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Gut. - Hessisches Landestheater Marburg

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Dantons Tod<br />

von Georg Büchner (1813–1837)<br />

Premiere: 24. September 2011, Fürstensaal<br />

Regie: Veit Kassel<br />

Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muss gefallen? – Wer hat das<br />

Muss gesprochen, wer? Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?<br />

(Danton)<br />

Das Leiden unter der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit und die Lust<br />

am privaten Lebensgenuss, der Wunsch nach Weltveränderung und<br />

das Erkennen der eigenen Handlungsunfähigkeit stehen sich unvereinbar<br />

gegenüber. Zeitunabhängig bleiben die Fragen:<br />

Wie viel Freiheit erlaubt das allgemeine Glück? Wie<br />

viel Gewalt fordert die Gerechtigkeit? Wie lässt sich<br />

die entfesselte Bestie des Terrors wieder einfangen?<br />

Fünf Jahre sind vergangen seit dem Sturm auf die Bastille.<br />

George Danton und Maximilien de Robespierre,<br />

einst Brüder im Geiste und Väter der Französischen<br />

Revolution, sind zu Erzfeinden geworden. Robespierre<br />

gibt dem revolutionären Sieg ohne blutigen Terror keine<br />

Chance. Danton fordert Menschlichkeit statt Strafe,<br />

Wohlergehen statt Tugend. Er verabscheut die Gewalt. Sein Verhältnis<br />

zur Revolution, zur Welt hat sich verändert. Nicht länger will er,<br />

wie Robespierre, die eigenen Interessen dem Kampf opfern. Er will<br />

genießen. Er, der das Leben bejaht, setzt es damit aufs Spiel. Die<br />

Widersacher werden über die Gegensätzlichkeit ihrer Haltungen definiert:<br />

Robespierre, der Fundamentalist, Danton, der Humanist. Die<br />

Sympathie gilt meist dem letzteren. Und doch ist es Danton, der aus<br />

einem tiefen fatalistischen Empfinden des Überdrusses seine Ideale<br />

preisgibt, der aus Frustration über die menschliche Natur aufhört zu<br />

kämpfen.<br />

Schiller und Büchner in den elysäischen Gefilden<br />

von Georg Maurer<br />

Büchner: Können Sie nur in Kreisen denken? Der Mensch wird von<br />

den Umständen gejagt – und das nennt er sein Vorwärts, immer gejagt<br />

– und so meint er, immer vorn zu stehen, an der Spitze, die Meute<br />

zu führen, die ihn hetzt – und hat sie ihn, so sagt er: Jetzt steh ich<br />

im Mittelpunkt. Und zerfleischt sie ihn, so sagt der Idealist: Seht, das ist<br />

mein Freitod. Und es ist doch Käse.<br />

Schiller: Sie sagen, die Umstände machen den Menschen. Und ich<br />

sage, der Mensch macht die Umstände. Und dann antworten Sie: Die<br />

Umstände machen sich den Spaß, den Menschen glauben zu machen,<br />

dass er die Umstände macht. Warum wollen wir nicht die Heiterkeit<br />

in dieser tristen Natur sein. Wie aber, wenn das eben der Spaß<br />

wäre, dass die Natur, deren Kinder wir sind, es uns überlassen hätte,<br />

unsere Bestimmung selbst auszuführen, solange wir einigermaßen<br />

14<br />

gesund und bei Verstand sind?<br />

Büchner: Aus Spaß baut man Luftschlösser, aber aus Not stürmt<br />

man die irdischen Schlösser.<br />

Schiller: Und wenn sie gestürmt sind, was dann?<br />

Büchner: Was weiß ich? Aber wenn das Volk sich satt essen kann,<br />

wird es anders denken, als Sie denken, lieber Schiller. Das weiß ich.<br />

Denn Ihre Gedanken sind nichts als Bewusstseinsfieber, sind der Freiheits(t)raum<br />

eines auf Stroh und an Ketten Liegenden.<br />

Schiller: Das Volk hat nicht zum erstenmal und nicht zum<br />

letztenmal Schlösser gestürmt.<br />

Büchner: Gewiß! Aber das ist kein Grund, den Würgern<br />

nicht immer wieder an die Kehle zu springen. Da wiegle<br />

ich auf, da treib ich, getrieben im ewigen Treiben.<br />

Schiller: […] Rasen kann auch das Tier an den Gitterstäben,<br />

und es wird vielleicht die Freiheit seiner Natur gewinnen.<br />

Aber das ist nicht die Freiheit des Menschen. Die ist<br />

nie und nimmer in der Asche der Paläste zu finden. Denn<br />

in der glühenden Asche werden die neuen Eisenstäbe gehärtet. Erst<br />

wenn der Mensch empfindet, dass die Gewalt der Natur in ihm ein<br />

Ende findet, fängt seine Gewalt an, die über alle Natur ist.<br />

Büchner: In ihren Gedanken, lieber Schiller, nicht in der Wirklichkeit.<br />

Schiller: Mein Gedanke ist der Gedanke meiner Wirklichkeit. Und<br />

durch meine Gedanken habe ich sie an der Hand. Was die Hand tut,<br />

muss sie mit Verstand tun, sonst ist sie ein Nichts gegen die Löwentatze.<br />

Was ich denke, denkt die Menschheit in mir.<br />

Büchner: Und darüber schwebt ihr Popanz Mensch, verächtlich über<br />

dem verzweifelten Rasen des Volkes.<br />

Schiller: Wenn Ihnen mein idealistischer Mensch zu abstrakt ist, so<br />

sehen Sie zu, wie Sie Ihren konkreten Menschen durch die Zeiten<br />

bringen, ohne dass er an sich irre wird, wenn er heute dies und morgen<br />

das Gegenteil davon tun muss, weil es die Verhältnisse so wollen.<br />

in: Dietmar Goltschnigg (Hg): Georg Büchner und die Moderne: Texte,<br />

Analysen, Kommentare, Berlin 2002<br />

Regie<br />

Veit Kassel wurde 1982 geboren<br />

und studierte an der Hochschule<br />

für Musik und Darstellende<br />

Kunst Frankfurt am Main Regie.<br />

In der vergangenen Spielzeit<br />

inszenierte er das »Theater der<br />

Finsternis: Der Sturm« am Hessischen<br />

<strong>Landestheater</strong> <strong>Marburg</strong>.<br />

enter exit re-enter Lear –<br />

Eine Multimediaperformance<br />

von Luise Voigt (*1985)<br />

Koproduktion mit dem Institut für Angewandte Theaterwissenschaft<br />

Gießen<br />

<strong>Marburg</strong>-Premiere: 08. Oktober 2011, Black Box<br />

Regie: Luise Voigt<br />

Shakespeares vielleicht dunkelste Tragödie erzählt die Geschichte<br />

eines Zerfalls. Der König, den wir in der ersten Szene des ersten Akts<br />

noch im Vollbesitz seiner geistigen, weltlichen und sprachlichen<br />

Macht erleben, verwandelt sich nur wenige Momente später in ein<br />

Paradox: ein Herrscher, der keiner mehr ist, und sich erst dadurch<br />

als dramatische Figur konstituiert. King Lear tritt seine Macht an die<br />

undankbaren Töchter ab. In der Folge verliert er Gefolgschaft, Befehlsgewalt,<br />

alle Güter, Vernunft und schließlich<br />

das Leben.<br />

Diesen Moment der Entäußerung macht die<br />

junge Theater- und Performancekünstlerin Luise<br />

Voigt mit ihrer Gruppe zum Ausgangspunkt<br />

einer Untersuchung über die Zusammenhänge<br />

zwischen Körper, Macht und Repräsentation.<br />

Der König hat einen gekrönten und einen ungekrönten<br />

Körper, der Schauspieler den Figurenkörper<br />

und seinen privaten Körper, der wiederum<br />

den Figurenkörper repräsentiert. Was aber tritt zu Tage, wenn<br />

diese Repräsentation fehlschlägt ? Wenn der Herrscher fällt – wenn<br />

dem König, bzw. dem Schauspieler, seine Souveränität gegenüber<br />

dem Publikum entrissen wird?<br />

Aus dem Zusammenspiel oder Gegeneinander-Ausspielen von repräsentierendem<br />

und privatem Körper erwächst die Frage nach den<br />

ethischen, juristischen und dispositiven Konsequenzen ihrer Spaltung.<br />

Ist beispielsweise der im Kleid seines Amtes Mordende identifizierbar<br />

mit dem liebevollen Familienvater nach Feierabend? Und<br />

ist der für seine Straftaten verurteilte Körper überhaupt jener, der<br />

geherrscht hat? Von solchen Fragen angeleitet, hat die aus Klang-,<br />

Video- und Performancekünstlern bestehende Gruppe Gießener<br />

Theatermacher eine Multimediaperformance entwickelt, die den Fall<br />

König Lears nachzeichnet und dabei das Scheitern der theatralen<br />

Repräsentation selbst mitprovoziert.<br />

Der Körper – oder der Leichnam – ist mit dem König, aber der König ist nicht<br />

mit dem Körper. Der König ist ein Ding. (Derrida/Shakespeare)<br />

Tagebuch eines Wahnsinnigen<br />

von Nikolaj Gogol (1809–1852)<br />

Deutsch von Kay Borowsky<br />

Gastspiel mit Samuel Finzi<br />

<strong>Marburg</strong>-Premiere: Herbst 2011, Bühne<br />

Regie: Hanna Rudolph<br />

Titularrat ist der Herr Poprischtschin, und zwar im Staatsministerium.<br />

Das klingt großartig, ist es aber leider nicht. Tagein, tagaus spitzt er<br />

dem Herrn Direktor die Bleistifte und schreibt mit großen Buchstaben<br />

Titel, Datum und Nummer auf die Aktendeckel; darin erschöpft<br />

sich auch schon die Arbeitsroutine. Bis er eines Tages die bildhübsche<br />

Tochter des Direktors einer Kutsche entsteigen sieht. Von nun<br />

an ist er unsterblich verliebt. Aber was tun? Keinen Heller hat er in<br />

der Tasche, der Herr Poprischtschin, und wohnt<br />

im fünften Stock. Da stehen die Heiratschancen<br />

schlecht. Wie gut, dass er schon bald darauf<br />

einige wundersame Entdeckungen macht:<br />

Plötzlich kann er die Sprache des kleinen<br />

Hündchens der Direktorentochter verstehen.<br />

Die Erde will sich auf den Mond setzen, aber<br />

was macht das schon. Und außerdem, was<br />

heißt da Titularrat? Ist er nicht Ferdinand VIII.,<br />

König von Spanien?<br />

Nikolaj Gogols satirische Erzählung »Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen«<br />

erschien 1839, zu einer Zeit, in der sich der ukrainische<br />

Schriftsteller auf dem Höhepunkt seines Erfolges befand. Das<br />

Schicksal eines niederen Beamten, der seine Träume von Aufstieg<br />

und Glück entschwinden sieht und sich in eine Wahnwelt flüchtet,<br />

konnte ihr Verfasser allerdings am eigenen Leibe nachempfinden;<br />

auch Gogol musste sich in seinen frühen Petersburger Jahren auf<br />

der niedrigsten Stufe der Beamtenhierarchie durchschlagen. Was<br />

geschieht mit einem Menschen, der seine Hoffnungen verliert? In<br />

dieser Produktion des Deutschen Theaters Berlin erleben wir den<br />

vielfach preisgekrönten Film- und Theaterschauspieler Samuel Finzi<br />

als einen Wahnsinnigen, der auf den Trümmern des Traums von der<br />

<strong>Gut</strong>bürgerlichkeit tanzt.<br />

Meine Herren, retten wir den Mond! Die Erde will sich auf ihn setzen.<br />

(Poprischtschin)<br />

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