Armutsbericht 2006 - bei der Arbeitnehmerkammer Bremen
Armutsbericht 2006 - bei der Arbeitnehmerkammer Bremen
Armutsbericht 2006 - bei der Arbeitnehmerkammer Bremen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
102 Wenn die Träume aufhören<br />
Schöne Dinge?<br />
›Das steht unsereins nicht zu‹<br />
Wiebke Schmidt ist wütend, das ist deutlich zu<br />
spüren. Sie fühlt sich abgestempelt. ›Schöne<br />
Dinge kann man knicken‹, sagt sie einmal,<br />
›das steht unsereins nicht zu.‹ Die Botschaft,<br />
die ihr vom Amt entgegenschlägt, fühlt sich<br />
an wie: ›Sie wollen sich drücken, Sie faule<br />
Socke‹, sagt Wiebke Schmidt, ›da<strong>bei</strong> wissen<br />
die doch gar nicht, was das heißt, wenn du<br />
mit Kin<strong>der</strong>n dastehst. Dass du für die <strong>bei</strong>des<br />
abdeckst: den Vater und die Mutter.‹<br />
Was sie sich wünscht? Sie sieht vor sich<br />
hin. ›Luft holen?‹ sagt sie schließlich und es<br />
klingt mehr wie eine Frage als wie ein Wunsch.<br />
›Ich mach mir da keinen großen Kopp, die<br />
nächsten Jahre än<strong>der</strong>t sich eh nichts.‹ Jemand<br />
in ihrer Situation müsse eben ›ein bisschen<br />
rechnen können.‹ Und: ›Man knappst halt,<br />
wie man kann.‹ Ihr Sohn wünschte sich lange<br />
einen i-pod. Irgendwie hat sie es jetzt hingekriegt.<br />
›Wenn die Kin<strong>der</strong> etwas ganz Bestimmtes<br />
haben wollen, dann sehen wir, wie’s geht.‹<br />
Für sich hat sie das längst abgelegt: ›Ich<br />
hab keine beson<strong>der</strong>en Ansprüche. Ich kann’s<br />
eh nicht durchsetzen. Dann gewöhnt man<br />
sich’s ab.‹<br />
Auf Wiebke Schmidts Bett im Wohnzimmer<br />
liegt ein dickes Buch, ›1.000 Fragen an<br />
die Heilige Schrift‹. Nein, sie sei nicht gläubig.<br />
›Ich sitze ständig mit dem Arsch in <strong>der</strong><br />
Scheiße, trotz Taufe, trotz Frommsein – ich<br />
sehe nicht, was mir das bringt.‹ Aber den<br />
Kin<strong>der</strong>n wolle sie das nicht vorenthalten,<br />
›je<strong>der</strong> soll für sich entscheiden‹, sagt Wiebke<br />
Schmidt. Ihre Botschaft an ihre Kin<strong>der</strong>:<br />
›Lernt was! Jetzt kriegt ihr’s noch nachgeschmissen,<br />
später wird es so schwer. Wer<br />
nichts gelernt hat, verdient kein Geld und lebt<br />
immer am vergammelten Ende vom Käse.‹<br />
Begreifen die Kin<strong>der</strong> das? ›Ich hoffe‹, sagt<br />
Frau Schmidt und lacht. Der Älteste beendet<br />
bald seine Lehre. Es sieht ganz gut aus.<br />
Vom Traum, in Würde in Rente<br />
zu gehen: Peter Harms fährt Taxi<br />
Ein kleiner Silberring am rechten Ringfinger<br />
steht für den Glanz vergangener Zeiten.<br />
›JOOP!‹ ist eingraviert. ›Joop o<strong>der</strong> Boss – auf<br />
meiner Kleidung stand früher überall was<br />
drauf. Das ist heute an<strong>der</strong>s. Heute kaufe ich<br />
Schuhe <strong>bei</strong> ebay.‹ Peter Harms ist 59. Er fährt<br />
Taxi, 12 Stunden am Tag, montags bis freitags.<br />
Wenn er 100 Euro Umsatz macht –<br />
›und das ist schon viel‹ – verdient er daran<br />
32 Euro netto. Macht einen Stundenlohn von<br />
2,66 Euro im Schnitt. Wenn er im Monat 23<br />
Tage fährt, sitzt er 276 Stunden hinterm<br />
Steuer, hat er ausgerechnet. ›Aber in Hartz IV<br />
wollte ich nicht‹, sagt Peter Harms, das habe<br />
was mit Stolz zu tun, mit Würde. Doch das<br />
Taxifahren ›bringt soviel mehr auch nicht.‹<br />
Rund 900 Euro fährt er im Monat ein.<br />
Bis Ende 2003 war die Welt des Peter<br />
Harms ziemlich in Ordnung. Der gelernte<br />
Schlosser ar<strong>bei</strong>tet in Abteilungsleiterfunktion<br />
<strong>bei</strong> einer Fahrzeugbaufirma. Am Wochenende<br />
fährt er manchmal Taxi, rund 2.300 Euro verdient<br />
er damals netto. Als das Unternehmen<br />
dann den Bremer Zweig dicht macht, landet<br />
Harms auf <strong>der</strong> Straße. 143 Bewerbungen<br />
habe er in den folgenden Jahren geschrieben,<br />
›danke für Ihr Interesse‹, zitiert er die Standardformel<br />
<strong>der</strong> Ablehnungen. Das Ar<strong>bei</strong>tsamt<br />
drückt ihm einen zweiwöchigen Bewerbungskurs<br />
auf, ausgerechnet für die Zeit, in <strong>der</strong> er<br />
<strong>bei</strong> einer BMW-Nie<strong>der</strong>lassung ein Praktikum<br />
hätte machen können, aus dem sich – da ist<br />
sich Harms sicher – ein Job ergeben hätte.<br />
Hoffen auf die frühen Flieger<br />
570 Taxis fahren in <strong>Bremen</strong>, jede Menge<br />
Konkurrenz für Harms, <strong>der</strong> allmorgendlich um<br />
sechs seinen Wagen vom Halter abholt und<br />
losfährt. Er steht um halb vier auf, trinkt<br />
einen Kaffee, ›frühstücken kann ich dann noch<br />
nicht‹, fährt seinen Wagen abholen, ›dann<br />
suche ich mir einen Taxenplatz.‹ Oft fährt er<br />
nach Borgfeld, das ist am weitesten entfernt<br />
vom Flughafen, und Harms hofft auf<br />
Geschäftsleute, die einen frühen Flieger<br />
kriegen müssen. Mal klappt das, mal nicht.<br />
Am Flughafen dann frühstückt er, ›da gibt es<br />
ein Angebot für 3,10 Euro‹, dann wartet er<br />
auf die nächste Tour. ›Das Fahren ist das<br />
wenigste, meistens stehen Sie und warten‹,<br />
erzählt er. Auf rund 10 Touren kommt er<br />
täglich. In <strong>der</strong> Woche seien es ›oft ältere<br />
Herrschaften, die zum Arzt müssen.‹