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Gut. - Hessisches Landestheater Marburg

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Naked Short Selling:<br />

Leerverkauf ohne Deckung<br />

von Hansjörg Betschart (*1955)<br />

Uraufführung: 06. November 2011, Black Box<br />

Regie: Hansjörg Betschart<br />

Alles Geld ist fremdes Geld! konstatiert der Schweizer Autor und Regisseur<br />

Hansjörg Betschart in seinem ersten Theaterstück, einer<br />

schwarzen Komödie über die Lebensentwürfe des Mittelstandes und<br />

die Bedeutung von Arbeit und Kapital im 21. Jahrhundert.<br />

Kevin und Frank haben Grund zu feiern: als Fonds-Manager sind sie<br />

das Dream-Team der Börse. Fiona und Susan, ihre Lebenspartnerinnen,<br />

leben in ihren Wunschwelten: Haus, Kinder, Doppelgarage.<br />

Wenn Susan Fiona zum Essen lädt, ist ein kulinarischer<br />

Höhepunkt zu erwarten. Doch ehe<br />

der Abend beginnt, fangen die Dinge an, aus<br />

dem Ruder zu laufen. Kevin erfährt vor dem<br />

Eintreffen der Gäste von einem Kurssturz. Als<br />

Frank nicht zum Essen auftaucht, ahnt Kevin,<br />

was das bedeutet.<br />

Theater ist ein Erfindungsfeld für<br />

Verabredungen<br />

Alexander Leiffheidt im Gespräch mit dem Regisseur Hansjörg<br />

Betschart<br />

Leiffheidt: Herr Betschart, Sie sind gebürtiger Basler, haben in<br />

Schweden gelebt und gearbeitet, außerdem waren Sie in Österreich,<br />

in Mexiko und Kirgisistan tätig. Treibt Sie als Regisseur die Neugierde<br />

auf fremde Theaterwelten?<br />

Betschart: Ich bin ungern Tourist. Aber ich reise sehr gerne. Ich sehe<br />

die Dinge nur ungerne mit dem Fotoapparat in der Hand. Ich lerne andere<br />

Welten gerne in der Arbeit kennen. Beim Arbeiten sind die Masken<br />

der Menschen am durchscheinendsten. Außerdem haben Theatermenschen<br />

eine wahrhaft globale Sprache: Sie ist nicht nur dem<br />

Wort verpflichtet. Theaterleute suchen nach den Dingen, die hinter<br />

den Sprachhülsen stecken. Das macht andere Länder zu wortwörtlichen<br />

Abenteuern. So ein Land muss gar nicht weit weg liegen.<br />

Leiffheidt: In Ihrer <strong>Marburg</strong>er Inszenierung von Erdmanns »Der<br />

Selbstmörder« im letzten Jahr haben Sie besonderen Wert auf soziale<br />

Aspekte gelegt. Jetzt haben Sie ein Stück über den Börsencrash<br />

geschrieben. Ist das auch eine ›andere Welt‹? Eigentlich liegen uns<br />

doch Ereignisse wie die Wirtschaftskrise sehr nahe.<br />

Betschart: Richtig. Wobei es nicht um einen Crash geht. Es geht<br />

um den Alltag von Spielern. Es ist eine ganz und gar abgeschottete<br />

Sozialform, die da mitten unter uns sprießt. Sie basiert auf der<br />

Verabredung der Wette. Man sollte also glauben, man erkennt diese<br />

Welt auch vor der eigenen Haustüre sofort. Trotzdem bleibt sie fern:<br />

Wenn Sie ein Drittel ihres Einkommens in der Schweiz jeden Monat<br />

an Rente und für Zinstilgungen via Steuern abgeben, denken Sie, wie<br />

18<br />

ich, wohl selten daran, dass Sie damit eine Art Schneeballsystem<br />

finanzieren. Mich hat letzthin ein Banker gefragt, ob er das Geld, das<br />

er dem Staat gibt, damit der es den Banken (billig) ausleiht, die es<br />

dem Staat (teurer) leihen müssen, damit der Staat seine Vorhaben<br />

auf Pump finanzieren kann, ob er also dieses Geld nicht lieber gleich<br />

einer Bank schenken solle, damit er es von den Steuern abziehen<br />

könne. Wir haben eine Form von Geldkreislauf erreicht, der jener vor<br />

der französischen Revolution verteufelt ähnelt:<br />

Niemand von den großen Schuldnern<br />

denkt wirklich daran, dass all die Schulden<br />

eines Tages zurückgezahlt werden. Oder glauben<br />

Sie die BRD würde je die 9 Billionen tilgen,<br />

die sie den Banken schuldet, die sie immer<br />

wieder rettet? Aber wir zahlen weiter.<br />

Leiffheidt: Die Welt des Finanzkapitals ist aus<br />

dieser Sicht kaum weniger imaginär als die<br />

des Theaters. Trotzdem spürt man in Ihren<br />

Arbeiten häufig ein Bedürfnis, zu einem ›Realen‹ durchzustoßen, es<br />

in irgendeiner Form zu artikulieren. Auch in ihrem Roman »Unruh«<br />

haben sie historische Fakten verarbeitet.<br />

Betschart: Es sind vielleicht weniger die Fakten. Eher die Verabredungen,<br />

die mich interessieren. Die Realität ist eine mächtige Ansammlung<br />

von Verabredungen. Wir halten uns an Verabredungen, z.B.<br />

in der Sprache: Dengi bedeutet bei uns nicht Geld, in Russland aber<br />

schon. Die Arbeitswelt hat in Bezug auf Geld ebenso Verabredungen,<br />

die wohl hauptsächlich deshalb bestehen, weil sich Menschen daran<br />

halten. Ist das dann Realität? Oder sind es bloß Verabredungen, die<br />

nicht mehr hinterfragt werden? Ein CEO, der für eine Stunde Arbeit<br />

40 000 Euro verdient, an welche Verabredung hält er sich? Im Theater<br />

sind wir dauernd auf der Suche nach Verabredungen: Theater ist<br />

ein Erfindungsfeld für Verabredungen. Das macht es so realitätsnah:<br />

Es ist ein Grenzgebiet. Im vorrevolutionären Paris haben die Bürger<br />

den Darsteller des Theater-Gessler verprügelt, weil sie die Grenzen<br />

zur Realität nicht mehr zulassen konnten. Heute werden Schauspieler<br />

ausgebuht, wenn sie von Goethe nur die Konsonanten aussprechen.<br />

Realität ist immer wieder in die Theater eingedrungen, oder<br />

aus ihnen verdrängt worden.<br />

Leiffheidt: Und beides kann zu interessanten und stimulierenden<br />

Theatererlebnissen führen. Worauf können sich die Zuschauer von<br />

»Naked Short Selling« einstellen?<br />

Betschart: Wenn ich das wüsste, würde ich die Reise nicht unternehmen.<br />

Aber ich freue mich sehr auf die Arbeit und auf das Publikum.<br />

Immerhin: Ich reise nicht immer an Orte, wo ich schon einmal war.<br />

Die Hörtheatrale:<br />

Bram Stokers »Dracula«<br />

Ein Hörtheaterstück nach dem gleichnamigen Vampirroman von<br />

Abraham »Bram« Stoker (1847–1912)<br />

Koproduktion: Herbst 2011, Black Box<br />

Künstlerische Leitung: Daniel Sempf<br />

Die Kanzlei Hawkins in Exeter schickt den aufstrebenden Anwaltsgehilfen<br />

Jonathan Harker nach Transsilvanien. Er ist mit der Aufgabe<br />

betraut worden, Immobiliengeschäfte mit Graf Dracula, Fürst einer<br />

alteingesessenen Adelsfamilie, auf dessen Anwesen abzuwickeln.<br />

Der Graf hat die Absicht, sich in London niederzulassen, um auf seine<br />

alten Tage die neue Welt in sich aufzunehmen. Auf der langen Reise<br />

in die Karpaten ereignen sich sonderbare Vorfälle,<br />

die sich Harker nur schwer zu erklären weiß. Seine<br />

Reisegefährten scheinen übertrieben ängstlich, als<br />

sie von Harkers Reiseziel erfahren. Alsbald überkommen<br />

ihn dunkle Vorahnungen. Graf Dracula empfängt<br />

ihn mit einem Nachtmahl, an dem er selbst nicht<br />

teilnimmt. Merkwürdig ist auch, dass sich bei Tage<br />

niemand im Schloss aufzuhalten scheint. Als Harker<br />

die Rückreise antreten will, findet er alle Türen verschlossen.<br />

Er muss erkennen, dass er im Schloss<br />

gefangen ist. Das wahre Grauen jedoch beginnt, als<br />

Harker die Flucht gelingt. In London angekommen,<br />

wird er gewahr, dass sein unheimlicher Gastgeber dort bereits sein<br />

Unwesen treibt.<br />

Abraham »Bram« Stoker, 1847 geboren, arbeitete zunächst bei der<br />

Dubliner Justizverwaltung. 1876 verlässt er Irland und wird Manager<br />

von Sir Henry Irving, mit dem er ab 1878 das »Lyceum Theatre« leitet.<br />

Mit dem nach 1890 als Brief- und Tagebuchroman verfassten »Dracula«<br />

gelingt Stoker schließlich der Durchbruch. Heute gilt »Dracula«<br />

als Wegbereiter für den Vampirroman und steht literarhistorisch zugleich<br />

am Ende einer Reihe von Vampirgeschichten, die im 19. Jahr -<br />

hundert einen beliebten Topos der Literatur bildeten. Den Quellen<br />

zufolge dienten Vlad Tepes, ein für Pfählungen bekannter Fürst aus<br />

der rumänischen Walachei mit Beinamen Dracula, und J.S. LeFanus’<br />

»Carmilla« (1872) Stoker als Vorlagen für seinen Roman.<br />

Die Hörtheatrale<br />

Hinter der Hörtheatrale, 2009 in <strong>Marburg</strong> gegründet, verbergen sich<br />

vier Schauspieler, die ganz auf die Kraft der Stimme vertrauen. Lediglich<br />

vier Notenpulte, vier Mikrophone, vier Textbücher und eine<br />

komplexe Soundinstallation sind Grundlage für ihr Hörtheater. Nach<br />

drei erfolgreichen Premieren kehrt die Hörtheatrale nun mit ihrem<br />

neuen Programm, in Koproduktion mit dem Hessischen <strong>Landestheater</strong><br />

<strong>Marburg</strong>, zurück in die Black Box.<br />

Die Regeln der Lebenskunst in der<br />

modernen Gesellschaft<br />

von Jean-Luc Lagarce (1957–1995)<br />

Deutsch von Isabelle Menke<br />

Premiere: 10. Dezember 2011, Black Box<br />

Regie: Alexander Leiffheidt<br />

Bei der Kunst des Lebens ist der Mensch sowohl der Künstler als auch der<br />

Gegenstand seiner Kunst. Er ist der Bildhauer und der Stein, der Arzt und der<br />

Patient. (Erich Fromm)<br />

Es ist normalerweise nicht besonders kompliziert, geboren zu werden.<br />

Zu sterben, nichts einfacher als das. Auch zwischen diesen<br />

beiden Ereignissen zu leben, stellt keine besondere<br />

Herausforderung dar. Man muss nur die Regeln befolgen<br />

und die Prinzipien der Gesellschaft annehmen,<br />

und schon geht es wie von selbst. Kaum ist<br />

der Mensch auf der Welt, wird bestimmt, kontrolliert,<br />

gedroht, werden einzig richtige Verhaltensnormen<br />

vorgegeben und bei Nichtbeachtung derselben die<br />

Konsequenzen gezogen.<br />

Wer aber seine Gefühle kontrolliert und z.B. nur dann<br />

weint, wenn es gesellschaftlich im Rahmen bleibt,<br />

also bei einer Beerdigung etwa oder einer Hochzeit,<br />

der hat keine Schwierigkeiten und kann glücklich bis<br />

an sein Ende leben, bis er dann vorschriftsmäßig ›entsorgt‹ wird.<br />

Aber ist das noch Leben? Wie ist Individualität, wie ist Freiheit möglich<br />

in einem sozialen System, das aus Angst vor Unordnung und<br />

Chaos alles regelt und bestimmt?<br />

In diesem 1994 entstandenen Text stellt Lagarce mit faszinierender<br />

Konsequenz die Frage, inwieweit Konventionen, die »Regeln der<br />

Lebenskunst«, die das Leben von der Wiege bis zur Bahre in eine<br />

überschaubare Form bringen, mehr sein können als eine Form Über-<br />

Ich-gesteuerter Maßregelungen.<br />

Autor<br />

Jean-Luc Lagarce wurde 1957 in<br />

der Region Haute-Saône geboren.<br />

Nach dem Abitur beginnt er<br />

an der Universität von Besançon<br />

mit dem Studium der Philosophie.<br />

Parallel zu seinem Universitätsstudium<br />

ist er Schauspielschüler<br />

am Conservatoire<br />

National de Région und gründet<br />

die Amateurtheatergruppe<br />

»Théâtre de la Roulotte«. Er<br />

beginnt zu inszenieren und eigene<br />

Stücke zu schreiben. 1980<br />

schließt er das Philosophiestudium<br />

ab. Er widmet sich nun<br />

ganz dem Schreiben und seiner<br />

Theatertruppe, die inzwischen<br />

professionell arbeitet. Zwei<br />

Wochen nach der Fertigstellung<br />

seines letzten Textes »Le pays<br />

lointain« (Das ferne Land) stirbt<br />

Jean-Luc Lagarce mit nur 38<br />

Jahren an Aids.<br />

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