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Armutsbericht 2006 - bei der Arbeitnehmerkammer Bremen

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12<br />

Prekäre Beschäftigung<br />

Vom ›för<strong>der</strong>n und for<strong>der</strong>n‹<br />

blieb nur das Letztere<br />

In einem geradezu bizarren Gegensatz zu<br />

dieser Situation steht eine von nahezu allen<br />

demokratischen Parteien geführte politische<br />

Diskussion, die jede Menge Missbrauch <strong>bei</strong><br />

<strong>der</strong> Inanspruchnahme von Alg II ausgemacht<br />

haben will. Kaum ein Monat vergeht, in dem<br />

nicht die politische Absichtserklärung in den<br />

Raum gestellt wird, dass nur diejenigen Alg II<br />

erhalten sollten, die wirklich bedürftig seien,<br />

gepaart mit dem Verdacht, dass Ar<strong>bei</strong>t sich<br />

nicht mehr lohne, weil das Fürsorgeniveau zu<br />

hoch sei. Man sollte das letztgenannte ›Argument‹<br />

für einen Augenblick logisch ernst nehmen<br />

– eine Frage stellte sich dann auf dem<br />

Fuße: Wenn es wirklich eine namhafte Zahl von<br />

Erwerbstätigen in Deutschland gibt, die durch<br />

ihre sozialversicherungspflichtige Vollzeittätigkeit<br />

nicht einmal ein Einkommen erzielt, das<br />

das im SGB II fixierte Bedarfsniveau sichert,<br />

wenn also bereits massenhaft für Armutslöhne<br />

und -gehälter gear<strong>bei</strong>tet werden muss, warum<br />

tun die politisch Verantwortlichen dann nicht<br />

alles in ihren Kräften stehende, um exakt<br />

diesen Skandal zu beheben? Es ist eigenartig,<br />

dass in <strong>der</strong> öffentlichen Debatte selten die<br />

mickrigen Löhne zum Thema gemacht werden.<br />

Stattdessen müssen sie immer öfter als<br />

Anlass herhalten für die Debatte über die<br />

Angemessenheit <strong>der</strong> Höhe des staatlich fixierten<br />

Versorgungsniveaus. Die Antwort auf<br />

diese Frage kann nur darin bestehen, dass die<br />

regierungsamtliche Politik sich bislang weniger<br />

am sinkenden Niveau gesellschaftlicher<br />

Durchschnittslöhne und -gehälter sowie <strong>der</strong><br />

einhergehenden Vermin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Konsumtionskraft<br />

<strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>tnehmer/innen stört, son<strong>der</strong>n<br />

mehr an <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Kosten, die für die<br />

Deckung des Bedarfs <strong>der</strong> Hilfebedürftigen zu<br />

veranschlagen sind. Insofern liegt <strong>der</strong> Schluss<br />

nahe, dass das allgemeine Lamento über den<br />

Leistungsmissbrauch letztlich nur den Druck<br />

auf die Hilfebedürftigen erhöht und mögliche<br />

Leistungskürzungen ideologisch vorbereitet.<br />

Sachlich entbehrt die Missbrauchsdebatte<br />

ohnehin einer rationellen Grundlage. Wenn<br />

man nicht davon ausgeht, dass die Leistungsempfänger/innen<br />

von Alg II in großem Maßstab<br />

falsche Angaben zu ihrer Einkommenssi-<br />

tuation machen – was durch die eingeführten,<br />

aufwändigen Prüfverfahren wohl ausgeschlossen<br />

werden kann – und wenn man davon<br />

ausgeht, dass die Leistungsträger ihre Ar<strong>bei</strong>t<br />

im Wesentlichen korrekt erledigen, dann löst<br />

sich die politische For<strong>der</strong>ung, die Leistungen<br />

nach SGB II auf die ›wirklich Bedürftigen‹<br />

zu beschränken, in Wohlgefallen auf. Um im<br />

bereits zitierten Beispiel zu bleiben: Wenn es<br />

in <strong>der</strong> Bundesrepublik in zunehmendem Maße<br />

Beschäftigungsverhältnisse gibt, in denen ein<br />

bedarfsdeckendes Einkommen nicht erzielt<br />

werden kann, dann besteht nach gelten<strong>der</strong><br />

Rechtslage Anspruch auf ergänzende Leistungen<br />

<strong>der</strong> Grundsicherung nach dem SGB II.<br />

Hierin wie<strong>der</strong>holt sich also lediglich ein bereits<br />

eingangs formulierter Gedanke: Das SGB II<br />

differenziert die Leistungsempfänger/innen<br />

gerade nicht nach Erwerbstätigen und<br />

Erwerbslosen, son<strong>der</strong>n es fixiert ein allgemeines<br />

Bedarfsniveau, das im Falle seiner Unterschreitung<br />

Anspruch auf staatliche Hilfe<br />

garantiert. Es ist dem Gesetz zu entnehmen,<br />

dass seine Konstrukteure davon ausgingen,<br />

dass Hilfebedürftigkeit trotz Einkommen aus<br />

Ar<strong>bei</strong>t kein Ausnahmefall bleiben wird.<br />

Abgeschmackt – um auch dies zu erwähnen<br />

– ist schließlich auch <strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong><br />

erweckte Eindruck, die Hilfebedürftigen würden<br />

sich die Frage, ob sie nun einer Erwerbstätigkeit<br />

nachgehen sollen o<strong>der</strong> nicht, doch<br />

lieber Alg II in Anspruch nehmen, wie eine<br />

rationale Kalkulation vorlegt. Dieser Vorwurf<br />

ist absurd. Er unterstellt die massenhafte<br />

Existenz von frei verfügbaren Ar<strong>bei</strong>tsplätzen.<br />

Ein Blick auf das Verhältnis von offenen<br />

Stellen zu Ar<strong>bei</strong>tsuchenden sagt hier alles.<br />

Zweitens blendet diese Kritik an den Ar<strong>bei</strong>tsuchenden<br />

die Tatsache völlig aus, dass in <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland bereits über eine<br />

Million Hilfebedürftige erfasst sind, <strong>bei</strong> denen<br />

Alg II ein nicht bedarfsdeckendes Einkommen<br />

aus Erwerbstätigkeit aufstockt. Die Unterstellung,<br />

Leistungsempfänger blieben aus Lethargie<br />

o<strong>der</strong> Bequemlichkeit <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>t fern, ist<br />

also ebenso wenig zu halten. Schließlich ist<br />

die Behauptung, es läge im Bereich <strong>der</strong> persönlichen<br />

Entscheidung von Ar<strong>bei</strong>tsuchenden,<br />

entwe<strong>der</strong> zu ar<strong>bei</strong>ten o<strong>der</strong> staatliche Leistungen<br />

zu beziehen, unsinnig. Es lag im deutschen<br />

Sozialfürsorgerecht nie im Bereich <strong>der</strong>

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