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Armutsbericht 2006 - bei der Arbeitnehmerkammer Bremen

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98 Wenn die Träume aufhören<br />

freitags um acht zur Arztpraxis. ›Dann muss<br />

ich schnell schlafen gehen, und da wird es<br />

problematisch: Ich kann nicht mehr richtig<br />

abschalten.‹ Vier, fünf Stunden Schlaf<br />

bekommt sie <strong>der</strong>zeit pro Nacht. Neulich hat<br />

sie einen Patienten auf <strong>der</strong> Toilette vergessen.<br />

Das ist ihr bisher noch nicht passiert. Sie<br />

wun<strong>der</strong>t sich nicht.<br />

›Ich sage nicht: Ich armes Hascherl‹<br />

Mit ihren Putzjobs verdient Tanja Schwarz<br />

etwa 500 bis 600 Euro zusätzlich. Reichen tut<br />

es nicht. Denn sie hat Schulden. So um die<br />

15.000 Euro, schätzt sie. Nicht mehr von<br />

früher, son<strong>der</strong>n angehäuft seit ihrem Neuanfang<br />

mit Annette nach <strong>der</strong> Scheidung. Möbel<br />

müssen her, das Kind braucht Kleidung. ›Für<br />

mich selbst kann ich gut verzichten‹, sagt<br />

die Mutter, ›aber <strong>bei</strong> meiner Tochter wird es<br />

schwer.‹ Und sie will ihrem Ex-Mann nicht die<br />

Genugtuung gönnen, das gemeinsame Kind<br />

nicht bestens versorgen zu können. Sie kauft<br />

ihrer Tochter Markenklamotten, ›weil Mama<br />

nicht wollte, dass ich rumlaufe wie Pumuckl‹,<br />

sagt Annette. Und in ihrer reifen Art sagt sie,<br />

mit den Markensachen habe sie längst abgeschlossen.<br />

Wer kein Geld hat, <strong>der</strong> geht nicht shoppen,<br />

son<strong>der</strong>n kauft aus dem Katalog. Denn da kann<br />

man in Raten zahlen. Das ist unterm Strich<br />

teurer, aber für den Moment nicht an<strong>der</strong>s<br />

machbar. Ab und an hat Tanja Schwarz auch<br />

mal über die Stränge geschlagen. Aus Frust,<br />

weil nichts drin ist. Also warum dann nicht auf<br />

die Pauke hauen. ›Ich zahl ja meine Raten‹, so<br />

habe sie sich eine Rechtfertigung zurechtgelegt.<br />

Dass <strong>der</strong> Schuldenberg dahinter immer<br />

größer wurde, ›dass wollte ich nicht wahrhaben.‹<br />

Tanja Schwarz nimmt sich nicht in<br />

Schutz: ›Zu meiner Situation habe ich meinen<br />

Teil <strong>bei</strong>getragen. Ich sitze nicht hier und sage:<br />

Ich armes Hascherl. Das bin ich nicht.‹<br />

Vor etwas mehr als einem Jahr dann, da<br />

will Tanja Schwarz ihre Situation in den Griff<br />

kriegen. ›Ar<strong>bei</strong>ten kann ich‹, sagt sie, ›ich hab<br />

sie immer alle in die Ecke gewuppt.‹ Also<br />

habe sie sich gedacht: ›Da klotzt du mal ein<br />

Jahr richtig ran und dann geht es wie<strong>der</strong>.‹<br />

Dann wären die Schulden halbwegs bezahlt.<br />

Und dann – dann passiert das, was das<br />

Hamsterrad abrupt zum Stehen bringt. Tanja<br />

Schwarz erkrankt an Krebs. Es überrascht sie<br />

nicht. Krebs ist häufig in ihrer Familie, sie<br />

weiß um ihre Vorbelastung. ›Es war für mich<br />

nie eine Frage, ob ich es kriege, es war für<br />

mich immer nur eine Frage <strong>der</strong> Zeit.‹ Leben<br />

ist das, was dazwischen kommt, wenn man<br />

gerade an<strong>der</strong>e Pläne hat, soll John Lennon<br />

mal gesagt haben.<br />

Taschengeld ist nicht drin<br />

Ein ganzes Jahr fällt Tanja Schwarz aus.<br />

Mit Krankengeld und dem Putzjob in <strong>der</strong> Arztpraxis,<br />

den nun Tochter Annette allabendlich<br />

erledigt, damit sie die Stelle nicht verlieren,<br />

kommen sie kaum über die Runden. Dass eine<br />

Restschuldversicherung die Kredittilgung übernommen<br />

hätte, hat Tanja Schwarz erst vor<br />

kurzem erfahren. Sie hat eine solche Versicherung.<br />

Dass die in ihrer Situation greift, hat<br />

Tanja Schwarz damals niemand gesagt.<br />

Also zahlt sie während ihrer Krankheit weiter<br />

Kreditraten. Sie kann sich darum nicht an<strong>der</strong>s<br />

kümmern, sie hat an<strong>der</strong>e Sorgen: ihr Leben.<br />

›Während <strong>der</strong> Chemotherapie habe ich gerne<br />

gebadet. Man kann sich nicht vorstellen,<br />

was für eine Entspannung so ein Bad bringen<br />

kann.‹ Vier- bis fünfmal am Tag steigt die<br />

Schwerkranke in die Wanne. Weil sie den<br />

ganzen Tag zu Hause ist, die Chemo sie<br />

zudem extrem empfindlich gegen Kälte macht,<br />

steigt <strong>der</strong> Energieverbrauch. Dazu noch die<br />

Preiserhöhung: 700 Euro Nachzahlung,<br />

die Stromkosten steigen in jenen Monaten um<br />

200 Euro. ›Da weißte Bescheid‹, sagt Tanja<br />

Schwarz.<br />

Was ist Luxus in einer solchen Situation?<br />

Ganz früher war schon ein Joghurt Luxus,<br />

Chips, Pudding, etwas mehr als das tägliche<br />

bisschen Brot, Margarine, ›Auflage‹. Luxus<br />

heute, sagt Tanja Schwarz, ist ›mal essen<br />

gehen, ein Parfum, eine schöne Bodylotion,<br />

mal <strong>der</strong> gute Granini-Saft statt <strong>der</strong> vom Lidl.‹<br />

Taschengeld kann sie ihrer Tochter nicht<br />

geben. Wenn Annette etwas braucht, dann<br />

bekommt sie es – wenn Geld dafür da ist.<br />

Wenn nicht, dann nicht.

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