, das ist zu hoffen, von ihnen nicht gemacht; ob sie zu fürchten ist, wird von ihrer Politik<br />

abhängen. Die Kategorien falsch oder richtig greifen am Kunstwerk vorbei. Die Freiheitsstatue<br />

trägt bei Kafka ein Schwert statt der Fackel. Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.<br />

1979<br />

(In: Heiner Müller Material, Fatzer ± Keuner, Leipzig 1989, S. 30-36)<br />

108


Es gilt, eine neue Dramaturgie zu finden<br />

Ein Gespräch mit Wend Kässens und Michael Töteberg über Terrorismus und Nibelungentreue<br />

sowie das »Fatzer«-Fragment<br />

FRAGE Der Klassiker Brecht scheint Allgemeingut geworden zu sein. So liest man es wenigstens<br />

in den bürgerlichen Geburtstagsfeuilletons. Sie bringen, indem Sie den Blick auf das »Fatzer«-<br />

Fragment lenken, eine wenig bekannte, schwer zu goutierende Seite Brechts ans Tageslicht. Was<br />

interessiert Sie, was könnte uns interessieren an der Geschichte vom Untergang des Egoisten<br />

Johann Fatzer?<br />

HEINER MÜLLER Für eine produktive Auseinandersetzung mit Brecht sind meiner Meinung nach<br />

die Texte aus den zwanziger Jahren interessant, die noch in direktem Bezug zu den<br />

Klassenkämpfen in Deutschland entstanden sind. Das »Fatzer«-Fragment ist schon deshalb<br />

bedeutsam, weil Brecht irgendwann gemerkt hat, daß er daraus kein Ganzes machen kann, und<br />

es dann als Experimentierfeld benutzt hat. Er hat daran gearbeitet, ohne auf ein Resultat zu zielen,<br />

ohne darauf zu sehen, daß etwas Verkäufliches daraus wird. Das ermöglichte eine ungeheure<br />

Freiheit im Umgang mit dem Material. Zugleich blieb der Prozeßcharakter gewahrt. Denn die<br />

Fragmentarisierung verhindert das Verschwinden der Produktion im Produkt, die Vermarktung.<br />

FRAGE Sie haben das ganze Material im Ostberliner Brecht-Archiv einsehen können. Der größte<br />

Teil ist in den Jahren zwischen 1927 bis 1932 entstanden. Was hat sich innerhalb dieses<br />

Zeitraums verändert?<br />

MÜLLER Wenn man das Material durchschaut, kann man sehr genau verschiedene Schichten<br />

feststellen. Die ersten Entwürfe stammen aus einer Zeit, in der Brechts Beschäftigung mit dem<br />

Marxismus noch ganz frisch war, noch keine selbstverständliche Voraussetzung. Der Marxismus<br />

hat Brecht Erkenntnisse vermittelt, die er vorher nicht gehabt hat. Aber zugleich hat er Sachen aus<br />

dem Blick verloren, die er vorher genauer gesehen hat. So z. B. das Problem »Massenmensch«,<br />

ein Begriff, der nicht orthodox marxistisch ist, der aber ein zentrales Thema des »Fatzer«-<br />

Fragments ist. »Dieser Geist des Massenmenschen lähmt mich besonders, seine Art ist<br />

mechanisch, einzig durch Bewegung zeigt er sich, jedes Glied auswechselbar, selbst die Person<br />

mittelpunktlos«, heißt es im Chor vom Massenmenschen. Da bekommt Brecht die technologische<br />

Seite des Geschichtsprozesses in den Griff, die von der gegenwärtigen marxistischen Analyse viel<br />

zu wenig wahrgenommen wird. »Die großen Städte«, so lautet die Metapher Brechts für die neuen<br />

Formen menschlicher Existenz. Das war ein soziologisches, meinetwegen soziologistisches<br />

Konzept, das später von der marxistischen Analyse abgelöst wurde. Zugleich ging etwas verloren<br />

an Detailgenauigkeit.<br />

109


FRAGE Heißt das, dass der Marxismus nicht mehr in der Lage ist, die wesentlichen<br />

gesellschaftlichen Erscheinungsformen zu erkennen?<br />

MÜLLER Nein. Sobald aber der Marxismus an die Existenz eines Staates gebunden ist, so etwas<br />

wie eine Staatsphilosophie wird (und das ist er faktisch seit 1917), entsteht eine neue Situation für<br />

die marxistische Analyse. Die Lage der Sowjetunion in der kapitalistischen Einkreisung bedingte<br />

gewisse Reduktionen. Das hat sich bis heute nicht geändert; obwohl diese Reduktionen nicht mehr<br />

nötig wären, ist es schwierig, so etwas wieder aufzubrechen. Ich denke, man sollte die<br />

vormarxistischen Philosophen stärker beachten, z. B. die Thesen zur Kriminalität bei Charles<br />

Fourier einmal nachlesen. Sie sind wichtig, fallen bei Marx aber unter den Tisch. Bei Fourier steht,<br />

daß Kriminalität im Kapitalismus immer etwas sei, was mit der Zukunft schwanger geht. Auch in<br />

einem Typ wie Fatzer sind Kräfte wirksam, die sich mit dem Gegebenen nicht abfinden, also<br />

potentiell revolutionär sind.<br />

FRAGE »Das Neue ist das Böse« ist ein zentraler Satz im »Fatzer«. Wer davon ausgeht, kann<br />

keinen positiven Helden mehr auf der Bühne präsentieren.<br />

MÜLLER Brecht hat das einmal so formuliert: Die Gesellschaft könne aus der Vorführung asozialer<br />

Verhaltensmuster den größten Nutzen ziehen. Die Darstellung des Asozialen löst mehr Impulse<br />

aus als irgendeine Beispielgebung. Nicht nur Fatzer hat asoziale Züge, sondern auch der Leninist<br />

Koch. Seine Reaktion auf das asoziale Verhalten Fatzers läßt ihn so radikal werden, daß er den<br />

Boden der Tatsachen verläßt und reine Ideologie fabriziert. Er baut ein ungeheures ideologisches<br />

Gebäude auf, hetzt die Gruppe in einen Amoklauf. Koch hat die Illusion, daß man etwas wirklich<br />

bereinigen kann: indem er die Liquidierung Fatzers fordert und durchsetzt. Was am Ende steht, ist<br />

nicht ein reiner Tisch, sondern ein leerer.<br />

FRAGE Die Selbstzerfleischung der Revolutionäre um Fatzer erinnert an die isolierten,<br />

destruktiven Aktionen der Baader, Meinhof usw. Würden Sie so weit gehen und auch diese<br />

Terroranschläge mit dem Satz »Das Neue ist das Böse« kommentieren? Enthält auch hier die<br />

Kriminalität Elemente einer zukünftigen Gesellschaft? An einer Stelle Ihrer »Fatzer«-Montage<br />

schlagen Sie als Regieanweisung die Projektion von Fotos von Luxemburg, Liebknecht und<br />

Meinhof vor, der Chor spricht in diesem Moment von den »Besten«.<br />

MÜLLER Das ist natürlich etwas provokant und soll es auch sein. Ich finde es ziemlich widerlich,<br />

wenn eine Bevölkerung sich immer alles hat gefallen lassen, immer alles gemacht hat, ohne den<br />

geringsten Skrupel und ohne das geringste moralische Aufstoßen, obwohl ihr Wohlstand auf<br />

Ausbeutung von großen Teilen der Welt beruht. Nun entdeckt diese Bevölkerung plötzlich ihr Ethos<br />

gegenüber Leuten, die aus Verzweiflung in die Kriminalität getrieben werden. Konkret zum<br />

110


»Fatzer«-Text: Ich sehe die aktuellen Bezüge gar nicht so sehr im ideologischen Bereich. Das ist<br />

ein sehr deutlicher Stoff, man kann darin das »Faust«-Modell und auch die Nibelungengeschichte<br />

entdecken. Zunächst einmal ist es die Geschichte von vier Leuten, die isoliert von der Masse auf<br />

eine Revolution hoffen. Es ist die Misere der Linken in Deutschland, die seit den Bauernkriegen<br />

isoliert ist. Da, wo politische Bewegung stattfinden sollte, ist ein Vakuum Auf der einen Seite dieses<br />

Vakuums steht die konservative Mehrheit, auf der anderen Seite eine durch die Isolation<br />

radikalisierte Linke. Es gibt keine linke Mitte in Deutschland, überhaupt keine polemische Mitte,<br />

das entspricht dem Nibelungen-Modell.<br />

FRAGE Und der Nibelungen-Treue bei den Revolutionären ...<br />

MÜLLER Was sollen sie anderes machen? Wenn man in diesem Kessel ist, da bleibt gar nichts als<br />

Treue, wenn man so abgeschnitten ist, jegliche Verbindung zur Bevölkerung verloren hat. Daraus<br />

ergibt sich zwangsläufig auch die starke Ideologisierung der Treue. Wie sich Fatzer verhält und wie<br />

sich Baader/Meinhof verhalten: das ist ja mehr ein Produkt von Verzweiflung als von politischem<br />

Kalkül. Sie tun es in der Hoffnung, daß andere nachfolgen. Wenn das nicht stattfindet, bleibt nur<br />

der Weg in den individuellen Terror, ein sehr romantischer Import, der viel schlimmere Folgen hat<br />

als die beabsichtigten. Der Terrorismus – besonders in seiner deutschen Form – ist doch nichts<br />

weiter als eine Verlängerung des bürgerlichen Humanismus. In diesem Sinn – etwas pointiert<br />

formuliert – ist ein Molotowcocktail das letzte bürgerliche Bildungserlebnis.<br />

FRAGE Das »Fatzer«-Fragment wird in Hamburg zusammen mit Kleists »Prinz von Homburg«<br />

gespielt – eine sicher ungewöhnliche Kombination. Worin bestehen die Zusammenhänge?<br />

MÜLLER Man kann den »Prinzen von Homburg« lesen als ein Stück über eine Zähmung, die<br />

Zähmung eines Außenseiters, der angepaßt wird mit diesem groben Scherz der gespielten<br />

Hinrichtung.<br />

FRAGE Aber Fatzer läßt sich nicht anpassen ...<br />

MÜLLER Eben, da gehts tödlich aus. Bei Kleist geht es gut aus – und darum ist es viel tödlicher.<br />

Wenn ich diese beiden Stücke in einen Zusammenhang stelle, dann deshalb, weil ich etwas<br />

herausfinden will. Ich versuche meine Unruhe, mein Aufgestörtsein durch einen Stoff auf das<br />

Publikum zu übertragen. Wenn diese Homburg-/Fatzer-Verbindung Proteste im Zuschauerraum<br />

auslöst, dann wäre schon eine Störung des Geschäftsablaufs erreicht.<br />

FRAGE »Störung des Geschäftsablaufs«, so könnte man auch Ihre Funktion in der DDR nennen.<br />

In den letzten Wochen war wieder einmal im »Neuen Deutschland« zu lesen, der Dramatiker<br />

111


Heiner Müller sei kein Marxist. Schränken solche Angriffe Ihre Arbeitsmöglichkeiten ein?<br />

MÜLLER Ganz und gar nicht. Ich bin froh, daß es wieder so heftige Polemiken gibt. Das war im<br />

letzten Jahr nicht so, da hat man alles mit dem Mäntelchen des allgemeinen Konsensus’<br />

zugedeckt. Daß man jetzt wieder etwas schärfer formuliert, das finde ich eher angenehm.<br />

FRAGE In welchem Zusammenhang steht das »Fatzer«-Projekt zu Ihrem eigenen Schaffen?<br />

MÜLLER Seit ich Teile aus dem »Fatzer«-Stück in Brechts »Versuchen« gelesen habe, war mir<br />

klar, daß ich damit das Interessanteste von Brecht entdeckt hatte. Schon vor zehn Jahren habe ich<br />

versucht, ein »Fatzer«-Projekt am Berliner Ensemble zu verwirklichen. Damals sah es nicht so<br />

aus, als wenn man aus diesem Rohmaterial etwas Spielbares zusammenstellen könnte. Was mit<br />

dem Konflikt Fatzer–Koch beschrieben wird, das ist auch ein bißchen Vorgeschichte von<br />

Konfliktkonstellationen in meinen Stücken. An dieser Problematik ist mir jetzt auch einiges über<br />

meine Stücke aus den letzten zwanzig Jahren deutlich geworden. »Fatzer« war für mich wichtig,<br />

um eine Phase abschließen zu können, sie wirklich wegräumen zu können. Jetzt stehe ich vor<br />

dem Nichts und muß etwas Neues finden. Vom LOHNDRÜCKER bis zur HAMLETMASCHINE ist<br />

alles eine Geschichte, ein langsamer Prozeß von Reduktion. Mit meinem letzten Stück<br />

HAMLETMASCHINE hat das ein Ende gefunden. Es besteht keine Substanz für einen Dialog<br />

mehr, weil es keine Geschichte mehr gibt. Ich muß eine andere Möglichkeit finden, die Probleme<br />

der Restaurationsphase darzustellen.<br />

FRAGE Zeit der Restauration – gilt das für beide deutschen Staaten?<br />

MÜLLER Ich rede immer nur von dem Staat, an dem ich primär interessiert bin: die DDR. Und da<br />

befinden wir uns in einer Zeit der Stagnation, wo die Geschichte auf der Stelle tritt, die Geschichte<br />

einen mit »Sie« anredet. Es gilt, eine neue Dramaturgie zu entwickeln oder das Stückeschreiben<br />

aufzugeben. Vor dieser Alternative stehe ich. Da weiß ich selbst nicht weiter.<br />

1978<br />

112


17.03.1978 - 07:00 Uhr<br />

KULTUR<br />

Einige Überlegungen zu meiner Brecht-Bearbeitung<br />

Von Heiner Müller<br />

Die Frage, die mich beschäftigt und auf die ich keine schlüssige Antwort habe, ist die<br />

Interessantheit des Fragmentarischen. Es gibt noch ein paar Leute, die perfekte Stücke<br />

schreiben. Die sind langweilig, außer für das Publikum. Es geht um die Frage, was Literatur<br />

überhaupt noch soll. Ich selbst kann keine Geschichten mehr lesen, kann auch keine<br />

Geschichten mehr erzählen und schreiben. Ich glaube auch, daß das jedenfalls für sehr lange<br />

Zeit, vielleicht nur in Europa, vorbei ist, Geschichten zu schreiben. Und das bedeutet fürs<br />

Theater einen Verzicht auf Publikum. Ich glaube nicht an irgendeine besonders eingreifende<br />

Funktion oder Möglichkeit von Theater. Im Moment muß man diese Apparate benutzen, um<br />

das zu machen, was einen interessiert, ohne Rücksicht darauf, was das Publikum interessiert.<br />

Stückeschreiben wird immer mehr eine Sache der Leute, die die Stücke schreiben, das Stücke-<br />

Inszenieren wird immer mehr eine Sache der Leute, die die Stücke inszenierte Das heißt die<br />

Bedürfnisse der Autoren, Regisseure der Schauspieler und des Publikums fallen immer weiter<br />

auseinander. Das ist im Moment die Situation des Theaters.<br />

Keine Dramatik hat sich als so wenig veränderbar erwiesen wie die von Brecht. Man müßte mal<br />

ein Stück aus dem klassischen Brechtkanon bearbeiten, um zu sehen, was da überhaupt zu<br />

machen ist. Ich glaube nicht sehr an die Veränderbarkeit der klassischen Brecht-Stücke.<br />

Während man Shakespeare immer und vielfach verändern kann. Aber wenn gesagt wird, das<br />

Fatzer-Fragment ist ein mit Theaterwimpeln behängtes Sentenzensammelsurium, dann muß ich<br />

sagen: Ich glaube nicht, daß das Sentenzen sind. Es gibt keinen Satz darin, der nicht in dem<br />

Brechtschen Sinn gestisch formuliert ist. Keiner ist ablösbar von der Situation und von der<br />

Figur. Man kann so was nicht zitieren, wie man Schiller zitiert.<br />

Was an ‚Fatzer‘ wichtig ist, das hängt zusammen mit dem Fragment-Charakter. Da geht es gar<br />

nicht um Literatur, da geht es um Geschichte und Politik. Und was wichtig ist, ist der Fragment-<br />

Charakter der deutschen Geschichte, der dazu führt, daß so ein Stück, das ganz unmittelbar mit<br />

deutscher Geschichte zu tun hat, Fragment bleibt. Der Fabelansatz von Brecht: vier Leute<br />

desertieren aus dem Ersten Weltkrieg, weil sie glauben, die Revolution kommt bald, verstecken<br />

sich in der Wohnung des einen, warten auf die Revolution, und die kommt nicht. Und nun sind<br />

sie ausgestiegen aus der Gesellschaft. Da es keine besseren, keine expansiven Möglichkeiten gibt<br />

für ihre angestauten revolutionären Bedürfnisse, radikalisieren sie sich gegeneinander und<br />

Fortsetzung nächste Seite<br />

Fortsetzung von Seite 9<br />

negieren sich gegenseitig. Das ist eine große Formulierung einer Situation, die sich in der<br />

deutschen Geschichte immer wieder ergeben, immer wiederholt hat. Also die Isolierung der<br />

Linken seit den Bauernkriegen. Das ist ein deutsches Thema. Und da drin steckt ein noch viel<br />

älteres. Es ist wichtig für die Wirksamkeit von Theatertexten, daß möglichst viele alte<br />

Modellsituationen vorkommen: die Nibelungen-Situation, ein Faust-Entwurf, ‚Die Räuber‘,<br />

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113


Danton. Es gibt von Brecht keinen einzigen anderen Entwurf, kein ausgeführtes Stück, das<br />

diesen Ansatz aufnimmt oder fortsetzt.<br />

Die Rede ist von der Isolierung der Linken. Da es nun aber nur bürgerliches Theater in<br />

Deutschland gibt, denunziert die Theaterform das Stück, und das Stück denunziert die<br />

Theaterform. Das ist der Grund, warum ich mich trotzdem szenisch mit dem Text beschäftigt<br />

habe, um das evident zu machen. Ich fürchte, das gilt auch für einen großen Teil meiner Arbeit.<br />

Für mich ist jetzt eine Phase abgeschlossen, und diese Arbeit mit dem Fatzer-Material gehört zu<br />

diesem Abschluß. Jetzt muß ich einen neuen Ansatz finden. Die historische Substanz ist für<br />

mich jetzt unter dem Gesichtspunkt, unter dem ich sie versucht habe zu notieren – verbraucht.<br />

Jetzt wäre interessant, die Geschichte der Beziehung von zwei oder drei Leuten, und zwar in<br />

ihrer privaten oder sogenannten privaten Beziehung zu beschreiben. Das wäre jetzt interessant.<br />

Ibsen-Renaissance jetzt, und Tschechow sowieso, deuten da auf ein Bedürfnis und die<br />

Möglichkeiten des Eingreifens in eine Mikrostruktur. In die Makrostrukturen kann man nicht<br />

mehr eingreifen mit Literatur. Jetzt geht es in die Mikrostruktur. Dafür hat Brecht nur in<br />

seinem Frühwerk Techniken und Formen angeboten, Instrumentarien angeboten, aber nicht in<br />

den „klassischen“ Stücken. Deshalb sind die jetzt auch so sakrosankt und langweilig.<br />

Es geht darum, daß es nicht mehr erlaubt ist, nicht über sich selbst zu reden, wenn man<br />

schreibt. Der Autor kann nicht mehr von sich absehen. Wenn ich nicht über mich rede, erreiche<br />

ich keinen mehr.<br />

Dabei gibt es einen wesentlichen West-Ost-Unterschied: Ich/DDR kann über mich nicht reden,<br />

ohne über Politik/DDR zu reden. Während es in Westdeutschland ein ganz abgeschirmter<br />

Bereich ist oder sein kann. Der Intimbereich kann in der DDR nie so abgeschirmt sein. Nach<br />

wie vor ein Vorteil.<br />

Mein Problem dabei ist, herauszukommen aus Rollentexten. Der Brecht redet sehr viel über<br />

sich. Aber er ist immer, auch wenn er sagt: „Ich, der Stückeschreiber“, nicht Brecht. Es ist nicht<br />

die Person Brecht, es ist immer auch die Rolle – also immer auch die Figur.<br />

Interessant ist das Problem des Verhältnisses von Fatzer und Koch, vor allem, was Brecht den<br />

„Typus Fatzer“ nennt. In der ersten Arbeitsphase bei Brecht ist dieser Fatzer ziemlich deutlich<br />

eine Identifikationsfigur und der Koch wird erst allmählich zum Korrektiv. Später versucht<br />

Brecht den Fatzer zu verurteilen, historisch abzuschaffen, oder seine Abschaffung zu<br />

empfehlen. Und da hat sich inzwischen, seit der Entstehungszeit dieses Materials, wieder etwas<br />

verschoben: heute muß man, von der DDR aus gesehen, den Typus Koch sehr viel kritischer<br />

sehen – den Funktionär. Damit liefert es, liefert Brecht Kritik an der eigenen Person.<br />

QUELLE: DIE ZEIT, 17.3.1978 Nr. 12<br />

ADRESSE: http://www.zeit.de/1978/12/notate-zu-fatzer/komplettansicht<br />

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114


H) Geschichten von Herrn Keuner<br />

aus: Brecht, Bertolt; "Geschichten von Herrn<br />

Keuner. Zürcher Fassung". FfM: Suhrkamp, 2004<br />

115


116


Auszug aus: Wizisla, Erdmut: "Wie dürfte ich jedem die<br />

gleiche Geschichte erzählen?" Nachwort zur Keuner-<br />

Ausgabe, FfM: Suhrkamp 2004<br />

[...]<br />

[...]<br />

117


aus: Steinweg, Reiner: "Das<br />

Lehrstück. Brechts Theorie einer<br />

politisch-ästhetischen Erziehung."<br />

Stuttgart: Metzler, 1972. 104ff.<br />

118


119


[...]


I) Miscellanea<br />

Carlos Marighella (* 5. Dezember 1911 in Salvador da Bahia; † 4. November 1969 in São<br />

Paulo) war ein brasilianischer Revolutionär und Theoretiker der Stadtguerilla.<br />

Das ehemalige Mitglied des Kongresses gründete unter der brasilianischen Militärdiktatur<br />

eine Guerillabewegung (Stadtguerilla) und wurde zum bedeutendsten Vertreter der These,<br />

die Guerilla müsse vom Land in die Großstädte geführt werden. Marighella wurde am 4.<br />

November 1969 in Brasilien in einem Hinterhalt von Militärs erschossen. Zur Zeit seines<br />

Todes operierten mindestens sechs verschiedene, bewaffnete revolutionäre Gruppen in<br />

Brasilien, so das Comando de Libertação Nacional.<br />

Dieser Text, der sich heute liest wie eine Anleitung zum »James-Bond-Werden«, ist bitter<br />

ernst gemeint. Carlos Marighellas »Minimanual of the Urban Guerilla« wurde in der<br />

amerikanischen Zeitschrift »Tricontinental« (Nr. 16, Jan./Feb. 1970) in vollem Wortlaut<br />

abgedruckt. Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel »Minihandbuch des Stadtguerilleros«<br />

erschien kurz darauf in »Sozialistische Politik« (Hg: Otto-Suhr-Institut Berlin. 2.Jg., Nr. 6/7<br />

1970, S. 143-166).<br />

Diese Schrift hatte maßgeblichen Einfluss auf westeuropäische Stadtguerillagruppen,<br />

darunter auch die Rote Armee Fraktion. Es war eines der ersten derartigen Anleitungsbücher,<br />

das Flugzeugentführungen als Aktion der bewaffneten Propaganda aufführte. Von Mai 1970<br />

bis 1996 erschien der Text immer wieder in mindestens fünf unterschiedlichen<br />

selbstständigen deutschsprachigen Ausgaben als Untergrundschrift.<br />

Carlos Marighella<br />

»Minihandbuch des Stadtguerilleros«<br />

Der Stadtguerillero<br />

Der Stadtguerillero muss sich ein Minimum an politischen Kenntnissen aneignen und daher versuchen,<br />

gedruckte oder in Form von Pamphleten abgezogene Arbeiten zu lesen, z.B. »Der Guerilla-<br />

Krieg« von Che Guevara. »Die Erinnerungen eines Terroristen«, »Aktionen und Taktiken der Guerillas«,<br />

»Über strategische Probleme und Prinzipien«, »Einige taktische Prinzipien für die Kameraden,<br />

die Guerillaaktionen durchführen«, »Organisationsfragen«, »O Guerillero« u.a.<br />

Persönliche Eigenschaften des Stadtguerilleros<br />

Der Stadtguerillero ist durch seinen Mut und seine Entscheidungskraft gekennzeichnet. Er muss<br />

ein guter Taktiker sein und gut schießen können. Er muss schlau und umsichtig sein, um damit die<br />

Tatsache zu kompensieren, dass er an Waffen, Munition und Ausrüstung nicht stark genug ist. Das<br />

BerufsmiIitär und die Polizei, die der Regierung dient, verfügen über moderne Waffen und Fahrzeuge<br />

und können sich frei zu jedem beliebigen Ort bewegen, wobei sie alle Mittel der bestehenden<br />

Staatsmacht zur Verfügung haben. Der Stadtguerillero verfügt nicht über solche Mittel – seine<br />

Praxis ist die des Untergrunds. Die moralische Überlegenheit ist die Stütze des Stadtguerillero, mit<br />

der er seine wichtigste Pflicht erfüllen kann, nämlich anzugreifen und zu überleben. Dazu muss der<br />

Stadtguerillero auf seinen Erfindungsgeist zurückgreifen, jene Fähigkeit, ohne die er nicht in der<br />

Lage wäre, seine revolutionäre Rolle auszuüben.<br />

121


Die Eigenschaften des Stadtguerilleros sind Initiative, Einfallsreichtum, Flexibilität, Vielseitigkeit<br />

und Geistesgegenwart. Vor allem die Fähigkeit zur Initiative muss er in besonderem Masse besitzen.<br />

Es ist nicht möglich, alle Situationen vorauszusehen; trotzdem darf es nicht vorkommen, das<br />

der Stadtguerillero nicht weiß, was zu tun ist, nur weil die entsprechende Anweisungen fehlen. Es<br />

ist seine Pflicht zu handeln, eine angemessene Lösung für jedes auf tretende Problem zu finden<br />

und diesem nicht auszuweichen. Es ist besser, zu handeln und Fehler zu machen als nicht zu handeln,<br />

um Fehler zu vermeiden. Ohne Initiative gibt es keine Stadtguerillera.<br />

Weitere notwendige Fähigkeiten des Stadtguerilleros sind die folgenden: Er muss ein guter Läufer<br />

sein, muss Müdigkeit, Hunger, Regen und Hitze ertragen können. Er muss Wache halten und sich<br />

verstecken, sich verkleiden und jeder Gefahr ins Auge sehen können. Er muss bei Tag und bei<br />

Nacht handeln, darf sich nicht überhasten, muss eine unbegrenzte Geduld haben. Er muss stets<br />

die Ruhe bewahren und seine Nerven auch unter ungünstigsten Bedingungen und in ausweglosen<br />

Situationen kontrollieren können. Niemals darf er Spuren oder Hinweise hinterlassen. Vor allem<br />

darf er sich nicht entmutigen lassen. Nicht selten desertieren oder entfernen sich Kameraden von<br />

der Stadtguerilla, wenn sie sich vor nahezu unüberwindbaren Schwierigkeiten gestellt sehen.<br />

Die Aktion der Stadtguerilla ist aber nicht das Geschäft einer Handelsgesellschaft, die Tätigkeit an<br />

einem gewöhnlichen Arbeitsplatz oder die Vorführung eines Theaterstücks. Die Stadtguerilla ist -<br />

wie auch die Landguerilla eine Verpflichtung, die der Guerillero sich selbst gegenüber auf sich<br />

nimmt. Wenn er nicht in der Lage ist, den Schwierigkeiten entgegenzutreten oder nicht aber die<br />

notwendige Geduld verfügt, um abwarten zu können, ohne die Nerven zu verlieren, oder zu verzweifeln,<br />

dann ist es besser für ihn, von dieser Verpflichtung Abstand zu nehmen, fehlen ihm doch<br />

die in der Tat elementarsten Fähigkeiten, um ein Stadtguerillero zu werden.<br />

Wie lebt und erhält sich der StadtgueriIIero?<br />

Der Stadtguerillero muss es verstehen, inmitten des Volkes zu leben, er muss darauf achten, nicht<br />

als Fremder zu erscheinen oder sich vom normalen Leben eines Durchschnittsbürgers zu unter-<br />

scheiden. Er darf in seiner Kleidung nicht von der gewöhnlichen anderer Personen abweichen.<br />

Ausgefallene Kleidung und die neueste Mode für Männer und Frauen sind oft unangebracht, wenn<br />

der Stadtguerillero beauftragt ist, in Arbeiterbezirke oder dorthin zu gehen, wo eine solche Mode<br />

nicht üblich ist. Wichtig ist für jeden Stadtguerillero, sich jederzeit bewusst zu sein, das er nur überleben<br />

kann, wenn er entschlossen ist, Polizisten und all jene zu töten, die der Repression als ausführende<br />

Organe dienen, und wenn er entschlossen ist, wirklich entschlossen ist, die großen Kapitalisten,<br />

die Großgrundbesitzer und Imperialisten zu enteignen.<br />

Die Revolution versucht durch die Enteignung der gefährlichsten Feinde des Volkes diese in ihren<br />

lebenswichtigen Zentren zu treffen; sie greift daher vornehmlich und in systematischer Form das<br />

Banknetz an, d.h. sie versetzt dem Nervensystem des Kapitalismus ihre konzentriertesten Schläge.<br />

Dies ist der Grund dafür, das der Stadtguerillero zur bewaffneten Aktion übergeht und sich nur<br />

erhalten kann, wenn er seine Aktivität auf die physische Beseitigung der Agenten der Repression<br />

konzentriert und sich 24 Stunden am Tag der Enteignung der Enteigner des Volkes widmet.<br />

Die technische Vorbereitung des Stadtguerillero<br />

Niemand kann ein Stadtguerillero werden, der nicht seiner technischen Vorbereitung besondere<br />

Aufmerksamkeit widmet. Diese technische Vorbereitung reicht vom körperlichen Training bis zur<br />

Perfektionierung oder ErIernung von Berufen und Fähigkeiten aller Art, vor allem einer handwerklichen<br />

Geschicklichkeit.<br />

Der StadtguerilIero kann nur dann eine gute physische Widerstandskraft haben, wenn er systematisch<br />

trainiert. Er kann kein guter Kämpfer sein, wenn er nicht die Kunst des Kämpfens erlernt hat.<br />

Er muss mehrere Formen des Kampfes, des Angriffes und der Selbstverteidigung erlernen und<br />

üben. Weitere sinnvolle Formen physischen Trainings sind Wanderungen, Zelten, Übungen im<br />

Dschungel, Besteigen von Bergen, Rudern, Schwimmen, Tauchen, Training als Froschmann, Fischen,<br />

Tiefseejagd und alle Arten von Kampfsportarten.<br />

Wichtig ist, ein Auto fahren, ein Flugzeug führen und Schiffe steuern zu können, sowohl Motor- als<br />

auch Segelschiffe, weiter Kenntnisse der Kraftfahrzeugmechanik und der Elektrotechnik zu besitzen,<br />

um z.B. Radios und Telefone reparieren zu können.<br />

122


Von gleicher Wichtigkeit sind elementare Kenntnisse der Topographie sowie die Fähigkeit, sich mit<br />

Instrumenten und praktischen Mitteln zu orientieren, Entfernungen abschätzen, Landkarten und<br />

Lagepläne herzustellen, eine Skala benutzen, Zeitrechnungen herstellen, mit dem WinkeItransporter,<br />

mit Kompass usw. umgehen zu können. Kenntnisse der Chemie, die Mischung von Farben, die<br />

Herstellung von Stempeln, das Beherrschen der Schreibtechnik und Schriftfälschung sowie andere<br />

Fertigkeiten bilden einen Teil der technischen Vorbereitung des Stadtguerilleros, der gezwungen<br />

ist, Dokumente zu fälschen, um in einer Gesellschaft leben zu können, die er zerstören will.<br />

Das Leben des Stadtguerilleros ist abhängig von seiner Schießkunst, von seiner Fähigkeit, die vorhandenen<br />

Waffen einzusetzen und selbst nicht getroffen zu werden. Wenn wir von Schießen reden,<br />

so meinen wir die Treffsicherheit.<br />

Diese muss solange geübt werden, bis das Schießen und das Treffen des Stadtguerillero zu einer<br />

Reflexreaktion geworden ist. Um gut und treffsicher zu bleiben, muss er systematisch trainieren<br />

und dabei die verschiedensten Methoden anwenden. Jede Gelegenheit zu Schießübungen ist auszunutzen,<br />

auch auf Rummelplätzen und zu Hause mit dem Luftgewehr.<br />

Logistik der Stadtguerilla<br />

Die konventionelle Logistik kann durch die FormeI ausgedrückt werden »N K A M«.<br />

N (Nahrungsmittel), K (Kraftstoff), A (Ausrüstung), M (Munition). Die Logistik des Stadtguerillero<br />

der bei NULL anfängt und zunächst über keine Stütze verfügt, kann mit der Formel »M G W M S«<br />

beschrieben werden: M (Motorisierung), G (Geld), W (Waffen), M (Munition) und S (Sprengstoff).<br />

Ursprüngliche Vorteile sind:<br />

1. Überraschung des Feindes;<br />

2. die bessere Kenntnis des Gebietes, in dem die Aktion durchgeführt wird;<br />

3. eine größere Beweglichkeit als die Polizei und die übrigen Kräfte der Repression;<br />

4. ein Informationsapparat, der besser ist als der des Feindes;<br />

5. eine Entschlossenheit und Geistesgegenwart, die alle unserer Seite Kämpfenden stimuliert<br />

und nicht schwanken lässt, die feindliche Seite entmutigt und paralysiert, damit zur Gegenwehr<br />

unfähig macht.<br />

Der Banküberfall, populärste Art des Überfalls<br />

Banküberfälle sind zu der populärsten Art von Überfällen geworden. Diese Überfallart wird heute<br />

weitestgehend benutzt und dient dem Stadtguerillero als eine Art Vorexamen, in dem die Technik<br />

der Revolution erlernt wird.<br />

Die Stadtguerilla, Auswahlschule des Guerilleros<br />

Die Intellektuellen stellen die zentrale Säule des Widerstandes gegen die Willkür und gegen die<br />

gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten dar. Sie geben der Revolution ständig neue Impulse und sie<br />

haben ein riesiges Kommunikationspotential und einen großen Einfluss auf das Volk. Der Intellektuelle<br />

Stadtguerillero oder der Künstler- Stadtguerillero sind die Neueste Bereicherungen des revolutionären<br />

Krieges.<br />

123


Transkript: Anti-Oper<br />

Ein Gespräch zwischen Heiner Müller und Alexander Kluge<br />

[...]<br />

KLUGE Du hast ja einen Dramenentwurf, den du machen willst, und deine Anspielung auf 24<br />

Stunden verstehe ich so, dass von Stalingrad bis Berlin das ein 24-Stunden-Werk wird. Wenn du<br />

aber jetzt die Aufgabe auf dich nehmen müsstest, zur Strafe, du solltest einen Abschied von 1914<br />

machen, Abschied von 1916 und Abschied von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs - Fortsetzung,<br />

also "Fatzer", zweiter Teil. Was würdest du machen? "Faust", zweiter Teil, "Fatzer", zweiter Teil<br />

MÜLLER Das ist ein wirkliches Problem, das weiß ich nicht. Weil im Moment sieht es für mich so<br />

aus, dass in diesem »Fatzer«-Text alles auch beschrieben ist, was jetzt passiert, was im Zweiten<br />

Weltkrieg passiert ist. Und was jetzt, 1989, passiert. In dem »Fatzer«-Material gibt es am Anfang<br />

eine Szene im Ersten Weltkrieg. Sie beschreibt die Erfahrung der Materialschlacht, das ist eine<br />

Verzweiflungsreaktion darauf, und der Koch, der später Funktionär wird, schreit ...<br />

KLUGE Der Koch? Oder heißt der Koch?<br />

MÜLLER Koch, er heißt Koch.<br />

KLUGE Er heißt Koch, er ist kein Schauspieler?<br />

MÜLLER Später, in einer anderen Version, heißt er Keuner, und das wird dann eine Lenin-Figur,<br />

das war aber nur geplant von Brecht, nicht geschrieben. Und der schreit in der Schlacht, überall ist<br />

der Feind und es wird geschossen. Und dann kommt dieser enorme Schluss, wo er sagt, wo soll<br />

man da hinfliehen, überall ist der Mensch. Und dann sagt Büsching, der Mensch ist der Feind und<br />

muss aufhören.<br />

KLUGE Was verstehst du unter Materialschlacht?<br />

MÜLLER Verdun, oder die Somme, und einfach diese Erfahrung des Angenageltseins an den<br />

Boden oder in den Graben ...<br />

KLUGE Der Mensch ist angeschmiedet durch Befehl, und die Materialschlacht ist im Grunde die<br />

tote Arbeit gegen die tote Arbeit?<br />

MÜLLER Ja, ja. Und deswegen ist der logische Schluss, der Mensch ist der Feind und muss<br />

124


aufhören. Der Mensch, der sich so materialisiert hat, mitten in dieser Maschine. Das finde ich<br />

einen ganz enormen Punkt in dem Text. Die Materialschlacht ist eigentlich der Entwurf von<br />

Auschwitz. Wenn man eine Entsprechung sucht zu dem nationalen Stoff von Shakespeare, die<br />

Rosenkriege gibt’s in Deutschland nicht. Es gibt in Deutschland keinen nationalen Stoff. Deswegen<br />

ist die Schwärmerei von Schiller, auch von Goethe über Friedrich den Großen eine Zeitlang ganz<br />

interessant. Das war die Hoffnung auf einen nationalen Stoff, aber es ging nicht. Schreiben konnte<br />

man es nicht. Das war nicht dramenfähig.<br />

KLUGE Nun gibt es eine Kontinuität. Wenn ich die Kürze der Wiedervereinigung betrachte, also<br />

’70/’71, das reicht bis ’45, und jetzt kommt wieder eine neue Wiedervereinigung auf der einen<br />

Seite, auf der anderen Seite die hohe Kontinuität der beiden Weltkriege. Also was 1914 begann, ist<br />

1918 nicht beendet und geht über die Freicorps und über alle möglichen Dinge ...<br />

MÜLLER Und das ist der Punkt bei »Fatzer«. Schon die Namen. Ich muss vielleicht kurz die<br />

Geschichte erzählen. Sie ist nicht zu Ende geschrieben bei Brecht, aber es gibt eine<br />

Fabelerzählung von Brecht selbst. Soldaten beschließen im Ersten Weltkrieg in Frankreich, den<br />

Krieg zu beenden, also zu desertieren. Der Titel ist »Liquidation des Ersten Weltkriegs durch<br />

Johann Fatzer«. Fatzer ist die führende Figur bei dieser Desertion. Er erklärt den anderen die Lage<br />

und macht eine Zeichnung, wo er beschreibt, dass Feuer und Wasser auf beiden Seiten<br />

gegeneinander stehen, d. h. der, auf den wir schießen, ist unser Bruder, hinter ihm steht unser<br />

Feind, hinter uns steht unser Feind, der auch sein Feind ist. Sein letztes Argument macht die<br />

anderen zögern: Ich rauche jetzt meinen Tabak auf, weil es die eiserne Ration ist, damit ihr hier<br />

nichts mehr habt, denn sonst macht ihr noch weiter, dann ist Schluss. Und dann gehen sie nach<br />

Mülheim, da ist auch die Ortswahl interessant ...<br />

KLUGE Mülheim/Ruhr?<br />

MÜLLER Mülheim/Ruhr. Und sie verstecken sich in der Wohnung eines der vier, der aus Mülheim<br />

stammt, und warten auf die Revolution.<br />

KLUGE Und die kommt nicht.<br />

MÜLLER Und die kommt nicht. Und dann gibt es den Kernsatz, der Krieg hat uns nicht<br />

umgebracht, aber bei ruhiger Luft im stillen Zimmer bringen wir uns selber um.<br />

KLUGE Wenn du das Wort Gaskrieg hörst, was stellst du dir da vor? Du hast ja Gaskrieg selber<br />

nicht kennengelernt?<br />

125


MÜLLER Ja, ich habe noch eine Gasmaske getragen, aber es gab keinen Gaskrieg mehr. Und das<br />

ist ja auch interessant, dass das im Zweiten Weltkrieg keine Erfahrung mehr geworden ist. Der<br />

Erste Weltkrieg war eine Erfahrung für alle Beteiligten.<br />

KLUGE Hitler, der wusste, was Gaskrieg ist, hat widerstanden. Das war einer der wenigen Punkte,<br />

an denen dieser Mann irgendeine Hemmung hatte. Und wenn du aber mal das Wort Gaskrieg<br />

hörst, wie stellst du dir das vor?<br />

MÜLLER Ja, der Hauptpunkt ist die absolute Hilflosigkeit, das Zurückgeworfensein auf animalische<br />

Reaktionen. Für mich ist eine Metapher für den Gaskrieg was ganz Dummes. Ich war in<br />

Disneyland bei Los Angeles und bin mit dieser Montblanc-Bahn gefahren, ich weiß nicht, ob du die<br />

kennst. Du fährst also durch einen kleinen Montblanc mit einer ungeheuer schnellen Bahn, und es<br />

ist stockdunkel da drin, und die Kurven sind gewaltig, und plötzlich bist du völlig zurückgeworfen<br />

auf eine ganz kreatürliche Angst, dich festzuhalten in den Kurven, das ist die Erfahrung des<br />

Gaskriegs, die ich kenne.<br />

KLUGE Die Lunge versagt als letztes, du kannst ja nicht willkürlich ertrinken, also du kannst dich<br />

nicht selber ertränken, denn im letzten Moment würde die Lunge, im Gegensatz zu deinem<br />

Verstand oder Herzen, dich wieder hochtreiben.<br />

MÜLLER Der Erstickungstod ist der schrecklichste.<br />

KLUGE Gleichzeitig die dauerhafte Westwindrichtung unseres Planeten.<br />

MÜLLER Ja, ja.<br />

KLUGE So dass man Windstille oder Ostwind auf deutscher Seite brauchte.<br />

MÜLLER Deswegen sind die Armenviertel ja immer im Osten der Städte.<br />

(Quelle. http://muller-kluge.library.cornell.edu/de/video_transcript.php?f=100 – 5.1.2013)<br />

126


In diesem kurzen Aufsatz, einem Ausschnitt aus seiner Monographie »Hammerstein<br />

oder der Eigensinn« (Frankfurt: Suhrkamp, 2008), gibt der deutsche Schriftsteller Hans<br />

Magnus Enzensberger (*11. November 1929) einen prägnanten Überblick über die<br />

politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zur Entstehungszeit der »Fatzer«-<br />

Fragmente.<br />

Hans Magnus Enzensberger: Die Schrecken der Weimarer Republik<br />

Wir sollten dankbar dafür sein, dass wir nicht dabei gewesen sind.<br />

Die Weimarer Republik war von Anfang an eine Fehlgeburt. Das ist keine besserwisserische<br />

Charakteristik aus der Retrospektive. So hat sie bereits Ernst Troeltsch in seinen Spectator-<br />

Briefen aus den Jahren 1918-1922 beschrieben, und er war nicht der einzige. Ein Blick in Joseph<br />

Roths frühe Romane und Reportagen sollten jeden überzeugen, der daran zweifelt.<br />

Nicht nur, dass die alten Eliten nicht bereit waren, sich mit der Republik abzufinden. Viele,<br />

die aus dem verlorenen Kriege nach Hause kamen, mochten den »Kampf als inneres<br />

Erlebnis« nicht aufgeben und sannen auf Revanche. Sie erfanden die »Dolchstoßlegende«,<br />

später hieß es dann ein Jahrzehnt lang: »Und ihr habt doch gesiegt.« Justiz und Polizei<br />

klammerten sich an ihre wilhelminischen Normen und Gewohnheiten. An den Hochschulen<br />

überwogen autoritäre, antiparlamentarische und antisemitische Stimmungen. Mehr als<br />

einmal entlud sich die gereizte Atmosphäre in dilettantischen Putsch- und Umsturzplänen.<br />

Auf der Seite der Linken sah es nicht viel besser aus. Auch sie hielt wenig von der Demokratie<br />

und ihre Kader planten den Aufstand. Die wirtschaftliche Misere trug zur Instabilität der<br />

deutschen Gesellschaft bei. Die Kriegsschulden und Reparationszahlungen belasteten den<br />

Haushalt der Republik schwer. Die Inflation ruinierte den Mittelstand und das Kleinbürgertum.<br />

Dazu kam die endemische Korruption, die bis in die höchsten Staats- und Parteiämter<br />

reichte und unmittelbar politische Folgen hatte. Der Fall des Reichspräsidenten Hindenburg<br />

ist notorisch. Die einzige ökonomische Atempause, die an eine Erholung denken ließ, dauerte<br />

ganze vier Jahre, von 1924 bis 1928. Dann machte ihr die Weltwirtschaftskrise ein brutales<br />

Ende. Der ökonomische Zusammenbruch und die folgende Massenarbeitslosigkeit führten<br />

zur Verbitterung der Lohnabhängigen und zu massiven Deklassierungsängsten.<br />

Dazu kamen die außenpolitischen Belastungen, die zeitweise ein unerträgliches Maß annahmen.<br />

Der Versailler Vertrag, weit entfernt von dem intelligenten Frieden, den die Briten und<br />

die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg ins Auge fassten, rief in der deutschen Gesellschaft<br />

vehemente Ressentiments hervor. Die Ruhrbesetzung, der Separatismus und die ethischen<br />

Konflikte begünstigen und verschärften die chauvinistischen Stimmungen. Die unmittelbaren<br />

Nachbarn, vor allem die Franzosen und die Polen taten alles, was in ihrer Macht<br />

stand, um die Deutschen weiter zu demütigen, und auch die Sowjetunion versuchte, die Republik,<br />

so gut sie konnte, zu destabilisieren.<br />

Mit einem Wort, das Land befand sich in einem latenten Bürgerkrieg, der nicht nur mit politischen<br />

Mitteln ausgetragen wurde, sondern immer wieder gewaltsame Formen annahm.<br />

Vorm Spartakus-Aufstand bis zu den Aggressionen und Fememorden der Freikorps und der<br />

»Schwarzen Reichswehr«, von den mitteldeutschen Märzkämpfen bis zum Aufmarsch der<br />

Nationalsozialisten vor der Münchner Feldherrenhalle, von den Hamburger und Wiener Arbeiterkämpfen<br />

bis zum Berliner »Blutmai« wurde die Demokratie von den Militanten beider<br />

127


Seiten immer wieder in die Zange genommen.<br />

Unter dem Stichwort Systemzeit findet man heute folgende politisch unverdächtige Definition:<br />

»S., die in einem Computer von der internen Uhr bereitgestellte und durch das Betriebssystem<br />

an die Software weitergegebene Uhrzeit.« In den zwanziger und dreißiger Jahren las<br />

man es anders. >Das System< war ein Kampfbegriff, der in der Weimarer Zeit geprägt wurde<br />

(und der 1968 eine sonderbare Renaissance erlebte). Er wurde von rechts und von links, von<br />

Goebbels ebenso wie von Thälmann, gegen die Republik ins Feld geführt.<br />

In den Jahren 1932 und 1933 nahm die Spaltung der Gesellschaft, nicht nur in Deutschland,<br />

sondern auch in Österreich, geradezu libanesische Formen an. Milizen – SA, Roter Frontkämpferbund,<br />

Stahlhelm, Hammerschaften, Reichsbanner, Schutzbund und Heimwehr – bekämpften<br />

sich auf offener Straße, und die Agonie der Weimarer Republik erreichte ihren kritischen<br />

Punkt.<br />

Dass die Lüge von den »Goldenen Zwanziger Jahren« von den Nachgeborenen jemals geglaubt<br />

werden konnte, ist rätselhaft und weder durch Ignoranz zu entschuldigen, noch durch<br />

Mangel an historischer Vorstellungskraft zu erklären. Dieser fragile Mythos nährt sich viel<br />

eher aus eine Mischung von Neid, Bewunderung und Kitsch: Neid auf die Vitalität und Bewunderung<br />

für die Leistung einer Generation von großen Begabungen, aber auch wohlfeile<br />

Nostalgie. Man sieht sich die tausendste Vorstellung der Dreigroschenoper an, staunt über<br />

die Preise, die Beckmann, Schwitters und Schad auf den Aktionen erzielen, begeistert sich<br />

für die Repliken der Bauhausmöbeln und weidet sich an Filmen wie Cabarét, die ein hysterisches,<br />

polymorph perverses, »verruchtes« Berlin zeigen. Ein wenig Dekadenz, eine Prise Risiko<br />

und eine starke Dosis Avantgarde lassen den Bewohnern des Wohlfahrtsstaates angenehme<br />

Schauer über den Rücken rieseln.<br />

Diese Blüte einer höchst minoritären Kultur lässt den Sumpf vergessen, auf dem sie gedieh.<br />

Denn auch die intellektuelle und künstlerische Welt der zwanziger Jahre war durchaus nicht<br />

immun gegen die Erregungszustände des Bürgerkriegs. Dichter und Philosophen wie Heidegger,<br />

Carl Schmitt oder Ernst Jünger, aber auch Brecht, Horkheimer und Korsch setzten<br />

der Hasenherzigkeit der politischen Klasse das Pathos der Entschlossenheit entgegen –<br />

wozu entschlossen, darauf kam es ihnen erst in zweiter Linie an. Auch ihre Mitläufer, die linken<br />

wie die rechten, schwelgten in der Attitüde des Unbedingten.<br />

Die Politiker des Mittelmaßes konnten da nicht mithalten. Sie wirkten blass und hilflos. Die<br />

Fähigkeit, die Ängste, die Ressentiments, die Begeisterungsfähigkeit und die destruktive<br />

Energie der Massen zu mobilisieren, fehlte ihnen ganz und gar. Auch aus diesem Grund<br />

haben sie Hitler, der sich darauf wie kein anderer verstand, ausnahmslos unterschätzt. Es<br />

blieb der politischen Klasse am Ende kaum mehr übrig, als zwischen Panik und Lähmung zu<br />

lavieren.<br />

Das Gefühl der Ohnmacht verführte die meisten zur Flucht ins Extrem. Schutz und Sicherheit<br />

glaubten die Leute nur noch in den Organisationen wie der KPD, der NSDAP, dem Reichsbund<br />

oder der SA zu finden. Die Massen schwankten zwischen links und rechts; die Fluktuation<br />

zwischen beiden Polen nahm epidemische Formen an. Aus Furcht vor der Isolation suchen<br />

die Menschen das Kollektiv, flohen in die Volksgemeinschaft oder in den Sowjetkommunismus.<br />

Paradoxerweise endete diese Flucht für viele die sie antraten, in der totalen Einsamkeit:<br />

im Exil, im KZ, in den Säuberungen, im Gulag oder in der Vertreibung.<br />

128


Der Bühnenbildentwurf zur Fatzer-Produktion in Marburg sah zunächst einen stilisierten Boxring<br />

vor. Dieser ist zwar mittlerweile wieder verschwunden bzw. hat sich weiterentwickelt,<br />

dennoch sind die Querverbindungen zwischen Brecht, Bühne und Boxsport nicht uninteressant<br />

im Kontext der Fatzer-Themen. Der Boxring ist ein Ort des Kampfes zwischen zwei<br />

herausgehobenen Antagonisten, ein mythischer Schauplatz eines Stellvertreterkampfes,<br />

vergleichbar etwa der römischen Gladiatorenarena. Insofern der Boxer Stellvertreter einer<br />

Masse ist, ist aber jeder Boxkampf auch ein Kampf zwischen dem Einzelnen und dem<br />

Kollektiv.<br />

B. B. und der Boxer<br />

Als Bert Brecht sich von Samson-Körner inspirieren ließ<br />

Von Alex Natan<br />

Die großen Schriftsteller unserer Zeit, die eine sportliche Begebenheit zum Thema ihrer Kunst gewählt<br />

haben – Hemingway, Schulberg, Gallico, Jack London oder Greuze –, haben stets das Problem<br />

in den krassen, naturalistischen Schattenseiten des Sports gefunden. Sie spürten unter der<br />

ölig glänzenden Haut eines geschäftig propagierten Olympioniken die wirkliche Tragödie des<br />

Kämpfers, die der Sykophant unter den Sport-Portraitisten durch Lorbeergewedel von sich zu<br />

scheuchen weiß. Sport als Thema für einen großen Schriftsteller bedeutet eine Goya-Vision, den<br />

Dunst von Blut und Schweiß und Verrat, die großartige Einsamkeit der Niederlage, die Entfesselung<br />

aller Triebe, wie sie sich beim Boxkampf, beim Sechs-Tage-Rennen oder im Catcherzelt offenbaren,<br />

wo es um mehr als die Ehre, wo es um die Existenz selbst geht.<br />

Neben Gerhart Hauptmann ist Bertolt Brecht der größte Dramatiker, der in deutscher Sprache in<br />

diesem Jahrhundert geschrieben hat. Es sollte deswegen nicht ohne Interesse sein, wie sich<br />

Brecht zum Sport als auffälligem Phänomen seiner Zeit gestellt hat, selbst wenn sich die eigene<br />

Betätigung auf das Autofahren beschränkt hat. Bert Brecht versuchte erstmalig zu Beginn der<br />

zwanziger Jahre, als es in Deutschland zur Mode geworden war, angelsächsische Klischees nachzuahmen.<br />

Damals herrschte eine unechte Vergötterung englischer Lebenseinstellung vor. Bertolt<br />

Brecht nannte sich »Bert«, Georg Grosz wurde zu »George«. Walter Mehring gab sich zeitweise<br />

als »Walt Merin« aus, während der Dadaist und Pazifist Hellmut Herzfelde sich »John Hartfield«<br />

hieß. Sport, der in der angelsächsischen Welt die Realität einer Selbstverständlichkeit besitzt, wurde<br />

der damaligen Generation genauso zu einer mythischen Vorstellung, wie ihr der Negerjazz ein<br />

musikalisches Ideal und die Heilsarmee eine esoterische Welterlöserreligion bedeutete. Bereits<br />

Wedekind und Bernard Shaw hatten in dem seltsamen Milieu der Heilsarmee und in ihren naturalistischen<br />

Hymnen eine ähnliche Anziehungskraft verspürt wie in dem Kraftmeiertum des damaligen<br />

Sports. Es war die gleiche lärmende, trunkene, ungebärdige volkstümliche Mischung, die wohl<br />

auf Rimbaud zurückzuführen ist, die auch andere Dichter der zwanziger Jahre, wie etwa Cocteau,<br />

Lorca und Mayakowski faszinierte.<br />

Sport, Whisky und »Virginia«<br />

Boxen, Ringkampf, Sechs-Tage-Rennen wurden ihnen allen zu symbolischen Formen des Kampfs<br />

ums Dasein, um eine Welt, die seit 1914 aus den Fugen geraten war. Ähnlich dem Sport nahmen<br />

auch Whisky und Gin und der fremde »Virginia«-Tabak symbolische Bedeutung für eine Wandlung<br />

an, die im Zeichen einer neuen Gesellschaft stehen würde. Lion Feuchtwanger, einer der frühesten<br />

Freunde Brechts, drückte dieses neue kraftprotzende Gefühl in »J. L. Wetcheek’s Amerikanischem<br />

Liederbuch« aus. Der expressionistische Dramatiker Georg Kaiser ließ seinen betrügerischen Kassierer<br />

den Abglanz des Lebens in »Von Morgens bis Mitternachts« auf einem Sechs-Tage-Rennen<br />

und im Vereinslokal der Heilsarmee erleben. Joachim Ringelnatz mokierte sich über Boxen, Ringen<br />

und Radfahren in seinen »Turngedichten« ebenso wie über die teutonische Mentalität der Turner.<br />

Arnolt Bronnen, auch einer der frühesten Freunde Brechts, schrieb in der Zeitschrift »Die Sze-<br />

129


ne« über die zeitgenössische Literatur: »Für mich sind ihre Aspekte grenzenlos. Sie reichen von einem<br />

Boxkampf bis zur Jazzband.« Walter Mehring schreibt in einem Sketch aus dem Jahre 1924,<br />

den er bezeichnenderweise »Kult des Sports« nannte, über ein Sechs-Tage-Rennen:<br />

»Hart<br />

Am Start<br />

Die Muskeln auf der Lauer<br />

Zweimalhunderttausend<br />

Augen:«<br />

Jedenfalls hatte der sogenannte »Kulturbolschewismus« den Sport früher entdeckt als seine späteren<br />

nationalistischen Schönfärber.<br />

Es ist die gleiche schweißgetränkte Atmosphäre des Rings, die für Bert Brecht symbolischen Charakter<br />

erhält. Im Vorspruch zu seinem Stück »Im Dickicht der Städte« (1921 bis 1924 verfaßt) gibt<br />

der Dichter dem Leser den folgenden Rat: »Sie befinden sich im Jahre 1912 in der Stadt Chicago.<br />

Sie betrachten den unerklärlichen Ringkampf zweier Menschen und Sie wohnen dem Untergang<br />

einer Familie bei, die aus den Savannen in das Dickicht der großen Stadt gekommen ist. Zerbrechen<br />

Sie sich nicht den Kopf über die Motive dieses Kampfes, sondern beteiligen Sie sich an den<br />

menschlichen Einsätzen, beurteilen Sie unparteiisch die Kampfform der Gegner und lenken Sie Ihr<br />

Interesse auf das Finish.«<br />

»Kunst und Boxsport«<br />

In den Bühnenanweisungen zum Schlussakt des »Elephantenkalbes« heißt es: »Alle ab zum Boxkampf«.<br />

Der Kampfsport der Berufssportler interessierte Brecht enorm, so dass dieser Zug in den<br />

meisten seiner Stücke zu spüren ist, besonders stark in seiner Kurzgeschichte »Der Kinnhaken«.<br />

Brecht beriet 1930 seinen Freund Ferdinand Reyher, der damals sein Stück »Harte Bandagen«<br />

veröffentlichte. Es war typischer Zeitgeist, der sich hier bemerkbar machte. Als der Kunsthändler<br />

Alfred Flechtheim seine Galeriemitteilungen in den »Querschnitt« umwandelte, nannte er ihn eine<br />

»Zeitschrift für Kunst und Boxsport«. In seinem Kreis galt es als »chic«, in der Körperschule von<br />

Breitensträter zu boxen oder sich dort den Leib wegmassieren zu lassen. De Fiori schuf damals<br />

seinen »Schmeling«, Belling seinen »Neusel« und Renée Sintenis ihren »Nurmi«. Mit seinem<br />

Freund, dem damaligen Schwergewichtsmeister Samson-Körner ging Brecht bei Flechtheim aus<br />

und ein. Gemeinsam mit diesem Boxer begann Brecht ein neues Werk »Die Menschliche Kampfmaschine«<br />

zu schreiben, das indessen nicht vollendet wurde. Als die »Literarische Welt« 1926 ein<br />

lyrisches Preisausschreiben veranstaltete, war Brecht einer der Richter. Er entschied sich für ein<br />

Gedicht seines Freundes Hannes Küpper, das in einer Radsportzeitschrift erschienen war. Es<br />

schilderte die Legende des australischen Sechs-Tage-Fahrers Mac Namara, den man den »Eisernen<br />

Mac« auf dem Heuboden, des Berliner Sportpalastes nannte. Jede Strophe des Gedichtes<br />

schloß bezeichnenderweise mit dem englisch geschriebenen Refrain : »Hé, hé! The Iron Man!«<br />

Bühne und Boxring<br />

Wir wissen heute, daß Brecht seinen Posten als Dramaturg bei Max Reinhardt aufgab, weil ihm die<br />

Plüschatmosphäre eines Theaters für den wohlhabenden Mittelstand nichts mehr zu sagen hatte.<br />

Carl Zuckmayer hat darüber 1948 in Iherings »Theaterstadt Berlin« berichtet. Damals schwebte<br />

Brecht ein »Theater der Raucher und des Schweiß’ « vor. Er wollte von seinem Publikum den<br />

Schauspieler wie einen kämpfenden Sportsmann beurteilt sehen. Ihn zog der Boxring mit seinen<br />

hölzernen Sitzen und seinen grellen, unbarmherzigen Bogenlampen immer wieder an. Im Jahre<br />

1926 schrieb er dann einen Artikel für den Berliner Börsen-Courier, den er »Mehr guten Sport«<br />

(Hinweis, den guten Sportbetrieb aufs Theater anzuwenden) nannte. Diese Gedanken führte er<br />

130


dann im gleichen Jahre in seinem Stück »Mann ist Mann« durch. Sein Regisseur, Jakob Geis, hat<br />

darüber in einem Aufsatz in »Die Szene« berichtet, wie Brecht danach gestrebt hätte, die neutrale,<br />

unbestechliche, glasklare Atmosphäre eines Boxkampfes auf die Bühne zu bringen. Im gleichen<br />

Jahren wurde die Bühne auch wirklich zum Boxring, als Melchior Vischer Brechts Einakter »Die<br />

Hochzeit« in Frankfurt zur Aufführung brachte. Der Regisseur kommentierte danach: »Sport muss<br />

zum Sammelpunkt des Theaters werden, eines neuen Theaters.« Unter dem direkten Einfluss<br />

Brechts schrieb Vischer dann ein Stück »Fußballspieler und Indianer«. Die Analogie des Boxrings<br />

taucht auch noch in der »Dreigroschenoper« auf, wie dies gleichfalls die Inszenierungen des Singspiels<br />

»Mahagonny« und des Lehrstücks »Die Maßnahme« erwiesen haben, wo ganze Szenen<br />

auf einem Podium stattfinden, das durch Seile vom Rest der Bühne abgeteilt war.<br />

Brecht hat seine grundsätzliche Einstellung zum Sport in einem Beitrag »Die Krise des Sports«<br />

niedergelegt, den er 1928 für Willy Meisls Buch »Der Sport am Scheidewege« verfasst hatte. Darin<br />

äußert er sein Misstrauen einem Sport gegenüber, der ihm immer mehr zu einer politischen Bemühung<br />

des deutschen Bürgertums wird, ihn gesellschaftsfähig zu machen. »Das Scheußlichste, was<br />

man sich ausdenken kann, ist Sport als Äquivalent.« Hier liegt die Antwort an alle jene, die aus<br />

dem Sport eine Lebensideologie machen möchten. Brecht weist es als unwürdig ab, im Sport den<br />

Ausgleich für den Geist zu sehen, um dann wörtlich zu schließen: »Ich bin gegen alle Bemühungen,<br />

den Sport zu einem Kulturgut zu machen, schon darum, weil ich weiß, was diese Gesellschaft<br />

mit Kulturgütern alles treibt, und der Sport dazu wirklich zu schade ist. Ich bin für den Sport, weil<br />

und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist.«<br />

Aus: DIE ZEIT, 22.2.1963 Nr. 08<br />

Quellle: http://www.zeit.de/1963/08/b-b-und-der-boxer/komplettansicht (14.11.2012)<br />

131


Ein Gespräch zwischen Wolfgang Heise und Heiner Müller<br />

[...]<br />

HEISE Wie verstehst du »Schrecken«?<br />

MÜLLER Der Augenblick der Wahrheit, wenn im Spiegel das Feindbild auftaucht. Ich habe kürzlich<br />

einen Text von Brecht gelesen, zitiert in einer Beschreibung einer »Fatzer«-Aufführung in Wien:<br />

»Nicht nahe kommen sollten sich die Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollten sie<br />

sich voneinander. Jeder sollte sich von sich selber entfernen, sonst fällt der Schrecken weg, der<br />

zum Erkennen nötig ist.« Das ist, glaube ich, ein sehr zentraler Punkt bei Brecht, und viele seiner<br />

Innovationen oder Techniken lassen sich da subsumieren unter diese Kategorie der Entfernung.<br />

Man sieht ja nur aus der Distanz; wenn man mit dem Auge auf dem Gegenstand liegt, sieht man<br />

ihn nicht. Wer bei sich bleibt, lernt nicht. »Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren,<br />

um ihm Courage zu machen.«<br />

HEISE Das wäre Distanzlosigkeit und Herstellen von Distanz in einem Akt und durch einen Akt,<br />

Zusammenhang von Zerstörung und Produktivität, da steckt die Dialektik drin, die Marx für die<br />

Scham entwickelt hat.<br />

MÜLLER In diesen Zusammenhang gehört der Begriff Furchtzentrum im »Fatzer«-Material. Jetzt<br />

kann man das wieder in Beziehung setzen zu Aristoteles, aber es ist schon eine Dialektisierung,<br />

glaube ich. Es geht grundsätzlich darum, das Furchtzentrum einer Geschichte zu finden, einer<br />

Situation und der Figuren, und dem Publikum das auch zu vermitteln als Furchtzentrum. Nur wenn<br />

es ein Furchtzentrum ist, kann es ein Kraftzentrum werden. Aber wenn man das Furchtzentrum<br />

verschleiert oder zudeckt, kommt man auch nicht an die Energie heran, die daraus zu beziehen ist.<br />

Überwindung von Furcht durch Konfrontation mit Furcht. Und keine Angst wird man los, die man<br />

verdrängt.<br />

HEISE Da wäre Katharsis vielleicht gegenüber Brechts Kritik zu rehabilitieren: aber nicht in einem<br />

nur psychologischen Sinne der Abfuhr, sondern sehr komplexer Aktivitäten, sich von Furcht zu<br />

befreien. Und mir scheint, dass du den Schrecken extremisierst, ihn jedoch – ich denke dabei an<br />

deine Theaterarbeit, aber auch an die Texte – mit Komischem konterst, verfremdest, damit weniger<br />

die Person, mehr die Zuschauerbeziehung wertmäßig organisierst. Das Komische ließe sich als<br />

besiegter Schrecken, komische Form als Form des besiegten oder besser besiegbaren<br />

Schreckens begreifen. Das hängt freilich jeweils vom Gegenstand ab. Ich möchte noch einmal auf<br />

Galilei zurückkommen. Er ist – in unserem Text – am Ende, auf dem Grund. Das scheint analog<br />

der Endsituation des »Fatzer«-Fragments, die zugleich Produktionskrise und Ausweglosigkeit<br />

132


anzeigt. Offensichtlich ist das Fatzer-Problem für Brecht nicht erledigt mit dem Übergang zur<br />

kommunistischen Position, zu den Lehrstücken, zum »Me-ti« etc., es muss auf neuer Ebene immer<br />

wieder angegangen werden ...<br />

MÜLLER Die in »Fatzer« formulierte Endposition ist eigentlich die: Und von heute an und für eine<br />

lange Zeit wird es auf dieser Welt keine Sieger mehr geben, sondern nur noch Besiegte. Das ist<br />

eine Formulierung von 1932. Und das Furchtzentrum, wenn man mal etwas vereinfacht<br />

formulieren will, war die Angst vor dem unauflösbaren Clinch von Revolution und Konterrevolution.<br />

HEISE Das führt auf Gegenwartsprobleme, die wir uns ja nicht ausgesucht haben, ist also<br />

individuell und gesellschaftlich allgemein, auch ein Hintergrundgedanke von »An die<br />

Nachgeborenen«.<br />

MÜLLER Ich lese mal ein in den Sammlungen nicht veröffentlichtes Gedicht dazu vor, das offenbar<br />

keinen Titel hat:<br />

»Und er verglich nicht jene / mit andern / und auch nicht sich mit / einem andern / sondern /<br />

schickte sich an / bedroht / sich rasch zu verwandeln in / unbedrohbaren Staub. / Und alles, was<br />

noch geschah, / vollzog er wie / ausgemachtes, / als erfülle er / einen Vertrag. / Und ausgelöscht /<br />

waren ihm / im Innern die Wünsche. / Jegliche Bewegung / untersagte er sich streng. / Sein<br />

Inneres schrumpfte / ein und verschwand / wie ein leeres Blatt, / entging er allem, / außer der<br />

Beschreibung.«<br />

HEISE Schwer scheint mir hier der Punkt angebbar, wo äußerste, verzweifelte Not nicht in<br />

Schicksalstugend umschlägt.<br />

MÜLLER Ich würde es nicht nur so sehen. Ich glaube, das ist geschrieben ungefähr in der Zeit von<br />

»Fatzer«, auch in der Zeit von dem Gedicht »Fatzer komm«. Und das ist die private Formulierung<br />

dieses »Fatzer komm«. Und was mich interessiert daran, ist der Nullpunkt, den er erreicht hat.<br />

Einfach aus seiner genaueren, pessimistischen Einsicht in den Gang der Dinge. Vor 1933. Er<br />

wusste es besser als die andern. Er wusste, was kommt, besser als die meisten anderen Linken.<br />

Und er hatte auch nicht die Illusion über die kurze Dauer dieser Sache. Und das, meine ich, ist<br />

interessant, weil, von da ab kommt dann die Erfüllung des Vertrags, die Parabelstücke. Also im<br />

Abgeschnittensein von der konkreten Situation in Deutschland, in der Entscheidung für Stalin, nicht<br />

mit Churchill, gegen Hitler.<br />

HEISE Im Gedicht »Fatzer komm« hat Brecht den Nullpunkt objektiv und politisch gefasst.<br />

»Verlass deinen Posten. / Die Siege sind erfochten. Die Niederlagen sind / Erfochten: / Verlass<br />

jetzt deinen Posten.«<br />

133


Und die zweite Strophe heißt: »Tauche wieder unter in die Tiefe, Sieger. / Der Jubel dringt dorthin,<br />

wo das Gefecht war. / Sei nicht mehr dort. / Erwarte das Geschrei der Niederlage dort, wo es am<br />

lautesten ist: / In der Tiefe. / Verlass den alten Posten.« Und die letzte Strophe dieses Gedichts<br />

lautet:<br />

»Der Geschlagene entrinnt nicht / Der Weisheit. / Halte dich fest und sinke! Fürchte dich! Sinke<br />

doch! Auf dem Grunde / Erwartet dich die Lehre. / Zu viel Gefragter / Werde teilhaftig des<br />

unschätzbaren / Unterrichts der Masse: / Beziehe den neuen Posten.«<br />

Der Unterricht der Masse ist natürlich nicht nur ein Unterricht durch Kenntnisnahme der Meinungen<br />

von Massen, sondern auch durch ihr wirkliches Verhalten.<br />

MÜLLER Vor allem auch dadurch, daß er selbst Teil der Masse wird. Zu dieser Strophe hat Walter<br />

Benjamin einen Kommentar geschrieben, der mir wichtig erscheint. »Sinke doch ... Im<br />

Hoffnungslosen soll Fatzer Fuß fassen. Fuß, nicht Hoffnung. Trost hat nichts mit Hoffnung zu<br />

schaffen. Und Trost gibt Brecht ihm: Der Mensch kann im Hoffnungslosen leben, wenn er weiß,<br />

wie er dahin gekommen ist. Dann kann er darin leben, weil sein hoffnungsloses Leben dann<br />

wichtig ist. Zugrunde gehen heißt hier immer: auf den Grund der Dinge gelangen.«<br />

HEISE Diese Einsicht Brechts betrifft ihn selbst mit – vielleicht hat er sie auch beiseite geschoben<br />

– im Festhalten einer Überlegenheits- und Wissenshaltung, als die Erfahrung ihm widersprach.<br />

Das Wörtliche ist zugleich metaphorisch und anwendbar: »Der Geschlagene entrinnt nicht / Der<br />

Weisheit / Halte dich fest und sinke!« Das ist keine Selbstaufgabe, sondern ein Selbstsuchen in<br />

der Extremsituation von Ohnmacht und Fragwürdigwerden des als sicher Gewussten und<br />

Behaupteten. Dies »Fatzer«-Gedicht weist schon auf den Weg des »Me-ti« – und mir scheint, er<br />

beleuchtet auch das Bemühen um den »Büsching«-Stoff.<br />

MÜLLER Etwas verbindet »Galilei« und »Fatzer«. »Fatzer« ist eins der persönlichsten Stücke von<br />

Brecht, von der ganzen Textur her, und »Galilei« ist von den ganzen späten Stücken das einzige<br />

persönliche, wo auch direkt Autobiografisches verarbeitet ist. In den letzten Proben, die er gemacht<br />

hat – und das hatte, finde ich, durchaus auch eine tragische Note –, hat er sich immer mit Busch<br />

gestritten, ihm gesagt: Busch, Sie spielen einen Verbrecher, das ist ein Krimineller, ein Mann, der<br />

die Wahrheit weiß und sie nicht sagt. Und Busch sagte immer: Aber Brecht, das haben Sie nicht<br />

geschrieben. Und Brecht bestand immer darauf: Busch, Sie sind ein Krimineller. Und Busch sagte<br />

immer wieder: Brecht, das haben Sie nicht geschrieben.<br />

Die Wunde im Text erscheint auf dem Theater als Narbe. Da liegt ja auch ein Dilemma von<br />

Theater, das Brecht selbst mal formuliert hat: Dramatik ist immer avancierter als das gleichzeitige<br />

Theater. Weil, um Neuerungen im Theater durchzusetzen oder zu präsentieren, muß man einen<br />

riesigen Apparat bewegen, da ist also viel mehr Materialaufwand als beim Schreiben. Und das<br />

andere Dilemma: Theater hängt auch immer oder lebt in der Spannung zwischen Aktualität und<br />

134


Material, zwischen der politisch-moralischen Intention mit der Eigenbewegung des Materials. Das<br />

ist eben besonders deutlich bei »Galilei«. Ein Punkt, der überhaupt wichtig ist, wenn man über<br />

Brecht redet: dass die politischen Impulse, die der Motor seiner ästhetischen Innovationen sind,<br />

auch als Bremse funktionieren.<br />

HEISE Das hat Brecht selbst gesagt, 1941 notierte er im Arbeitsjournal: »wann wird die zeit<br />

kommen, wo ein realismus möglich ist, wie die dialektik ihn ermöglichen könnte? schon die<br />

darstellung von zuständen als latente, balancen sich zusammenbrauender konflikte stößt heute auf<br />

enorme schwierigkeiten, die zielstrebigkeit des schreibers eliminiert allzu viele tendenzen des zu<br />

beschreibenden zustandes. unaufhörlich müssen wir idealisieren, da wir eben unaufhörlich partei<br />

nehmen und damit propagandieren müssen.« (31. 1. 1941) Mir scheint das objektiv historisch<br />

bedingt zu sein. Welche Wahl hatte er? Darin liegt zugleich ein moralisch-politisches<br />

Verantwortungsbewusstsein, das den Hass auf die Tuis ebenso durchdringt wie sein Verarbeiten<br />

der Erfahrung des 17. Juni - so in den »Buckower Elegien«, besonders: »Böser Morgen«. Da<br />

kommt das Verhältnis von »Erfahrung« und »Urteil« unter andrem Aspekt wieder hoch, mit allem,<br />

was darin liegt: der selbstgesetzte Auftrag, seine gewählte Identität und Rolle in den<br />

Klassenkämpfen der Zeit, die seine Möglichkeiten nicht schlechthin erschöpfte, Unterschiede und<br />

Widersprüche zwischen dem Philosophen, dem Moralisten und dem Poeten, zwischen Gewolltem<br />

und Erreichtem, Erwartetem und Gefundenem ... Von diesem Drama (»viele Männer sind in einem<br />

Mann«) kennen wir ja nur einige Bruchstücke.<br />

in: Theater der Zeit, Jg. 43, Nr. 2 (Februar 1988), S. 22-26<br />

135


Aus einem Gespräch zwischen Heiner Müller und Frank M.<br />

Raddatz<br />

Unsere Zivilisation hat Auschwitz hervorgebracht. Bataille unterscheidet zwischen Zivilisationen<br />

der Verschwendung – er macht das an den indianischen Hochkulturen fest – und der europäischen<br />

Zivilisation der Ökonomie, die allein auf den Nutzen ausgerichtet ist. Ich sehe den Katholizismus<br />

mehr in der Nähe einer Zivilisation der Verschwendung. In einer Zivilisation der Verschwendung<br />

wäre Auschwitz nicht möglich gewesen. Unsere Zivilisation ist eine Zivilisation der Ausgrenzung.<br />

Dass Marx und Engels das Lumpenproletariat aus der revolutionären Bewegung ausgegrenzt<br />

haben, war die Grundlage der stalinistischen Perversion. Jetzt geht es um die Wiedergewinnung<br />

des Lumpenproletariats, um alle, die aus den herrschenden Strukturen herausfallen. Alle Energie<br />

der kapitalistischen Staaten zielt auf die Ausgrenzung und auf das Vergessenmachen der<br />

Ausgegrenzten. Und gegen dieses Vergessen muss man arbeiten. Zu den Ausgegrenzten gehören<br />

alle, die sich nicht mit der hier als Realität gehandelten Wirklichkeit zufriedengeben oder<br />

identifizieren. Das ist das Fatzer-Problem, es ist das Grundthema des Jahrhunderts, und<br />

Auschwitz ist das Modell des Jahrhunderts.<br />

Nach Auschwitz hat das Gute geführt, nicht das Böse. Das Gute will selektieren, also Minderheiten<br />

produzieren. Die sind dann böse und müssen ausgerottet werden.<br />

Die Unterdrückung des Bösen führt nach Auschwitz. Das Gute produziert eine Struktur, die auf<br />

Ausgrenzung und Selektion basiert, daraus entsteht das massenhaft, das institutionell Böse.<br />

Auschwitz fängt damit an, dass man einem Kind auf die Finger haut, wenn es die linke Hand<br />

benutzt, weil es Linkshänder ist, und sagt: die gute Hand.<br />

Es gibt in den herrschenden Strukturen kein rationales Argument gegen Auschwitz. Wenn das<br />

nicht gefunden wird, geht diese Zivilisation unter. Das ist die Grundfrage, und die kann nur<br />

beantwortet werden durch die Mobilisierung der Ränder – nicht nur der sozialen, geographischen,<br />

sondern auch der intellektuellen Ränder.<br />

Wenn die Intellektuellen ins Zentrum drängen, verlieren sie die Kraft zur Veränderung. Sie müssen<br />

am Rand bleiben, am Rand arbeiten. Vom Zentrum aus kann man nichts mehr bewegen. Ins<br />

Zentrum gehören die Beamten. Die Intellektuellen müssen raus aus der Politik. Da verlieren sie<br />

ihre Kraft. Susan Sontag kehrte neulich von einer Konferenz über das Schicksal Osteuropas<br />

zurück und meinte: »Jedesmal, wenn man als Intellektueller an so einer Konferenz teilnimmt,<br />

verliert man ein Stück seiner Unschuld.« Unschuld ist Kraft und gehört zum Rand wie die Naivität<br />

oder der Traum.<br />

136

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