Armutsbericht 2006 - bei der Arbeitnehmerkammer Bremen

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freien Entscheidung der Hilfebedürftigen, ob sie Angebote oder Hilfen zur Arbeit annehmen oder nicht. Weigerungen der Hilfebedürftigen werden seit eh und je mit Sanktionen geahndet; sie sind im Rahmen der Hartz-IV-Gesetzgebung sogar noch verschärft worden. Hart(z)e Zeiten für Frauen Viele Frauen leiden unter unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Sie werden häufig schlechter bezahlt und haben oft schlecht bezahlte Teilzeitjobs und geringfügige Teilzeitarbeitsverhältnisse. Insbesondere in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen sind mehrheitlich Frauen beschäftigt. Ihr Armutsrisiko erhöht sich mit der Lage, in der sich der Erwerbshaushalt befindet: Haushalte von Alleinerziehenden – mehrheitlich Frauen – und ihre Kinder sind besonders betroffen. Immer mehr Frauen werden in eine Rolle als Zuverdienerinnen gedrängt, da ein existenzsicherndes Einkommen nicht erzielt werden kann. Sie werden von abgesicherten Arbeitsplätzen verdrängt und auf prekäre Arbeitsverhältnisse wie Mini-Jobs abgeschoben beziehungsweise fallen ganz aus den Leistungsansprüchen heraus. Denn, lebt Frau in einer Bedarfsgemeinschaft, fallen leicht Ansprüche weg und sie verschwinden aus der Arbeitslosenstatistik. Viele haben damit keinen Zugang mehr zu arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Die Hartz-IV-Gesetzgebung ging von einem konservativen frauen- und familienpolitischen Bild aus und hat die Ungleichheit weiter verfestigt. Es ist paradox: In der Bedarfsgemeinschaft mit erwerbstätigem Partner bewirkt die Arbeitslosigkeit der Frau keine eigenen Ansprüche – das Ernährerverhältnis gilt als zumutbar. Besteht Arbeitslosigkeit, ist die Erwerbstätigkeit Pflicht. Der Niedriglohnsektor wächst rasch ... Die Penetranz, mit der dennoch und beständig aufs Neue der Verdacht platziert wird, Alg-II- Leistungsempfänger/innen drückten sich schlicht vor der Arbeitsaufnahme, erfüllt denn auch eine andere, ideologische Funktion. Er lenkt davon ab, dass die Etablierung und Ausweitung des Niedriglohnsektors bei weitem nicht das Arbeitsplatzwachstum erbracht hat, das die Politik sich erhoffte und das ihr von wissenschaftlichen Sachverständigen und Arbeitgeberseite in Aussicht gestellt wurde. Seit Mitte der 90er Jahre wächst der Niedriglohnsektor rasch. Niedriglöhne bei Vollzeitjobs gibt es vor allem im Dienstleistungsbereich, in der Gastronomie, in privaten Haushalten und im Einzelhandel oder auch in der Landwirtschaft. Der Trend auch in der Unterweserregion ist deutlich: Immer mehr sozialversicherungspflichtige werden umgewandelt in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. In den Mini-Jobs wird der Wegfall der Arbeitnehmerbeiträge genutzt, um Lohnabschläge zu rechtfertigen. Aus dem über Steuerzahler und Sozialversicherungen finanzierten Abgabenvorteil für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird wie durch Zauberei ein Lohnkostenvorteil für den Arbeitgeber. Die Folgen sind verheerend: sinkende Löhne und Lohn- und Sozialdumping, weniger Geld für die Sozialkasse, weniger Absicherung durch sozialversicherungsrechtliche Ansprüche. Einher gehen Niedriglöhne häufig mit prekären Beschäftigungsverhältnissen und betreffen Leiharbeit, befristete Beschäftigungen und auch schlecht bezahlte Teilzeitarbeitsverhältnisse. Prekäre Beschäftigung bedeutet ein geringes, den Unterhalt nicht sicherndes Einkommen, Einschränkungen bei den sozialen Rechten und unsichere Zukunftsperspektiven. Immer häufiger wird prekäre Arbeit zum Dauerzustand. Es ist also schlicht nicht so, dass in der deutschen Volkswirtschaft schlagartig Millionen von Arbeitsplätzen entstanden, nachdem mit dem SGB II eine neue, einheitliche Grundlage geschaffen war, durch die prinzipiell jedes nicht bedarfsdeckende Einkommen durch staatliche Leistungen aufgestockt werden kann. Anders ausgedrückt: Dieses Generalangebot an die deutsche Wirtschaft zur Einrichtung eines Niedriglohn-Sektors ist zwar nicht folgenlos geblieben, denn es hat tatsächlich zu einer deutlichen Senkung des gesellschaftlichen Lohn- und Gehaltsniveaus geführt, aber – auch durch den neuen Sektor konnte die seit nahezu drei Dekaden bestehende strukturelle Massenarbeitslosigkeit nicht nachhaltig und signifikant gesenkt werden. Man kann diese Entwicklung durchaus als Indiz dafür nehmen, dass die Auffassung, am 13

14 Prekäre Beschäftigung Niveau der Löhne und Gehälter entscheide sich in einem absoluten Sinne, ob es zur Einrichtung zusätzlicher Arbeitsplätze komme, längst fragwürdig geworden ist. Weite Teile der deutschen Wirtschaft sehen – trotz anders lautender Aussagen – offenbar keine Möglichkeit, das Arbeitsplatzvolumen zu rentablen Konditionen drastisch auszuweiten und zwar auch dann nicht, wenn Löhne und Gehälter nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zur Höhe der Lebenshaltungskosten stehen. Die größtenteils selbsternannten wissenschaftlichen Berater/innen der Politik stören sich an diesen Einwänden gegen den Niedriglohnsektor nicht. Unverdrossen propagieren insbesondere die Anhänger der neoklassischen Ökonomie, dass durch das neue Bedarfsniveau im SGB II ein ›Anspruchslohn‹ vorgegeben sei, der den niedrigeren ›Produktivitätslöhnen‹ der Wirtschaft im Wege stehe. Radikalisiert wird hier also der durch und durch falsche Gedanke, die faktische Höhe der staatlichen Hilfeleistungen führe bei Leistungsempfängern zu dem Schluss, dass Arbeit sich einfach nicht lohne. Zu blamieren ist diese Auffassung offenbar weder dadurch, dass längst über eine Million Leistungsempfänger/innen zu nicht bedarfsdeckenden Löhnen und Gehältern arbeiten, noch durch den Umstand, dass kein/e einzige/r Leistungsempfänger/in in Deutschland jemals die freie Wahl gehabt hat, ob der Lebensunterhalt aus Arbeitseinkommen oder doch besser aus staatlicher Unterstützung zu bestreiten sei. Die atemberaubende Leichtigkeit, mit der in dieser Theorie das gesetzlich fixierte, einheitliche Hilfeniveau kurzerhand in einen Anspruchs›lohn‹ verwandelt wird, der dann natürlich – gemessen am Produktivitätslohn der Wirtschaft – zu hoch liegen soll, trägt aus Sicht der Arbeitnehmerkammer Bremen zwar nicht zur Bekämpfung der Armut bei, macht aber die Parteilichkeit dieser Denkrichtung sehr anschaulich: Alles, was der Schaffung von Arbeitsplätzen noch im Wege steht, sollen die überhöhten Ansprüche der Arbeitsuchenden sein. Ihr Interesse – durch staatliche Fixierung eines einheitlichen Fürsorgeniveaus noch unterstützt -, durch Erwerbsarbeit ein Einkommen zu erzielen, das ausreicht, die Kosten der Lebenshaltung zu bestreiten, wird von den Vertretern dieser Theorie als wirklichkeitsfern abgetan. In der inneren Logik dieser Auffassung bedeutet dies, dass sich die Beschäftigten mit ihrem Bedürfnis nach einem armutsfesten Lohn selber im Wege stehen und damit die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze be- oder verhindern. Bleibt die höchst akademische Frage, was aus Sicht der Arbeitnehmer/innen gewonnen wäre, wenn ein tatsächliches Arbeitsplatzwachstum nicht einmal mehr dazu taugen würde, mit dem Einkommen aus dieser Arbeit die physische Existenz sicherzustellen? In die Praxis umgesetzt, müsste diese Anschauung zwingend zu Arbeitsverhältnissen führen, in der bleibende Armut nicht mehr trotz, sondern wegen Arbeit gesellschaftlicher Standard würde, nebst einem abgesenkten öffentlichen Fürsorgeniveau, das kaum mehr als ›Elendsverwaltung‹ wäre. ... Beschäftigungszuwachs nicht in Sicht Eine zentrale Frage in der gesamten Debatte um die Höhe des staatlichen Fürsorgeniveaus, die in den vorangegangenen Überlegungen beständig unterstellt war, soll abschließend noch einmal in Erinnerung gerufen werden: Durch das SGB II ist gewährleistet, dass nicht bedarfsdeckende Einkommen aus Löhnen, Gehältern oder anderen Quellen durch Gewährung von Alg II auf das gesetzlich fixierte, einheitliche Bedarfsniveau aufgestockt werden. Der gesamten Konstruktion des SGB II liegt der Gedanke eines Kombieinkommens- Modell zugrunde, und zwar in einem umfassenden Sinne: Nicht bedarfsdeckende Einkommen werden durch Alg II oder Sozialgeld auf die Höhe des im Einzelfall maßgeblichen SGB-II- Bedarfs aufgestockt. Die Aufstockung durch SGB-II-Leistungen beschränkt sich dabei nicht auf niedrige Löhne – aufgestockt werden alle Niedrigeinkommen. Infolge des Freibetragsneuregelungsgesetzes und der dort geregelten neuen Hinzuverdienstgrenzen liegt das Haushaltseinkommen von SGB-II-Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem Erwerbstätigen in aller Regel bereits vor dem Erreichen bedarfsdeckender Bruttoarbeitsentgelte um bis zu 280 Euro beziehungsweise 310 Euro oberhalb des SGB-II-Bedarfs.

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Prekäre Beschäftigung<br />

Niveau <strong>der</strong> Löhne und Gehälter entscheide<br />

sich in einem absoluten Sinne, ob es zur Einrichtung<br />

zusätzlicher Ar<strong>bei</strong>tsplätze komme,<br />

längst fragwürdig geworden ist. Weite Teile<br />

<strong>der</strong> deutschen Wirtschaft sehen – trotz an<strong>der</strong>s<br />

lauten<strong>der</strong> Aussagen – offenbar keine Möglichkeit,<br />

das Ar<strong>bei</strong>tsplatzvolumen zu rentablen<br />

Konditionen drastisch auszuweiten und zwar<br />

auch dann nicht, wenn Löhne und Gehälter<br />

nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis<br />

zur Höhe <strong>der</strong> Lebenshaltungskosten stehen.<br />

Die größtenteils selbsternannten wissenschaftlichen<br />

Berater/innen <strong>der</strong> Politik stören<br />

sich an diesen Einwänden gegen den Niedriglohnsektor<br />

nicht. Unverdrossen propagieren<br />

insbeson<strong>der</strong>e die Anhänger <strong>der</strong> neoklassischen<br />

Ökonomie, dass durch das neue Bedarfsniveau<br />

im SGB II ein ›Anspruchslohn‹ vorgegeben<br />

sei, <strong>der</strong> den niedrigeren ›Produktivitätslöhnen‹<br />

<strong>der</strong> Wirtschaft im Wege stehe.<br />

Radikalisiert wird hier also <strong>der</strong> durch und<br />

durch falsche Gedanke, die faktische Höhe<br />

<strong>der</strong> staatlichen Hilfeleistungen führe <strong>bei</strong> Leistungsempfängern<br />

zu dem Schluss, dass Ar<strong>bei</strong>t<br />

sich einfach nicht lohne. Zu blamieren ist<br />

diese Auffassung offenbar we<strong>der</strong> dadurch,<br />

dass längst über eine Million Leistungsempfänger/innen<br />

zu nicht bedarfsdeckenden Löhnen<br />

und Gehältern ar<strong>bei</strong>ten, noch durch den Umstand,<br />

dass kein/e einzige/r Leistungsempfänger/in<br />

in Deutschland jemals die freie Wahl<br />

gehabt hat, ob <strong>der</strong> Lebensunterhalt aus Ar<strong>bei</strong>tseinkommen<br />

o<strong>der</strong> doch besser aus staatlicher<br />

Unterstützung zu bestreiten sei. Die atemberaubende<br />

Leichtigkeit, mit <strong>der</strong> in dieser<br />

Theorie das gesetzlich fixierte, einheitliche Hilfeniveau<br />

kurzerhand in einen Anspruchs›lohn‹<br />

verwandelt wird, <strong>der</strong> dann natürlich – gemessen<br />

am Produktivitätslohn <strong>der</strong> Wirtschaft – zu<br />

hoch liegen soll, trägt aus Sicht <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>tnehmerkammer<br />

<strong>Bremen</strong> zwar nicht zur Bekämpfung<br />

<strong>der</strong> Armut <strong>bei</strong>, macht aber die Parteilichkeit<br />

dieser Denkrichtung sehr anschaulich:<br />

Alles, was <strong>der</strong> Schaffung von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen<br />

noch im Wege steht, sollen die überhöhten<br />

Ansprüche <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>tsuchenden sein. Ihr Interesse<br />

– durch staatliche Fixierung eines einheitlichen<br />

Fürsorgeniveaus noch unterstützt -,<br />

durch Erwerbsar<strong>bei</strong>t ein Einkommen zu erzielen,<br />

das ausreicht, die Kosten <strong>der</strong> Lebenshaltung<br />

zu bestreiten, wird von den Vertretern<br />

dieser Theorie als wirklichkeitsfern abgetan. In<br />

<strong>der</strong> inneren Logik dieser Auffassung bedeutet<br />

dies, dass sich die Beschäftigten mit ihrem<br />

Bedürfnis nach einem armutsfesten Lohn selber<br />

im Wege stehen und damit die Schaffung<br />

zusätzlicher Ar<strong>bei</strong>tsplätze be- o<strong>der</strong> verhin<strong>der</strong>n.<br />

Bleibt die höchst akademische Frage, was aus<br />

Sicht <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>tnehmer/innen gewonnen wäre,<br />

wenn ein tatsächliches Ar<strong>bei</strong>tsplatzwachstum<br />

nicht einmal mehr dazu taugen würde, mit dem<br />

Einkommen aus dieser Ar<strong>bei</strong>t die physische<br />

Existenz sicherzustellen? In die Praxis umgesetzt,<br />

müsste diese Anschauung zwingend zu<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen führen, in <strong>der</strong> bleibende<br />

Armut nicht mehr trotz, son<strong>der</strong>n wegen Ar<strong>bei</strong>t<br />

gesellschaftlicher Standard würde, nebst einem<br />

abgesenkten öffentlichen Fürsorgeniveau,<br />

das kaum mehr als ›Elendsverwaltung‹ wäre.<br />

... Beschäftigungszuwachs nicht in Sicht<br />

Eine zentrale Frage in <strong>der</strong> gesamten Debatte<br />

um die Höhe des staatlichen Fürsorgeniveaus,<br />

die in den vorangegangenen Überlegungen<br />

beständig unterstellt war, soll abschließend<br />

noch einmal in Erinnerung gerufen werden:<br />

Durch das SGB II ist gewährleistet, dass nicht<br />

bedarfsdeckende Einkommen aus Löhnen,<br />

Gehältern o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Quellen durch Gewährung<br />

von Alg II auf das gesetzlich fixierte,<br />

einheitliche Bedarfsniveau aufgestockt<br />

werden. Der gesamten Konstruktion des SGB<br />

II liegt <strong>der</strong> Gedanke eines Kombieinkommens-<br />

Modell zugrunde, und zwar in einem umfassenden<br />

Sinne:<br />

Nicht bedarfsdeckende Einkommen werden<br />

durch Alg II o<strong>der</strong> Sozialgeld auf die Höhe<br />

des im Einzelfall maßgeblichen SGB-II-<br />

Bedarfs aufgestockt. Die Aufstockung<br />

durch SGB-II-Leistungen beschränkt sich<br />

da<strong>bei</strong> nicht auf niedrige Löhne – aufgestockt<br />

werden alle Niedrigeinkommen.<br />

Infolge des Freibetragsneuregelungsgesetzes<br />

und <strong>der</strong> dort geregelten neuen Hinzuverdienstgrenzen<br />

liegt das Haushaltseinkommen<br />

von SGB-II-Bedarfsgemeinschaften<br />

mit mindestens einem Erwerbstätigen in<br />

aller Regel bereits vor dem Erreichen<br />

bedarfsdecken<strong>der</strong> Bruttoar<strong>bei</strong>tsentgelte<br />

um bis zu 280 Euro beziehungsweise 310<br />

Euro oberhalb des SGB-II-Bedarfs.

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