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Eckhard Freuwört Norgast - Heim

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<strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong><br />

<strong>Norgast</strong><br />

1


Bereits vom gleichen Autor erschienen sind die Sachbücher:<br />

Vernetzte Sinne. Über Synästhesie und Verhalten.<br />

(ISBN 3-8334-1474-X; Verlag BoD Norderstedt 2004)<br />

Böse Hexen gibt es nicht. Versuch einer interdisziplinären<br />

Betrachtung des Hexenwesens.<br />

(ISBN 3-8334-3183-0; Verlag BoD Norderstedt 2005)<br />

2


<strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong><br />

<strong>Norgast</strong><br />

Ein synästhetischer Fantasy-Roman<br />

3


Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet<br />

über<br />

abrufbar.<br />

© 2005 <strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong><br />

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt<br />

ISBN<br />

Besuchen Sie auch meine Internetseite unter<br />

http://asmodis.heim.at<br />

4


Inhalt<br />

Vorwort 7<br />

Landkarte von <strong>Norgast</strong> 9<br />

Kleiner Reiseführer: <strong>Norgast</strong> für Neuankömmlinge 10<br />

Kapitel 1: Der Intrigant 18<br />

Kapitel 2: Der Findling 26<br />

Kapitel 3: Der Fischer 33<br />

Kapitel 4: Die Bônday 55<br />

Kapitel 5: Drei Prüfungen 79<br />

Kapitel 6: Der weiße Rabe 100<br />

Kapitel 7: Der Geist des Waldes 128<br />

Kapitel 8: Der Stein des Lebens 154<br />

Kapitel 9: Forst der Entscheidung 185<br />

Kapitel 10: Das magische Geflecht 207<br />

Kapitel 11: Anderswelt 226<br />

Anhang I: Making of 235<br />

Anhang II: Kleine Runenkunde 260<br />

5


Der US-amerikanische Physiker Hugh Everett III stellte im Jahre<br />

1957 eine quantenphysikalische Hypothese auf, nach der es unendlich<br />

viele Universen gibt, die sich vom Unseren nur minimal unterscheiden. Je<br />

weiter sie ‚entfernt‘ sind, desto größer sind auch die Unterschiede. Der<br />

Begriff ‚entfernt‘ ist dabei nicht räumlich gemeint. Diese Hypothese steht<br />

im Einklang mit allen heute bekannten quantenphysikalischen und<br />

kosmologischen Erkenntnissen. Sie wird als Many-Worlds-<br />

Interpretation, Viele-Welten-Hypothese oder Viele-Historien-Hypothese<br />

bezeichnet. Ihr zufolge spaltet sich das Universum mitsamt allen seinen<br />

Bewohnern beständig auf - in parallele Tochteruniversen, welche eine<br />

unabhängige Entwicklung durchlaufen. Das Aufspalten geschieht immer<br />

dann, wenn ein Bewohner eines Universums sich bei seinen Handlungen<br />

für eine von mehreren möglichen Alternativen entscheidet. Sehr ferne<br />

Paralleluniversen können sich auf Grund der anders verlaufenen<br />

Entwicklung in ihren Naturgesetzen drastisch von unserem Universum<br />

unterscheiden. Insofern kann jede hier bei uns erdachte Geschichte<br />

irgendwo Realität sein - vielleicht auch ‚<strong>Norgast</strong>‘?<br />

6


Vorwort<br />

Ich habe bislang zwei Sachbücher geschrieben. Das Erste,<br />

„Vernetzte Sinne - Über Synästhesie und Verhalten (ISBN 3-<br />

8334-1474-X)“, befasste sich mit einer zwar seltenen,<br />

nichtsdestotrotz aber sehr realen und auch völlig natürlichen<br />

Form von simultaner Wahrnehmung. Das Zweite, „Böse<br />

Hexen gibt es nicht - Versuch einer interdisziplinären<br />

Betrachtung des Hexenwesens (ISBN 3-8334-3183-0)“, hatte<br />

eine möglichst unvoreingenommene und wissenschaftliche<br />

Betrachtung des Hexenwesens zum Inhalt. Es zeigte, dass mit<br />

den richtigen Naturstoffen so manche Zauberei erklärbar ist.<br />

Die Wirksamkeit von Beschwörungen und Ritualen wurde auf<br />

den Placebo-Effekt zurück geführt. Magie war überflüssig.<br />

Aber es gab vereinzelte Berührungspunkte mit der<br />

Synästhesie.<br />

Doch gerade weil es im Sachbuch überflüssig war, reizte es<br />

mich ungemein, ein Was-Wäre-Wenn-Szenario zu entwerfen,<br />

in dem sowohl die Hexenkünste inklusive der Magie wie auch<br />

die Synästhesie eine tragende Rolle spielen. Das passende<br />

Genre dafür war die Fantasy und ‚<strong>Norgast</strong>‘ ist die betreffende<br />

Geschichte. Sie enthält zahlreiche Elemente aus den beiden<br />

Sachbüchern. Hinsichtlich der z. T. mythischen Gestalten<br />

habe ich mich überall bedient. Die in der Geschichte<br />

dargestellten Beschwörungen, Rituale und teils auch die<br />

magischen Techniken kommen von heute praktizierenden<br />

(und überwiegend ‚freifliegenden‘, d. h. keinem Coven<br />

angeschlossenen) Neo-Hexen. Die Ideen für die Handlung<br />

entstammen in erster Linie den Liedtexten der Gruppen<br />

Schandmaul, Faun und Blackmore´s Night. Mein ganz großer<br />

Dank gebührt daher den Musikern und den modernen Hagias<br />

für die unverzichtbare Inspiration. Ohne euch würde es dieses<br />

Buch nicht geben! Weitere Anregungen entnahm ich meinen<br />

früheren Erfahrungen mit Adventures, in die ich mal ganz<br />

vernarrt gewesen bin – D&D, DSA, S&D und wie sie alle<br />

heißen. Mein Dank gilt daher auch den damaligen<br />

Teilnehmern an den Spielen – wo immer sie sich heute<br />

aufhalten mögen.<br />

7


Bei den Beschreibungen einzelner Charaktere und<br />

Organisationsstrukturen sind Übereinstimmungen mit<br />

tatsächlichen Personen oder Hierarchien beabsichtigt und<br />

nicht rein zufällig. Ich habe mich diesbezüglich an meinen<br />

Erfahrungen in der Vergangenheit orientiert, so dass es<br />

durchaus möglich ist, dass dieser oder jener sich als<br />

Romanfigur wiedererkennt. Möge sich den Schuh anziehen<br />

wer will! Um die Gruppe Schandmaul zu zitieren: „Rache ist<br />

ein süßes Brot!“ Ich hoffe, dass der Leser mit dieser<br />

Geschichte ebensoviel Spaß hat wie ich mit dem Schreiben<br />

- zumal sich das alles völlig ohne Exposé so nach und nach<br />

entwickelte und wie von selbst ‚gewachsen‘ ist.<br />

<strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong> (Lauenau, Winter 2005/06.)<br />

8


Landkarte von <strong>Norgast</strong><br />

9


Kleiner Reiseführer: <strong>Norgast</strong> für<br />

Neuankömmlinge<br />

Baldur der Zweischneidige<br />

König von <strong>Norgast</strong> und aufgrund seiner magischen<br />

Fähigkeiten auch uneingeschränkter Herrscher, sogar über<br />

Piraten und Diebe. Inhaber eines miesen Charakters, an einer<br />

‚dissozialen Persönlichkeitsstörung‘ leidend. Ein Intrigant<br />

ohnegleichen. Der Volksmund kennt einen treffenden Begriff<br />

für so etwas – nämlich ‚Charakterschwein‘.<br />

Balum<br />

Eine winzige Ansiedlung am schäumenden Wilderfrio (einem<br />

der Quellflüsse des späteren Stromes Wilderfrio) fast genau<br />

östlich des auf dem Helgebarg-Gipfel befindlichen<br />

Opfersteins und am Hang des Helgebarg gelegen. Die Häuser<br />

verdienen ihren Namen kaum. Es gibt zusätzlich ein paar<br />

kleine Gehöfte von Bauern. Die Menschen dort sind ein<br />

eigener Schlag. Sie leben vom Bergbau und von der Köhlerei.<br />

Man sagt ihnen nach, dass sie manchmal Flüchtigen<br />

Unterschlupf gewähren.<br />

Bewok<br />

Ein Fischer, auf der Landzunge zwischen Tiedsiepe und<br />

Wilderfrio lebend.<br />

Bônday<br />

In <strong>Norgast</strong> eine sehr attraktive Hexe unbestimmbaren Alters,<br />

die auf der ‚namenlosen Insel‘ in der Tiedsiepe lebt. Man weiß<br />

kaum etwas über dieses geheimnisvolle Weib und dennoch<br />

werden ihr große magische Kräfte nachgesagt. Sie gehört<br />

einem Coven an, welcher über die ganze Welt verstreut ist<br />

und der sich nicht nur auf Menschen beschränkt.<br />

Dayla<br />

Eine Schülerin der Tiedsiepe-Bônday und die Geliebte von<br />

Findus.<br />

Diekenboog<br />

An der Nordküste von <strong>Norgast</strong> gelegener großer<br />

Handelsposten. Zwar größer als die Handelsstadt Torboog,<br />

10


jedoch weniger wichtig und recht unzivilisiert. Diekenboog<br />

erlangt nur dadurch einen gewissen Rang, als dass es der<br />

Seehafen ist, von dem aus die Steuern der Kaufleute nach<br />

Helgenor verschifft werden. Diekenboog ist weitestgehend<br />

von einem nahezu unpassierbaren Sumpf umgeben.<br />

Fahrende Händler<br />

Die fahrenden Händler arbeiten für sich allein. In gewisser<br />

Weise stehen sie in Konkurrenz zu den Kaufleuten und sind<br />

daher von den Letzteren nicht gerade gern gesehen. Doch das<br />

Syndikat duldet sie, denn die Händler bilden nicht nur die<br />

eigentliche Infrastruktur des Landes, sondern tragen darüber<br />

hinaus auch noch Nachrichten weiter. Außerdem haben sie<br />

sich auf die Ansiedlungen und Gehöfte spezialisiert, die für<br />

die Kaufleute wenig lukrativ sind. Meist sind die Händler mit<br />

einem Pferdewagen und mehreren Packtieren unterwegs.<br />

Findus<br />

Ein Mann ohne Gedächtnis.<br />

Fucunor<br />

Eine große Insel im Maar weit nördlich von <strong>Norgast</strong>.<br />

Fucunor gehört nicht zum <strong>Norgast</strong>-Königreich und ist eine<br />

Vulkaninsel, auf der eine Bônday lebt, welche nicht dem<br />

gleichen Volk wie die Bônday auf der ‚namenlosen Insel‘<br />

angehört.<br />

Haucain<br />

Ein dem schroffen, unwirtlichen und als unpassierbar<br />

geltenden Itcairn-Gebirge vorgelagertes Bergmassiv, welches<br />

das Reich <strong>Norgast</strong> im Osten begrenzt.<br />

Helgebarg<br />

Ein rauhes und hohes, in zwei Zinnen mündendes Gebirge<br />

westlich der Tiedsiepe. Auf dem südlichen, dem höheren<br />

Gipfel, befindet sich seit undenklichen Zeiten ein uralter<br />

Opferstein. Niemand weiß, wer wann was dort geopfert hat.<br />

Zwischen beiden Gipfeln des Helgebarg führt ein kaum<br />

passierbarer Pass, nur wenig mehr als ein überwucherter<br />

Trampelpfad, von der Tiedsiepe zur Ansiedlung Sandstedt.<br />

11


Helgeboog<br />

Die Stadt des Herrschers, auf der Insel Helgenor und am Fuß<br />

des Helgenor-Palastes gelegen.<br />

Helgenor<br />

Sammelname für den Palast des Herrschers, Namensgeber für<br />

die ‚Bucht von Helgenor‘ und Bezeichnung der gleichnamigen<br />

Insel. Die Insel Helgenor liegt etwa in der Buchtmitte.<br />

Aufgrund von warmen Strömungen und Seeklima herrschen<br />

dort praktisch das ganze Jahr über angenehme Temperaturen,<br />

so dass ständig viele farbenprächtige Blumen gedeihen. Im<br />

Westen begrenzt das Ithelge-Gebirge die Bucht, im Süden<br />

schließen sich Watt, Sumpf und Wüste an und im Osten steigt<br />

das Land zum Helgebarg hin an. Lediglich im Norden<br />

befindet sich ein freier Zugang zum offenen Meer, dem Maar.<br />

Obgleich es in der Bucht Handelsschifffahrt gibt, wird sie<br />

doch von den Piraten beherrscht.<br />

Kaufleute<br />

Die Kaufleute sind ein lockerer Zusammenschluss sehr<br />

mächtiger Händler, welche ein Syndikat leiten. Nach innen<br />

hin wird äußerste Disziplin verlangt und nach außen hin<br />

lassen sich dadurch Dienstleistungen und Waren<br />

monopolisieren. Dies bringt Geld, Schutz und Wohlstand für<br />

die Syndikatsmitglieder. Das System lässt jedoch keinerlei<br />

Kritik oder Querdenkertum zu; auch ist es durch seine<br />

Abgeschlossenheit gegen Kontrollen von außen geschützt.<br />

Die mächtigen Händler leben verstreut in allen größeren<br />

Städten. Sie unterhalten Handelsbeziehungen durch Seefahrt<br />

im Norden und mit Hilfe von Handelskarawanen auf dem<br />

Festland, wobei die Karawanen gleichzeitig Geleitschutz für<br />

zahlungskräftige Reisende sein können.<br />

Ithelge<br />

Westliche Grenze von <strong>Norgast</strong>. Wie der Itcain im Osten - nur<br />

höher.<br />

Ley<br />

Die Leys sind Erdströme - auch als Drachen-, Kraft- oder<br />

Sakrallinien bezeichnet - die das magische Geflecht<br />

ausmachen. An den Kreuzungspunkten dieser Energielinien<br />

finden sich häufig die ‚Seltsamen Orte‘.<br />

12


Lyonora<br />

Noch eine Schülerin der Tiedsiepe-Bônday.<br />

Magisches Geflecht<br />

Alle Magie in <strong>Norgast</strong> beruht auf der Nutzung einer alles<br />

durchdringenden, allgegenwärtigen Energieform, welche auch<br />

‚Magisches Geflecht‘ genannt wird. Durch Selbstorganisation<br />

bildet das magische Geflecht Linien und Knotenpunkte aus.<br />

Nur allzu oft ist die Anwendung von Magie an diesen Stellen<br />

besonders einfach oder besonders wirkungsvoll. Die meisten<br />

Hexen und Magier sind nahe der Knotenpunkte geboren<br />

worden.<br />

Malweýn<br />

Der mächtigste Zauberer in längst vergangenen Zeiten - heute<br />

zwar nicht tot, aber gebannt und dadurch zur Untätigkeit<br />

verdammt.<br />

<strong>Norgast</strong><br />

Das Königreich, in dem diese Geschichte spielt. Beherrscht<br />

wird es von einem ränkeschmiedenden Magier namens<br />

‚Baldur der Zweischneidige‘. Im Westen und Osten wird das<br />

Königreich von den Gebirgen Ithelge und Haucain begrenzt.<br />

Die nördliche Grenze bildet das Maar mit vielen<br />

vorgelagerten und zu <strong>Norgast</strong> zählenden Inseln, wo es im<br />

Winter bitterkalt ist. Der südliche Teil des Königreiches trägt<br />

inoffiziell den Namen Nordergast und gilt als eine große<br />

Provinz. Im Süden bilden das Gebirge des Suderhelge und die<br />

Wüste die natürlichen Grenzen. Mit dem südlich der<br />

Suderhelge gelegenen Land Sudergast gibt es bis auf wenige<br />

Handelskarawanen kaum Kontakte. In Ost-West- und in<br />

Nord-Süd-Richtung umfasst <strong>Norgast</strong> jeweils etwa fünfzig<br />

Tagesmärsche.<br />

Ostboog<br />

Westlichste und gleichzeitig eine der größten Städte in<br />

<strong>Norgast</strong>, an der Helgenor-Bucht gelegen. Der Stadtname<br />

reicht soweit zurück, dass sich niemand mehr daran erinnern<br />

kann, wie es dazu kam. Schriftgelehrte behaupten, dass es auf<br />

der anderen Seite des Ithelge noch ein Westboog gegeben<br />

haben müsse, sind den Beweis dafür aber bisher schuldig<br />

geblieben. Lästerer behaupten, der Name entstand, weil man<br />

13


Westboog ärgern wollte, so dass die Westbooger ihren Ort<br />

aus lauter Verzweiflung in Sandstedt umbenannten.<br />

Piraten<br />

Neben Baldur dem Zweischneidigen und den Kaufleuten die<br />

eigentliche Macht in der Bucht von Helgenor. Die Piraten<br />

teilen sich in zwei Gruppen auf, nämlich See- und<br />

Strandpiraten. Die Seepiraten überfallen die Schiffe auf dem<br />

Wasser, während die Strandpiraten mit gefälschten<br />

Leuchtfeuern Strandungen provozieren. Obgleich beide<br />

Gruppen zur gleichen Gilde zählen, sind sie uneins - vor<br />

allem auch deshalb, weil die Seepiraten abfällig auf ihre<br />

Konkurrenten an Land herabsehen. Baldur jedoch profitiert<br />

ob eines geheimen Paktes von beiden Gruppen.<br />

Runen<br />

Runen sind in <strong>Norgast</strong> weit verbreitet. Zwar sind sie kein<br />

Geheimwissen, aber trotzdem spricht man nur hinter<br />

vorgehaltener Hand über sie. Runen dienen der Nennung des<br />

wirklichen Namens eines Wesens oder eines Dinges. Die<br />

Kenntnis dieses Namens verleiht uneingeschränkte Macht<br />

über den Namensträger. Nur sehr wenige Menschen<br />

beherrschen daher die Runen. Runen bilden die Grundlage<br />

aller Zaubersprüche, da sie in der alten magischen Sprache<br />

abgefasst sind.<br />

Sandstedt<br />

Ein kleines Nest am Wattrand der Helgenor-Bucht, in dem<br />

die Leute offiziell vom Krabben- und vom Fischfang leben.<br />

Tatsächlich aber ist die Haupteinnahmequelle die<br />

Strandräuberei, welche von Baldur dem Zweischneidigen<br />

geduldet wird, da er mit den Piraten ein geheimes Abkommen<br />

getroffen hat.<br />

Schattenreich<br />

Sammelbegriff für alle die magiebegabten Völker, die aus dem<br />

Blickwinkel der Menschen verschwunden sind: Elfen,<br />

Einhörner, Dryaden, Kobolde, Irrlichter, Feen, Najaden,<br />

Trolle usw. Sie sind zwar nach wie vor in <strong>Norgast</strong> präsent,<br />

aber sie zeigen sich nur selten.<br />

14


Seltsamer Ort<br />

Eine Stelle, an der sich verschiedene Welten überlappen, so<br />

auch <strong>Norgast</strong> mit den Anderswelten. Man erlebt seltsame<br />

Orte als ein plötzliches, unerklärlich-irritierendes Gefühl,<br />

manchmal unheimlich oder gruselig. Man bleibt unwillkürlich<br />

stehen und muss tief durchatmen. An solchen Stellen ist der<br />

Übergang zu den Anderswelten möglich. <strong>Norgast</strong> weist<br />

mehrere seltsame Orte auf, welche aber nirgendwo<br />

verzeichnet sind. Man spricht nur hinter vorgehaltener Hand<br />

über sie.<br />

Shâgun<br />

Ein halb gestaltloser, bösartiger und nebeliger Dämon aus der<br />

Unterwelt, welcher vor der Erschaffung der Welt in dem<br />

Raum lebte, in dem sich heute <strong>Norgast</strong> befindet. Er ernährt<br />

sich von Seelen.<br />

Sirval<br />

Eine Stadt südlich des Waldes Bomenhau und etwas kleiner<br />

als Ostboog. Wichtiger Handelsposten, da hier die Karawanen<br />

von und nach Sudergast ihren Ausgangs- bzw. Endpunkt<br />

haben. Entsprechend reich ist Sirval dann auch – so reich,<br />

dass in regelmäßigen Abständen mit Gold, Silber und<br />

Edelsteinen beladene, schwer bewachte Kutschen nach<br />

Diekenboog fahren, um die Reichtümer als von dort aus auf<br />

dem Seeweg nach Helgenor zu bringen. Baldur erwartet sie<br />

dort als Steuern.<br />

Snofork<br />

Ehefrau des Tiedsiepe-Fischers Bewok. Ein Kräuterweib,<br />

welchem die eigentlichen, magischen Hexenkünste heute<br />

unbekannt sind. Doch das war nicht immer so.<br />

Tiedsiepe<br />

Eine zwischen Helgebarg und Wilderfrio gelegene, seltsame<br />

Senke mit sehr vielen Meilen im Durchmesser. Die Senke füllt<br />

sich je nach Stand des Mondes mit Wasser oder aber sie fällt<br />

trocken und kann dadurch zur tödlichen Falle für Reisende<br />

werden. In der Tiedsiepe befinden sich zwei Inseln ohne<br />

Namen. Auf der größeren Insel, vom Volksmund auch<br />

‚namenlose Insel‘ genannt, lebt die Bônday. Die etwas<br />

kleinere Insel bezeichnen die Anwohner der Senke inoffiziell<br />

15


als ‚Insel der Gestrandeten‘, denn für manch einen Wanderer<br />

ist sie die letzte Rettung, wenn der Boden der Tiedsiepe das in<br />

ihm gespeicherte Wasser plötzlich wieder freigibt. Zusätzlich<br />

speist ein Fluss die Tiedsiepe, was im Falle der Wasserfreigabe<br />

zum Überlaufen in den Wilderfrio führt.<br />

Torboog<br />

Nördlichste Stadt in der Helgenor-Bucht; wichtigster<br />

Seehafen.<br />

Traumtrank<br />

Ein dämonisches Gebräu aus Unterweltpflanzen. Dazu<br />

gedacht, Menschen in einen Körper und Geist trennenden<br />

Schlaf zu versetzen. Der Körper stirbt dabei auf lange Sicht<br />

ab und der Geist irrt herum, bis er an einem seltsamen Ort in<br />

eine Anderswelt überwechselt. Beim Übergang von Welt zu<br />

Welt aber lauern die Dämonen aus der Unterwelt - so auch<br />

der Shâgun - auf Nahrung. Die reisende Seele ist eben diese<br />

Nahrung...<br />

Wilderfrio<br />

Größter Strom von <strong>Norgast</strong>, wird in der Nähe von Balum<br />

durch den Zusammenfluß zweier Quellflüsse, nämlich des<br />

gelben Wilderfrio und des schäumenden Wilderfrio gebildet.<br />

Bis zur Tiedsiepe eher ein gewaltig rauschender und<br />

unberechenbarer Wildbach, wird er danach gespeist vom<br />

Wasser der Tiedsiepe zum mächtigen, eher träge<br />

dahinfließenden Strom. Er mündet in Form eines Flussdeltas<br />

in die offene See, Maar genannt.<br />

Wüste<br />

Die Wüste begrenzt den Süden des Reiches <strong>Norgast</strong> und der<br />

Provinz Nordergast. Diese Landschaft ist vielfältig.<br />

Sanddünen sind ebenso vertreten wie staubtrockene<br />

Geröllfelder oder Salzflächen. Von Zeit zu Zeit durchzieht<br />

ein schneidender, gefährlicher Wind – der Sufon, ein<br />

Staubsturm – die Gegend. Der Sufon trägt Sand und Staub<br />

mit sich, welcher die Haut abschmirgelt und Wanderer<br />

erstickt. Die Wüste ist nur sehr spärlich von Menschen<br />

bewohnt. In der Regel wird sie gemieden und nur selten von<br />

Handelskarawanen, welche in Sirval ihren Ausgangs- und<br />

Endpunkt haben, durchquert. Beherrscht hingegen wird die<br />

16


Landschaft von den zwar nicht intelligenten, doch riesigen<br />

und blutdürstigen Sandwürmern.<br />

17


Kapitel 1: Der Intrigant<br />

Man nannte ihn Baldur den Zweischneidigen und das war ein<br />

Wortspiel. Baldur – der Name galt als Sinnbild der<br />

Gerechtigkeit, als Inbegriff des Guten. Doch keine Münze hat<br />

nur eine Seite. Auch bei Baldur gab es eine zweite Seite, eine<br />

Dunkle. Doch von der wussten nur die wenigsten Menschen<br />

etwas. Baldur der Zweischneidige: Der Name wies einerseits<br />

auf seine unübertroffenen Künste im Schwertkampf hin.<br />

Andererseits aber machte er auch deutlich, dass es für den<br />

siegesverwöhnten Baldur Phasen gab, in denen ihm nichts<br />

- aber auch rein gar nichts - gelingen wollte.<br />

Letzteres war auf Malweýns Fluch zurück zu führen, aber<br />

das wusste niemand außer ihm selbst. Malweýn, der große<br />

Zauberer aus längst vergangenen Zeiten. Sein früherer<br />

Lehrmeister. Bis Baldur ihn in einem magischen Duell<br />

geschlagen hatte. Malweýn war zwar nicht tot - oh nein,<br />

soweit reichten Baldurs Kräfte denn doch nicht - aber er war<br />

gebannt worden. Dazu verurteilt, für immer und ewig sein<br />

Leben als knorriger alter Baum irgendwo im Haucain zu<br />

fristen, einem unwirtlichen Gebirge an der Ostgrenze des<br />

Königreiches <strong>Norgast</strong> - Baldurs Königreich! Das Letzte, was<br />

Malweýn ihm mit auf den Weg gegeben hatte, war der Fluch,<br />

dass Baldur in seinem Leben nichts mehr gelingen sollte. Es<br />

war Baldur damals gelungen, diese Kampfmagie fast<br />

abzuwehren. Nur eben nicht ganz.<br />

Baldur hatte viel von Malweýn gelernt, so auch die<br />

Fähigkeit der Gestaltverwandlung und die zum Beschwören<br />

von Dämonen erforderlichen Fertigkeiten. Und noch weitaus<br />

mehr. Primitive Künste wie Wetter- und Knotenmagie,<br />

Offenbarungszauber u. ä. beherrschte er ohnehin im Schlaf.<br />

Er war zwar seit jeher der Thronerbe gewesen, doch hatte er<br />

sich - um das Land kennen zu lernen – zeitweise auch als<br />

einfacher Lohnmagier verdingt. Bis seine Wege die von<br />

Malweýn kreuzten. Malweýn sollte sein Lehrer werden; Baldur<br />

bettelte den Alten förmlich darum an. Der wollte erst nicht,<br />

ließ sich schließlich aber doch erweichen und gab nach.<br />

18


Malweýn unterrichtete den Thronerben gut und gründlich.<br />

Dennoch waren die Kräfte des Schülers immer denen des<br />

Lehrers unterlegen gewesen. Bis zu jenem denkwürdigen<br />

Tage, als es ihm gelang, Malweýns Geist mit einem Gebräu<br />

aus Schlafkraut, Bockwurz und Venuskappe zu verwirren.<br />

Der ideale Zeitpunkt für ein magisches Duell. Eigentlich hatte<br />

er Malweýn vergiften wollen, doch der Zauberer war zu stark<br />

gewesen. Immerhin aber blieb der Trank nicht gänzlich ohne<br />

Wirkung. Denn Baldur war auch ein heimtückischer<br />

Ränkeschmied par excellence. Fairness war in seinen Augen<br />

etwas für Schwächlinge. Und nun war er der mächtigste<br />

Zauberer - wenn man vielleicht mal von der Bônday absah,<br />

aber die verließ ja sowieso niemals ihre ‚namenlose Insel’ in<br />

der Tiedsiepe.<br />

Baldur war sich seiner Macht bewusst. Nichts und<br />

niemand konnte ihm etwas anhaben. Und da er ein Meister<br />

des Ränkespiels war, wies seine vermeintlich weiße Weste<br />

auch nicht den kleinsten Fleck auf. Schön, er war vielleicht<br />

nicht gerade beliebt. Aber damit konnte er leben. Gut leben<br />

- und zwar auf Kosten anderer. Er war nicht zu bremsen,<br />

bis... Ja, bis seine Spione ihm von einem möglichen<br />

Konkurrenten berichteten. Einem unwissenden Vielleicht-<br />

Konkurrenten zwar und ohne machtpolitische Ambitionen.<br />

Aber auch der sollte mit großer magischer Kraft ausgestattet<br />

sein, auch wenn der die nicht anzuwenden wusste. Oder bloß<br />

noch nicht? So etwas konnte Baldur natürlich nicht hinnehmen.<br />

Der Konkurrent musste weg, musste verschwinden. Schnell<br />

und unauffällig. Ein bedauernswerter Unfall sozusagen...<br />

Deswegen war Baldur jetzt hier, hier auf der Südspitze des<br />

Helgebarg am alten Opferstein. Er zitterte. Aber nicht vor<br />

Kälte (obwohl es wirklich grausam kalt war), sondern vor<br />

Angst. Es war stockfinstere Nacht und dicke Wolken<br />

verdeckten den ohnehin schon unsichtbaren Neumond. Eis<br />

und Matschbrocken vom zuvor angetauten Schnee waren<br />

allgegenwärtig: Frühsommer auf dem Gipfel.<br />

Angesichts der Tatsache, dass ihm manchmal eben alles<br />

misslang, wollte er beim Ausschalten seines vermeintlichen,<br />

gleichfalls magiebegabten Konkurrenten auf Nummer Sicher<br />

gehen. Baldurs Plan sah vor, den Mord von einem Dämon<br />

ausführen zu lassen. Genau zu diesem Zweck hatte er den<br />

19


Shâgun beschworen - einen Dämon, der seit der Erschaffung<br />

der Welt in den Untergrund verdrängt worden war. Die<br />

Beschwörung hatte Erfolg gezeigt. Jetzt stand der Shâgun vor<br />

ihm. Eine nicht für Menschenaugen gemachte Gestalt aus<br />

einer unwirklichen Unterwelt. Bösartig. Gnadenlos. Kalt.<br />

Gierig. Mordbesessen. Und vor allem: Mächtig! Dennoch gab<br />

es eine gewisse Art von Geistesverwandtschaft zwischen<br />

ihnen; das spürten sie beide.<br />

Der Shâgun bestand aus einer Art von schmutzigbräunlich-grauem,<br />

halbmateriellem Nebel. Dieser Nebel<br />

veränderte beständig seine Form und seine<br />

Farbschattierungen, so dass es aussah, als würden sich dort<br />

menschliche Eingeweide wie Schlangen oder fette Würmer<br />

umeinander ringeln. Abstoßend! Er verströmte einen leicht<br />

bitter-süß-fauligen Geruch. Dort, wo das Gesicht hätte sein<br />

sollen, befand sich Schwärze. Und in dieser Schwärze bewegte<br />

sich etwas noch viel Schwärzeres auf unheimliche,<br />

grauenvolle Weise. „Du wagst es, mich zu stören! Was willst<br />

du?“ fauchte der Shâgun mit einer Stimme, die klang, als<br />

würden Fingernägel über Schiefer kratzen, die einem Zuhörer<br />

eine eiskalte Gänsehaut über den Rücken jagte.<br />

Baldur schluckte, drängte seine Angst zurück und<br />

antwortete „Ich brauche Deine Hilfe. Du sollst jemanden für<br />

mich beseitigen.“ Der Shâgun lachte keckernd, nicht<br />

unähnlich dem Ruf einer Elster, nur sehr viel unangenehmer.<br />

Er wusste längst, warum er gerufen worden war, hatte es aus<br />

Baldurs Gedanken entnommen. Dennoch gefiel es ihm, ein<br />

wenig mit diesem anmaßenden menschlichen Wurm zu<br />

spielen. „So, so, meine Hilfe... - was bietest du mir dafür?“<br />

„Den Geist des Opfers. Er gehört dann dir.“ „Und was sollte<br />

mich daran hindern, mir deinen Geist zu nehmen - und zwar<br />

jetzt und hier?“ „Meine Macht. Denn wenn ich dich<br />

beschworen habe, dann kannst du mir auch nichts anhaben.“<br />

Wieder dieses unangenehm-keckernde, grelle Lachen des<br />

Dämons. Diesmal schien es kein Ende nehmen zu wollen,<br />

hatte ein Echo. Baldur wurde schwindelig, die Welt begann<br />

sich um ihn zu drehen. Instinktiv griff er nach einem nicht<br />

vorhandenen Halt, strauchelte. Sein Schutzzauber schien zu<br />

versagen. „Menschlein, du hast in deinem Hochmut ja keine<br />

Ahnung. Aber deine Respektlosigkeit ist bemerkenswert.<br />

20


Trotz deiner anmaßenden Dummheit schlage ich dir einen<br />

Handel vor. Ich werde dir helfen, deinen Widersacher zu<br />

beseitigen. Die Ausführung der Tat liegt jedoch letztlich bei<br />

dir ganz allein. Bist du erfolgreich, dann nehme ich das Opfer<br />

an. Versagst du aber, dann kehre ich irgendwann zurück und<br />

werde mich an dir selbst schadlos halten. Falls du nicht auf<br />

meinen Vorschlag eingehen willst, dann nehme ich dich gleich<br />

mit.“<br />

Baldur hatte von der Stimme eine Gänsehaut bekommen.<br />

Seine Zähne klapperten und die Nackenhaare stellten sich auf.<br />

Er fühlte, dass er zu weit gegangen war. Er hätte den Dämon<br />

niemals beschwören dürfen; er besaß ganz einfach nicht die<br />

Kraft, um ihn kontrollieren zu können. Rufen und<br />

Kontrollieren waren zwei grundverschiedene Dinge. Eiskalte<br />

schwarze, tödliche Finger schienen nach seinem Geist zu<br />

greifen. Schnell willigte er in den Vorschlag des Shâgun ein<br />

- eine reine Verzweiflungstat.<br />

Der Shâgun fuhr eine schleimig-tentakelartige, knotige<br />

Hand aus und legte einen kleinen ledernen Beutel auf den<br />

Opferstein. „So höre denn, du Wurm. In diesem Beutel<br />

befindet sich ein Mittel, aus dem du einen Trank brauen wirst.<br />

Weiche die Kräuter in einem Humpen voll von frischem<br />

Quellwasser ein. Lass´ sie einen ganzen Tag dort drin. Dann<br />

seihe ab und koche das Wasser ein, bis du einen dicken,<br />

braunen Sud erhältst. Suche einen der seltsamen Orte auf und<br />

gebe diesen Sud dort deinem Opfer. Es wird daraufhin in<br />

einen tiefen todesähnlichen Schlaf fallen. Der Geist trennt<br />

sich vom Körper, wird mein.“ „Ist das der... der Traumtrank,<br />

von dem die alten Magier nur insgeheim und hinter<br />

vorgehaltener Hand gesprochen haben?“ „Ja. Er wirft den<br />

Geist des Opfers zuerst in eine andere Welt, in ein anderes<br />

Leben. Wenn dein Opfer dort stirbt, dann assimiliere ich<br />

seine Seele, weil ich die Geistreise selbst verfolgen kann. Die<br />

Seele ist mein Festmahl. Ich gebe dir zwei volle Monde Zeit.<br />

Wenn dein Opfer bis dahin noch keine Geistreise in die<br />

Anderswelt oder direkt zu mir gemacht hat, dann komme ich<br />

bei Bedarf auf dich zurück - wenn ich mal wieder hungrig<br />

bin...“<br />

Nochmal das grell-unangenehme Keckern, jetzt aber<br />

machtvoll verhallend wie in einem unendlichen Raum.<br />

21


Dämonisches Lachen. Ein sich von tief-blutrot nach<br />

unerträglich-violett färbender Blitz zuckte auf; eine plötzliche<br />

Windböe riss Baldur von den Beinen. Mit dem darauf<br />

folgenden Donnerschlag war der Shâgun verschwunden.<br />

Alles, was jetzt noch an seine Anwesenheit erinnerte, war der<br />

lederne Beutel auf dem Opferstein, der geborstene magische<br />

Beschwörungskreis und wie dem Windstoß zum Hohn der<br />

bitter-süß-faulige Geruch in der Luft.<br />

Genau sieben Tage später. Baldur befand sich in Sandstedt,<br />

einem kleinen Nest von Strandpiraten. Offiziell lebten hier<br />

Fischer und Krabbenfischer. Inoffiziell allerdings wurden<br />

immer wieder falsche Leuchtfeuer am Strand entfacht, um<br />

Handelsschiffe auf dem Wattsockel stranden zu lassen.<br />

Nachdem deren Besatzungen erschlagen worden waren,<br />

bediente man sich einfach aus den Schiffen. Das war<br />

wesentlich gewinnträchtiger als die mühsame Fischerei.<br />

Baldur wusste von diesem Treiben, doch er schritt nicht<br />

dagegen ein. Vielmehr billigte er es sogar - hatte er doch ein<br />

geheimes Abkommen mit der Piratengilde in der Bucht. Die<br />

Piraten waren es ja schließlich auch, welche die Bucht von<br />

Helgenor beherrschten. Helgenor - das war die große<br />

Felseninsel inmitten des Wassers, obenauf sein - Baldurs -<br />

<strong>Norgast</strong>palast, an dessen Fuß die Stadt Helgeboog lag.<br />

Ringsherum Wasser, im Süden und Osten ein bei Ebbe<br />

breiter Wattsockel und drei Ansiedlungen: Ostboog,<br />

Sandstedt und Torboog.<br />

Die Ansiedlungen allesamt inoffizielle Piratennester,<br />

Ostboog und Torboog jedoch offiziell auch bedeutende<br />

Handelsstädte. Nun ja, Handel konnte man eben so und so<br />

verstehen. Von jedem aufgebrachten Schiff erhielt er ein<br />

Drittel. Das war deutlich mehr, als er den Kaufleuten an<br />

Steuern abverlangen konnte und es ergänzte deren<br />

Steuerzahlungen obendrein noch, füllte daher seine Taschen<br />

ganz beträchtlich.<br />

Überhaupt, die Kaufleute: Ein Syndikat, welches seinen<br />

Mitgliedern einen gewissen Wohlstand ermöglichte, daher<br />

aber deren unkritische Mitarbeit und Verschwiegenheit<br />

22


voraussetzte. So war es Baldur unmöglich zu kontrollieren, ob<br />

die Steuerzahlungen auch tatsächlich ein Viertel des Gewinns<br />

ausmachten. Er bezweifelte das. Da hielt er es nur für recht<br />

und billig, sich anderweitig seinen Teil zu holen. Nach seiner<br />

eigenen Auffassung war das sogar noch sehr<br />

menschenfreundlich - denn es hatte schon schlimmere<br />

Herrscher als ihn gegeben.<br />

Hier in Sandstedt bewegte er sich inkognito. Er war ein<br />

Fremder, von dem niemand Notiz nahm. Jeder misstraute<br />

hier jedem - wie im gesamten Reich. Die Leute wussten von<br />

seiner Fähigkeit der Gestaltwandlung. Jeder hätte ‚er‘ sein<br />

können und ein falsches Wort... Man wusste von seinen<br />

Spionen. Es ging das - durchaus zutreffende - Gerücht um,<br />

dass Baldur sich jedes Wissen direkt aus dem Kopf anderer<br />

Menschen holen könne. So könnte jeder zu seinem Spion<br />

werden - gewollt oder ungewollt. Folglich hielt man sich<br />

bedeckt. Nichts sagen, nichts hören, nur nicht auffallen.<br />

Das war auch ganz gut so, wie Baldur fand. Ein<br />

akzeptabler status quo. Es hielt die Leute davon ab, sich<br />

gegen ihn zusammen zu schließen. Gegenseitiges,<br />

abgrundtiefes Misstrauen war das sicherste Mittel, um seine<br />

Regentschaft zu sichern. Angst überall. Auch fand er es ganz<br />

angenehm, auf diese Weise niemals Kritik an seinem<br />

Führungsstil hören zu müssen. Für ihn ein sehr gutes Klima.<br />

Gut, die Leute mochten vielleicht darunter leiden - doch war<br />

das nicht deren eigenes Problem? Ihn selbst hatte es jedenfalls<br />

noch nie gestört, dass in <strong>Norgast</strong> niemand lachte oder gar<br />

fröhlich war. Im Gegenteil - solchen Lärm hasste er.<br />

Womöglich hätten die sogar über ihn gelacht?<br />

Baldur hatte hier eine kleine Hütte bezogen und die Miete<br />

dafür im voraus entrichtet. Niemand störte ihn. Niemand<br />

würde es wagen, ihn zu stören. Er hatte das Gebräu exakt<br />

nach den Vorgaben des Dämons hergestellt und in eine<br />

winzige, gläserne Flasche gefüllt. Gut verkorkt und versiegelt.<br />

Die Flasche steckte gegen das Herausfallen gesichert in einem<br />

winzigen ledernen Futteral, welches kleine Schlaufen aufwies.<br />

Das Anlegen dieses Futterals erwies sich als der eigentlich<br />

schwierige Teil des ganzen Unternehmens. Baldur machte<br />

von seiner Fähigkeit zur Gestaltwandlung Gebrauch und<br />

verwandelte sich in eine Krähe.<br />

23


Eine Krähe, die ihre liebe Mühe damit hatte, sich die<br />

Schlaufen des Futterals über den Kopf zu streifen und das<br />

Gewicht mit den Krallen zu tragen. Das war nämlich die<br />

einzige Möglichkeit des Transportes über lange Strecken. So<br />

bepackt flog der Todesvogel los. Sein Ziel war Balum; selbst<br />

bei Luftlinie eine Reise von vielen Tagen. Nur einen halben<br />

Tagesmarsch unmittelbar südlich von Balum floss ein<br />

namenloser Gebirgsbach in den schäumenden Wilderfrio.<br />

Exakt an dieser Stelle begegneten sich vier grundverschiedene<br />

Landschaften: das Gebirge, der Wald, der Sumpf und die<br />

Wüste.<br />

Die Bäume, die dort wuchsen, wiesen eine seltsam<br />

verdrehte, korkenzieherartige Form auf. Vereinzelt bildeten<br />

sie Ringe in ihren Stämmen aus. Die Wurzeln waren bizarr.<br />

Sie erinnerten an hölzerne Schlangenköpfe, schlafende<br />

Kinder, ruhende Drachen, im Lauf erstarrte Wildschweine<br />

und mehr. Den Sagen zufolge war es ein Zauberwald und die<br />

Bäume sollten die Kinder, Wildschweine, Schlangen und<br />

Drachen gefressen haben. Es war ein seltsamer Ort. Er wurde<br />

von den Menschen gemieden. Wer hierher kam, den gruselte<br />

es. Oder er bekam fast schlagartig unmenschlich rasende<br />

Kopfschmerzen, sah gleichzeitig auch noch grell-zackige<br />

Lichtblitze, welche aber nur im Kopf existierten. Wer<br />

erschöpft hier ruhte und es tatsächlich trotz der surrealen<br />

hölzernen Gebilde schaffte einzuschlafen, den plagten<br />

wahnsinnige Alpträume von verrückten Welten und er fand<br />

sich nach dem Erwachen nur schwer wieder zurecht. Wenn er<br />

überhaupt wieder aufwachte... Der Ort machte irr und<br />

aggressiv. Es war kein Ort für Menschen, dieser seltsame Ort.<br />

Und genau hierher hatten Baldur´s Spione sein Opfer, seinen<br />

möglichen Konkurrenten gelockt - wobei Baldur sich als ein<br />

über wichtige Informationen verfügender, fahrender Händler<br />

ausgegeben hatte.<br />

Baldurs nichtsahnender Vielleicht-Konkurrent war schon<br />

da, als der Zweischneidige selbst eintraf, schwer bepackt mit<br />

einem prall gefüllten Leinenbeutel. Saß auf einer<br />

oberschenkeldicken Wurzel, die sich erst in Wellen am Boden<br />

entlang geschlängelt hatte, bevor sich daraus ein verdrehter<br />

Baum erhob. Saß wie die hilflose Fliege im Netz, die auf die<br />

sie fressende Spinne wartet. Ahnungslos. Baldur war die<br />

24


Freundlichkeit in Person. Das konnte er gut. Er bot seinem<br />

Opfer zu trinken an, denn auch der Frühsommer wartete<br />

schon mit beträchtlicher Wärme auf. Sein Opfer trank. Schon<br />

nach wenigen Minuten schlief es ein. Der Atem wurde<br />

langsamer. Und langsamer. Und noch langsamer... Es war<br />

schon fast zu einfach gewesen!<br />

Baldur blieb bei ihm. Sammelte zwischendurch trockenes<br />

Holz. Als es Nacht wurde, entfachte er damit ein Lagerfeuer.<br />

Dann verwandelte er sich in einen Wolf: Zeit für das<br />

Abendessen. Und verschwand im Unterholz. Erst im<br />

Morgengrauen kam er blutbesudelt zurück. Egal - es war nicht<br />

sein Blut. Und den Köhler würde so bald wohl auch keiner<br />

vermissen. Er wusch sich im Fluss, kontrollierte sein Opfer.<br />

Es schien tot zu sein. Vorsichtshalber wartete er noch eine<br />

Nacht und noch eine weitere Köhlermahlzeit ab.<br />

Am zweiten Tag war er davon überzeugt, dass der Fremde<br />

(dessen Namen er nicht einmal kannte!) tot sein musste.<br />

Baldur entnahm seinem Leinenbeutel einen mit Teer und<br />

Pech luftdicht versiegelten Leichensack. Hiefte sein Opfer<br />

dort hinein. Vernähte den Sack mit reißfesten Fola-Fasern<br />

und strich die Nähte grob mit dem mitgebrachtem Pech ein<br />

- nur die Fasern selbst nicht. Fola-Fasern waren der ideale<br />

Nahtstoff, solange sie nicht mit dem Wasser in Berührung<br />

kamen. Im Wasser lösten sie sich nach ein bis zwei Tagen<br />

restlos auf. Solange würde der Leichensack mit der darin<br />

eingeschlossenen Luft den Wilderfrio hinunter treiben. Dann<br />

würde er sein Innenleben freigeben und der Fluss den Toten<br />

irgendwo anspülen - oder sogar auf Nimmerwiedersehen<br />

verschlucken, was noch besser wäre. Niemand würde den<br />

Mord mit ihm in Verbindung bringen können. Seine Weste<br />

bliebe weiß. Es klatschte, als er den Sack mit seinem Opfer<br />

ins Wasser warf.<br />

Baldur lachte und grinste zufrieden. Während er hinterher<br />

schaute, dachte er daran, dass diese seine Tat doch wohl eher<br />

die Ausnahme war. Klar, wer ihm in die Quere kam, der hatte<br />

abzutreten. Normalerweise engagierte er dafür jedoch<br />

käufliche Mörder. Doch wenn die Gefahr bestand, dass Magie<br />

mit im Spiel sein könnte, dann legte er auch schon mal selbst<br />

Hand an. Man konnte ja nie wissen. Und man konnte niemals<br />

vorsichtig genug sein!<br />

25


Kapitel 2: Der Findling<br />

Langsames Erwachen, Halbschlaf. Schattenhafte Gesichter.<br />

Ein Erinnerungsfetzen: Wald. Er war in einem Wald gewesen.<br />

Ein Mann hatte mit ihm gesprochen. Sein Gesicht ein weißer<br />

Fleck in seiner Erinnerung. Dämmerzustand zwischen<br />

Wachen und Schlafen, wie im Traum. Nebelhafte Schemen.<br />

Vorsichtig bewegte er die Finger. „Er kommt zu sich“ sagte<br />

eine keifend-kratzige Frauenstimme. „Wurde auch Zeit“<br />

antwortete brummend ein Mann, leicht gereizt.<br />

Endlich öffnete er die Augen, erwachte vollends. Etwas<br />

stimmte nicht mit ihm. Er kramte in seinem Gedächtnis, fand<br />

dort aber nichts außer einem Namen - Findus. Seine<br />

Erinnerung war weg, ausgelöscht. Er wollte sich aufsetzen,<br />

umsehen, doch seufzend sank er sofort auf das harte Lager<br />

zurück. Schwindel übermannte ihn; der Raum drehte sich vor<br />

seinen Augen. Sofort war die Frau bei ihm, stützte ihn.<br />

„Langsam“ mahnte sie fürsorglich, was so gar nicht zu ihrer<br />

unangenehmen Stimme zu passen schien.<br />

Gedanken rasten urplötzlich durch seinen Kopf. Wirre<br />

Gedanken – seltsames Zeug. Sachen wie „Autos“,<br />

„Flugzeuge“, „Raumschiffe“, „Fernsehen“, „Computer“ und<br />

anderes Zeug, das er nicht einordnen konnte. Sinnlose<br />

Begriffe, denn die Bilder und Inhalte dazu fehlten ihm. Leere<br />

Worthülsen - wie aus einer verwirrenden, anderen Welt. Wie<br />

aus einem bösen Traum. Noch verwirrender erschien es ihm,<br />

dass sich - während die inhaltslosen Begriffe schon wieder<br />

vergessen wurden - eines in seiner Erinnerung festsetzte: Es<br />

schien eine Welt zu geben, in der die Sinne getrennt waren.<br />

Riechen war dort nur Riechen und der Geruch hatte keine<br />

Farbe. Hören war dort ausschließlich Hören und die<br />

Geräusche hatten keine Formen. Schmecken war dort einzig<br />

Schmecken und der Geschmack hatte keine Oberfläche.<br />

Sehen war dort bloßes Sehen und das Sehen hatte keine Töne.<br />

Und Fühlen - Fühlen gab´s fast gar nicht mehr, eine Art von<br />

mechanisierter Unmenschlichkeit herrschte statt dessen vor.<br />

Magie war unbekannt. Eine seltsam-verrückte Welt. Er schien<br />

dort gewesen zu sein, aber zum Glück war das vorbei.<br />

26


Endgültig. Ein schlechter Traum. Ein verdammt Schlechter!<br />

Findus blickte in den Raum, zum Fenster hin. Draußen<br />

herrschte stockfinstere Nacht. Er war hier.<br />

In der Anderswelt. „Exitus“ sagte der Arzt und betrachtete<br />

die gleichmäßige Linie auf dem Monitor. „Sie können die<br />

Geräte jetzt abschalten“ meinte er zu der Krankenschwester.<br />

Er seufzte. Es war immer das Gleiche, vor allem zum<br />

Wochenende hin. Die Autobahn war ein Schlachtfeld. Sie<br />

nannte sich bloß nicht so. Später rollte man die Leiche aus der<br />

Intensivstation heraus. Mit einem Namenszettel am Zeh.<br />

Im Palast von Helgenor. Baldur der Zweischneidige erwachte<br />

aus unruhigem Schlaf. Neben ihm im Prunkbett lag seine<br />

heutige Gespielin der Nacht und schlief fest, das ebenmäßige,<br />

makellose und doch leicht blasse Gesicht mit den blutroten<br />

Lippen vom langen, ebenholzschwarzen Haar umrahmt.<br />

Gesicht und Lippen bildeten einen erotisch-anregenden<br />

Kontrast. „Süß“ dachte er und an den Spaß, den sie<br />

miteinander gehabt hatten. Andererseits aber wurde er ihr<br />

auch allmählich überdrüssig. „Ob ich sie fortschicke?“ dachte<br />

Baldur.<br />

Plötzlich setzte er sich auf. Aus den Augenwinkeln heraus<br />

nahm er eine Bewegung wahr. „Ein Mörder?“ durchfuhr es<br />

ihn. Aufspringen und instinktiv eines der Schwerter, die<br />

scheinbar den Wandschmuck bildeten zu ergreifen, war eins.<br />

Ein grell-keckerndes Lachen kam als Antwort. Er kannte<br />

dieses Lachen genau, würde es nie in seinem Leben mehr<br />

vergessen. Aus dem Dunkel schälte sich langsam die neblige<br />

Gestalt des Shâgun, Nebel wie sich umeinander ringelnde,<br />

wurmartige Eingeweide.<br />

Sofort wusste Baldur, dass irgend etwas an seinem Plan<br />

schiefgelaufen war. Fürchterlich schiefgelaufen! „Mit dem<br />

Schwert kannst du mir nichts anhaben!“ lachte der Dämon<br />

und fuhr höhnisch fort: „Er ist nicht bei mir angekommen.<br />

Er ist auch nicht mehr in der Anderswelt. Er ist wieder hier.<br />

Dafür werde ich mich bei dir bedienen, wenn der Hunger<br />

27


kommt. Es sei denn, du versorgst mich schon rechtzeitig<br />

vorher mit Nahrung. Mit Seelen-Nahrung. Wir haben ein<br />

Abkommen...“ Hallend-grell-stahlblau-keckerndes Lachen<br />

und der Dämon war verschwunden. Ein leicht bitter-süßfauliger,<br />

blassrötlich-türkisfarbener Geruch blieb im<br />

Schlafgemach zurück. Baldur schlief in dieser Nacht nicht<br />

mehr. Er dachte verzweifelt nach. Er musste die verlorene<br />

Spur wiederfinden, wenn er sein eigenes Leben retten wollte.<br />

Unbedingt. Die Weichen für die Zukunft waren gestellt<br />

worden...<br />

Findus sah sich um, gestützt von der freundlichen Alten und<br />

ermuntert von ihrem Zahnlückenlächeln. Holz war der<br />

vorherrschende Werkstoff in diesem Raum, in dieser kleinen<br />

Hütte. Recht roh bearbeitet und mit den deutlichen<br />

Abnutzungsspuren aus ungezählten Jahren. Der Raum selbst<br />

war klein, wurde von einer Feuerstelle erhellt. Es roch leicht<br />

rehbraun nach Rauch und etwas grünsilbergelb nach Fisch.<br />

Es war ein einzelner, großer Raum, mit einer durch einen<br />

dichten Vorhang abgeteilten Ecke – dahinter vermutlich das<br />

Schlafgemach der beiden Alten. Der Rest war ein<br />

kombinierter Arbeits-, Koch-, Aufenthalts- und Wohnraum.<br />

Zwei Fenster - davon eines mit hölzernen Fensterläden<br />

verschlossen - an gegenüberliegenden Wänden und eine Tür<br />

nach draußen. Von der Decke hingen geräucherte Fische<br />

herunter. Daher wohl auch der Geruch. Ein altes, löcheriges<br />

Fischernetz spannte sich quer über die Decke und diente der<br />

Aufbewahrung ärmlicher Habseligkeiten. Die Feuerstelle war<br />

kaminartig, obwohl Kamin wohl zuviel gesagt war, denn ein<br />

Teil des Rauchs wurde immer in die Hütte selbst abgegeben.<br />

Alles in allem vermittelte der Raum den Eindruck, als ob hier<br />

ein hart arbeitendes Ehepaar schon seit Jahren mehr schlecht<br />

als recht sein Dasein fristete. Daher wandte Findus seine<br />

Aufmerksamkeit nun den Gastgebern zu.<br />

„Wo bin ich?“ fragte er und setzte gleich noch hinzu „Wie<br />

lange bin ich schon hier?“ Die Alte antwortete. „Herr, ihr<br />

sprecht. Das ist gut. Dann geht es euch wieder besser und ihr<br />

werdet sicher wieder gesund. Ihr seid beim Tiedsiepe-Fischer,<br />

28


am Wilderfrio. Mein Mann fand euch vor vier Tagen im Fluss<br />

und Ihr wart mehr tot als lebendig.“ Der Mann: „Ich<br />

kontrollierte meine Reusen, als ich euch im Wasser treiben<br />

sah. Ich zog euch raus. Ihr wart beinahe ertrunken und<br />

bewusstlos. Mit dem Boot brachte ich euch zu meiner Hütte.<br />

Ihr schliefet einen höchst seltsamen Schlaf. Wir dachten<br />

schon, ihr würdet nie mehr aufwachen. Bis jetzt. Wie ist euer<br />

Name und woher kommt Ihr?“<br />

„Findus - mein Name ist Findus. Glaube ich wenigstens...“<br />

setzte der Findling zweifelnd hinzu. „Ihr glaubt?“ bemerkte<br />

die Alte, die Augenbrauen fragend erhoben. „Ja, ich... Mein<br />

Gedächtnis. Es ist weg. Ich weiß nichts mehr. Was ist<br />

Wilderfrio? Was ist Tiedsiepe?“ „Aber mit dem Wort Fischer<br />

könnt ihr etwas anfangen?“ setzte der Mann die Befragung<br />

fort. „Ja. Ihr fangt die im Wasser lebenden Tiere und lebt<br />

davon.“ „Dann kann euer Gedächtnis nicht gänzlich verloren<br />

sein“ folgerte der Mann und bedeutete seiner Frau ihm zu<br />

folgen. Sie verschwanden hinter dem Vorhang. So sehr<br />

Findus auch die Ohren spitzte, er konnte nun nur noch<br />

Bruchstücke von ihrer leise und drängend geführten<br />

Unterhaltung vernehmen. Der schwere Stoff verschluckte die<br />

meisten Geräusche.<br />

„... kaum zu glauben...“ „...vielleicht Recht, bei einem<br />

Schlag auf den Kopf...“ „...man nicht heilen, muss von selbst<br />

zurück...“ „...bei uns bleiben...“ „...aber nur wenn...“<br />

„...notfalls die Bônday...“ Dann, laut und deutlich: „Weib, was<br />

verlangst du noch alles von mir?“ Sichtlich verärgert wurde<br />

der Vorhang zurück geschlagen und der Mann tauchte wieder<br />

auf. Er sah Findus an. „Wer immer ihr seid - ihr bleibt vorerst<br />

bei uns und kuriert euch aus. Vielleicht kehrt euer Gedächtnis<br />

ja von allein zurück. Wenn ihr wieder gesund seid, dann dürft<br />

ihr bleiben, sofern ihr euch nützlich macht. Andernfalls geht.<br />

Versteht das bitte nicht falsch - aber wir haben zuwenig, um<br />

noch einen Esser durchzufüttern. Vielleicht vermag meine<br />

Frau euch zu helfen. Sie ist recht bewandert in der<br />

Kräuterkunde. Jetzt schlaft. Morgen bekommt ihr zu essen<br />

und dann sehen wir weiter.“ Der Fischer verschwand wieder<br />

hinter dem Vorhang und ließ Findus allein zurück. Findus<br />

legte sich zurück auf das harte Lager. Er dachte nach. Was<br />

hätte er sonst auch tun sollen?<br />

29


Baldur fand in dieser Nacht keine Ruhe mehr. Zu tief steckte<br />

ihm der Schrecken noch in den Knochen. Er überlegte hin<br />

und her, was er tun könnte. Als der Morgen graute, hatte er<br />

eine Entscheidung getroffen. Er würde mehrere Wege<br />

gleichzeitig beschreiten - oder treffender, sogar beschreiten<br />

müssen. Denn der Shâgun konnte jederzeit zurück kehren.<br />

Die Zeit brannte Baldur daher unter den Nägeln. Er würde<br />

sehr schnell und hart handeln müssen, schneller und härter als<br />

ihm lieb war. Denn durch die Schnelligkeit bestand die<br />

Gefahr, dass er Fehler machte, dass er etwas übersah. Und<br />

durch die Härte würde er sich sehr unbeliebt machen. Seine<br />

weiße Weste würde Flecke bekommen. Doch Alternativen<br />

gab es nicht. Er weckte seine Gespielin der Nacht und<br />

scheuchte sie grob mit barschen Worten fort. Dann begab er<br />

sich in seinen Arbeitsraum und ließ nach Neville, seinem<br />

besten Spion, schicken.<br />

„Neville, dein neuer Auftrag hat Vorrang vor allen<br />

anderen. Ihr - und damit ist die ganze Gilde der Spione<br />

gemeint - habt notfalls uneingeschränkte Mittel zur<br />

Verfügung. Findet einen Mann, dessen Aussehen ich nicht<br />

kenne. Ich weiß nur soviel: Er ist allein und niemand kennt<br />

ihn. Er hat keine Herkunft. Er ist - wo immer er sich auch<br />

befinden mag - ein Fremder. Sucht ihn, findet ihn und vor<br />

allem: Tötet ihn! Dieser Mann ist sehr gefährlich. Für uns alle.<br />

Es kann durchaus sein, dass er über große magische Kraft<br />

verfügt. Daher überlasse ich die Wahl der Todesart euch.<br />

Passt sie den Umständen an. Geht kein Risiko ein. Er muss<br />

sterben! Unbedingt und so schnell wie möglich! Durchsucht<br />

das ganze Reich. Nehmt keine Rücksicht auf Unschuldige.<br />

Die ganze Gilde hat bis auf Widerruf nur noch diese eine<br />

Aufgabe. Und nun geht. Fangt mit der Suche an. Sofort!“<br />

Damit war einerseits Neville entlassen und andererseits<br />

begannen die größte Fahndung und der größte Massenmord<br />

in der Geschichte <strong>Norgast</strong>s.<br />

Doch daran störte Baldur sich nicht im Mindesten. Er<br />

kannte keine Skrupel. Als nächstes rief er einen seiner Diener<br />

und ließ nach Mijneer Vankampen schicken. Mijneer<br />

30


Vankampen war in Helgenor der Vorsitzende des Syndikats<br />

der Kaufleute. Und er war ein Schleimer, wie er im Buche<br />

steht. Nach oben hin buckelnd und nach unten hin tretend<br />

betrat der Kaufherr schon kurz darauf unterwürfig Baldurs<br />

Arbeitsraum. Baldur ließ sich von der falschen Freundlichkeit<br />

des Kaufmannes nicht täuschen. Er informierte ihn<br />

dahingehend, dass die Kaufleute die Augen nach einem<br />

Fremden ohne Herkunft und ohne soziale Kontakte<br />

aufzuhalten hätten. Wenn sie den Gesuchten fänden, so<br />

sollten sie den Herrscher davon umgehend in Kenntnis setzen<br />

und auch gleichzeitig die Gilde der Spione informieren.<br />

Nachdem Mijneer Vankampen entlassen worden war,<br />

empfing Baldur die Obersten aus der Zunft der Piraten und<br />

aus der Zunft der Diebe. „Gesindel“ dachte er, doch es war<br />

gut, wenn man auch zu diesem Gesindel seine Beziehungen<br />

hatte. Er trug ihnen die gleichen Befehle auf wie zuvor schon<br />

Mijneer Vankampen und schickte sie fort.<br />

Jetzt blieben ihm nur noch zwei Sachen zu erledigen. Er<br />

wusste, dass sein Opfer mit magischer Kraft ausgestattet war.<br />

Normalerweise hätte Baldur sich jetzt zurückziehen und<br />

meditierend in die Gedanken seiner Untertanen einschalten<br />

können, um auf diese Weise den Gesuchten zu finden. Doch<br />

wenn der Letztere sich seiner Magie bewusst war, dann würde<br />

er sich gegen diese Art der Überwachung zur Wehr setzen.<br />

Baldur suchte dann vergeblich. Blieb noch der Paliwi. Dabei<br />

handelte es sich um eine kristallene Kugel; eine<br />

Hinterlassenschaft der großen Zauberer aus grauen Vorzeiten.<br />

Der Paliwi zeigte dem, der ihn zu beherrschen vermochte,<br />

jeden echten Magier und jede echte Hexe an. Sollte Baldurs<br />

Opfer sich nun aber keiner Magie bedienen, ja sich ihrer nicht<br />

einmal bewusst sein, dann würde er dem Paliwi verborgen<br />

bleiben. Baldur hielt das für äußerst unwahrscheinlich. Mit<br />

dem Paliwi würde er sein Opfer finden. Er holte einen<br />

versteckten und mehrfach gesicherten Schlüssel und begab<br />

sich in einen geheimen Kellerraum, welcher mitten unter dem<br />

Palast lag. Hier flossen viele magische Erdströme zusammen.<br />

Ideale Bedingungen. So suchte bald das ganze Reich <strong>Norgast</strong><br />

nach dem Mann ohne Aussehen, ohne Namen, ohne<br />

Herkunft - und auch ohne Gedächtnis, weshalb er<br />

31


unauffindbar blieb. Vorerst war das Findus´ Rettung, denn<br />

Baldur dachte dabei nicht an Malweýn´s Fluch...<br />

32


Kapitel 3: Der Fischer<br />

Wie durch ein Fenster hindurch gesehen erschienen die<br />

Bilder im Paliwi. Baldur saß konzentriert vor der Kristallkugel<br />

und betrachtete die sich abwechselnden, vorbeifliegenden<br />

Landschaften darin. Es waren immer Landschaften mit<br />

Menschen - Menschen mit magischen Fähigkeiten. Zauberer<br />

und Hexen. Die Anzahl der Magier hielt sich in Grenzen.<br />

Den einen oder anderen von ihnen kannte Baldur sogar<br />

persönlich. Hier ein Lohnmagier, da ein Wettermagier. Viele<br />

nur gering mit Magie begabte Personen, gerade mal zu einem<br />

mantrischen Sigillenzauber, spiegelmagischer Evokationen<br />

oder der Knotenmagie fähig und kaum mal alles zusammen.<br />

Dann aber waren da noch die Hexen. Und ihrer waren es<br />

viele - sehr viel mehr, als Baldur in seinen kühnsten Träumen<br />

erwartet hätte. Da würde er irgendwann etwas gegen<br />

unternehmen müssen. Gut, die Hexen waren nicht<br />

organisiert, standen in Konkurrenz zueinander und lebten<br />

auch räumlich getrennt. Die Freifliegenden und die in den<br />

verschiedenen Coven Organisierten hielten sich in etwa die<br />

Waage. Doch schon die schiere Anzahl dieser Personen<br />

verursachte ihm Bauchschmerzen. Sie bildeten ein lockeres<br />

Netzwerk. Er sah darin eine vage Bedrohung seiner eigenen<br />

Macht. Wenn die sich irgendwann einmal gegen ihn<br />

verbünden sollten - viele Hunde waren des Hasen Tod. Und<br />

Entfernungen würden im Ernstfall wohl kaum ein Hindernis<br />

darstellen.<br />

Als ob die reine Menge der Hexen noch nicht ausreichen<br />

würde, hatten die obendrein auch noch recht ansehnliche<br />

magische Kraft. Richtige Macht. Kaum eine, die nicht der<br />

Elementarmagie fähig war. Meist zwar nur in Teilen - also die<br />

Beherrschung von Wasser oder Erde oder Luft, Wind, Feuer<br />

- aber einige konnten alle Elemente beeinflussen und<br />

obendrein noch Naturgeister anrufen. Andere beschäftigten<br />

sich mit Drachenmagie. Gefährlich. Vor allem für ihn. Noch<br />

ein Problem. Und das ausgerechnet jetzt!<br />

Der Paliwi zeigte Baldur weiterhin die Bilder von<br />

Personen. Doch urplötzlich stoppte die Bildfolge. Zwei<br />

33


ernsteinfarbene Katzenaugen sahen ihn aus dem Kristall<br />

heraus an. Augen in einem schwarzhäutigen und von<br />

weißblondem Haar umrahmten Gesicht. Das Gesicht einer<br />

begehrenswerten Frau. Einer Hexe. Die Augen glühten<br />

goldfarben auf, zogen ihn in ihren Bann. Baldur keuchte.<br />

Nein - das konnte nicht sein! Seine Kugel konnte ihre Kraft<br />

nicht gegen ihn selbst richten! Ein magischer Zweikampf<br />

entbrannte.<br />

Mit einem Male jedoch erkannte Baldur erschrocken, dass<br />

der Angriff gar nicht ihm galt. Jedenfalls nicht ihm persönlich.<br />

Die Augen richteten sich von innen her auf den Paliwi. Dieser<br />

wurde schmutzig-trüb, grau, matt und glanzlos. Ein<br />

unheilvolles Knirschen kündigte das Ende des magischen<br />

Gegenstandes an. Sprünge durchzogen die Kristallkugel.<br />

Mit einem Wutschrei sprang Baldur auf, versetzte dem<br />

Tisch mit dem Paliwi einen Tritt. Der Tisch kippte um; der<br />

Paliwi fiel auf den steinernen Boden - und zersprang in<br />

tausend Teile! Ein Werkzeug von kaum fassbarer magischer<br />

Kraft - einfach vernichtet! Durch jemanden in seinem eigenen<br />

Reich; jemanden, den er nicht einmal kannte! Baldur tobte.<br />

Erste Anzeichen des Wahnsinns flackerten in seinen Augen.<br />

Wutschnaubend und grenzenlos in seinem Zorn auf alles und<br />

jeden verließ er den Keller, stürmte in sein Arbeitszimmer.<br />

Jeder, der ihn sah, fürchtete seinen Groll und versteckte sich<br />

schnell. Im Arbeitszimmer angekommen hatte Baldur sich<br />

etwas beruhigt. Aber nur etwas. Blieb noch die zweite Option.<br />

Die mentale Kontrolle der Bewohner seines Reiches. Eine<br />

Sisyphusarbeit. Aber direkt vor Ort einfacher zu erledigen.<br />

Baldur trat zum Fenster. Verärgert verwandelte sich in eine<br />

Krähe und flog davon, in Richtung Torboog.<br />

Findus erwachte vom köstlich-orangefarbenen Duft frischen<br />

Fladenbrots. Die Alte hatte die restliche Glut aus der<br />

Feuerstelle genutzt, um das Brot zu backen. Ein einfaches<br />

Brot zwar, nur ein mit Wasser angerührter dicker Teig aus<br />

Pflanzensamen und in der glühenden Holzkohle für kurze<br />

Zeit gegart, aber dennoch lecker riechend. „Frühstück“<br />

grinste sie und hielt ihm ein Stück des Brotes hin. „Einen<br />

34


Moment“ erwiderte er. Findus fand Kleidung neben seinem<br />

Lager. Er stand auf und kleidete sich rasch an. Dann ergriff er<br />

das ihm noch immer einladend entgegen gehaltene Brot. Er<br />

war sehr hungrig. „Wie nennt ihr euch eigentlich?“ fragte er<br />

kauend. „Snofork“ entgegnete die Alte und fügte noch hinzu:<br />

„Wenn wir jetzt schon unsere Rufnamen kennen, dann<br />

können wir uns auch Duzen. Das vereinfacht die Sache.“ Das<br />

war so üblich und Findus nickte. Gedanklich war er allerdings<br />

schon ganz woanders.<br />

Der Begriff „Rufname“ hatte etwas in seinem Kopf in<br />

Bewegung gesetzt. „Rufname, Rufname...“ dachte er.<br />

Plötzlich war ein Wissen da. Ein Wissen um die Bedeutung<br />

von Namen. Jedes Lebewesen, ja sogar jeder Gegenstand in<br />

<strong>Norgast</strong> hatte zwei Namen. Einen Rufnamen und einen<br />

echten Namen. Der echte Name war und blieb immer das<br />

Geheimnis des Namensträgers. Dieser Name kennzeichnete<br />

für den Betreffenden nämlich die Quintessenz der<br />

Wahrhaftigkeit seines ureigensten Seins an sich. Der echte<br />

Name konnte kaum ausgesprochen, sondern bestenfalls von<br />

den dazu befähigten Leuten gedanklich erfasst werden. Er<br />

war nur in Form von Runen aufzuschreiben.<br />

„Findus - Findus Far-Ur-Rit, Findus Fehu-Uruz-<br />

Raido in der alten magischen Sprache“ dachte er. „Far-Ur-Rit:<br />

Alles ist im Fließen bis du dich selbst erkennst und deinem<br />

Schicksal vertraust.“ Das war sein ‚echter‘ Name. Die<br />

Kenntnis des echten Namens verlieh unbeschränkte Macht<br />

über den Namensträger. Er hätte den echten Namen von<br />

Snofork wahrscheinlich problemlos erraten können, doch er<br />

schreckte davor zurück. Es schickte sich nicht. Vor allem<br />

deswegen, weil viele Personen ihren eigenen, echten Namen<br />

nicht einmal kannten. Viele Leute suchten meditativ nach<br />

ihrem wahren Namen – indem sie sich über einen Stein<br />

Gedanken machend in sich selbst versenkten und dann die<br />

Welt in einem Staubkorn erfuhren. Ob sie damit erfolgreich<br />

waren? Findus wusste es nicht. Er wusste auch nicht, wie<br />

dieses Wissen in seinen Kopf gelangt war. War das Magie?<br />

Findus saß noch kauend und in Gedanken versunken am<br />

Tisch, als die Tür sich öffnete. Schweren Schrittes stapfte der<br />

alte Fischer herein, sah Findus an. „Du kannst mich Bewok<br />

nennen. Hast du dir inzwischen überlegt, ob du bleiben oder<br />

35


gehen willst?“ Findus blickte auf und entgegnete: „Ich bleibe,<br />

wenn ich darf. Vorerst wenigstens.“ Bei sich dachte er dabei:<br />

„Wo soll ich auch hin?“ „Gut, komm´ erst einmal wieder zu<br />

Kräften. Heute hast du deinen freien Tag. Ab morgen wird<br />

mitgearbeitet.“ Polterte der Fischer und fuhr sogleich fort:<br />

„Wenn du gegessen hast, dann zeige ich dir die Umgebung.<br />

Damit du Dich nicht verläufst. Ist dein Gedächtnis<br />

inzwischen zurück gekommen?“ Verlegen schüttelte Findus<br />

den Kopf. Aufmunternd grinste Snofork ihn an. „Das wird<br />

schon“ meinte sie. Der Fischer stellte einen Krug mit<br />

frischem Quellwasser auf den Tisch und sie beendeten<br />

schweigend ihre Mahlzeit. Dann gingen Findus und Bewok<br />

nach draußen.<br />

Als Findus vor die Tür trat, musste er einen Moment lang<br />

unwillkürlich stehen bleiben. Zu vielfältig waren die auf ihn<br />

einstürzenden Eindrücke. Ein Sommertag, die Sonne war<br />

bereits aufgegangen und es würde warm werden. Strahlend<br />

blauer Himmel mit wenigen weißen Tupfern darauf. Zahllose<br />

Vögel pfiffen, keckerten, sangen, zwitscherten, tschilpten.<br />

Geräusche, die in seiner Wahrnehmung wie pfeilähnliche,<br />

weiß-silberne Formen vorbeiflogen oder die kreisend auf ihn<br />

zukamen. Dazwischen regenbogenfarbene Ringstrukturen,<br />

goldgelb-silbrige Linien, satt-grünliche Schlangengebilde,<br />

rosa-strukturierte kristalline Formen. Jede Vogelstimme ein<br />

anderes Bild vor dem inneren Auge. Ein Universum aus<br />

psychedelischen Formen und Farben, aus perfekter<br />

Harmonie. Echte Natur im Ursprung des Seins. Etwas von<br />

dem er - woher? - wusste, dass er es für sehr lange Zeit hatte<br />

missen müssen. Er blendete die synästhetische Wahrnehmung<br />

aus und betrachtete die Landschaft. Unmittelbar vor ihm<br />

führte ein ausgetretener Pfad zu einem Steg, welcher in einen<br />

breiten und träge dahinströmenden Fluss ragte. Am Steg war<br />

ein kleines Boot verträut und tanzte sacht auf den leise<br />

glucksenden Wellen. Rechts von ihm schien eine Landzunge<br />

zu sein, denn weiter in der Ferne spiegelte sich hinter dem<br />

Land eine große Wasserfläche.<br />

Bewok ließ ihm die Zeit, die er brauchte, bevor der Fischer<br />

erläuterte: „Vor dir, das ist der Wilderfrio. Dort oben“ - er<br />

wies nach rechts – „trifft der Wilderfrio als Wildbach auf den<br />

‚Schlafenden Arm‘ der Tiedsiepe. Beide vereinigen sich zu<br />

36


diesem Strom.“ „Was ist der ‚Schlafende Arm‘ der<br />

Tiedsiepe?“ „Wenn ich Dir das genau erklären könnte... Es ist<br />

so: Oberhalb des ‚Schlafenden Arms‘ befindet sich ein riesiger<br />

See, die Tiedsiepe. Eigentlich schon eher ein Binnenmeer. Die<br />

Tiedsiepe ist ein sehr gefährliches Pflaster. Einmal täglich fällt<br />

sie vollkommen trocken und man kann auf dem Grund<br />

entlang gehen. Und einmal am Tag füllt sie sich mit Wasser.<br />

Aber frage mich nicht, wo das herkommt. Jedenfalls ist es<br />

soviel, dass die Tiedsiepe jedes Mal überläuft. Ein Wasserfall<br />

speist dann den ‚Schlafenden Arm‘ und er wird reißend. Zu<br />

dieser Zeit ein absolut tödliches Gewässer wegen der vielen<br />

Strudel und Strömungen. Zur Tiedsiepe-Trockenzeit gut für<br />

den Fischfang mit Netzen. Ich habe dort oben noch ein<br />

Boot.“ Für den eher wortkargen Fischer war das eine<br />

ziemliche lange Rede gewesen. Er verstummte und sah<br />

Findus an. Findus nickte zustimmend. Er hatte verstanden.<br />

Plötzlich stieg ihm ein vertrauter, dunkelgrau-ausgefranster<br />

Geruch in die Nase. „Habt ihr...?“ Der Fischer nickte. „Nur<br />

vom Fisch kann man nicht leben. Komm´ mit.“ Bewok bog<br />

um die Ecke der Hütte. Findus folgte ihm und fand einen<br />

kleinen Pferch vor. Ein Schwein, vier Hühner. Daher der<br />

Geruch. Der Stall für die Tiere war im Gegensatz zur Hütte<br />

gänzlich aus Schilf gefertigt worden. Bei der Hütte des<br />

Fischerpaares bestand nur das Dach aus Schilf und der Rest<br />

aus Holz. Doch das Rohr schien der bevorzugte Baustoff zu<br />

sein. Bewok bemerkte Findus´ interessierten Blick und<br />

erläuterte: „Wir haben hier zwar keine Reichtümer, aber Schilf<br />

gibt es im Überfluss. Es wäre eine sinnlose Verschwendung,<br />

nicht darauf zurück zu greifen.“ Findus nickte wieder.<br />

Logisch - man verwendete, was da war. „Komm´ weiter“<br />

sagte der Fischer und sie umrundeten die ärmliche Hütte,<br />

standen jetzt auf der flussabgewandten Seite. Vor Findus´<br />

Augen stieg das Gelände recht steil zu einem dicht<br />

bewaldeten Abhang an.<br />

„Der Wald liefert uns Brennholz. Auch Holz und Kräuter<br />

für das Räuchern der Fische. Hin und wieder kommt mal ein<br />

fahrender Händler vorbei und kauft uns ein paar geräucherte<br />

Fische ab. Das Geld und das Tauschgut verwenden wir dann<br />

für die notwendigen Reparaturen, für Salz, Öl, Honig und<br />

sowas. Holz haben wir eigentlich nie genug. Deine erste<br />

37


Aufgabe morgen wird daher darin bestehen, trockenes Holz<br />

zu sammeln. So, jetzt mach´ Dich selbst mit der Gegend<br />

vertraut. Ich habe zu tun.“ Sprach´s und ging von dannen.<br />

Findus sah dem Fischer nach. Blickte danach zum Wald<br />

hinauf. Warum eigentlich keinen Waldspaziergang<br />

unternehmen?<br />

Es musste am frühen Morgen geregnet haben, denn der<br />

Boden war nass. Die ersten Schritte. Eine andere Welt. Das<br />

hellbraun-weiße Quatschen von Morast unter den Füßen. Er<br />

mochte dieses Geräusch, das in ihm ein Gefühl behaglicher<br />

Geborgenheit hervorrief. Er genoss die Ruhe. Schräg rechts<br />

über ihm waren auf einmal diese Formen zu sehen, die wie<br />

versetzt übereinander gestapelte Schubladen aussahen. Sie<br />

verblassten und wurden durch einen rotgolden<br />

schimmernden, schräg waagerecht verlaufenden,<br />

rotweißgoldenen Zapfen ersetzt: Eine Blaumeise. Erst hatte<br />

sie auf den Regen geschimpft und dann mit einem Träller ihr<br />

Lied angestimmt.<br />

Die Blätter an den Bäumen waren noch immer schwer<br />

vom Regen. Überall tropfte es. Plitsch-plitsch-platsch. Jedes<br />

Tropfengeräusch für sich sah aus wie ein gefaltetes, hellgraues<br />

Stück Pergament. Ganze Pergamentberge, die von den<br />

Bäumen rieselten. Schön. Und die Gerüche. Eben noch<br />

durchdringend rot-süß, so dass alles wie durch einen roten<br />

Schleier hindurch aussah. Die Ursache dieses Geruchs<br />

vermochte er nicht zu ermitteln. Hinter der nächsten Kurve<br />

veränderte sich der Geruch, sah aus wie die Borsten eines<br />

Tierfells, braun mit grauen Spitzen, war zimtig. Der Geruch<br />

ließ eine Art von kribbelndem Gefühl seinen Rücken hinunter<br />

laufen. Es lag ein leichter Nebel über Pfad und Wald, ließ alles<br />

unwirklich erscheinen. Er war mutterseelenallein hier, hatte<br />

seine Ruhe. Ruhe zum Nachdenken. Doch so sehr Findus<br />

sich auch anstrengte - sein Gedächtnis blieb leer. Links von<br />

ihm schwarze Flecken; es waren Schritte im nassen Laub des<br />

Unterholzes. Irgendwas Schweres, Vierbeiniges. Könnte ein<br />

großes Reh sein. Vielleicht aber auch ein Hirsch, wenngleich<br />

unwahrscheinlich. Eher ein Wildschwein. Mit denen war nicht<br />

zu spaßen, wie er aus Erfahrung wusste. Welcher Erfahrung?<br />

Er machte, dass er weiterkam.<br />

38


Er ging in Gedanken versunken vor sich hin. Plötzlich ein<br />

lauter Perlenvorhang. Der Schrei eines Hähers. Ohne es zu<br />

bemerken - da er sich nahezu lautlos bewegt hatte - war er bis<br />

auf ein paar Meter an das Tier herangekommen, hatte es<br />

aufgescheucht. Der Ruf des Vogels löste ein wahres Echo<br />

weiterer Häherschreie aus. Dadurch regnete es synästhetische<br />

Perlen. Überall. Silbrig. Aber nicht alle waren rund und nicht<br />

alle waren exakt silberfarben. Je nach Tier mal etwas in Länge<br />

gezogen, mal mehr ins Gelbliche hinein gehend. Individuell<br />

verschieden. Stimmenfingerabdrücke. Die Bäume wurden<br />

lichter, ließen den Blick auf einzelne kleine<br />

Schönwetterwolken zu. Weiß-blaue Federfetzen spiegelten<br />

sich in großen, ockerfarbenen Pfützen, was in ihm eine Art<br />

von innerer Stille hervorrief. Darauf fallende<br />

Pergamentfaltungen von den Bäumen verursachten<br />

Ringmuster, die wie ein helles „Pling-Plong“ klangen.<br />

Wieder ein anderer synästhetisch wahrgenommener<br />

Geruch, türkis mit tiefblauen Punkten. Von Pilzen, also erdigmuddig.<br />

Inzwischen war er schon weit gewandert. Einzelne,<br />

verirrte Strahlen der Sonne kämpften sich durch die<br />

Baumkronen. Eine wohlige Müdigkeit machte sich in ihm<br />

bemerkbar, konnte vom Wandern, vielleicht aber auch von<br />

der Orgie verschiedenster synästhetischer Empfindungen<br />

kommen. Zeit, allmählich den Rückweg anzutreten. Dazu<br />

wählte Findus eine andere Route, orientierte sich am Stand<br />

der Sonne. Ging weiter. Schloss die Augen immer wieder für<br />

ein paar Schritte beim Laufen, orientierte sich nur nach den<br />

Ohren, Gerüchen und den geisterhaften Lichterscheinungen<br />

vor seinem inneren Auge. Und haptisch, denn die Sohlen<br />

waren ziemlich dünn, so dass er die Steine spüren konnte.<br />

Herrlich, denn das hatte was vom Barfußlaufen. Irgendwann<br />

fühlte er sich heiter-erschöpft. Musste Kraft tanken.<br />

Er legte die Hand an einen Baum, eine Buche, und<br />

verharrte. Schloss die Augen und lauschte dem, was der Baum<br />

ihm zu sagen hatte. Sah vor seinem inneren Auge den Baum.<br />

Wie im Zeitraffer lief jetzt die Zeit rückwärts. Sah in<br />

Gedanken, wie der Baum heranwuchs. Wie er Blätter verlor<br />

und bildete. Wie er Wind und Wetter, Schnee und Sturm,<br />

Regen und Hitze trotzte. Wie er kleiner wurde. Wie sich sein<br />

Keim aus der Laubschicht bohrte. Wie sein Keim in der Erde<br />

39


lag. Wie die Buchecker auf die Erde fiel. Wie sie sich an einem<br />

anderen Baum aus Mineralstoffen und Flüssigkeiten geformt<br />

hatte. Findus öffnete die Augen, nahm die Hand vom Stamm.<br />

Sie hinterließ einen dunklen Abdruck auf der Rinde und war<br />

schmutzig, aber er fühlte sich mehr als erfrischt, fröhlich,<br />

vollkommen locker. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und<br />

hätte unmöglich sagen können, wie lange diese meditativbesinnliche<br />

Phase, dieses Die-Natur-Erfahren wohl angedauert<br />

hatte.<br />

Gegenlicht. Die Sonne verwandelte die Wasserflächen der<br />

gigantischen Pfützen in ein gleißendes Gold; fast wie ein<br />

Schrei hörte es sich an. Silbrige, metallisch-nasse<br />

Vogelstimmen-Ringe ringsum in allen Farbvarianten,<br />

aufgelockert durch Ellipsen und vereinzelte, abgeschrägte<br />

Polygone. Eine Biegung des Weges, ein neuer Geruch, sattgün.<br />

Er vermutete, dass der von dem hier allgegenwärtigen<br />

Wurmfarn hervorgerufen wurde, obgleich der Farn selbst<br />

noch die hellbraun-gelbliche Farbe vom letzten Herbst<br />

aufwies. Über ihm ein Gewirr von dunkelrotgrauen<br />

Hohlkugelabschnitten: Das Flattern eines Schwarms von<br />

Wildtauben, welchen er unabsichtlich aufgescheucht hatte. In<br />

der Ferne der dunkle, rötliche, Hohlnadel-ähnliche Ruf eines<br />

Bussards. Wiederholte sich mehrmals. Der bisher nur leichte<br />

Nebel wurde dicht, immer dichter, dämpfte die Vogelrufe fast<br />

bis zur Unhörbarkeit. Eine reale Traumwelt, ganz für ihn<br />

allein - wobei diese Begriffswahl ihm weder als Koan noch als<br />

Paradoxon erschien. Eine reale Traumwelt, wo die Natur<br />

einen Wert in sich selbst hatte. Dann verließ er den Wald und<br />

stand wieder vor der Hütte des Fischers. Ihm war klar, dass er<br />

einmal dem Tode entronnen sein musste. Irgend etwas war<br />

dabei mit ihm geschehen, hatte sein Denken dauerhaft<br />

verändert. Findus betrachtete die Natur jetzt mit anderen<br />

Augen, sah das Leben nicht mehr so verbissen. Wozu hinter<br />

Reichtümern herlaufen? Es gab wichtigere Werte! Und der<br />

Tod hatte für ihn viel von seinem Schrecken verloren... Es<br />

war bereits Nachmittag geworden. Auch der Rest des Tages<br />

verging sehr schnell.<br />

40


Am gleichen Tag in der Stadt Helgeboog. Neville rief die<br />

Gilde der Spione zusammen. Gilde war eigentlich ein sehr<br />

hochtrabender Begriff für die dreißig Personen umfassende<br />

Todestruppe, von denen zwei fehlten, weil sie im Reich<br />

unterwegs waren. Trotzdem - jeder aus dieser Gruppe war<br />

handverlesen, fürchtete weder Tod noch Teufel und war<br />

Neville bis hin zur Selbstaufgabe bedingungslos ergeben. Er<br />

war dafür bekannt, dass Gnade ein ihm unbekanntes Wort<br />

war. Und er ging immer taktisch klug, heimtückisch, eiskalt,<br />

skrupellos und mit äußerster Härte vor. Deswegen war er als<br />

Baldur´s blutigster Handlanger bekannt und gefürchtet. Das<br />

kam natürlich nicht von ungefähr. Neville zählte zu den<br />

Menschen, die ihren eigenen ‚echten‘ Namen kannten. Vor<br />

sehr langer Zeit einmal war er sturzbetrunken gewesen und<br />

vertraute diesen Namen Baldur an. Neville - „Neville<br />

Man-Ehu“ oder „Neville Manaz-Ehwaz“, wie die Magier und<br />

Hexen sagen würden: „Fördere das eigene Wohl durch starke<br />

Gemeinsamkeit.“ Und wer hatte ihn damals wohl so<br />

betrunken gemacht und übte heute Macht über ihn aus? Und<br />

mit wem bestand wohl die Gemeinsamkeit?<br />

Neville instruierte seine Mannschaft. So sagte er im Zuge<br />

seiner Ansprache: „Wir haben uneingeschränkte Mittel zur<br />

Verfügung. Das erlaubt es uns, Denunzianten zu belohnen.<br />

Versprecht den Leuten eine Belohnung! Geht jedem<br />

einzelnen Hinweis nach. Wer auch nur im Verdacht steht,<br />

dem Gesuchten geholfen oder gar Unterschlupf gewährt zu<br />

haben, der wird verhört. Folter ist zulässig. Vergesst auch die<br />

Verwendung der Hungertürme nicht.“<br />

Die Hungertürme waren ein beliebtes Mittel früherer<br />

Tyrannen gewesen, um unliebsame Mitmenschen vom<br />

Angesicht der Welt verschwinden zu lassen. Diese steinernen<br />

Türme waren uralt, rund, mit etwa fünf bis zehn Schritten im<br />

Durchmesser und zu hoch, um herausklettern zu können. Sie<br />

waren einzeln stehend über das ganze Reich verteilt. Nach<br />

oben hin verjüngten sie sich etwas und ein Dach besaßen sie<br />

nicht. Nur eine einzige halb mannshohe Tür aus dickem<br />

Eichenholz, mit Eisen beschlagen. Keine Fenster. Die<br />

Verurteilten wurden in diese Türme gesperrt. Wasser<br />

bekamen sie vom Regen. Nahrung nicht. Sie verhungerten<br />

elendig oder sie verfaulten bei lebendigem Leib. Wer großes<br />

41


Glück hatte, der erfror im Winter schon nach kurzer Zeit.<br />

Neville wusste um die abschreckende Wirkung dieser Türme<br />

auf die Bevölkerung. Er gedachte, sie erneut zu gebrauchen.<br />

Derweil war Baldur selbst in einem ganz anderen Teil von<br />

<strong>Norgast</strong> aktiv und durchmusterte die Gedanken seiner<br />

Untertanen. Mit Wohlwollen sah er die brutale Tätigkeit<br />

seiner Spione. Gut – sehr gut sogar. Viele Tote. Viele Seelen.<br />

Das würde den Dämon erst einmal beschäftigen und ihm<br />

selbst Zeit verschaffen. Die unsichtbare Schlinge um den Hals<br />

des Mannes ohne Gedächtnis zog sich langsam aber sicher zu,<br />

ohne dass der Letztere etwas davon bemerkt hätte!<br />

Der nächste Tag. Nach einem zwar kärglichen, doch<br />

gleichzeitig auch sättigenden Frühstück, nahm der Fischer<br />

Findus mit nach draußen. „Sammle am Vormittag Brennholz<br />

soviel du finden kannst“ befahl Bewok. Er reichte Findus<br />

einen langen und recht schweren messerähnlichen<br />

Gegenstand, welcher unschwer als früheres Kurzschwert<br />

erkennbar war. Es musste uralt sein. Früher bestimmt einmal<br />

sehr wertvoll, hatte es endlose Zeiten und viele Besitzer<br />

überdauert. Eine Seite der Klinge war scharf geschliffen und<br />

leicht gebogen. Sie glänzte. In die andere Seite waren dicht an<br />

dicht grobe Zacken eingearbeitet worden - nachträglich, wie<br />

leicht zu sehen war. Bewok erläuterte: „Dein Werkzeug. Die<br />

glatte Seite dient als Axt. Mit der gezackten Seite kannst du<br />

das Holz sägen. Gleichzeitig dient das Ding zu deiner<br />

Verteidigung, falls das nötig sein sollte. Wir haben hier Wölfe,<br />

Bären und Luchse. Und Kreuzottern. Das sind Giftschlangen.<br />

Aber die bekommst du sowieso nur dann zu Gesicht, wenn<br />

du dich leichtfüßig wie ein junges Mädchen bewegst.<br />

Normalerweise spüren sie deinen Schritt und flüchten lange<br />

bevor du sie siehst. Den Bären gehst du besser aus dem Weg.<br />

Das gilt auch für die Wölfe und für Wildschweine.“ Er sah<br />

Findus scharf an. „Ich werde vorsichtig sein“ versprach<br />

Findus und Bewok machte sich auf den Weg zu seinem Boot.<br />

Findus umrundete die Hütte und ging auf dem ihm bereits<br />

vom Vortag bekannten Weg in den Wald. Ihm waren gestern<br />

schon ein paar etwa armstarke, grau-braune Totholzstämme<br />

42


aufgefallen. Er fand sie rasch wieder; fällte sie. Zerkleinerte<br />

das Holz auf tragbare Größe und schleppte es zur Hütte, wo<br />

er es unter einem Schilfunterstand aufschichtete, so dass es<br />

vor dem Regen geschützt war. Armvoll um Armvoll, Fuder<br />

um Fuder. Rasch wuchs der Stapel. Unterwegs fiel ihm eine<br />

zottig-behaarte hüfthohe Pflanze von abstoßendem Geruch<br />

und mit gelblich-weißen, geäderten Blüten auf.<br />

„Hundspisswurzel“ stand da plötzlich ein Begriff in seinem<br />

Kopf. Diese Pflanze - sie war hochgiftig. Und dennoch...<br />

Irgendeinen Zweck hatte sie, das war im klar.<br />

Ohne sagen zu können warum, bat er Snofork um zwei<br />

alte Tücher und um eine Flasche mit etwas Öl. „Öl?“ fragte<br />

sie und „Haben wir nicht.“ Sie überlegte einen Moment, dann<br />

„Warte mal. Bewok hat mal versucht, Fischöl herzustellen.<br />

Furchtbares Zeug. Stinkt widerlich. Zu nichts zu gebrauchen.<br />

Reicht Dir das?“ „Ja, das ist schon in Ordnung“ antwortete<br />

Findus. „Willst du mir nicht sagen, wozu du es brauchst?“<br />

„Vielleicht erinnere ich mich an etwas. Wenn´s funktioniert,<br />

dann erfährst du das sowieso. Lass´ mir doch mal ein kleines<br />

Geheimnis.“ Kopfschüttelnd und unverständliches Zeug vor<br />

sich hinbrummelnd gab sie ihm das Gewünschte und Findus<br />

zog von dannen.<br />

Wieder im Wald sammelte er einen flachen und einen<br />

runden Stein. Mit dem Kurzschwert-Werkzeug schnitt er von<br />

einem umgestürzten Nadelbaum ein Stück Rinde ab.<br />

Nadelbäume lieferten dickere Rinde als Laubbäume, eine gute<br />

Unterlage. Dann umwickelte er seine Hände mit den Tüchern<br />

und schnitt einige Teile der widerlich riechenden Pflanze ab.<br />

Mischte viele der violett geäderten Blütenkelche unter das<br />

Pflanzenmaterial. Stück für Stück zerdrückte er es zwischen<br />

den beiden Steinen und praktizierte die schmierige Masse in<br />

die Ölflasche, welche danach gut verkorkt wurde. Trotzdem<br />

er so gut es eben ging die Luft angehalten und sich zum<br />

Atemschöpfen immer ein gehöriges Stück zur Seite bewegt<br />

hatte, spürte er, wie es ihm schwindlig-leicht im Kopf wurde.<br />

Er hatte zuviel von dem Geruch eingeatmet. Aber er war jetzt<br />

ja auch fertig. Nur noch die Flasche außen abwaschen. Die<br />

Tücher würde er nachher im Fluss reinigen können.<br />

Findus reinigte das Äußere der Flasche gerade in einer<br />

Pfütze, als er das Gefühl bekam, beobachtet zu werden.<br />

43


Alarmiert blickte er auf. Doch Gefahr bestand nicht. Ein<br />

Fuchs war aus dem Unterholz gekommen und kaum zwei<br />

Schritte von Findus entfernt stehen geblieben. Er sah Findus<br />

an. Findus sah ihn an. Eine ganze Weile betrachteten die<br />

beiden einander. In Findus´ Geist regte sich etwas. Er schien<br />

die Welt plötzlich irgendwie aus der Fuchsperspektive zu<br />

betrachten. Die Gerüche hatten sich auch verändert. Sie<br />

waren intensiver und vielfältiger geworden. Eine ganze<br />

Geruchswelt. Und Vorsicht war das vorherrschende Gefühl.<br />

Daneben aber auch noch ängstliche Neugier. „Willst du denn<br />

gar nicht flüchten?“ fragte Findus den Fuchs. Der gab als<br />

Antwort eine Art von Maunzen, fast wie bei einer Katze, von<br />

sich. Blieb aber wo er war. Findus hatte plötzlich das Gefühl,<br />

als wollte Fell durch seine Haut sprießen. Erschrocken stand<br />

auf. „Verschwinde“ sagte er unwirsch zu dem Fuchs. Der gab<br />

einen wachsgelb-bellenden Laut von sich und verzog sich<br />

wieder ins Unterholz. Ein verrücktes Erlebnis!<br />

Findus nahm die Flasche und ging zurück; deponierte das<br />

Gefäß an einen sicheren Ort außerhalb der Hütte. Dann<br />

reinigte er die Tücher im Fluss. Flussabwärts begannen ein<br />

paar Forellen zu springen. „Springende Fische...“ dachte er<br />

„...ich habe Recht gehabt.“ Er breitete die Tücher nahe der<br />

Hütte zum Trocknen aus und informierte Snofork. Danach<br />

machte er sich wieder an das Sammeln von Holz. Zu Mittag<br />

aßen sie alle drei zusammen. Dann ging die Arbeit weiter.<br />

Bewok war am Morgen nicht ganz erfolglos geblieben und<br />

hatte ein paar Fische mitgebracht. Nicht gerade viele, aber es<br />

würde reichen. Er zeigte Findus, wie die Fische haltbar zu<br />

machen waren. Die Tiere wurden ausgenommen, gut<br />

gewaschen und für geraume Zeit an die Luft und in die pralle<br />

Sonne gehängt, so dass sie gut abtrocknen konnten. Es folgte<br />

ein reichliches Salzen. Daraufhin maß der Fischer eine ganz<br />

bestimmte Menge von älterem und daher schon richtig<br />

durchgetrocknetem Feuerholz ab. Bewok bedeutete Findus,<br />

das Holz zu tragen und ihm zu folgen. Sie gingen zu einer<br />

nahegelegenen Stelle am Waldrand. Dort befand sich eine<br />

steinerne Umfassung mit einer Eisenplatte darüber. Auf der<br />

Eisenplatte stand ein kleiner Turm aus Lehm, darüber ein<br />

hölzerner Deckel mit innenliegenden Haken.<br />

44


Bewok setzte den Korb mit den darin befindlichen<br />

Fischen sowie eine geheimnisvolle Holzkiste ab. Der Fischer<br />

öffnete die Kiste und Findus warf einen Blick hinein. Was<br />

immer er auch erwartete - er wurde enttäuscht. Bewok<br />

bemerkte Findus´ Gesichtsausdruck und lachte. „Meine<br />

Räucherkiste“ sagte er. „Das hier“ - er wies auf eine Mischung<br />

aus getrockneten Schilfblüten, zerkleinerten Schilfstängeln,<br />

Holzspänen und kleinen Holzkohlestücken – „ist der Zunder<br />

zum Entzünden des Feuers. Das hier“ - nun wies er auf eine<br />

andere Kammer in der kleinen Kiste – „ist Holzmehl aus<br />

Buche, Eiche und Esche. Pack´ das Feuerholz schon mal<br />

unten rein.“ Bewok wies auf die Steineinfassung und half<br />

Findus, das seltsame Gebilde zu zerlegen. Findus befolgte<br />

neugierig alle Anweisungen. Der Fischer schichtete das<br />

Feuerholz etwas um und legte dann einen Zunderrand um<br />

und in die Mitte des Holzes. Nun deponierte er die<br />

Eisenplatte darüber und stellte den Lehmturm oben auf. Er<br />

gab die Holzmehlmischung hinein und verteilte sie<br />

gleichmäßig auf dem Boden der eisernen Platte.<br />

Dann griff er nach einem Lederbeutel am Gürtel. Er<br />

entnahm dem Beutel eine Handfläche voll von krümeligem<br />

Material. „Das ist für mich beinahe der wertvollste Rohstoff“<br />

erläuterte Bewok und setzte hinzu: „Eine Mischung von<br />

getrocknetem Heidekraut und Treibholz vom fernen Maar.<br />

Die geben dem Fisch ein unvergleichliches Aroma.“ Er fügte<br />

die Gewürze dem Holzmehl hinzu. Jetzt wurden die Fische in<br />

ein Weidengeflecht gegeben und in den Turm eingehängt.<br />

Bewok legte den Deckel auf. Ein paar Hände voll nasser Erde<br />

dichteten Holz und Lehmröhre gegen die Außenluft ab. „Die<br />

Sonne steht gut“ sagte der Fischer und entnahm einem<br />

zweiten Lederbeutel ein geschliffenes Glas. Er hielt es derart<br />

dicht beim Zunder, dass sich ein grellweißer Lichtfleck<br />

bildete. Nicht lange und Rauch kräuselte nach oben.<br />

Vorsichtig pustete Bewok, um aus der Glut Flammen zu<br />

machen. Bald darauf brannte auch das Feuerholz.<br />

„Der Vorgang nennt sich Räuchern“ erklärte er dem ratlos<br />

dreinblickenden Findus. „Das Feuerholz verbrennt mit heißer<br />

Flamme und heizt die Eisenplatte auf. Die gibt die Hitze an<br />

das Holzmehl und an die Gewürze weiter. Die verschwelen<br />

und der Rauch konserviert den Fisch für viele Tage. Wenn<br />

45


man ihn danach nochmal an der Luft trocknet, dann kann<br />

man ihn sehr lange aufbewahren.“ „Und wie weißt du, wann<br />

der Fisch fertig ist? Nimmst du den Deckel ab und siehst<br />

nach?“ fragte Findus. „Bloß nicht“ antwortete der Fischer<br />

abwinkend „das ist das Schlimmste, was man überhaupt tun<br />

kann. Dann entweicht der Rauch. Das Abnehmen des<br />

Deckels unterbricht den Räuchervorgang. Macht man das zu<br />

früh, dann ist der Fisch unwiederbringlich verdorben.“<br />

Bewok machte eine kurze Pause, bevor er weiter sprach.<br />

„Es ist viel einfacher. Ich messe die Menge an Feuerholz ab,<br />

die gebraucht wird. Wenn das Holz runtergebrannt ist, dann<br />

war der Fisch lange genug in der Tonne.“ Findus nickte. Das<br />

klang alles ganz logisch und war leicht nachvollziehbar. Aber<br />

etwas anderes ging ihm noch durch den Kopf und ließ seinen<br />

Respekt vor Bewoks Fähigkeiten steigen. „Du brauchst die<br />

Sonne, um das Feuer zu entzünden?“ fragte Findus den<br />

Fischer. Bewok nickte. „Dann musst du aber auch alles<br />

andere berücksichtigen. Wie das Wetter wird, bevor du zum<br />

Fischen gehst. Rechtzeitig Feuerholz und Kräuter beschaffen.<br />

Die Gewürze beim fahrenden Händler eintauschen und mehr<br />

noch.“ Bewok nickte wieder. „Das erfordert ein sehr<br />

weitsichtiges Vorausschauen - woher weißt Du, was du wann<br />

tun musst?“ „Erfahrung“ brummte Bewok nur, setzte leise<br />

ein „und Hunger“ hinzu. „Manchmal bringe ich auch<br />

glühende Holzkohle mit“ ergänzte er noch, murmelte etwas<br />

Unverständliches über ‚unnütze Fragerei‘ und schwieg<br />

danach.<br />

Das Räuchern zog sich bis zum frühen Abend hin. Bewok<br />

löschte die restliche Glut mit etwas Wasser und klaubte die<br />

noch brauchbaren Holzkohlestücken heraus – ein wertvolles<br />

Gut, denn was übrig blieb, dass würde er später nicht beim<br />

fahrenden Händler eintauschen müssen. Zum Schluss<br />

bedeckten sie die Feuerstelle mit Erde. Mit dem frisch<br />

geräucherten Fisch traten beide den <strong>Heim</strong>weg an. Dabei wies<br />

Bewok gen Himmel und sprach: „Halbmond. Zunehmend.<br />

Der fahrende Händler kommt immer um den Vollmond<br />

herum. Mit etwas Glück haben wir dieses Mal genug zum<br />

Tauschen. Lass´ uns die nächsten Tage versuchen, soviele<br />

Fische wie möglich an Land zu bringen und zu räuchern.“<br />

Auf einmal blieb Bewok stehen und sah Findus direkt ins<br />

46


Gesicht. „Was macht dein Gedächtnis?“ fragte er. Findus<br />

zuckte mit den Schultern: „Keine Veränderung. Da ist einfach<br />

nichts.“ „Ich habe mit Snofork gesprochen. Sie kennt sich mit<br />

Kräutern aus und kann Dir vielleicht helfen. Eine Hexe ist sie<br />

nicht, denn sie verfügt praktisch über keine magische Kraft.<br />

Aber sie kann die Magie anderer Menschen spüren. Und sie<br />

sagte, dass deine sehr groß sein wird, wenn du dein<br />

Gedächtnis zurück bekommst. Jedenfalls war sie heute<br />

unterwegs, um Kräuter für dich zu sammeln. Versuch´s<br />

einfach; vertrau´ ihr. Es schadet dir nicht.“ Findus hatte<br />

aufmerksam zugehört. Ein zustimmendes Nicken seinerseits<br />

bestätigte sein Einverständnis. Sie waren inzwischen an der<br />

Hütte angekommen und gingen jetzt hinein.<br />

Snofork erwartete sie bereits, doch Essen gab es noch<br />

nicht. Jedenfalls nicht für Findus. Sein Magen musste leer<br />

sein. Die Fischersfrau hatte tagsüber Kräuter gesammelt und<br />

daraus einen Trank gebraut, der Findus´ Erinnerung<br />

wiederbringen sollte: Bittersilchesaat, Besenkraut, Plan und<br />

Zauberpilze. Alle drei setzten sich an den Tisch, in dessen<br />

Mitte eine Kerze wohliges Licht spendete. Für das<br />

Fischerpaar gab es das übliche Fladenbrot, ergänzt um Fisch,<br />

Eier und Wildkräuter. Für Findus hingegen den Kräutertrank.<br />

Snofork erläuterte: „Der Trank soll deine Erinnerung<br />

zurück bringen. Ich weiß nicht, ob er funktioniert, aber den<br />

Versuch ist es wert. Er wirkt am Besten, wenn du ihn auf<br />

nüchternen Magen trinkst. Essen kannst du hinterher, denn<br />

der Sud macht hungrig. Was der Trank zutage bringt, das<br />

weiß keiner. Der Geschmack ist jedenfalls einfach grässlich.<br />

Trotzdem... Ich habe viel Honig hinein gegeben. Es sollte<br />

schon gehen. Und nun trink.“ Und Findus trank. Die Alte<br />

hatte nicht übertrieben. Der Geschmack war wirklich<br />

furchtbar. Nicht lange und eine wohlig-euphorische<br />

Müdigkeit erfüllte Findus. Farbige Lichterscheinungen<br />

entführten ihn in eine andere Wirklichkeit...<br />

...eine Wirklichkeit, in der er vor dem Naturheiligtum<br />

‚Achestorensten‘ stand. Eine aus dreizehn Felsen bestehende<br />

Steingruppe, höher als die höchste Tanne und jeder Felsen<br />

einzeln stehend, wie die Perlen auf einer Kette. Es war ein<br />

heller, sonniger Tag. Da waren Menschen. Viele Menschen.<br />

Fremdartig-bunt gekleidet und lärmend. Findus selbst trug<br />

47


auch so eine fremdartige, nicht natürliche Kleidung aus dem<br />

seltsamen Material. Viele Kinder, die herumtollten. Nicht<br />

andächtig, nicht nachdenklich, nicht konzentriert. Es gab<br />

keine Magie mehr. Beängstigend und erschreckend. Als er das<br />

Heiligtum ersteigen wollte, musste er Eintritt bezahlen.<br />

Verrückt - an einem Ort des Glaubens und der Andacht!<br />

Er spürte die Kraft der Erde, die in seinem Geist ein<br />

gelbes Feuer mit blauem Rand entfachte. Ein Feuer, welches<br />

immer größer wurde, je näher er den Felsen kam. Eine<br />

Treppe war in den Stein gehauen worden, führte einen<br />

turmartigen Felsen empor. Er erklomm sie. Die Sonne<br />

strahlte ihm direkt ins Gesicht, hier in diesem Treppen-Fels-<br />

Tunnel. Sie schien ihn in eine andere Welt ziehen zu wollen.<br />

Eine Art von Feuerröhre drehte sich vor seinen Augen. Es<br />

war ein seltsamer Ort, ein Übergang zwischen den Welten.<br />

Das Gefühl für die Erdströme veränderte sich, je höher er<br />

stieg. Oben war das innere Feuer blau-weiß, drohte ihn zu<br />

verzehren. Ihn schwindelte. Er wurde mit magischen<br />

Energien förmlich überladen. Nur schien er der Einzige zu<br />

sein, dem es so ging. Alle anderen spürten das entweder nicht<br />

oder waren zu abgestumpft, zu ‚rational‘. Spirituelle<br />

Erfahrung wurde von denen auf eine Art von Magnetsinn im<br />

Kopf und auf davon erfasste Magnetfeldanomalien<br />

zurückgeführt. Das Naturheiligtum war zur<br />

Touristenattraktion verkommen...<br />

...und Findus fand sich in der Fischerhütte wieder,<br />

nachdem die Wirkung des Tranks abgeklungen war, verspürte<br />

Heißhunger. „An was hast du Dich erinnert?“ fragte Snofork.<br />

Findus erzählte ihnen von dem entwürdigten Naturheiligtum.<br />

Betreten sahen sich Bewok und seine Frau an. Schließlich<br />

sagte Snofork: „Der Trank hat gewirkt, nur nicht so, wie ich<br />

es erwartet hätte. Deine Erinnerung ist zweifellos richtig.<br />

Aber sie betrifft leider die falsche Welt. Vielleicht eine Welt,<br />

die der Unseren ähnlich ist, vielleicht auch erst in ferner<br />

Zukunft. Hier nützt dir diese Erinnerung gar nichts. Da kann<br />

ich dir leider nicht helfen. Andererseits hast du hier so<br />

gearbeitet, als wenn du von dieser Welt wärest. Das passt<br />

nicht zusammen. Also - wer bist du?“ Findus wusste keine<br />

Antwort. Grüblerisch schweigend blickten sie sich an. „Dich<br />

umgibt ein größeres Geheimnis als wir dachten“ drückte<br />

48


Bewok ihrer aller Gedanken aus und schob Findus einen<br />

Teller zu. „Iss, und dann gehen wir alle Schlafen. Morgen<br />

wartet viel Arbeit auf uns.“<br />

Am nächsten Tag waren Findus und Bewok schon früh<br />

draußen. Bewok hatte vor, seine Reusen zu kontrollieren. Der<br />

Fischer zeigte Findus deren Standort, indem er auf eine Reihe<br />

von auf dem Wasser tanzenden Korkstücken stromaufwärts<br />

wies. „Bevor wir fahren, muss ich noch ein paar Kleinigkeiten<br />

erledigen. Halte dich aber bereit, es dauert nicht lange“ meinte<br />

Bewok und ließ Findus stehen. Findus blickte zum Strom und<br />

erinnerte sich an das Kurzschwert. Er holte es und lief zum<br />

Waldrand. Schnitt einen gut mannslangen Stock ab und ging<br />

damit zum Wasser. Dann schlug er mit dem Holz in Ufernähe<br />

immer wieder ins Wasser, während er langsam flussaufwärts<br />

ging. „Was treibst du da eigentlich?“ fragte eine Stimme hinter<br />

ihm. Findus wandte sich um. Es war Bewok und der guckte<br />

ziemlich grimmig, weil er in Findus´ Tätigkeit keinen Sinn<br />

sah. „Sieh“ bemerkte Findus „die Fische schwimmen gegen<br />

die Strömung und immer in der Nähe des Ufers. Indem ich<br />

hier ins Wasser schlage, treibe ich sie in deine Reusen. Hoffe<br />

ich wenigstens“ setzte er noch hinzu. „Wollen sehen, ob du<br />

Recht hast“ brummte der Fischer, jetzt schon versöhnlicher<br />

ob des guten Willens. Sie fuhren mit dem Boot hinaus. Die<br />

Reusen waren prall gefüllt. Findus´ Taktik hatte sich als<br />

richtig erwiesen. Am Nachmittag wurden wieder Fische<br />

geräuchert. Sehr viele. So verging Tag um Tag.<br />

Später - der Mond war schon fast voll - eröffnete Bewok<br />

dem Findling, dass sie schon nachts würden aufstehen<br />

müssen. „Wir dürfen den Strom nicht überfischen, denn er<br />

ernährt uns. Aber im ‚Schlafenden Arm‘ der Tiedsiepe<br />

müssten noch genügend Fische sein. Es ist ein weiter Weg<br />

dorthin. Wir müssen deswegen früh los. Und Netze und<br />

Körbe mitnehmen.“ Findus nahm noch etwas anderes mit<br />

- nämlich die Flasche mit der Pflanzenbrei-Fischöl-Mischung.<br />

Im Verlauf des Vormittags erreichten sie den ‚Schlafenden<br />

Arm‘. Im Norden begrenzte ihn eine mehr als doppelt<br />

baumhohe Felswand. „Momentan ist das Wasser ruhig“<br />

meinte der Fischer „aber ich weiß nicht so richtig, wieviel Zeit<br />

wir haben. Beobachte immer die Felswand ganz genau. Unser<br />

Leben hängt davon ab. Sobald sie anfängt, irgendeine Form<br />

49


von Feuchtigkeit zu zeigen, müssen wir schnellstens vom<br />

Wasser verschwinden. Dann wird nämlich die Tiedsiepe<br />

geflutet und läuft über. Ein gigantischer Wasserfall donnert<br />

herunter und verwandelt diese trügerische Idylle in ein tödlich<br />

kochendes Wasser mit unberechenbaren Strudeln und<br />

Strömungen.“ Noch während er sprach befreite der Fischer<br />

ein in einem Weidenhag verstecktes Boot von dem zur<br />

Tarnung darüber geschichteten Strauchwerk. „Such´ mal ein<br />

paar große Steine zum Zermahlen von Holzkohle“ forderte<br />

der Fischer Findus auf. Findus tat wie ihm geheißen und<br />

Bewok rührte einen Brei aus Wasser und Kohlenstaub an.<br />

„Damit reiben wir uns ein“ befahl der Fischer „denn das<br />

schützt gegen den Sonnenbrand.“<br />

So geschützt ruderten sie auf das trügerische Gewässer<br />

hinaus. Bewok wollte eben das Netz auswerfen, als Findus ihn<br />

am Arm fasste: „Warte einen Augenblick. Ich möchte etwas<br />

ausprobieren.“ Sprach´s und verteilte den Inhalt der Fischöl-<br />

Flasche in hohem Bogen im Wasser. Der Fischer hatte im<br />

Verlauf der vergangenen Tage schon festgestellt, dass Findus<br />

zwar kein Gedächtnis mehr hatte, aber dennoch nicht auf den<br />

Kopf gefallen war. Er ließ den jungen Mann gewähren. Schon<br />

bald begannen die Fische aus dem Wasser zu springen. Kurz<br />

darauf schwammen sie bauchoben an der Oberfläche. „Sie<br />

sind nur betäubt“ sagte Findus und fügte - unnötigerweise -<br />

hinzu „Wir müssen sie einsammeln, bevor sie wieder<br />

aufwachen.“ Jetzt erst warf Bewok das Netz. Der Fang<br />

übertraf alle Erwartungen. Das Boot lag schwer im Wasser,<br />

bog sich beinahe unter der Last des Fangs. „Die Felsen“ sagte<br />

Findus nur, der seine Aufmerksamkeit nie von der Felswand<br />

abgewandt hatte. Die Felswand war dunkel verfärbt. Feucht.<br />

„Wir müssen schnellstens zurück!“ ächzte Bewok und sie<br />

ruderten wie der Teufel dem Ufer zu. Sie erreichten das Ufer<br />

gerade, als aus der Feuchtigkeit mehrere kleine Wasserfälle<br />

geworden waren. Nachdem sie das Boot an Land geschafft<br />

und entladen hatten, war ein donnernder, tosender Wasserfall<br />

entstanden. Der ‚Schlafende Arm‘ der Tiedsiepe hatte sich in<br />

ein tödliches Geschäume und Gebrodel verwandelt!<br />

Sie füllten zwei Körbe mit den Fischen und jeder von<br />

ihnen trug einen Korb als Kiepe auf dem Rücken. Dennoch<br />

blieben viele weitere Fische übrig. Findus zog sein Hemd aus<br />

50


und schnitt mit Hilfe seines modifizierten Kurzschwertes<br />

zwei lange Baumstangen ab. Er sammelte ein paar Steine. Die<br />

Steine legte er in den Saum des Hemdes und umwickelte<br />

jeden Stoff-ummantelten Stein mit etwas mitgebrachter<br />

Schnur, so dass sich eine Art von Klumpen bildete. Eine<br />

Holzstange führte er durch die Hemdsärmel; die andere<br />

wurde mit den Stoff-ummantelten Stein-Klumpen verknotet.<br />

Auf diese Weise ergab sich eine Trage, mit welcher sie die<br />

überzähligen Fische zurück transportieren konnten.<br />

Bewok fragte: „Was war das, das du ins Wasser geschüttet<br />

hast?“ Findus versuchte es ihm zu erklären, aber der Fischer<br />

kannte die Pflanze nicht, schüttelte den Kopf. „Wenn wir<br />

zurück sind, dann sprich´ mit Snofork. Sie wird die Pflanze<br />

kennen.“ Irgendwann in der Nacht - es war schon spät und<br />

der Mond stand hoch am Himmel - erreichten sie die Hütte.<br />

Bewok erzählte Snofork, was sich zugetragen hatte. Sie ließ<br />

sich von Findus das Aussehen der Pflanze schildern. Dann<br />

nickte sie. „Kenne ich. Wir nennen das Tollkraut. Es ist sehr<br />

giftig. Woher hast du das Rezept?“ „Es fiel mir so ein“<br />

erwiderte Findus. Snofork sah ihn nachdenklich an: „Das ist<br />

ganz zweifellos eine Erinnerung an diese Welt.“ Danach<br />

schwieg sie.<br />

Vor dem Einschlafen machte Findus sich seine Gedanken.<br />

Diese beiden Alten - auf ihre eigene Weise waren sie frei.<br />

Sicher, ihr Leben wurde von Sachzwängen diktiert,<br />

beispielsweise von dem Sachzwang, für den eigenen<br />

Lebensunterhalt sorgen zu müssen. Doch bei wem war das<br />

nicht der Fall? Sie hatten ein einfaches, hartes Leben in der<br />

Einsamkeit gewählt. Ein Leben, welches er – Findus – zu<br />

schätzen gelernt hatte. Und darüber hinaus? Sie besaßen<br />

praktisch nichts und hatten daher auch nichts zu verlieren. Sie<br />

wussten um ihre Vergangenheit und wenn sie sich<br />

entschlossen hätten, alles stehen und liegen zu lassen, dann<br />

wäre das von heute auf morgen zu verwirklichen gewesen. Sie<br />

konnten anderswo von vorn anfangen. Jederzeit. Auch eine<br />

Art von Freiheit. Ob alle Menschen in <strong>Norgast</strong> so frei waren?<br />

Was ihn selbst allerdings von dem Fischerspaar unterschied,<br />

war sein Nichtwissen. Woher kam er, wer war er eigentlich<br />

und wohin sollte er sich wenden, wenn er diesen Hort der<br />

Friedfertigkeit einmal verlassen würde? Was hatte es mit der<br />

51


anderen Welt auf sich? Was meinte Snofork damit, dass er<br />

über große magische Kraft verfügte? Viele unbeantwortete<br />

Fragen...<br />

Am Tag nach dem Vollmond erspähte Bewok in der Ferne<br />

einen Pferdewagen. „Der fahrende Händler kommt“<br />

brummte er und an Findus gewandt: „Er kennt dich nicht.<br />

Wer weiß, welches Geheimnis dich umgibt. Ich habe ein ganz<br />

schlechtes Gefühl deswegen. Am besten ist es, wenn du dich<br />

nicht sehen lässt; wenn es dich gar nicht gibt. Also<br />

verschwinde für heute und komm´ erst morgen gegen Abend<br />

zurück, denn der Händler nächtigt meistens auch hier. Dann<br />

wird er von dir nichts bemerken und kann auch nichts<br />

ausplaudern.“ Findus war mit dieser Entscheidung Bewok´s<br />

zwar nicht einverstanden, doch er fügte sich. Der alte Fischer<br />

wusste eigentlich immer ziemlich genau, was er tat. Und er<br />

war immer vorsichtig. Vielleicht hatte er ja Recht; vielleicht<br />

lebte Bewok nur auf Grund dieser seiner Vorsicht noch.<br />

Obwohl es Findus brennend interessierte, etwas über das<br />

<strong>Norgast</strong> außerhalb der Fischerhütte zu erfahren, bekämpfte er<br />

seine Neugierde und ging in den Wald.<br />

Es gab ein großes Wiedersehens-Hallo, als Bewok und der<br />

Händler einander begrüßten. Sie kannten sich ja schon von<br />

früher her. Vieles wurde eingetauscht, denn Bewok hatte<br />

diesmal viele konservierte Fische zu bieten. „Es war eine<br />

vorzügliche Saison“ erklärte er und verschwieg wohlweislich,<br />

dass Findus kräftig mitgeholfen hatte, ja dass der<br />

Letztgenannte überhaupt existierte. Der Händler gab dem<br />

Fischer dafür Öl, Honig, Wachs, Salz, Holzkohle, Tücher,<br />

Gewürze und was der Dinge des täglichen Bedarfs mehr<br />

waren. Der Tauschhandel und das Feilschen zogen sich bis<br />

zum Abend hin. Schließlich waren beide mit dem Geschäft<br />

zufrieden. Dann schichteten Bewok und der Händler ein<br />

großes Lagerfeuer auf. Setzen es nach Anbruch der<br />

Dunkelheit in Brand. Zeit für Nachrichten; Zeit zum<br />

Erzählen. „Was gibt es Neues im Reich?“ fragte Bewok.<br />

„Schlechte Nachrichten“ antwortete der Händler „sehr<br />

Schlechte.“ Nachdenklich fuhr er fort: „Ihr bekommt hier<br />

draußen nichts davon mit. Seid froh darüber. Das Reich ist in<br />

Aufruhr. Der Herrscher sucht irgend jemanden, den keiner<br />

kennt. Baldur hat seine Häscher überall. Jeder hat Angst.“<br />

52


Der Händler machte eine Pause und stocherte mit einem<br />

Stock bedrückt in den Flammen herum.<br />

Seufzend fuhr er fort: „Das Leben ist nicht mehr gut.<br />

Nicht mehr das, was es mal war. Die Schergen suchen überall.<br />

Die Straßen in den Städten hallen vom Geschrei der<br />

Gequälten, Gepeitschten und Gefolterten wider.<br />

Denunziation wird belohnt. Die Denunziation blüht. Baldurs<br />

erbarmungslose Handlanger benutzen die Hungertürme<br />

wieder. An Straßensperren finden Kontrollen statt. Es heißt,<br />

dass Baldur selbst verkleidet unter den Menschen wandelt.<br />

Wer auch nur im leisesten Verdacht steht, irgend etwas mit<br />

dem Gesuchten zu tun zu haben, der wird gnadenlos verfolgt<br />

und getötet. Ihr kanntet Bauer Mallok?“ Der Händler blickte<br />

Bewok an. Der Fischer nickte. Bauer Mallok - ein Ehepaar<br />

mit zwei Kindern, ein Junge und ein Mädchen. Sie besaßen<br />

ein kleines Gehöft weit stromabwärts auf dieser Seite des<br />

Wilderfrio, dort, wo der Strom in das Mündungsdelta<br />

überging. Fernab von jeder Ansiedlung. „Nun“ fuhr der<br />

Händler fort „den Bauern gibt es nicht mehr. Das hier ist<br />

seine Geschichte...“<br />

Ein ärmliches Gehöft irgendwo im Nirgendwo. Hütte, Stall<br />

und Pferche für die Tiere. Eine kleine Scheune. Alles aus<br />

uraltem, schon grau-rissigem Holz erbaut. Bauer Mallok lebte<br />

hier mit seiner Frau und seinen Kindern. Die Tochter war<br />

acht Sommer alt; sein Sohn zählte fünfzehn Sommer. Es wäre<br />

noch ein Kind dazwischen gewesen, doch das hatte seine Frau<br />

verloren. Irgend jemand - vielleicht jemand, der nur seine<br />

eigene Haut retten wollte - hatte behauptet, dass Mallok dem<br />

Gesuchten Unterschlupf gewähre. Jetzt waren sechs von<br />

Baldurs Häschern hier. Sie hatten vier große, zottige schwarze<br />

Hunde mitgebracht. Ängstlich stand die Bauersfamilie in der<br />

Scheune, umzingelt von Baldurs Handlangern. „Gesindel!<br />

Gib´ endlich zu, dass der Gesuchte hier war!“ donnerte einer<br />

der Schergen. „Aber wir wissen doch von nichts!“ beteuerte<br />

Mallok verzweifelt. Er erblickte blanke Mordlust in den<br />

Gesichtern der Fremden. Ein übler Schlag gegen den Kopf<br />

schickte ihn zu Boden. Seine Tochter rief „Vater!“ und wollte<br />

53


zu ihm hin stürzen. Ein Schwerthieb tötete sie. Die Frau des<br />

Bauern schrie auf und bewegte sich auf das blutüberströmte<br />

Kind zu. Einer der Hunde sprang auf und zerriss ihr die<br />

Kehle. Mallok war inzwischen wieder auf die Beine<br />

gekommen und betrachtete geschockt das Gemetzel. Jetzt<br />

war ohnehin alles egal. Sein Sohn warf ihm eine Mistgabel zu<br />

und wurde dafür gleichfalls sofort von einem Schwerthieb<br />

niedergestreckt. Mallok fing die Forke auf, durchbohrte einen<br />

der Schergen mit den Zinken und rammte beim Zurückziehen<br />

den Stiel einem anderen in den Bauch. Der ging pfeifend zu<br />

Boden. Noch ein Streich mit der Forke und ein weiterer<br />

Häscher starb. Danach flüchtete Mallok.<br />

Er rannte. Rannte um sein Leben. Quer durch einen<br />

Hainbuchenwald, die Verfolger und ihre Hunde hinter ihm.<br />

Nicht lange und die Hunde stellten ihn, sprangen ihn an,<br />

bissen ihn, rissen ihn zu Boden, fügten ihm böse und elendig<br />

schmerzende Wunden zu. Dann waren die Schergen heran.<br />

Sie rissen den Bauern hoch, fesselten ihn und schleiften ihn<br />

ein Stück des Weges hinter ihren Pferden her. Dieser Weg<br />

führte zu einem einzeln auf dem Kamm eines Hügels<br />

stehenden Hungerturm. „Verrecke dadrin, elendes<br />

Geschmeiß!“ Sie warfen ihn hinein und die Tür zu.<br />

Er fiel. Hörte vor lauter Schmerzen nur noch von Ferne<br />

das Zuschnappen des Riegels. Er lag auf einem muffigen<br />

Tuch. Es knackte, als er sich bewegte. Unter dem Tuch ein<br />

Skelett. Das Knacken kam von alten, zerbrechenden<br />

menschlichen Knochen. Mallok stöhnte schmerzvoll, blickte<br />

gequält auf. Ganz oben ein runder Lichtkreis. Der Turm war<br />

offen. Der Regen hatte die Wände feucht gemacht. Er würde<br />

nicht verdursten. Aber verhungern. Seinen Martyrium dauerte<br />

fast einen ganzen Mond lang...<br />

54


Kapitel 4: Die Bônday<br />

Der fahrende Händler war längst Vergangenheit. Fisch war<br />

auf Grund der von Findus verbesserten Fangmethoden<br />

genügend da, doch die Hütte musste ausgebessert werden.<br />

Zeit, das am Strom wachsende Rohr zu schneiden.<br />

„Bewok, schaffen wir das noch?“ rief Findus. „Weiß ich<br />

nicht, wir müssen´s versuchen“ kam die gehetzte Antwort.<br />

Wie Blei lag die Hitze über dem golden wogenden Schilf. Die<br />

Luft flirrte und machte das Atmen schwer. Der Schweiß rann<br />

Findus in Bächen am Körper hinab. Aus den ehemals weißen<br />

Wetterköpfen war eine bedrohliche Gewitterfront entstanden,<br />

ein schmutzig-stahlblaugraues, wetterleuchtendes, drohendes<br />

Monstrum am Himmel. Und die Ernte musste unbedingt<br />

noch eingebracht werden!<br />

Sie arbeiteten mit voller Kraft, schnitten das Rohr, banden<br />

es zu Garben. Immer sechzehn Garbenbunde wurden zu<br />

einem runden Hocken ausgerichtet. Nur so konnte das Rohr<br />

auch dem stärksten Gewittersturm widerstehen - und nur so<br />

wäre die Ernte nicht verloren. Verbissen machte Findus<br />

weiter. Er hasste diese Arbeit. Das Berühren der Halme löste<br />

in seinem Mund immer einen scharfen Geschmack aus, wie<br />

nach Pfeffer. Doch die Arbeit musste getan werden.<br />

„Autsch!“ Nur ein kurzer Moment der Gedankenlosigkeit.<br />

Die Halme konnten messerscharf sein. Den Schmerz nahm er<br />

als eine violett-zersplitternde Farbfläche mit golden<br />

leuchtenden Kanten wahr. Blut tropfte. Doch zum Glück war<br />

es nur ein kleiner Schnitt im Finger. Ärgerlich machte er<br />

weiter, so schnell wie möglich.<br />

Findus war klar, dass er irgendwie ‚anders‘ war. Wie<br />

anders, dass hätte er allerdings nicht konkret sagen können.<br />

Er behielt seine Wahrnehmungen für sich. Die Zeiten waren<br />

schlecht und wer weiß, wie die Fischersleute in ansehen<br />

würden, wenn er offen darüber spräche, dass manche<br />

Stimmen ihm wie lichte blaue, dreidimensionale Punkte mit<br />

so einem blau transparenten Hauch erschienen oder dass<br />

Musik für ihn eine feuerwerksähnliche Farblawine war.<br />

Bestimmt erklärte man ihn dann für verrückt! Nein, lieber den<br />

55


Mund halten, tun, als ob nichts wäre und sich nichts<br />

anmerken lassen. Schon früh war ihm auf unangenehme<br />

Weise deutlich gemacht worden, dass andere Menschen nur<br />

sehr selten so intensiv wie er selbst empfanden; irgendwie<br />

wusste Findus das, auch ohne Gedächtnis. Die letzten Halme,<br />

die letzten Garben, die letzten Hocken. Ein blendend-weißvioletter<br />

Blitz zerriss die Hitze.<br />

Als der Gewitterregen prasselte, standen Bewok und<br />

Findus an der Hüttenwand unter einem kleinen Unterstand.<br />

Bewok sah Findus seltsam an und meinte: „Der fahrende<br />

Händler sprach davon, dass es in <strong>Norgast</strong> drunter und drüber<br />

geht. Der Herrscher sucht jemanden. Er schreckt dabei auch<br />

vor den allerschlimmsten Mitteln nicht zurück. Folter und<br />

Mord. Ich bin ziemlich sicher, dass du der Gesuchte bist. Du<br />

kannst daher nicht ewig hierbleiben, denn das bringt uns in<br />

Gefahr.“ Findus überlegte noch, was er darauf erwidern<br />

sollte, als von drinnen Snoforks Stimme erklang „Das habe<br />

ich gehört!“ Scheu blickte Bewok zur Hüttenwand.<br />

„Manchmal hat die Alte Ohren wie ein Luchs“ kommentierte<br />

er vorsichtig die Bemerkung. „Und das habe ich auch gehört!“<br />

erklang noch einmal die keifende Stimme. „Lass´ uns<br />

reingehen und dann reden wir“ schlug Findus breit grinsend<br />

vor. „Der Junge hat mehr Grips in seinem leeren Kopf als ein<br />

alter Fischer in seinem ganzen Leben an Fisch ranschaffen<br />

kann!“ kam es von drinnen. Findus´ Grinsen wurde noch<br />

breiter. Irgendwie mochte er Snofork und die Art, wie sie sich<br />

gab. Bewok seufzte schwer und beide gingen in die Hütte, wo<br />

Snofork sie schon erwartete.<br />

Nun saßen alle drei an dem kleinen Tisch. Snofork<br />

eröffnete das Gespräch mit den Worten „Bewok hat Recht.<br />

Du kannst hier nicht ewig bleiben. Aber einfach so<br />

fortschicken will ich dich auch nicht. Du bist dem Tode<br />

einmal entronnen und wer weiß, ob dir das ein zweites Mal<br />

gelingen wird. Aber es gibt jemanden, der dir sicherlich helfen<br />

kann.“ Bewok stöhnte, er wusste, worauf seine Frau<br />

hinauswollte. „Weib...“ warf er ein. „Schweig´ still!“ fuhr die<br />

Alte ihm in die Parade und funkelte ihn scharf an. Auf einmal<br />

sah sie viel jünger und obendrein auch noch kraftvoll aus.<br />

Findus wurde schlagartig klar, dass es eigentlich Snofork war,<br />

die hier das Sagen hatte. Zu Findus gewandt fuhr die Alte<br />

56


fort: „Wenn dir jemand helfen kann, dann nur die Bônday.<br />

Bewok wird dich zu ihr bringen. Ihr reist morgen ab.“ Und zu<br />

ihrem Mann gewandt sagte sie: „Und ich will keine<br />

Widerworte hören!“ Brummelnd fügte sich der alte Fischer.<br />

„Es wird eine lange Reise“ wandte sich Bewok an Findus<br />

und setzte hinzu „Lass´ uns packen.“ Der Fischer organisierte<br />

eine aus Weidenholz geflochtene Kiepe, ein großes Tuch mit<br />

Schnüren daran und einen Beutel aus undefinierbarem Stoff.<br />

„Du trägst die Kiepe auf dem Rücken und ich nehme den<br />

Beutel“ wies er Findus an. Weiter: „In die Kiepe kommt<br />

Proviant und sowas rein. Auf dem Rückweg ist sie dann leer.<br />

Das Tuch ist wasserdicht. Du trägst es zwischen Rücken und<br />

Kiepe, damit es bequemer ist. Es ist gleichzeitig unsere<br />

Zeltplane. Vergiss´ dein Schwertwerkzeug nicht. Ich werde<br />

ein gutes Messer mitnehmen. Und eine kleine Armbrust, denn<br />

wir müssen auch jagen. Wasser finden wir unterwegs. Dann<br />

brauchen wir noch eine Feuerbüchse.“ Bewok verschwand<br />

einen Moment lang nach draußen und kam kurz darauf mit<br />

einer metallenen Dose, welche über Luftlöcher, einen Deckel<br />

und einen Henkel verfügte, zurück. „Da kommt glühende<br />

Kohle rein; das vereinfacht uns das Entzünden von<br />

Lagerfeuern.“ Weitere Ausrüstungsgegenstände für die beiden<br />

waren Angelhaken, mehrere Seile von verschiedener Länge,<br />

zwei kleine Tücher, ein Beutel mit Zunder, Nähzeug und was<br />

der Reiseutensilien mehr sein sollten.<br />

Findus kam sich inzwischen ziemlich überrumpelt vor.<br />

Tausend Fragen lagen ihm auf der Zunge. Er konnte seine<br />

Neugier nicht mehr bezähmen und bestürmte den Fischer:<br />

„Wohin gehen wir eigentlich? Wie lange werden wir<br />

unterwegs sein? Wo führt der Weg uns lang? Zu wem wollen<br />

wir eigentlich? Kennst du den Weg?“ „Zu viele Fragen auf<br />

einmal“ brummelte der Fischer und fuhr fort: „Ja, ich kenne<br />

den Weg. Wir gehen zur Bônday. Das ist eine sehr mächtige<br />

Hexe, die auf der ‚namenlosen Insel‘ inmitten der Tiedsiepe<br />

lebt. Wahrscheinlich die machtvollste Hexe überhaupt. Wenn<br />

dir jemand helfen kann, dann sie. Das Problem ist nur, dass<br />

sie sich nicht im Geringsten für unsere profanen weltlichen<br />

Belange interessiert. In der Tiedsiepe gibt es zwei Inseln. Die<br />

‚namenlose Insel‘ der Bônday und vorgelagert die ‚Insel der<br />

Gestrandeten‘. Die Insel der Bônday kann nur über die<br />

57


vorgelagerte Insel erreicht werden. Wir müssen zuerst im<br />

Wald nahe dem Ufer der Tiedsiepe entlang und ein ganzes<br />

Stück nach Norden, so ungefähr sechs bis sieben Tage lang.<br />

Erst dann haben wir den Punkt erreicht, von dem aus wir die<br />

‚Insel der Gestrandeten‘ halbwegs sicher erreichen können.<br />

Vielleicht finden wir ein Boot; da oben gibt´s eigentlich<br />

immer welche. Falls nicht, dann bauen wir uns eben ein<br />

Floß.“<br />

Er setzte hinzu: „Ich war schon mal da. Einmal, vor vielen<br />

Jahren. Es ist eine anstrengende und gefährliche Reise. Von<br />

der ‚Insel der Gestrandeten‘ aus müssen wir dann zu Fuß<br />

weiter, was aber nur geht, wenn die Tiedsiepe trocken gefallen<br />

ist. Und wir müssen die ‚namenlose Insel‘ binnen einer<br />

einzigen Trockenzeit erreichen, sonst ersaufen wir wie die<br />

Ratten.“ „Warum warst du schon mal da?“ wollte Findus<br />

wissen, doch der Fischer schüttelte nur unwillig mit dem<br />

Kopf. Bewok zog es vor, auf diese Frage keine Antwort zu<br />

geben. Ging eben niemanden etwas an. Schließlich hatte er<br />

auch seine kleinen Geheimnisse. „Wir brauchen noch ein<br />

kleines Bündel etwa unterarmlanges und nicht von Knoten<br />

unterbrochenes Schilfrohr. Besorg´ es“ wies er Findus an.<br />

Findus verschwand, kehrte aber schon bald darauf mit dem<br />

Gewünschten zurück. Bewok würde ihm schon mitteilen,<br />

wozu das Rohr gut sein sollte. Sie packten weiter, bis es<br />

Abend war. Schliefen. Nach einem Frühstück am nächsten<br />

Morgen verabschiedeten sie sich von Snofork und brachen<br />

schon sehr früh auf. Im letzten Moment drückte Snofork<br />

ihrem Mann noch eine Flasche in die Hand. „Für den Notfall<br />

oder den Weg zu den Inseln. Es ist ein Trank aus<br />

Mondpflanze und Harmalkraut. Sei vorsichtig damit.“ Bewok<br />

nickte; er wusste um die Gefahren dieses Gebräus.<br />

Der erste Tag ihrer Reise verging rasch und sie kamen gut<br />

voran. Jetzt wurde Findus auch der Sinn des von ihm<br />

beschafften Schilfrohres klar: Man tauchte es einfach in das<br />

Wasser, welches innerhalb von Wurzelhöhlen oder ähnlichem<br />

stand und konnte dann damit trinken. An der Oberfläche<br />

oder am Boden befindlicher Schmutz störten auf diese Weise<br />

58


nicht mehr. Genächtigt wurde unter einem rasch errichteten<br />

Zelt, dessen Boden sie dick mit dem allgegenwärtigen Farn<br />

polsterten. In hinreichendem Abstand legten sie brüchiges,<br />

trockenes Holz und Laub ringsherum. Das würde rascheln<br />

und knacken, falls sich nachts ein Tier oder ein Fremder<br />

näherte. Es war warm und weil sie auf ihren Proviant<br />

zurückgriffen, konnten sie auf ein Lagerfeuer verzichten.<br />

Lediglich die Feuerbüchse brauchte neue Nahrung. Insgesamt<br />

verlief die Nacht sehr ruhig. Auch am nächsten Tag schafften<br />

sie ein großes Stück des Weges. Sie wanderten in einem<br />

vergleichsweise schmalen Waldstreifen, der links und rechts<br />

von sumpfigem Gelände begrenzt wurde. Erreichten das Ufer<br />

der Tiedsiepe und bewegten sich weiter gen Norden.<br />

Irgendwann in der Mittagszeit legten sie eine Rast ein.<br />

Bewok saß unter einem Baum und erholte sich, während<br />

Findus zum Ufer der Tiedsiepe hinunter ging. Er setzte sich<br />

auf einen der hier verstreut herumliegenden Felsbrocken.<br />

Müdigkeit durchzog seine Glieder. Schier endlos dehnte sich<br />

die weite Wasserfläche vor ihm aus. Sie sah so harmlos aus.<br />

Unmöglich zu sagen, ob es steigendes oder fallendes Wasser<br />

war. Weit, ganz weit in der Ferne glaubte Findus im Dunst<br />

zwei Gipfel in der endlosen Wasserwüste ausmachen zu<br />

können. Es war so unirdisch ruhig an diesem Ort...<br />

Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine Bewegung<br />

wahr. Langsam und vorsichtig drehte er den Kopf in die<br />

Richtung. Dort stand ein Wesen - nein, eine Frau, sehr<br />

wohlgeformt und nackt dazu - welches ihm nur etwa bis zur<br />

Schulter reichte. Ihre Haut war blaugrün und in gewisser<br />

Weise irgendwie durchscheinend. Das Wesen verfügte über<br />

goldenes Haar und über auffallend große, meergrüne Augen.<br />

Sie war eine Najade, ein Wassergeist. Ihre Blicke trafen sich.<br />

„Mein Volk kennt dich“ sagte die Najade. „Es hat dir<br />

schon einmal geholfen, indem es dich dem Fischer zuspielte.<br />

Und es wird dir wieder helfen, wenn Ihr die Tiedsiepe<br />

durchquert. Denn du bist unsere Hoffnung.“ Sprach´s<br />

zwitschernd mit metallisch-bläulicher Stimmfärbung und<br />

verschwand. „War das jetzt Einbildung, eine Reaktion meines<br />

überreizten Körpers, oder hat diese Begegnung tatsächlich<br />

stattgefunden?“ fragte Findus sich. Beides wäre möglich<br />

59


gewesen. Er beschloss, Bewok nichts davon zu erzählen.<br />

Womöglich hielte der ihn sogar noch für verrückt.<br />

Kurze Zeit später waren sie wieder unterwegs. Nur Findus<br />

schien noch nachdenklicher als sonst zu sein. Es dämmerte<br />

bereits, als sie auf der Suche nach einem geeigneten<br />

Lagerplatz für die Nacht waren. Da plötzlich sahen sie im<br />

Wald einen Feuerschein. „Bleib´ ganz still“ flüsterte Bewok.<br />

„Ein Lager. Man weiß nie, auf wen man in dieser verlassenen<br />

Gegend trifft. Es könnten Vogelfreie sein. Oder Flüchtlinge.<br />

Oder Soldaten, Baldur´s Häscher. Manchmal auch Zigeuner.<br />

Bei denen gibt´s solche und solche. Das Feuer liegt direkt auf<br />

unserem Weg. Wegen des Sumpfes können wir das Lager<br />

nicht umgehen.“<br />

Es waren Zigeuner - fahrendes Volk - wie sie feststellten,<br />

als sie sich unhörbar an das Lager heranschlichen. Ein Clan<br />

von vielleicht einem Dutzend Personen, lärmend und<br />

fröhlich, mit Zelten rings um das Feuer. „Von fröhlichen<br />

Menschen hat man nichts zu befürchten“ meinte Bewok und<br />

wies Findus an, es ihm gleich zu tun. Bewok richtete seine<br />

Handflächen nach außen, so dass sofort erkennbar wurde,<br />

dass er unbewaffnet war, stimmte ein Lied an und trat aus<br />

dem Schatten des Waldes heraus in den Schein des Feuers.<br />

Findus tat es ihm nach. Einen Moment lang war Stille, dann<br />

wurden die beiden Wanderer freundlich und mit großem<br />

Hallo begrüsst.<br />

„Wer seid ihr?“ „Woher kommt ihr?“ „Wo wollt ihr hin?“<br />

Tausend Fragen. Man drängte ihnen förmlich Nahrung und<br />

Wasser auf, nötigte sie, im Lager zu nächtigen. Zusammen<br />

mit dem fahrenden Volk saßen sie um das Feuer herum.<br />

Gastfreundschaft wurde sehr groß geschrieben. Doch<br />

plötzlich trat Stille ein. Ein alte Frau war aus einem der Zelte<br />

gekommen. Uralt, mit einem zahnlosen Lächeln. Sie trug<br />

vielfach geflickte, bunte Kleidung. Eigentlich eher eine Art<br />

von Umhang aus immer wieder übereinander genähten<br />

Lumpen. Ihre Autorität jedoch war spürbar. Von ihr strahlte<br />

eine Macht aus, eine Aura, der sich niemand entziehen<br />

konnte. Wortlos bedeutete sie Findus, ihr in das Zelt zu<br />

folgen. Findus blickte Bewok an, doch der hob nur fragend<br />

die Schultern, was soviel wie „Geh´ ruhig“ bedeutete. Findus<br />

erhob sich und folgte der Alten. Als er im Zelt verschwunden<br />

60


war, setzte draußen ein leises, heimliches Getuschel hinter<br />

vorgehaltener Hand ein. Hin und wieder blickte der eine oder<br />

andere verstohlen zu dem Zelt hin, wandte sich aber schnell<br />

wieder ab.<br />

Im Zelt. Die Alte war ganz unzweifelhaft die Hagia dieses<br />

Clans, ja mehr noch, sie führte ihn sogar. Mit einer<br />

Handbewegung bedeutete sie Findus, sich zu setzen. Sie<br />

selbst setzte sich ihm gegenüber. Flackerndes Kerzenlicht<br />

erhellte das Zelt mehr schlecht als recht. Die Alte streckte<br />

ihre Hand aus und berührte damit Findus´ Wange. Schloss<br />

einen Moment lang die Augen und begann zu sprechen: „Ich<br />

sehe dich. In deinem Geist fehlt etwas. Du bist nicht<br />

vollständig. Ein Wanderer zwischen den Welten. Du wirst die<br />

fehlenden Teile wiederfinden, doch bis dahin ist es noch ein<br />

sehr langer und steiniger Weg. Ein Weg, der wichtiger als das<br />

Ziel selbst ist. Auf Deinem Weg wirst du Hilfe erhalten<br />

- immer dort, wo du sie am wenigsten erwartest. Nimm´ diese<br />

Hilfe an. Dir wohnt eine große Macht inne. Dein Weg wird<br />

dir helfen, diese Macht zu entfalten. Hör´ auf die richtigen<br />

Ratgeber, auf die Leute, die dir helfen werden. Sie gestatten es<br />

dir, die Kraft anwenden zu lernen, zu kanalisieren für unser<br />

aller Wohl. Wenn du das nicht schaffst, dann wird <strong>Norgast</strong><br />

auf lange Sicht wohl dem Untergang geweiht sein. Denn du<br />

bist unsere Hoffnung.“ „Wieder dieser Satz - genau das hat<br />

die Najade auch gesagt“ durchfuhr es Findus.<br />

„Deine letzten Worte - ich habe sie heute schon einmal<br />

vernommen“ erwiderte Findus. Die Zigeunerin setzte hinzu:<br />

„Das wundert mich nicht. Deine Macht ist wie ein loderndes<br />

Feuer. Noch ungezähmt und weithin sichtbar für alle Wesen,<br />

die der Magie befähigt sind - ganz gleich ob Hexen, Dryaden,<br />

Fluss- und Höhlentrolle, der Nöck, Harpyien, Einhörner,<br />

Drachen, Najaden und was weiß ich nicht noch alles. Auch<br />

die Magier können die dir innewohnende Macht spüren; ganz<br />

besonders einer, der dich sucht. Doch vor dem wirst du von<br />

allen Magiebegabten abgeschirmt. Noch, denn du weißt deine<br />

Kraft nicht anzuwenden. Ein unbedachtes Spielen damit<br />

würde dich selbst verbrennen. Das ist bereits einmal<br />

geschehen und dadurch wurdest du zum Wanderer zwischen<br />

den Welten.“ „Ihr kennt meine Vergangenheit?“ keuchte<br />

Findus. „Nein - aber trotz meines doch schon recht hohen<br />

61


Alters kann ich glücklicherweise noch klar denken. Zum<br />

Wanderer zwischen den Welten konntest du nur deshalb<br />

werden, weil Körper und Geist getrennt waren. Das ist nur<br />

mit dem Traumtrank möglich. Den wiederum gibt es nur in<br />

der Unterwelt und nur ein Dämon kann ihn auf unsere<br />

Weltenebene gebracht haben. Irgend jemand hat daher einen<br />

Dämon beschworen. Dazu bedarf es sehr großer magischer<br />

Kraft.“ Die Alte schwieg und Findus dachte nach. Da war er<br />

wieder, dieser Erinnerungsfetzen - der Wald mit den seltsambizarr<br />

verdrehten Bäumen und der Mann, dessen Gesicht ein<br />

weißer Fleck war.<br />

Dann geschah etwas, mit dem Findus niemals gerechnet<br />

hatte. „Die Bônday wird dir helfen, Findus Fehu-Uruz-Raido“<br />

sagte die alte Zigeunerin. In dem Moment, in dem sie seinen<br />

‚echten‘ Namen aussprach und gedanklich fasste, überrollte<br />

ihn eine gewaltige magische Woge und er kam sich winzig<br />

und hilflos vor. Sein einziger Strohhalm in diesem tobenden<br />

Meer aus unbändig-gewaltiger, mörderisch-überschäumender<br />

Zauberkraft war die Alte, an die er sich geistig klammerte.<br />

Draußen zuckten die Mitglieder des Clans sichtlich zusammen<br />

und Bewok wurde es mit einem Mal übel. Mit Schrecken<br />

erkannte Findus, dass nur die Alte diese Klammer jemals<br />

wieder würde lösen können. Die Hagia lachte. „Ja“ sagte sie<br />

„und hüte dich vor allem vor falschen Freunden und vor<br />

falschen Ratgebern. Das ist meine ganz persönliche Warnung<br />

an dich. Ich bedarf deiner nicht und gebe dich daher wieder<br />

frei“ - die magisch-geistige Klammer löste sich sofort und<br />

Findus konnte wieder klar denken – „aber du musst dich<br />

selbst erkennen und deinem Schicksal vertrauen. Tu was du<br />

willst, aber schade niemandem. Dein Weg ist vorgezeichnet<br />

und am Ende dieses Weges musst du dich entscheiden, auf<br />

wessen Seite du stehen willst. Geh´ jetzt raus zu den anderen,<br />

feiere, singe, denn wer weiß, wann du die nächste Gelegenheit<br />

dazu haben wirst.“ Noch ganz benommen erhob sich Findus<br />

und trat vor das Zelt.<br />

Bewok sah ihn fragend an, doch Findus schüttelte nur<br />

schweigend den Kopf. Ihm war nicht nach Reden. Auch nicht<br />

nach Feiern. Er setzte sich an das Feuer und sah starr in die<br />

Flammen. Zu aufgewühlt war er. Er schlief schlecht in dieser<br />

Nacht, denn da waren tausend Bilder in seinem Kopf - gerade<br />

62


so, als ob eine Tür aufgestoßen worden war. Als sie am<br />

Morgen aufbrechen wollten, füllten die Mitglieder des Clans<br />

ihnen die Vorräte wieder auf. Findus sah die alte Zigeunerin<br />

nie mehr wieder.<br />

Bewok und Findus marschierten los. Gegen Mittag<br />

schienen zwei wilde Pferde auf sie zu warten. Als die beiden<br />

Wanderer sich ihnen näherten, stellten sie zu ihrem Erstaunen<br />

fest, dass es sich nicht um Pferde, sondern vielmehr um<br />

Einhörner handelte. Beide Wesen flüchteten nicht, sondern<br />

setzten sich sogar hin. Sie stellten sich den Wanderern<br />

freiwillig als Transportmittel zur Verfügung. Ein rasender<br />

Ritt, beinahe schon wie ein Flug, welcher bis in die<br />

hereinbrechende Dämmerung andauerte, schloss sich an. Am<br />

Abend verschwanden die Einhörner wieder - so lautlos, wie<br />

sie aufgetaucht waren. Findus und Bewok hatten ein<br />

Wegstück zurück gelegt, für das sie normalerweise gut und<br />

gerne zwei Tage benötigt hätten. Bewok betrachtete Findus<br />

befremdet, sagte aber nichts, als sie ihr Nachtlager errichteten.<br />

Der nächste Morgen und noch sehr früh. Bewok erklärte:<br />

„Ich kenne diese Gegend. Die Einhörner haben uns wirklich<br />

sehr weit gebracht. Aber obwohl wir noch Proviant haben,<br />

werden wir hier trotzdem jagen müssen. Denn der Wald<br />

endet jetzt bald und dann kommt mindestens einen Tag lang<br />

nur noch Sumpf. So lange reichen unsere Vorräte nicht.“ Der<br />

Tau lastete schwer auf den Wiesenblumen und bog sie, die<br />

Blüten noch geschlossen. Von der Tiedsiepe her hörte man<br />

das Quaken der Frösche, der Tiere der Erdmutter. Noch war<br />

die Sonne nicht aufgegangen; der Wald wirkte gespenstisch im<br />

nebligen Dunst. Findus lächelte. Dies war seine Welt und es<br />

würde wieder so ein Tag der tausend Wunder werden. Er<br />

erbat sich von Bewok die Armbrust. Heute würde er auf Wild<br />

treffen und das gäbe ein hervorragendes Festmahl ab! Er<br />

spürte es instinktiv. Der blanke Mond leuchtete nur noch<br />

matt-blass, wollte sich zur Ruhe begeben und ein erster,<br />

verirrter Sonnenstrahl zitterte über eine Pfütze, verwandelte<br />

sie in reines Silber.<br />

Nachts hatte es gewittert. Jetzt war die Luft klar und rein,<br />

erfüllt vom unnachahmlichen Duft des Waldes. Es war<br />

wirklich sehr schön hier und dieser rechteckige<br />

Glücksmoment hätte ewig anhalten können. Lautlos ging<br />

63


Findus weiter über den moosigen Boden, setzte Fuß vor Fuß<br />

und immer darauf bedacht, diese vollkommene Welt nicht<br />

durch ein unbedachtes Geräusch zu entweihen. Er sah das<br />

leise Warnen eines Rotkehlchens - verschlungene, grüngoldene<br />

Bogenformen vor dem inneren Auge mit einem<br />

Geruch nach frischgemähtem Gras. Eine Art von<br />

ganzheitlichem Erfassen hatte sich seiner bemächtigt und sie<br />

bewirkte, dass er Verbindungen sah, welche rein logisch nicht<br />

da waren. Er wusste genau, wo sich sein Festmahl in spe<br />

aufhielt. Er fühlte es, ohne das Tier sehen zu müssen.<br />

Diese Fähigkeit, dieses Erfassen, diese Formen - all das<br />

war sein ganz persönliches Geheimnis. Geräusche hatten für<br />

ihn schon immer Farben und Formen gehabt, die<br />

Oberflächen fein strukturiert, nuanciert und meist nassmetallisch<br />

schimmernd, in beständiger Bewegung befindliche<br />

Gebilde mit transparent verwehenden ‚Schwuppsen‘. Die<br />

Gegenwart anderer Lebewesen fühlte er immer lange bevor er<br />

die sehen konnte. Doch das behielt der Jäger vorsichtshalber<br />

für sich. Lautlos schlich er weiter, passierte die mit greisen<br />

Flechten überwachsenen Kiefernstangen. Sah einen<br />

graublauen Schatten kurz auftauchen, wieder verschwinden<br />

und lächelte. Vorsichtig nahm er die Armbrust von der<br />

Schulter, spannte und entsicherte sie. Zwei Erpel stiegen<br />

schnatternd auf, ihre Stimmen räumliche Wabereien, der<br />

Auerhahn hatte sie gestört. Findus blieb ganz ruhig sitzen,<br />

wartete. Der Hahn wog sich in Sicherheit, gab dieses<br />

urtümliche und in einem Zischeln mündende Gackern mit<br />

dem Aussehen von auf dem Rand stehenden grauweißen<br />

Tassen, welche in Strukturen mit dem Bild von dunkelgelben<br />

Federn mündeten, von sich. Dann zeigte er sich. Der Schuss<br />

war unhörbar, nur dieses nasse, gedämpfte „Plock!“, als der<br />

Bolzen in das feste Fleisch des Tieres einschlug: Getroffen,<br />

das Essen war gesichert. Ein Moment der Stille, danach<br />

sangen die Vögel wieder schillernde Seifenblasen. Das<br />

tonbraune Brummen einer Hummel begrüßte den neuen Tag.<br />

Findus brachte den großen Vogel zu Bewok, welcher in<br />

der Zwischenzeit für Brennholz gesorgt hatte. Gemeinsam<br />

entfernten sie Federn und Innereien, zerlegten das Tier,<br />

vergruben die unbrauchbaren Reste um die Fliegen fern zu<br />

halten. Bewok entschied, das Fleisch in einem Erdofen zu<br />

64


garen. Er hob unter Zuhilfenahme von Findus Kurzschwert-<br />

Werkzeug eine hinreichend große Grube aus und schickte<br />

Findus mit dem Auftrag, große Steine zu sammeln, los.<br />

Nachdem Findus zurück war, wurde ein Feuer am<br />

Grubenboden entzündet. Als es hell-auflodernd brannte,<br />

verschlossen die beiden Wanderer die Grube mit hölzernen<br />

Stöcken und darüber gelegten Rinden, oben auf die Steine<br />

geschichtet. Irgendwann gab das schwelende Deckelholz nach<br />

und die inzwischen schon glühenden Steine fielen in die<br />

Grube. Sofort gab Bewok ein paar dünne Rinden über die<br />

Steine, fügte den zerlegten Vogel hinzu, überschichtete ihn<br />

schnell mit Rinde und Erde und dann warteten sie bis zum<br />

Mittag. Als sie die Grube öffneten, war das Fleisch gar und<br />

hatte ein köstliches Aroma. Nun erst setzten sie ihre Reise<br />

fort.<br />

„Wir sammeln am besten ab sofort Fackelholz, denn<br />

morgen erreichen wir den Sumpf und dort brauchen wir<br />

Feuer.“ Bewok´s Rede duldete keinen Widerspruch. „Frag´<br />

jetzt nicht, ich erkläre es Dir später. Was wir brauchen, ist<br />

grünes Holz mit einem dicken und einem dünnen Ende. Für<br />

jeden ungefähr vier Fackeln. Heute Abend spalten wir die<br />

dicken Enden auf und bringen da trockenes Holz und<br />

Kohlestücke ein. Dann tränken wir das mit Öl. Öl habe ich<br />

mitgenommen.“ Bewok schwieg wieder und sie gingen weiter.<br />

Hielten Ausschau, sammelten das Holz. Gegen Abend<br />

erreichten sie das Ende des Waldes. „Hier bleiben wir<br />

während der Nacht. Wir entzünden ein großes Feuer. Das<br />

hält die Sumpfbewohner fern.“ „Was weißt du vom Sumpf<br />

und von seinen Bewohnern?“ fragte Findus den Fischer.<br />

„Nicht genug“ antwortete der und fuhr fort - während sie<br />

sich beide um das Nachtlager kümmerten – „es gibt<br />

verschiedene Pfade da durch. Aber mir ist nur einer bekannt.<br />

Wir haben also keine Wahl. Und der Sumpf ist gefährlich.<br />

Verdammt gefährlich!“<br />

Später saßen sie vor dem Zelt und bereiteten die Fackeln<br />

vor. Bewok erläuterte Findus die Situation. „Es ist so. Der<br />

Sumpf hat viele Bewohner. Die meisten von denen - nein,<br />

eigentlich sogar alle - hassen uns Menschen. Da sind erstmal<br />

die Wolfsratten. Groß wie ein kleiner Hund und sie greifen<br />

immer im Rudel an. Sie lieben Menschenfleisch. Wenn sie<br />

65


dich gewittert haben, dann hast du kaum noch eine Chance.<br />

Dann gibt es die Morfus. Schleimige Kreaturen, die nicht<br />

sehen und nicht hören können. Sie können weder richtig<br />

schwimmen noch richtig laufen. Sie kriechen wie ein<br />

schmieriger Film über Land und Wasser. Sie sind giftig. Wenn<br />

sie Dich erwischen, dann unterkriechen sie Deine Kleidung,<br />

bis sie die Haut finden. Sie fangen sofort an, Dich zu<br />

verdauen. Du bemerkst das erst, wenn es längst zu spät ist,<br />

denn ihr Gift verhindert, dass du durch Schmerzen gewarnt<br />

wirst. Durch die Erschütterungen deines Schrittes machst du<br />

sie auf dich aufmerksam. Dann sind da noch die Kobolde.<br />

Klein wie ein Eichhörnchen und von ungefähr menschlicher<br />

Gestalt. Aber sie gefallen sich darin, den Menschen<br />

Schabernack zu spielen. Schabernack, der nur allzu oft tödlich<br />

endet. Nicht zu vergessen die Irrlichter. Das sind die<br />

ruhelosen Seelen derer, die im Sumpf ihr Leben gelassen<br />

haben. Des Nachts sind es wandernde Lichter, die dich vom<br />

richtigen Weg abbringen. Tagsüber Nebelstreifen, die dir den<br />

Blick auf den richtigen Weg verschleiern. Manchmal geben sie<br />

menschliche Klagelaute von sich, um dich zum Verlassen des<br />

Weges zu bringen. Daneben soll der Sumpf noch andere<br />

Kreaturen beherbergen, aber über die weiß ich nichts. Reicht<br />

mir auch so. Aber alle haben eines gemeinsam: Sie fürchten<br />

das Feuer. Daher die Fackeln. Die brauchen wir auch<br />

tagsüber, zur Verteidigung und zur Abschreckung. Kein Ort<br />

für Menschen. Deswegen will ich da morgen auch in nur<br />

einem Tagesmarsch durch. Eine Übernachtung dort würden<br />

wir nicht überleben. Wir müssen früh aufbrechen. Aber trotz<br />

allem: Der Sumpf ist faszinierend. Er wird dich nicht mehr<br />

loslassen.“ Bewok schwieg und Findus sah nachdenklich in<br />

die Flammen.<br />

Frühmorgens, noch lange vor Sonnenaufgang. Findus<br />

wurde von Bewok geweckt. „Junge, wir müssen los, sonst<br />

schaffen wir den Weg heute nicht. Zünde eine Fackel an und<br />

halte die anderen griffbereit. Was immer auch geschehen mag<br />

- wir müssen unbedingt dicht beisammen bleiben. Jeder für<br />

sich allein hat keine Chance. Und noch was - ich weiß ja<br />

nicht, was die alte Zigeunerin mit dir angestellt hat. Aber<br />

irgendwas war; das haben alle gespürt. Wenn da auch nur ein<br />

Funken von irgendeiner Magie in dir sein sollte, dann zögere<br />

66


heute nicht, das einzusetzen.“ „Ich werde es versuchen“<br />

versprach Findus, obwohl ihm bei diesen Worten nicht ganz<br />

wohl war.<br />

Er dachte an die Worte der alten Hagia; an das, was sie<br />

über das unbedachte Spielen mit Magie und über das<br />

Verbrennen gesagt hatte. Sie brachen ihr Lager ab und<br />

verließen den Wald. Hinter einem schmalen Schilfstreifen<br />

wechselten sich grüne Grasinseln - fester Boden! - mit<br />

schmutzig-ölig schimmernden Wasserflächen ab. Das Wasser<br />

erschien eklig schwärzlich-trüb. Hin und wieder durchbrach<br />

eine Sumpfgas-Blase die Oberfläche und verbreitete einen<br />

höllischen, fauligen Geruch. Die Pflanzen am Rande der<br />

Grasinseln sahen kränklich gelb aus und erweckten den<br />

Eindruck, als wollten sie sich halbtot mit allerletzter,<br />

schwindender Kraft gegen irgend etwas unbeschreiblich<br />

Böses zur Wehr setzen.<br />

„Und da wollen wir durch?“ ächzte Findus geschockt.<br />

„Nicht wollen, sondern müssen“ korrigierte ihn der Fischer<br />

und verfluchte in Gedanken seine Frau. Er kniff die Augen<br />

zusammen und betrachtete den Sumpf. „Es ist deutlich<br />

schlechter geworden seit damals, aber halb so schlimm, wenn<br />

man die Augen richtig aufmacht. Betrachte mal die<br />

Grasinseln. Fällt Dir da nichts auf?“<br />

Und richtig - wenn man genau hinsah: Da war ein<br />

schlammig-matschig-morastiger Pfad, welcher die Grasinseln<br />

untereinander verband. Der Pfad lag auf ungefähr gleicher<br />

Höhe mit der Wasseroberfläche oder nur knapp darüber und<br />

war deshalb leicht zu übersehen. „Gehen wir“ sagte Bewok<br />

mit einem flauen Gefühl im Magen und sie machten sich auf<br />

den Weg. „Die Sumpfbewohner können sich übrigens<br />

untereinander nicht ausstehen. Vielleicht gereicht uns das zum<br />

Vorteil“ bemerkte der Fischer. Für eine Weile kamen sie recht<br />

gut voran, obgleich der Schlamm an ihren Stiefeln klebte und<br />

zog und so jeden Schritt zum Kraftakt machte. Doch<br />

plötzlich verspürte Findus instinktiv eine gewaltige, fremde<br />

Präsenz in seinen Gedanken. Dann erkannte er es. Er ergriff<br />

den vor ihm gehenden Bewok und riss ihn im letzten<br />

Moment zurück. „Sieh!“ sagte er atemlos und deutete auf den<br />

Boden vor ihnen.<br />

67


Da war ein etwa zwei Schritte breiter, kaum sichtbarer<br />

Schleim über dem Pfad. Rechts von ihnen setzte sich diese<br />

leicht zu übersehende Schmiere auf einer großen Fläche im<br />

Wasser fort. „Ein Morfu!“ schimpfte Bewok, und: „Den habe<br />

ich glatt übersehen!“ Er senkte seine eigene Fackel auf den<br />

Schleim. Es zischte, als die Flamme die amorphe Masse<br />

berührte und ein unangenehmer, grau-braun zum Würgen<br />

reizender Geruch wie nach verbranntem Horn lag plötzlich in<br />

der Luft. Wie Wellen kräuselte es den schmierigen Teppich,<br />

als sich der Schleim vom Pfad zurück zog und ihnen den Weg<br />

freigab. Gleichzeitig war ein tiefes Vibrieren im Boden zu<br />

spüren. Wenn die Sumpfbewohner bislang noch nichts von<br />

ihrer Anwesenheit gewusst hatten - jetzt waren sie informiert!<br />

Findus und Bewok setzten ihren Weg schleunigst fort.<br />

Nicht lange und ein leises Wasserplätschern ließ sie<br />

aufhorchen und sich suchend umsehen. Da waren sie,<br />

wenigstens zwanzig Tiere. Wolfsratten! Sie kamen durch das<br />

Wasser, schwammen, erreichten eben den Pfad. Die beiden<br />

Wanderer flüchteten sich auf die nächste baumbestandene,<br />

etwas größere Grasinsel und erwarteten den Kampf mit dem<br />

Rudel. Doch es kam anders.<br />

Plötzlich tauchten da am Rand der Grasinsel kleine<br />

Gestalten auf, bunt bekleidet und mit erdbraunen, runzligen<br />

Gesichtern. Erst nur wenige, dann immer mehr, bis es ihrer<br />

Hunderte waren. Sie sangen kaum hörbar und sehr fremdartig<br />

in einer unbekannten Sprache. Ihr Gesang schien den Verlauf<br />

des Pfades zu beeinflussen. Der Pfad bog sich von der<br />

Grasinsel weg, mündete ins Wasser. Und je mehr sie sangen,<br />

desto mehr näherte sich das Ende des Pfades auch dem<br />

Morfu. Die Wolfsratten folgten dem Pfad. Bis zum Morfu.<br />

Bis in ihren eigenen Tod. Nicht eine kam davon. Der Pfad<br />

kehrte - als ob nichts gewesen wäre - in seine ursprüngliche<br />

Lage zurück und so schnell, wie sie gekommen waren,<br />

verschwanden auch die Kobolde wieder. Nur einer von ihnen<br />

winkte Findus zum Abschied noch zu. „Du hast schon<br />

eigenartige Freunde“ bemerkte Bewok trocken. Findus<br />

erwiderte nichts darauf.<br />

Für lange Zeit geschah dann nichts mehr und sie konnten<br />

ihre Reise ungehindert fortsetzen. Erst am späten Nachmittag<br />

bildete sich eine Art von Dunst. Bewok war sofort alarmiert.<br />

68


„Irrlichter!“ warnte er. Er entnahm dem mitgeführten Beutel<br />

ein Seil, welches er erst sich selbst und dann Findus um den<br />

Leib schlang, so dass sie nun verbunden waren. „Jeder passt<br />

auf den anderen auf!“ kommandierte der Alte. Er erklärte:<br />

„Der Dunst wird immer dichter werden, zu einem Nebel, bei<br />

dem man im wahrsten Sinn des Wortes die Hand nicht mehr<br />

vor den Augen sieht. Den Pfad natürlich auch nicht. Ich<br />

werde ihn mit den Füßen ertasten müssen. Ich gehe voran.<br />

Falls ich ins Wasser gerate, dann zieh´ mich sofort raus.“ So<br />

machten sie es dann auch.<br />

Das Irrlicht erzeugte einen immer dichter werdenden<br />

Nebel, in dessen Inneren es hin und wieder verlockend<br />

aufblinkte. Dazu kamen menschliche Klagelaute, deren<br />

Ausstrahlung sich die beiden Wanderer nur schwerlich<br />

entziehen konnten. Doch plötzlich kam ein kräftiger Wind<br />

auf und zerfaserte das Irrlicht. Es gab widerstandslos auf.<br />

Über der Wasserfläche schwebte eine kleine blauhäutige Elfe<br />

und lächelte Findus zu. War sie das gewesen? Unbeschadet<br />

erreichten beide am späten Abend das Ende des Sumpfes und<br />

schlugen ihr Nachtlager auf.<br />

Der nächste Morgen brachte eine Überraschung. Am Ufer<br />

der Tiedsiepe lag wie angespült ein Boot. Alt und defekt, aber<br />

zu reparieren. Das Seltsame daran: Sogar zwei eigentlich nicht<br />

zum Boot passende Paddel waren noch da, worüber Bewok<br />

sich gebührend wunderte und seine Verwunderung auch<br />

deutlich zum Ausdruck brachte. Findus sagte nichts dazu; er<br />

dachte an das Volk der Wassergeister. Es gab da so einen<br />

Verdacht im seinen Gedanken...<br />

Bewok und Findus arbeiteten den ganzen Tag über am<br />

Ufer. Gleichzeitig hatten sie Angeln ausgelegt, um ihren<br />

schwindenden Proviant durch Fische zu ergänzen. Sie<br />

dichteten das Boot ab und versahen es sicherheitshalber mit<br />

zwei Auslegern. Letztere entstammten den in der Nähe<br />

wachsenden Rigras-Stämmen. Dabei handelte es sich um eine<br />

Grasart, welche sehr schnell wuchs und die mehrere<br />

Mannslängen erreichen konnte. Die Halme waren dann fast<br />

so breit, wie Findus´ Unterarm lang war, dabei aber dennoch<br />

relativ dünnwandig und somit auch federleicht. In<br />

bestimmten Abständen stabilisierten innere Knoten aus<br />

69


Pflanzenmaterial diese seltsamen Halme, so dass natürliche<br />

Luftkammern - natürliche Auftriebskörper - entstanden.<br />

Bewok sagte: „Das wäre eigentlich das ideale Baumaterial<br />

für ein jedes Wasserfahrzeug. Unsinkbar, wenn sich das<br />

Material nicht von selbst mit Wasser vollsaugen würde. Aber<br />

ein paar Tage hält es durch und so lange werden wir es gar<br />

nicht brauchen.“ Sie befestigten die Ausleger mit Hilfe von<br />

Querstangen und Seilen an dem Boot. Sollte es trotz der<br />

Reparatur zu einem Leck kommen, dann würden die Ausleger<br />

das Boot über Wasser halten. Außerdem boten sie einen<br />

guten Schutz vor dem Kentern.<br />

Abends saßen sie wieder vor ihrem Zelt. Ein Lagerfeuer<br />

brannte. Trotz der tagsüber gefangenen Fische rationierten sie<br />

die Lebensmittel jetzt: Langsam wurde es eng. „Ich habe die<br />

Augen den ganzen Tag lang nicht von der Tiedsiepe<br />

genommen“ begann Bewok das Gespräch und fuhr fort<br />

„morgen können wir jedenfalls ausschlafen. Erst geraume<br />

Zeit nach Sonnenaufgang wird das Wasser zu steigen<br />

beginnen. Sobald genug Wasser da ist, um das Boot<br />

aufschwimmen zu lassen, gehen wir los. Im Wasser. Einer<br />

schiebt das Boot, der andere zieht es. Wenn das Wasser hoch<br />

genug steht, dann steigen wir in das Boot und paddeln, soweit<br />

wir kommen. Irgendwann wird das Wasser wieder fallen,<br />

nämlich am Nachmittag und dann lassen wir das Boot liegen,<br />

wo es ist. Wir gehen dann zu Fuß weiter. Bis zur ‚Insel der<br />

Gestrandeten‘. Dort wachsen auch viele essbare Früchte, so<br />

dass der Proviant nicht unbedingt ein Problem darstellen<br />

sollte.“ Findus stimmte zu. Insgeheim fragte er sich allerdings,<br />

woher der alte Fischer das mit den Früchten wusste. Welches<br />

Geheimnis verbarg er vor ihm? Auch war ihm aufgefallen,<br />

dass etwas Bewok zunehmend bedrückte. Nun, er würde<br />

wohl von sich aus sprechen, wenn die Zeit dafür gekommen<br />

war.<br />

Am Vormittag des Folgetages warteten sie, bis das Wasser<br />

knapp kniehoch gestiegen war. Bewok nahm einen kleinen<br />

Schluck des Trankes, den Snofork ihm zuletzt noch<br />

mitgegeben hatte, zu sich. Er reichte die Flasche an Findus<br />

weiter. „Trink´ davon, aber nur einen kleinen Schluck – der<br />

Trank gibt Dir Kraft. Zuviel macht süchtig und noch mehr<br />

tötet“ sagte der Fischer.<br />

70


Sie luden ihre Habseligkeiten in das Boot und machten<br />

sich auf den Weg zur ‚Insel der Gestrandeten‘, deren Gipfel<br />

schon überdeutlich zu sehen war. Die Insel schien zwar zum<br />

Greifen nahe zu sein, doch auf der Wasserfläche täuschten die<br />

Entfernungen gewaltig. Ziehend und schiebend kämpften<br />

sich beide durch das stetig steigende, gurgelnde und<br />

glucksende Wasser vorwärts. Als das Wasser ihnen bis zur<br />

Hüfte reichte und jede Bewegung kleine, scharfe Wellen an<br />

ihnen hochspritzen ließ, beschlossen sie, das Boot zu<br />

besteigen und zu paddeln. Jetzt kamen sie sehr schnell voran.<br />

Findus fragte sich, woher wohl das Tempo rührte, bis er<br />

vereinzelte kleine grüne Arme und Hände an den Auslegern<br />

entdeckte. Er grinste. Ihm wurde schlagartig einiges klar.<br />

Langsam, ganz langsam, kamen Fischer und Findling der<br />

Insel näher. Dann sank das Wasser wieder. Ebenso langsam<br />

und stetig, wie es gestiegen war. Sie machten nun nur noch<br />

wenig Fahrt. Die kleinen Hände an den Auslegern waren<br />

verschwunden. Findus und Bewok blieben so lange im Boot,<br />

bis es Grundberührung hatte. Dann stiegen sie aus, ergriffen<br />

ihre wenigen Habseligkeiten und gingen zu Fuß weiter.<br />

Zunächst noch durch das Wasser. Die Insel war wieder näher<br />

gerückt - aber noch nicht nahe genug. Ein weiter Fußmarsch<br />

stand bevor.<br />

Irgendwann war die Tiedsiepe völlig trocken gefallen und<br />

der Tag begann, sich deutlich seinem Ende zu zu neigen.<br />

Findus konnte erstmals den grob-porösen, kalkig-hellen<br />

Boden dieses Binnenmeeres aus nächster Nähe betrachten.<br />

Das Gestein war wie von Millionen feiner und feinster Kanäle<br />

durchzogen, wobei diese Kanäle durchweg in die Tiefe<br />

führten. Dazwischen hier und dort ein Fluttümpel mit Tieren<br />

darin. Hier und da auch eine Sandfläche. Der Boden war nicht<br />

immer horizontal, es gab auch kleine Falten und<br />

Verwerfungen, aber im Großen und Ganzen doch ziemlich<br />

eben. Wohin war das Wasser wohl verschwunden? „Es<br />

scheint einfach im Boden versickert zu sein“ dachte Findus<br />

bei sich. Vielleicht würde es bei der nächsten Flut auch<br />

einfach wieder aus dem Boden hervor kommen, doch bis<br />

dahin war noch lange Zeit. Hingegen würde es nicht mehr<br />

lange dauern, bis die Dunkelheit hereinbräche. Wenn sie<br />

71


Glück hatten, dann konnten sie just zu dem Zeitpunkt die<br />

Insel erreicht haben.<br />

Als Findus zufällig zur Seite blickte, sah er eine relativ<br />

scharf umgrenzte, weiße Nebelsäule. „Bewok, gibt es hier<br />

auch Irrlichter?“ fragte er. „Nein - warum fragst du?“ Findus<br />

wies wortlos auf die Nebelsäule. „Verdammt“ stieß Bewok<br />

hervor „das ist Geisternebel. Der entsteht durch<br />

Luftströmungen zwischen heiß und kalt. Du kannst in so eine<br />

Nebelsäule treten und siehst nicht mal mehr Deine eigenen<br />

Füße. Verlierst jede Orientierung, obwohl nur zwei Schritte<br />

daneben schönster Sonnenschein herrscht. Wir binden uns<br />

wieder zusammen, wie im Sumpf und einer achtet auf den<br />

anderen. Die Säulen driften nämlich über den Untergrund.“<br />

Gesagt, getan. Nachdem sie eine Seilschaft bildeten, setzten<br />

sie die Reise fort. Der auf völlig natürliche Weise über dem<br />

Wattboden entstandene Geisternebel konnte ihnen nichts<br />

mehr anhaben, konnte sie nicht mehr irritieren.<br />

Es wurde dämmrig und die ‚Insel der Gestrandeten‘ war<br />

schon beinahe erreicht, als Findus eine kaum auszumachende<br />

Verfärbung des Bodens auffiel. Der Nebel war längst wieder<br />

verschwunden und auch die Seile hatten sie wieder abgelegt.<br />

In der letzten Zeit liefen sie über Sand, der jetzt plötzlich<br />

seine winzige Farbveränderung erfuhr. Findus rechnete<br />

instinktiv mit Gefahr. „Warte, keinen Schritt weiter“ rief er<br />

dem vor ihm gehenden Bewok zu. „Warum?“ drehte der sich<br />

erstaunt um. „Ich weiß auch nicht, da ist was, ich habe ein<br />

schlechtes Gefühl...“ „So ein Unsinn“ brummte der Fischer<br />

unwirsch und stapfte weiter auf die Insel zu. Er kam nicht<br />

weit. Eines seiner Beine sank plötzlich bis über´s Knie im<br />

Boden ein. Erschrocken ruderte Bewok mit den Armen,<br />

versuchte sein Gleichgewicht wieder zu finden. Doch da war<br />

Findus schon heran, ergriff ihn unter den Achseln und zog<br />

ihn raus. „So eine verdammte... Das ist Treibsand. Du hast<br />

gute Augen, Junge.“ „Wir müssen den Treibsand umgehen“<br />

antwortete Findus. Bewok nickte. Es wurde kein allzu großer<br />

Umweg, aber als sie endlich die ‚Insel der Gestrandeten‘<br />

erreichten, da war es schon stockfinstere Nacht. Die Gefahr,<br />

in der Dunkelheit einfach an der Insel vorbeizulaufen, war<br />

groß gewesen. Weil es warm und trocken war, verzichteten sie<br />

72


auf das Aufschlagen des Zeltes. Nach einem knappen<br />

Abendmahl schliefen beide sofort müde und erschöpft ein.<br />

Am Vormittag des Folgetages saßen sie am Strand,<br />

warteten darauf, dass das erneut aufgelaufene Wasser zurück<br />

ging. Sie sahen zur ‚namenlosen Insel‘ hinüber. Bewok wirkte<br />

irgendwie gequält, noch in sich gekehrter als während der<br />

letzten Tage. „Wie ist sie?“ fragte Findus. „Wer?“ entgegnete<br />

Bewok geistesabwesend. „Die Bônday.“ „Wahrscheinlich auf<br />

jeden Fall anderes, als du sie dir vorstellst. Egal, du wirst sie<br />

kennenlernen.“ Bewok schwieg wieder. „Wie weit ist es dort<br />

hinüber?“ setzte Findus das Gespräch fort. Bewok seufzte:<br />

„Wenn man nicht trödelt, dann ist es in einer Trockenzeit gut<br />

zu schaffen. Mit ablaufendem Wasser rausgehen und mit<br />

auflaufendem Wasser erreichst du ihre Insel. Sag´, willst du<br />

nicht lieber allein dort hinüber? Den Weg schaffst du mit<br />

links. Ich in meinem Alter bin dir da doch nur hinderlich.<br />

Außerdem sind wir quitt. Ich habe dich gerettet und du hast<br />

mich gerettet.“ Findus sah ihn nur an, wartete. Bewok wirkte<br />

noch gequälter, presste die Lippen aufeinander. „Was würde<br />

Deine Frau Snofork dazu sagen?“ fragte Findus. Ein<br />

trockenes Schluchzen schüttelte Bewok´s Körper. Findus<br />

legte ihm die Hand auf den Arm. „Was...“ „Schon gut, du<br />

hast gewonnen“ erwiderte der Fischer kehlig und sprach<br />

weiter: „Doch es gibt da etwas, das du vielleicht wissen<br />

solltest.“<br />

Bewok suchte einen Moment lang nach Worten und fuhr<br />

dann fort: „Ich bin dort drüben absolut nicht willkommen.<br />

Ich weiß nicht, was mich erwartet. Es könnte mein Tod sein.<br />

Davor habe ich Angst. Die Bônday hat mich auf immer und<br />

ewig von ihrer Insel verbannt. Das ist jetzt schon viele, viele<br />

Sommer her. Damals war ich jung und unerfahren. Ich<br />

glaubte, die Welt aus den Angeln heben zu können. Zu der<br />

Zeit lernte ich eine wunderschöne Frau kennen, eine reine<br />

Augenweide. Sie war eine Hexe. Eine mächtige Hagia. Wir<br />

verliebten uns unsterblich ineinander. Doch ich wollte keine<br />

Hexe zur Frau, sondern eine ganz normale Frau, die mir ein<br />

treues Eheweib sein würde - ohne weitere Verpflichtungen.<br />

Daher bat ich sie, der Hexerei zu entsagen. Doch das ging<br />

nicht, denn zur Hexe wird man geboren. Man bekommt die<br />

magische Kraft mit in die Wiege gelegt. Die Macht einer Hexe<br />

73


kann nur geschwächt werden. Durch eine noch mächtigere<br />

Hexe. Je größer deren Macht ist, desto stärker ist auch die<br />

Schwächung. Snofork war damit einverstanden, ihre Kraft<br />

aufzugeben. Also ging ich zur mächtigsten Hexe, die es gab<br />

- zur Bônday. Ich benutzte den Weg, den wir auch<br />

genommen haben. Daher meine Ortskenntnis. Na ja, damals<br />

war ich jünger, da ging´s schneller. Diesmal hatten wir<br />

Helfer.“ Er sah Findus scharf an. „Helfer aus dem magischen<br />

Schattenreich; ich habe es wohl bemerkt.“<br />

Als Findus darauf jedoch nicht reagierte, sprach der alte<br />

Fischer weiter: „Ich bat die Bônday. Sie wollte nicht. Ich<br />

bettelte, flehte sie an. Ihr ‚Nein‘ konnte ich nicht akzeptieren.<br />

Letztlich griff ich sie sogar an, wollte sie durch physische<br />

Gewalt zwingen. Es war Wahnsinn und ich war verblendet.<br />

Aber ihr imponierte damals meine Entschlossenheit.<br />

Entschlossenheit auf der Grundlage meiner grenzenlosen<br />

Liebe zu Snofork. Schließlich erfüllte sie mir meinen Wunsch,<br />

verwies mich aber ihrer Insel und warnte mich davor, das<br />

Eiland jemals wieder zu betreten. Seither ist Snofork nur noch<br />

eine reine Kräuterhexe. Ihre einzigen magischen Fähigkeiten<br />

bestehen darin, instinktiv die richtigen Kräuter zu finden und<br />

Magie bei anderen Personen zu erspüren. So wie bei dir. Wir<br />

haben den Verlust ihrer Fähigkeiten beide niemals bereut.<br />

Nur manchmal - sehr, sehr selten - strahlt noch für kurze<br />

Augenblicke die alte Kraft aus ihr. So wie an dem Tag, als sie<br />

unsere Abreise beschloss. Ich befürchte, dass die Bônday<br />

mich töten wird...“ Bewok verstummte zitternd. Findus<br />

überlegte kurz und fragte dann: „Würde Snofork dich in den<br />

Tod schicken?“ „Nein, niemals. Junge, du hast Recht. Ich<br />

werde dich begleiten. Komme was da wolle.“ Der Fischer<br />

stand auf. „Das Wasser ist weit genug gefallen. Lass´ uns<br />

gehen.“ Entschlossen durchquerten sie die trocken gefallene<br />

Meerenge zwischen den Inseln.<br />

Viele Stunden später erreichten beide die ‚namenlose Insel‘.<br />

Natürlich blieb die Ankunft von Findus und Bewok nicht<br />

unbemerkt. Zwei offensichtlich noch junge Frauen kamen auf<br />

sie zu, als die Wanderer eben an Land gingen. „Unser<br />

74


Empfangskomitee“ brummte Bewok und „ab jetzt wird´s<br />

lustig...“. Die beiden Frauen näherten sich den Reisenden.<br />

Eine der beiden verfügte über ein beinahe albinotisch blasses<br />

und schmales, aber dennoch sehr wohlproportioniertes<br />

Gesicht, umrahmt von langen dunkelroten, ja beinahe<br />

schwarzen gelockten und sehr gepflegten Haaren. Dies stand<br />

in eigenartigem Kontrast zu ihrer blassen Haut und verlieh ihr<br />

einen unwiderstehlichen und leicht exotischen Touch. Die<br />

andere war im Gegensatz dazu braungebrannt. Sie verfügte<br />

über langes goldblondes und glattes Haar. Auch ihre Haut<br />

war makellos und sie sah atemberaubend begehrenswert aus.<br />

Beide Frauen trugen nur halbdurchsichtige leichte und lange<br />

weiße Röcke, unter welchen die beiden Männer die langen,<br />

wohlgeformten Beine eher erahnen denn sehen konnten und<br />

oben herum gar nichts, so dass ihre vollen Brüste zu sehen<br />

waren. Falsche Scham schien ihnen fremd zu sein. Die Frauen<br />

trugen als einzigen Schmuck Armbänder, welche aus<br />

verschiedenen Edelsteinen bestanden. Mit „Ich bin Lyonora“<br />

wurden die Ankömmlinge von der Rothaarigen begrüsst.<br />

„Und ich bin Dayla“ fügte die Blonde hinzu.<br />

Letztere wandte sich Findus zu. „Schön, dass du hier bist.<br />

Die Bônday erwartet dich bereits sehnsüchtig.“ Sie schwieg<br />

und blickte zu Lyonora. Lyonora sah den Alten an:<br />

„Tiedsiepe-Fischer Bewok, dir muss von Anfang an klar<br />

gewesen sein, dass du hier sehr unerwünscht bist.“ Bewok<br />

nickte bekümmert – „Jetzt kommt´s“ dachte er. Doch<br />

Lyonora fuhr fort: „Die Bônday verweigert dir daher den<br />

Zutritt. Das war nach eurem Zerwürfnis auch nicht anders zu<br />

erwarten. Du kannst dir sicherlich denken, warum sie euch<br />

nicht persönlich empfängt.“ Bewok nickte verstehend.<br />

„Dennoch lässt die Bônday dir danken. Du hast nichts zu<br />

befürchten, denn du hast ungeachtet eventueller persönlicher<br />

Nachteile eine lange, gefahrvolle und entbehrungsreiche Reise<br />

auf dich genommen - um Findus zu uns zu bringen. Die<br />

Bônday wird daher für deinen Rücktransport sorgen.“ Mit<br />

einer spielerisch anmutenden Handbewegung drehte Lyonora<br />

ihr Armband, woraufhin sich ein Lichtstrahl in einem der<br />

dortigen Steine fing. In einem Mondstein. Der reflektierte das<br />

Licht in einen Topas und letzterer Stein warf den Strahl auf<br />

das inzwischen schon wieder steigende Wasser der Tiedsiepe.<br />

75


Urplötzlich lag dort ein kleines, weißes Boot: Mondstein und<br />

Topas – die Symbole für Neubeginn und Transformation:<br />

Zauberkraft!<br />

Lyonora fuhr fort: „Das magische Boot ist für dich. Es<br />

benötigt nur etwas Feuchtigkeit unter dem Kiel, um<br />

schwimmen zu können. Und es ist sehr schnell. Das Boot<br />

wird dich am Ufer der Tiedsiepe absetzen. Am Ufer des<br />

Waldes, der unmittelbar hinter deiner Hütte liegt. Danach<br />

verschwindet das Boot wieder. Binnen weniger Stunden bist<br />

du dann zu Hause. An Bord findest du Verpflegung für einen<br />

Tag. Das ist mehr als ausreichend. Als kleines Dankeschön<br />

für Deine Bemühungen ist dort auch noch ein ledernes<br />

Päckchen. Das ist für dich und für deine Frau bestimmt, doch<br />

nur Snofork wird damit umzugehen wissen. In dem Päckchen<br />

sind sehr wertvolle Heilkräuter; nur im schlimmsten Notfall<br />

anzuwenden. Daher achte darauf, dass das Päckchen nicht<br />

nass wird. Richte auch Snofork unsere Grüsse und unseren<br />

innigsten Dank aus. Du kannst jetzt gehen.“ Eiskalt abserviert<br />

- ein klassischer Rausschmiss. Doch es hätte für Bewok auch<br />

viel schlimmer kommen können.<br />

Traurig blickte der Fischer zu Findus hinüber, welcher mit<br />

den Achseln zuckte. Was hätte der auch schon machen<br />

können? Beide gingen aufeinander zu und umarmten sich.<br />

Ihnen war klar, dass es durchaus ein Abschied für immer sein<br />

mochte. „Pass´ auf dich auf, Junge“ sagte der alte Fischer und<br />

fügte hinzu: „Was immer du tust - schade niemandem.“<br />

Findus sah ihn verblüfft an. Hatte sich nicht die Zigeunerin<br />

so ähnlich geäußert? Bewok unterdrückte ein Schluchzen und<br />

gab seinem Findling noch mit auf den Weg: „Und vergiss´<br />

niemals, welche Anforderungen das einfache Leben an<br />

einfache Leute stellt. Sei und bleibe mitfühlend und<br />

verständig.“ „Warte“ meinte Findus „da ist noch etwas, was<br />

dir gehört.“ Er begann, an dem Kurzschwert herum zu<br />

nesteln. „Nein“ sagte Bewok „behalte es. Denke an Snofork<br />

und an mich, wenn du es benutzt.“ Er klopfte Findus<br />

aufmunternd auf die Schulter, nahm ihr verbliebenes<br />

Reisegepäck auf und stapfte zum Boot. Der Fischer kletterte<br />

hinein. Sofort setzte sich das magische Gefährt in Bewegung<br />

und entschwand schnell über die endlose, spiegelnde<br />

Wasserfläche. Findus sah dem Boot so lange nach, bis es<br />

76


seinen Blicken englitten war. Dann erst drehte er sich zu den<br />

beiden hinter ihm stehenden Hexen um.<br />

„Gehen wir zur Bônday. Sie wartet auf dich“ sagte Dayla<br />

mit golden-melodischer, verführerischer Stimme. Die beiden<br />

führten Findus auf einem gut ausgebauten Weg über die Insel.<br />

Die ‚namenlose Insel‘ war ein Paradies, schien nicht von<br />

dieser Welt zu sein. Findus spürte, wie sich hier unglaublich<br />

mächtige Erdströme vereinigten. Vögel sangen und<br />

zwitscherten; ihre Laute malten kupferne Spiralen, metallischnass-regenbogenfarbene<br />

Ringe und grüngolden-gestreifte<br />

Bögen in die Luft. Es gab viele Bäume mit einer ihnen<br />

innewohnenden magischen Symbolik: Weißdorn<br />

– Konzentration und Freiheit, Kiefer - Erleuchtung,<br />

Wacholder - Glück, Birke - Neubeginn, Weide – Harmonie<br />

mit der Schöpfung, Eibe - Schutz und Fichte - Licht.<br />

Allgegenwärtig waren blühende und gleichzeitig Früchte<br />

tragende Apfelbäume – inneres Feuer. Und noch etwas fiel<br />

Findus auf: Es gab Eichen, auf denen Misteln wuchsen.<br />

Extrem ungewöhnlich. Die Insel war ein magischer Ort und<br />

die Magie war allgegenwärtig. Stärke und spirituelle Autorität,<br />

Freiheit und Erleuchtung, Glück und Harmonie, Licht und<br />

Transformation - das alles wurde zu einem inneren Feuer,<br />

welches das Rad des Lebens bewegte. Hier und von hier aus<br />

in ganz <strong>Norgast</strong>.<br />

Sie erreichten das Zuhause der Bônday. Wenn Findus<br />

einen Palast erwartet hatte, dann wurde er enttäuscht. Das<br />

<strong>Heim</strong> der Bônday bestand nur aus einer Ansammlung von<br />

Hütten. Allerdings verfügten diese sich perfekt in die<br />

Umgebung einfügenden Hütten über eine Ausstrahlung, die<br />

jeden Palast in den Schatten stellte. Eine Frau war in einem<br />

Kräutergarten beschäftigt. Eine reife, schöne Frau von<br />

vielleicht höchstens vierzig Sommern – also etwa doppelt so<br />

alt wie Dayla oder Lyonora. Als die drei auf sie zukamen,<br />

richtete sie sich auf. Sie war genauso spärlich bekleidet wie die<br />

beiden Hexen des Empfangskomitees, sah gleichzeitig aber<br />

völlig anders aus: Eine dunkelhäutige Frau mit sehr<br />

ebenmäßigen Gesichtszügen, makellos weißen Zähnen und<br />

wasserstoffblond gefärbten langen Lockenhaaren, was einen<br />

begehrenswerten Kontrast zu ihrer Hautfarbe ausmachte. Ihre<br />

Augen waren bernsteinfarbene Katzenaugen - die Bônday.<br />

77


Findus fühlte ihre mächtige Ausstrahlung. War sie ein<br />

Mensch? „Willkommen Findus“ sagte sie und fügte hinzu<br />

„schön, dass du wieder zurück bist.“<br />

Ein Schock! Die Worte trafen Findus wie ein unerwarteter<br />

Schlag in die Magengrube; er strauchelte. Dayla und Lyonora<br />

stützten ihn. „...dass du wieder zurück bist... - ...dass du wieder<br />

zurück bist...“ Die Worte hallten in seinem Kopf nach.<br />

Wieder und immer wieder. Er hatte kein Gedächtnis mehr,<br />

aber die Bônday kannte ihn. Ja, mehr noch, er war schon<br />

einmal hier gewesen. Hier auf dieser Insel; hier in dieser durch<br />

und durch magischen Welt. „Was weißt du über mich?<br />

Kennst du meine Vergangenheit? Wer bin ich?“<br />

Die Bônday sah ihn abschätzend an. „Ich weiß fast alles<br />

über dich - wer du bist und ich kenne deine Vergangenheit.<br />

Jedenfalls in großen Teilen.“ „Dann sag´ es mir doch!“<br />

bettelte Findus. „Nein!“ Das Wort kam glashart und ließ<br />

keinerlei Widerspruch zu. Nachdenklich trat die Bônday an<br />

ihn heran, legte eine Hand auf seine Schulter und blickte ihm<br />

tief in die Augen. Sie sprach: „Du bist für dieses Wissen noch<br />

nicht reif genug. Das Wissen würde deinen Geist ruinieren<br />

und deinem Handeln die falsche Richtung weisen. Ich habe<br />

einmal den Fehler begangen und dir zu früh zuviel verraten.<br />

Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen! Du erfährst aber<br />

alles, wenn die Zeit dafür reif ist. Doch das ist sie noch lange<br />

nicht.“<br />

78


Kapitel 5: Drei Prüfungen<br />

Die Bônday war von Findus ausführlich über den Verlauf der<br />

Reise und über seine vorherigen Erlebnisse mit dem<br />

Tiedsiepe-Fischer informiert worden; insbesondere auch über<br />

das abhanden gekommene Gedächtnis des Findlings. Auch<br />

Dayla - welche Findus vom ersten Moment an sehr anziehend<br />

fand - und Lyonora waren bei dem Bericht zugegen. Ein paar<br />

Schalen mit Lebensmitteln, frisches Quellwasser,<br />

verschiedene Tees und ein leichter Wein sorgten für das<br />

leibliche Wohl. Inzwischen brach die Dunkelheit herein.<br />

„Gut“ beendete die Bônday schließlich das Gespräch, denn es<br />

war spät geworden. „Dayla wird dir deine Unterkunft zeigen.<br />

Mir ist bekannt, dass ihr beiden Euch früher sehr gemocht<br />

habt. Es spricht nichts gegen ihren Besuch bei dir, wenn sie<br />

deiner bedarf. Umgekehrt hast du jedoch keinen Zutritt zu<br />

den Wohn- und Schlafgemächern von uns Frauen. Geht jetzt<br />

alle schlafen. Findus, morgen müssen wir uns unter vier<br />

Augen unterhalten. Es geht um deine Zukunft.“ Mit einem<br />

Wink waren sie alle entlassen.<br />

Dayla führte Findus in eine der Hütten. Er fand dort alles<br />

vor, was er benötigte. Nachdem der Findling sich gereinigt<br />

hatte ging er schlafen. Wollte er jedenfalls. Doch zuviel war<br />

tagsüber auf ihn eingestürmt. Grübelnd lag er in der<br />

Dunkelheit noch wach im Bett, als es klopfte. „Ja“ sagte er<br />

und Dayla schlüpfte lächelnd herein. Sie trat zu seinem Lager,<br />

entkleidete sich – ein sehr verführerischer Körper! - und<br />

kroch zu ihm unter die Decke. „Ich habe dich schon lange<br />

vermisst“ gestand sie. „Auch du kennst mich von früher?“<br />

„Natürlich.“ Kein weiterer Kommentar ihrerseits. Sie<br />

kuschelte sich an ihn und das Verlangen erwachte. Es dauerte<br />

nicht lange und sie liebten sich heiß, ekstatisch und<br />

phantasievoll. Danach lagen sie wach nebeneinander.<br />

„Was denkst du?“ fragte Dayla. „Die Bônday...“<br />

antwortete Findus. „Sie macht einen so weisen Eindruck.<br />

Dabei ist sie doch noch so jung, höchstens vierzig Sommer<br />

alt.“ Dayla fing an, lauthals und schallend zu lachen. Sie<br />

konnte gar nicht mehr aufhören, bis Findus langsam ärgerlich<br />

79


wurde: „Was ist daran so lustig, verdammt noch mal?“ Dayla<br />

kicherte schon wieder. Sie blickte ihn an; der Schalk blitzte<br />

aus ihren Augen: „Sag´ mal, für wie alt hältst du mich<br />

eigentlich?“ „Na ja, vielleicht so zwanzig Sommer.“ Sie lachte<br />

erneut. Noch lauter und herzhafter als zuvor. Findus sah sie<br />

frustriert an: „Sehr komisch, ja?“ „Entschuldige“ kicherte<br />

Dayla „aber das war eben zu lustig. Dein Gedächtnis ist<br />

demnach wirklich völlig weg. Du kannst es also gar nicht<br />

wissen. Trotzdem...“ Wieder so ein blöder Lachanfall! Doch<br />

Dayla wurde wieder ernst: „Ich könnte gut und gerne deine<br />

Ur-Ur-Ur-Großmutter und vielleicht noch mehr sein. Die<br />

Bônday ist mehr als doppelt so alt wie ich.“<br />

Ernst blickte sie ihn an; in der Dunkelheit sah Findus<br />

jedoch nur die Silhouette ihres Gesichts. „Es ist eine Frage<br />

der Magie“ sagte Dayla mit rauchiger Stimme. „Natürlich sind<br />

wir nicht unsterblich. Aber wenn die Magie in uns stark genug<br />

ist - und wenn wir damit umzugehen wissen - dann<br />

verlangsamt sich der natürliche Alterungsprozess. Etwa um<br />

den Faktor zehn.“ In Findus´ Kopf schwirrte es. Dann wäre<br />

Dayla ja zweihundert und die Bônday sogar vierhundert<br />

Sommer alt... „Ich will und darf aber der Bônday nicht<br />

vorgreifen. Sie wird dir einiges erklären. Morgen. Lass´ uns<br />

jetzt schlafen.“ Sie kuschelte sich wieder an ihn. Findus<br />

genoss erneut die Berührung durch ihren vollkommenen<br />

Körper...<br />

Knarrende Planken. Dichter Nebel. Die Bark des Kaufleute-<br />

Syndikats lag regungslos auf hoher See, irgendwo zwischen<br />

Torboog und den <strong>Norgast</strong> vorgelagerten Inseln. Kein<br />

Lüftchen regte sich. Jeder Atemzug schmeckte nach Seesalz.<br />

Jedes verfügbare Stück Tuch war gesetzt worden, doch<br />

vergebens. Schwer von der aufgesogenen Feuchtigkeit hingen<br />

Segel und Takelage lustlos von Mast und Rah. An Bord döste<br />

alles vor sich hin, wartete auf das Ende dieser seltsamen<br />

Flaute. Im Logis brannte Licht. Es kam aus einer<br />

Luxuskabine. Die Kabine beherbergte nur einen einzigen<br />

Passagier: Baldur. Doch der Reihe nach.<br />

80


Nach der Zerstörung des Paliwi war Baldur in<br />

Krähengestalt wütend abgereist. Er wusste nicht, wohin er<br />

sich wenden sollte. Kreiste ziellos, flog mal hierhin, mal<br />

dorthin. Dann fiel ihm der Ort seiner Geburt ein - das Gehöft<br />

Nedrheg, etwa auf halber Strecke zwischen Sandstedt und<br />

Torboog gelegen. Er wählte Nedrheg zum vorläufigen Ziel.<br />

Mit diesem Ort hatte es eine besondere Bewandtnis. Sein<br />

Vater Mykyllin, der frühere König und ein großer Zauberer,<br />

und seine Mutter Gwylon - eine machtvolle Hexe - befanden<br />

sich seinerzeit auf einer Reise durch <strong>Norgast</strong>, nur begleitet<br />

von ihrem Lakaien Ravon. Gwylon war bereits im<br />

fortgeschrittenen Stadium schwanger, als sie aufbrachen. Aus<br />

unerfindlichen Gründen kam es zu unerwarteten<br />

Verzögerungen. Irgendwann war Gwylon hochschwanger und<br />

brach in Absprache mit Mykyllin die Reise ab. Machte sich<br />

zusammen mit Ravon auf den Rückweg, denn der<br />

Thronfolger sollte im Palast von Helgenor geboren werden.<br />

Doch so sehr sie sich auch eilten und auf dem kürzesten<br />

Weg reisten - sie nahmen sogar den unwegsamen Pass<br />

zwischen den beiden Helgebarg-Gipfeln in Kauf - es sollte<br />

nicht reichen. Gwylon entband auf einem Bauernhof, nämlich<br />

Nedrheg. Und sie überlebte die Geburt nicht. Ravon brachte<br />

die tote Mutter und das lebende Kind dann zum Palast. „Sie<br />

wollte, dass er den Namen ‚Baldur‘ erhält“ teilte Ravon dem<br />

Verwalter Merkyllum mit. Letzterer suchte eine Amme und<br />

fand sie schnell. Baldur würde leben.<br />

Nun war das Verhältnis zwischen Ravon und Merkyllum<br />

nicht eben das Beste. Und als Ravon erneut aufbrach, um die<br />

traurige Nachricht vom Tode der Mutter dem König zu<br />

überbringen, da wurde sein Schiff von Piraten aufgebracht<br />

und er selbst erschlagen. Mykyllin erfuhr daher weder vom<br />

Tode seiner Frau noch von der Geburt seines Sohnes. Ja,<br />

mehr noch: Er erlitt zufälligerweise einen schrecklichen<br />

Jagdunfall, als ihn ein irregeleiteter Speer von hinten<br />

durchbohrte. Da es sich um eine Wolfsjagd handelte, war der<br />

Speer vergiftet gewesen - wie es bei Wolfsjagden eben so<br />

üblich ist. Mykyllin überlebte die Verwundung nicht. Traurig,<br />

traurig, traurig...<br />

Merkyllum wurde zum Truchsess. Er verwaltete das Reich<br />

für Baldur. Und er nahm Baldur´s Erziehung in die Hand.<br />

81


Formte den Jungen nach seinen ganz persönlichen<br />

Vorstellungen. Er lehrte ihn, persönliche und später intime<br />

Beziehungen zu einflussreichen Personen aufzubauen - um<br />

besagte Personen dadurch kontrollieren zu können. Er<br />

brachte Baldur bei, immer Freundlichkeit und Charisma<br />

raushängen zu lassen - dadurch ließen sie sich alle täuschen.<br />

Jede Lüge und jede Hochstapelei wurde anstandslos<br />

geschluckt, wenn sie nur charismatisch genug ausgesprochen<br />

wurde. Merkyllum machte Baldur klar, wie nützlich es war,<br />

andere durch gezielte Fehlinformationen oder durch das<br />

Vorenthalten von Information zu diskreditieren – oder zu<br />

Fehlern zu verleiten. Wie man Personen gegeneinander<br />

ausspielt und wie solche Intrigen garantiert unerkannt bleiben,<br />

wenn man die beteiligten Leute nur in rascher Folge<br />

austauschte... So funktionierte eben Politik!<br />

Baldur wuchs ohne Elternliebe auf. Nur umso<br />

bereitwilliger sog er die fragwürdigen Weisheiten seines<br />

Lehrers Merkyllum auf, ja, er verinnerlichte dessen Regeln<br />

geradezu. Gefühle, Skrupel, Gnade, Mitleid, Vertrauen,<br />

Mitgefühl, Schuldbewusstsein - alles Worte, welche ihm seit<br />

jeher fremd geblieben waren. Begriffe für Weicheier. Es hatte<br />

für ihn nie eine persönliche Belastung dargestellt, den Sinn<br />

dieser Worte nicht zu kennen. Er war der Macher, setzte sich<br />

durch, orientierte sich nur an seinem eigenen Wertesystem.<br />

Baldur allein hatte die Fähigkeit, Macht auszuüben. Nur das<br />

war Führungsstärke! Das bekam irgendwann auch Merkyllum<br />

selbst zu spüren. Ein Streit zwischen Truchsess und<br />

Thronfolger ging voraus. Rein zufällig stürzte Merkyllum<br />

dann vom höchsten Turm des Palastes. Wie tragisch...<br />

Baldur krönte sich selbst zum König. Engagierte Magier,<br />

um sich in der Magie ausbilden zu lassen. Das Wort Liebe<br />

assoziierte er nur mit rein physischer, geschlechtlicher Lust.<br />

Er hatte viele Frauen. Einige überlebten die Nacht mit ihm,<br />

andere nicht. Egal – Menschenmaterial eben. Die Menschen<br />

lebten ihm zum Vorteil, denn er war der absolute Herrscher.<br />

Baldur fand, dass es sogar ein ausgesprochen sozialer Zug<br />

von ihm war, wenn er diese minderwertigen Kreaturen am<br />

Leben ließ. Wie viele Bastarde er zeugte, dass wusste er nicht.<br />

Es interessierte ihn auch nicht, selbst dann nicht, wenn er<br />

seinen Bettgespielinnen die Position einer Königin an seiner<br />

82


Seite in Aussicht gestellt hatte. Was interessierte ihn sein<br />

Geschwätz von gestern? Geschmeiß, Abschaum,<br />

Minderwertige: unfähig, fordernd und frech... - konnte man<br />

so etwas überhaupt als Menschen bezeichnen? War doch<br />

deren Problem, wenn sie dahinvegetierten und es nicht<br />

schafften, sich Reichtümer zuzulegen! Er war doch nicht für<br />

die verantwortlich! Er stand ganz eindeutig über denen!<br />

Baldur wurde schnell klar, dass er neben seiner<br />

Herrscherinsel Helgenor auch noch einige Stützpunkte auf<br />

dem Festland brauchte. Stützpunkte mit jeweils nur wenigen<br />

und ihm treu ergebenen Bediensteten. Das Gehöft Nedrheg<br />

schien wie geschaffen dafür zu sein. Er kaufte den Besitzern<br />

den Bauernhof ab; entlohnte sie reichlich mit Gold und<br />

Edelsteinen. Die Bauersleute wollten sich davon in Torboog<br />

ein kleines Haus kaufen, um in der Stadt einen ruhigen<br />

Lebensabend zu verbringen. Sie reisten ab. Auf dem Weg<br />

nach Torboog erfolgte ein Überfall durch Diebe. Später fand<br />

man die Leichen der Bauersleute. Brauchte ja niemand zu<br />

erfahren, dass Gold und Edelsteine auf verschlungenen<br />

Wegen wieder in Baldur´s Schatztruhen landeten... Das ging ja<br />

auch niemanden etwas an!<br />

Also Nedrheg. Die Krähe flog dort hin, verwandelte sich<br />

wieder in die Gestalt Baldur´s. Fernab von anderen Menschen<br />

begann er die Sisyphusarbeit der Bewusstseinskontrolle seiner<br />

Untertanen. Doch was für Abgründe taten sich da auf! An<br />

allererster Stelle standen die Kaufleute. Wer immer Handel<br />

treiben wollte, der hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder als<br />

fahrender Händler oder als Mitglied im Syndikat der<br />

Kaufleute. Alles andere duldeten die Kaufleute nicht. Notfalls<br />

wurden Abweichler mit Gewalt und Intrigen auf die richtige<br />

Linie zurück gebracht.<br />

Die Kaufleute waren in ihrem Handel frei und nur den<br />

Handelsherren gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet.<br />

Nicht ihm, dem Herrscher, gegenüber! Das Syndikat<br />

verhinderte das! Wenn er einen Kaufmann über dessen<br />

Gewinne befragt hätte, dann wäre von dem eine falsche<br />

Auskunft gekommen. Nur ein anderer Kaufmann wäre<br />

befähigt gewesen, den Schwindel aufzudecken - doch die<br />

Gilde verbot es, gegen einen anderen Syndikatsangehörigen<br />

auszusagen. Eine sich selbst erhaltende, zementierte Struktur.<br />

83


Ein Staat im Staate! Baldur bedauerte es nicht, ganz spezielle<br />

und die Kaufleute betreffende Abkommen mit Piraten und<br />

Dieben getroffen zu haben. Im Gegenteil - sein Regiment<br />

würde noch strenger werden müssen!<br />

Dieser Mijneer Vankampen beispielsweise - bisher war<br />

Baldur immer der Ansicht gewesen, der Kriecher würde ihm<br />

treu ergeben sein. Doch der Kerl war einer der Schlimmsten.<br />

Er wirtschaftete ganz massiv in die eigene Tasche und baute<br />

sich insgeheim eine private Machtposition auf. „Mal sehen“<br />

dachte Baldur „den säge ich ab. Warte nur, Kerl...“ Er würde<br />

ihn kritisieren um der reinen Kritik willen. Ihm schwammige<br />

Weisungen erteilen und Gesprächen ausweichen. Die<br />

Resultate ließen sich dann so oder so auslegen. Ein<br />

unterstelltes Fehlverhalten hier, ein untergeschobener Fehler<br />

da, vielleicht noch gewürzt mit ein paar abwertenden<br />

Bemerkungen seinerseits... Jedenfalls würde Mijneer<br />

Vankampen bald nichts mehr zu melden haben; wenigstens<br />

das war schon mal garantiert! Und wenn der sich beschwerte,<br />

dann würde der ehemalige Kaufherr in spe einfach ignoriert<br />

werden. Es gab genug anderes Menschenmaterial, auf das<br />

Baldur getrost zurückgreifen konnte.<br />

Der Rest seiner Untertanen war allerdings auch nicht viel<br />

besser. Die stöhnten ob der Steuerlast und wegen der<br />

schlechten Lebensbedingungen. In deren unwissenden Augen<br />

waren es gerade Neville´s Häscher, die ihnen das Leben<br />

schwer machten. Undankbares Volk! Im Grunde mussten sie<br />

ihm sogar dankbar sein, wenn er sie durch Neville von ihrem<br />

unwürdigen Dasein erlösen ließ! Es war ein Fehler - sein<br />

Fehler! - gewesen, sie nicht von vornherein hart an die<br />

Kandare zu nehmen. Das erkannte Baldur jetzt ganz klar.<br />

Nicht, dass er ein Messen mit zweierlei Maß im Sinne hatte.<br />

Doch er als Herrscher war es allein, der entschied, wer wie<br />

leben durfte. Und wenn die Untertanen murrten, dann ging es<br />

ihnen eindeutig viel zu gut!<br />

Das würde sich ändern! Außerdem war es im Grunde gar<br />

nicht mal sein Fehler gewesen; er hatte eben nur unfähige<br />

Ratgeber. Die gehörten ersetzt, und zwar umgehend. Oh ja, er<br />

würde aufräumen müssen. Richtig aufräumen. Und dann<br />

wehte in <strong>Norgast</strong> ein anderer Wind! Er war viel zu gutmütig<br />

und ließ viel zuviel durchgehen. Fehler machten sowieso<br />

84


immer die anderen und er konnte es dann ausbügeln. Das<br />

brachte es mit sich, dass er alles ständig selbst machen<br />

musste. War das etwa die Aufgabe eines Königs? Baldur, der<br />

Herrscher <strong>Norgast</strong>´s - von Unfähigkeit umzingelt! Er würde<br />

geheime Kontrollen einführen und den Leuten Fallen stellen,<br />

schon in allernächster Zeit. Immerhin befriedigte es ihn<br />

etwas, dass die Hungertürme sich füllten und dass die Angst<br />

einem Aufruhr vorbeugte. „Neville´s Todesschwadron ist<br />

dafür zu klein. Die muss unbedingt aufgestockt werden“<br />

dachte Baldur bei sich. Doch soviele Personen er auch mental<br />

kontrollierte - den Gesuchten fand er auf diese Weise nicht.<br />

Bis sich vor einigen Tagen etwas sehr Unerwartetes<br />

ereignete. Eine Erschütterung im Geflecht der Magie, welches<br />

die ganze Welt durchzog. Wie die an ein Ufer plätschernden<br />

Wellen in einem Teich, nachdem jemand einen Stein<br />

hineingeworfen hatte. So etwas passierte nicht von selbst. Da<br />

musste es einen Auslöser gegeben haben. War das etwa die<br />

Spur, nach der er so verzweifelt suchte? Falls ja, dann war es<br />

mit absoluter Sicherheit irgendwo im Land auf der anderen<br />

Seite des Helgebarg geschehen.<br />

Baldur verwandelte sich umgehend in Krähengestalt und<br />

flog sofort nach Torboog. Keine allzu gute Entscheidung:<br />

Zuviele Menschen, zuviele Gedanken. Für seine Suche<br />

brauchte er Ruhe und Abgeschiedenheit. Da kam ihm die<br />

Bark der Kaufleute mit dem Zielhafen Westboog gerade<br />

recht. Er schiffte sich ein. Auf dem Meer hätte er die<br />

erforderliche Ruhe. Und genau deswegen dümpelte das Schiff<br />

jetzt auch ohne Fahrt zu machen vor sich hin. Ein Wort<br />

Baldur´s - ein primitiver Wetterzauber - und es wäre sofort<br />

weitergegangen. Doch er wollte nicht. Baldur suchte.<br />

Gedanklich. Suchte intensiv und fand - nichts! Das er seinem<br />

Opfer schon deutlich näher gekommen war, blieb dem<br />

Herrscher dank der Fähigkeiten der Bônday verborgen<br />

- noch...!<br />

Am Morgen und in Dayla´s Begleitung ging Findus zur<br />

Bônday. Sie fanden die Letztere in einem der vielen kleinen<br />

Kräutergärten. Die Bônday nickte Dayla dankend zu,<br />

85


woraufhin Findus´ neue alte Freundin sich wissend lächelnd<br />

entfernte. „Gut geschlafen?“ fragte die Bônday mit einem<br />

leicht ironischen Unterton in der Stimme. „Ja, danke, sehr<br />

gut“ entgegnete Findus und betrachtete die faszinierende<br />

Frau. „Lass´ uns über die Insel gehen. Du wirst Fragen haben.<br />

Wenn ich sie dir beantworten kann, dann werde ich das tun.<br />

Also frage - aber nicht nach deiner Vergangenheit!“<br />

„Bônday, wer bist du? Gibt es nur eine Bônday? Bist du<br />

ein Mensch?“ „Ich war einmal ein Mensch, aber das ist lange<br />

her. Ich bin ich. Die Bônday. Es gibt über die ganze Welt<br />

verteilt nur ein paar Bôndays. Wir gehören einem Coven<br />

- einem Hexenzirkel - an, der in den verschiedenen Ländern<br />

die jeweils wohl kraftvollsten Hexen stellt. Man wird mit viel<br />

magischer Kraft in sich geboren. Man wächst auf und lernt,<br />

diese Kraft zu entwickeln, zu nutzen und zu kanalisieren. In<br />

ganz seltenen Fällen wird man zur Auszubildenden - zur<br />

Novizin - bei einer Bônday. Wenn die irgendwann einmal<br />

stirbt, dann geht ihre Kraft auf einen selbst über.<br />

Vorausgesetzt, dass man bei der sterbenden Bônday ist. Die<br />

eigene Magie potenziert sich dabei. Und der Körper verändert<br />

sich. Die Grundform bleibt erhalten. Wer ein Mensch war,<br />

der behält seinen menschlichen Körper. Die Bônday von<br />

Fucunor war früher eine Harpyie. Auch sie hat ihren Körper<br />

halb Mensch und halb Adler behalten. Aber die Haut verfärbt<br />

sich schwarz. Die Haare werden silber- und die Augen<br />

bernsteinfarben. Immer.“<br />

Sie lachte. „Beantwortet das deine Frage?“ „Hmmm“<br />

meinte Findus. „Dayla und Lyonora - sie sind deine<br />

Novizinnen?“ „Natürlich!“ „Warum zwei?“ „Weil immer die<br />

Möglichkeit besteht, dass einer Person etwas passieren kann.<br />

Eine von beiden wird mit Sicherheit zur nächsten Bônday<br />

werden. Eine kann ich auf Reisen schicken; die andere bleibt<br />

bei mir. So wird meine Magie auch dann weiterleben, wenn<br />

einer meiner Auszubildenden etwas zustößt.“ Findus nickte<br />

verstehend - das war zwar vorausschauend gedacht, aber...<br />

„Aber Ihr verlasst die ‚namenlose Insel‘ doch nie. Und was<br />

kann einem denn hier schon zustoßen?“<br />

„Das wir ständig hier bleiben, sagen die Leute. Glaub´<br />

nicht alles, was du hörst. Besser noch: Stelle grundsätzlich<br />

immer alles infrage! Meine Novizinnen sind häufiger auf<br />

86


Reisen. Das ist auch unbedingt notwendig. Sie müssen ihr<br />

zukünftiges Land kennenlernen, ihre Fähigkeiten<br />

weiterentwickeln und perfektionieren. Eine Hexe zu sein,<br />

bedeutet beständiges Lernen. Lebenslang. Das Lernen endet<br />

nie. Aber sie sind niemals gleichzeitig unterwegs.“ „Können<br />

eigentlich beide zur Bônday werden oder nur eine?“ „Wenn<br />

bei meinem Tode beide zugegen sind, dann prinzipiell auch<br />

beide. Doch so etwas geschieht fast nie. Normalerweise<br />

springt die Magie nur auf eine, auf die Stärkere, über. Wer das<br />

ist, dass weiß ich vorher auch nicht. Ich treffe also keine<br />

Wahl, kann niemanden bevorzugen oder zurücksetzen. Das<br />

ist auch gut so. Die Magie selbst ist es, die wählt.“<br />

Schweigend gingen sie weiter. Findus dachte nach. „Und<br />

was ist mit den Magiern, den Zauberern? Welche Rolle<br />

spielen sie? Können sie so stark wie eine Hexe werden?“<br />

fragte er. „Um das zu beantworten, muss ich dir etwas über<br />

das Wesen der Magie selbst beibringen. Betrachte es getrost<br />

als erste Lektion. Es gab einmal eine graue Vorzeit, die so<br />

lange zurück liegt, dass sich heute niemand mehr so richtig<br />

daran erinnert. Zu der Zeit waren Hexen und Magier ein und<br />

das gleiche, nämlich Zauberleute. Geschlechterunabhängig.<br />

Dann kam es zu einem Zerwürfnis. Der Grund war eine<br />

Meinungsverschiedenheit über das Wesen der Magie an sich.<br />

Die eine Gruppierung glaubte, die Magie sei als Kraft in der<br />

Natur vorhanden und man könne sich ihrer beliebig<br />

bedienen, denn sie wäre unveränderlich. Egal was man tut,<br />

egal, ob man die Magie für niedere Zwecke missbraucht - die<br />

Natur wird´s schon richten. Aus dieser Glaubenrichtung<br />

wurden die Magier. Die Stärke ihrer Magie stagnierte<br />

irgendwann. Ein Magier erreicht sein Machtmaximum und<br />

eine Weiterentwicklung ist nicht mehr möglich. Ein Magier<br />

kann seine Kraft nicht an einen anderen weitergeben.<br />

Normalerweise jedenfalls nicht. Aber es gibt ganz seltene<br />

Ausnahmen.“<br />

Die Bônday überlegte kurz und fuhr dann fort: „Die<br />

andere Auffassung war die, dass Magie eben nicht ‚immer da<br />

ist‘ und nur darauf wartet, genutzt zu werden. Die Magie<br />

durchzieht die Welt wie ein Geflecht. Alles und jeden. Sie ist<br />

nicht von gleichbleibender Stärke. Sie bildet Inseln höherer<br />

Konzentration aus. Mal an einem bestimmten Ort, mal in<br />

87


einem Lebewesen oder in einem Gegenstand. Solche<br />

Konzentrationen gilt es zu erhalten und nach Möglichkeit<br />

weiter zu reichen. Um die Konzentration an magischer Kraft<br />

zu bewahren, ist es aber eben nicht egal, wie die Magie<br />

genutzt wird. Eine falsche Nutzung kann die Macht der Magie<br />

durchaus schwächen. Eine richtige Nutzung hingegen stärken.<br />

Aus dieser Anschauung heraus entstanden die Hexen.<br />

Während die Magier sich auf das Geschlecht der Männer<br />

beschränken, können sowohl Frauen wie auch Männer Hexen<br />

sein. Verstehst du das?“<br />

Findus nickte und stellte die nächste Frage: „Wenn die<br />

Magie ein Geflecht ist und wenn sich das an einem Punkt<br />

konzentriert, gibt es dann nicht an anderer Stelle eine<br />

Schwächung?“ „Klug gedacht“ sagte die Bônday<br />

anerkennend. „So ist es tatsächlich. Vor Urzeiten sollen alle<br />

Lebewesen einmal in etwa gleiche magische Begabungen<br />

gehabt haben. Heute sind es bei uns Menschen nur noch die<br />

Magier und wir Hexen. Die meisten Menschen beispielsweise<br />

sind der Magie nicht mehr fähig. Sie verloren sie in dem<br />

Maße, in dem wir dazugewonnen haben. Bei anderen Völkern<br />

ist das nicht so. Du hast die Kobolde, die Irrlichter, das<br />

Wasservolk, Elfen und die Einhörner schon kennen gelernt.<br />

Dort hat sich das nicht so entwickelt. Die magische Kraft der<br />

Menschen muss in grauer Vorzeit einmal so ähnlich<br />

ausgesehen haben wie bei diesen Völkern. Mittlerweile aber<br />

sind die meisten Menschen so schwach begabt, dass sie die<br />

magischen Völker nicht einmal mehr wahrnehmen können<br />

und für Sagengestalten halten.“ Findus verstand und wollte<br />

mehr wissen:<br />

„Du sprachest von dem magischen Geflecht, welches die<br />

Welt durchzieht. Wirkt sich nicht die Anwendung von Magie<br />

auf das gesamte Geflecht aus? Wenn irgendwo starke Magie<br />

zum Einsatz kommt, kann das nicht jedes magiebegabte<br />

Wesen spüren?“ „Es ist tatsächlich so und deshalb gerade für<br />

dich mit sehr großer Gefahr verbunden. Die Zigeunerin<br />

sprach deinen wahren Namen aus und verursachte dadurch<br />

ein Beben des Geflechts. Obwohl ich mich nach Kräften<br />

bemüht habe, dieses Beben zu unterdrücken, dürfte es<br />

deinem Feind wohl kaum entgangen sein, dass ein<br />

einschneidendes magisches Ereignis stattgefunden hat.“<br />

88


„Wer ist denn nun eigentlich mein Feind?“ stellte Findus<br />

eine rein rethorische Frage, doch er brauchte die Bestätigung.<br />

„Weißt du das denn immer noch nicht?“ kam die Gegenfrage<br />

der Bônday. Findus antwortete: „Baldur, der Herrscher“ und<br />

die Bônday nickte bestätigend. „Aber warum?“ „Es muss mit<br />

deiner Vergangenheit zusammen hängen“ antwortete die<br />

Bônday ausweichend. Findus blieb stehen und blickte der<br />

Bônday fest in ihre bernsteinfarbenen Katzenaugen. Er sagte<br />

nichts. Nur sein Blick war flehentlich-zwingend.<br />

Die Bônday seufzte: „Beim letzten Mal lief das so ähnlich<br />

ab und da hättest du es fast nicht überlebt. Daher heute nur<br />

soviel: Du bist von einer Kräuterhexe aufgezogen worden, bis<br />

du etwa zehn Sommer alt warst. Sie war aber nicht deine<br />

Mutter. Dann brachte die Hagia dich zu mir und vertraute mir<br />

die Geschichte deiner Herkunft an. Jedenfalls soweit sie selbst<br />

sie kannte. Viel war das aber nicht; uns ist nur bekannt, dass<br />

du von hoher Herkunft sein musst. Ich - nein, wir drei -<br />

zogen dich weiter auf. Du wurdest zum Problem, denn unser<br />

Grundsatz lautet ‚tu was du willst aber schade keinem<br />

anderen‘. Allein schon deine bloße Existenz zwang uns aber<br />

zum Handeln. Zu einem Handeln, bei dem wir unsere<br />

Neutralität aufgeben mussten.“ Sie schwieg. Eine Blaumeise<br />

flatterte auf und landete auf Findus´ Kopf.<br />

Die Bônday sah das und lachte melodiös-glockenhell.<br />

„Das ist auch wieder so ein typischer Fall, du lebendes<br />

Problem. Du verfügst über eine gewaltige magische Kraft,<br />

weißt sie aber nicht anzuwenden. Die Tiere spüren deine<br />

Magie; du ziehst sie an. Du wirst lernen, damit umzugehen.<br />

Spürst du die Erdströme hier auf der Insel?“ Er nickte.<br />

„Diese Insel ist das Herz von <strong>Norgast</strong>. Hier läuft alle Kraft<br />

zusammen. Hier wirst du lernen. Anfangs zumindest. Wir<br />

werden dir helfen, vor allem Dayla. Und das beantwortet auch<br />

deine Frage, wer mächtiger ist. Es gibt bei Magiern wie auch<br />

bei Hexen machtvolle und machtlose. Es gab einmal einen<br />

Magier, der befähigt gewesen wäre, Zauberer und Hagias<br />

wieder zusammen zu führen: Malweýn. Baldur hat ihn mit<br />

heimtückischen Mitteln ausgeschaltet. Das magische Geflecht<br />

bebte damals sehr stark. Aber doch nicht stark genug, um<br />

vom Tode eines so Mächtigen zu künden. Wer weiß, was<br />

damals mit Malweýn geschehen ist...“ Nachdenklich sah die<br />

89


Bônday auf die Tiedsiepe hinaus. „Irgendwo da draußen lebt<br />

er noch in irgendeiner Form.“ Dann schaute sie Findus an:<br />

„Lass´ uns zurück gehen. Du hast für heute genug erfahren.<br />

Denke erst mal über das alles nach. Und zwar gründlich.“<br />

Nachmittags und unterhalb der Hütten. Sie saßen am Strand:<br />

Dayla, Findus und Lyonora. Findus´ Blick schweifte über die<br />

weite Wasserfläche. Er dachte nach, wandte sich an Dayla:<br />

„Was habt Ihr eigentlich mit mir vor?“ Ein breites Grinsen<br />

erschien auf Dayla´s Gesicht und an ihrer Stelle antwortete<br />

Lyonora: „Dich in Magie auszubilden natürlich.“ „Aber“ kam<br />

Widerspruch von Findus „wenn die Anwendung von Magie<br />

das magische Geflecht der Welt zum Schwingen bringt, dann<br />

wird das doch Baldur auf mich aufmerksam machen.“ „Nicht,<br />

wenn es hier geschieht“ meinte Dayla und fügte hinzu „Du<br />

vergisst die Erdströme. Sie sind hier so stark, dass alles andere<br />

überdeckt wird. Aufgrund ihrer Stärke sind sie hier aber auch<br />

kaum beherrschbar.“<br />

„Was sind eigentlich die Erdströme und wo kommen die<br />

her?“ Lyonora: „Die Erdströme sind die Kraftlinien, die in<br />

ihrer Gesamtheit das magische Geflecht ausmachen. Es gibt<br />

‚seltsame Orte‘ in <strong>Norgast</strong> - und natürlich auch auf der<br />

ganzen Welt. An diesen Orten sind die Kräfte besonders<br />

stark. Man nennt diese Orte daher auch ‚Kraftplätze‘. Sie<br />

ermöglichen Astralreisenden den Übergang von einer zur<br />

anderen Welt. Wenn du Dir mal eine Landkarte nimmst und<br />

alle Orte einzeichnest, an denen Dich so ein unwirklichseltsam-fremdes<br />

Gefühl überkommt, dann ergeben sich<br />

Muster. Der Mittelpunkt aller dieser Muster liegt hier auf<br />

dieser Insel. Hier im Herzen <strong>Norgast</strong>s.“ Lyonora schwieg<br />

wieder.<br />

Findus: „Und wie funktioniert Magie nun?“ Dayla<br />

schüttelte den Kopf und entgegnete leicht tadelnd „Nicht ‚wie<br />

funktioniert Magie‘. Diese Frage kann dir wahrscheinlich<br />

niemand beantworten. Höchstens ‚wie kann ich Magie<br />

anwenden‘ - das ist dann schon wirklich einfacher.“ „Na gut,<br />

also wie kann ich Magie anwenden?“ Lyonora: „Du musst<br />

90


lernen, loszulassen. Lernen, auf deine innersten Gefühle zu<br />

hören. Sie sind der Schlüssel zu allem.“<br />

Dayla: „Was nimmst du wahr, wenn du einen Vogel singen<br />

hörst?“ Findus überlegte einen Moment lang und sagte dann<br />

etwas unsicher: „Das ist schwer zu beschreiben. Dafür gibt´s<br />

nicht die richtigen Worte.“ Ein vager Erinnerungsfetzen in<br />

seinem Kopf: Synästhesie. Erinnerung aus einer Anderswelt.<br />

Geistesabwesend fuhr er fort: „Da sind Farben. Formen.<br />

Strukturen und Muster. Sie bewegen sich. Je nach Ton mal<br />

langsam, mal schnell. Und je nach Lautstärke mal groß und<br />

mal klein.“ „Sind das nur farbige Formen oder verspürst du<br />

dabei auch Gefühle? Gefühle, die vielleicht nicht aus dir selbst<br />

kommen?“ wollte Dayla wissen. „Gefühle“ dachte Findus.<br />

Wieder ein Erinnerungsfetzen: metaphorische Synästhesie.<br />

„Ääh... ich weiß nicht... darüber habe ich noch nie<br />

nachgedacht...“ Findus war jetzt sehr verunsichert. Dayla<br />

empfahl ihm: „Mach´ deinen Kopf frei. Vergiss´ alle Ängste,<br />

Sorgen, Erwartungen und Wünsche. Lasse deinen Geist<br />

treiben. Hör´ in dich hinein. Lass´ einfach alles Weltliche los.<br />

Dann konzentriere dich auf deine Wahrnehmungen.“ Findus<br />

versuchte es. Die Welt versank um ihn her. Er sah das Wasser<br />

der Tiedsiepe und sah es gleichzeitig auch nicht mehr. Er<br />

hörte Geräusche und hörte sie trotzdem nicht. Doch die<br />

Geräusche malten farbige Muster vor seinem inneren Auge.<br />

Jedes Geräusch ein ganz individuelles, anderes, typisches<br />

Muster.<br />

Eine Schwalbe schimpfte. Laut. Große goldgelbe,<br />

ineinander flegende Ellipsen mit metallisch-blauen Rändern<br />

und grünlicher Oberflächentextur. Die Gebilde riefen ein<br />

Gefühl in Findus hervor. Das Gefühl von Ärger und Protest.<br />

Es war ein Gefühl, welches nicht aus ihm selbst kam.<br />

Nestförmige Ellipsen. Ärger wegen eines Nestes.<br />

Protestierendes Schimpfen. Findus atmete tief durch, sagte:<br />

„Die Schwalbe eben. Sie schimpfte, weil sie das aufgelassene<br />

Nest eines Spatzen haben wollte. Aber der Spatz kam zurück.<br />

Sie muss sich ein neues Nest suchen oder selbst eins bauen.<br />

Kann das sein oder bilde ich mir das nur ein?“<br />

Lyonora sah ihn aus großen Augen an. Dann stand sie auf,<br />

meinte aufgeregt „Ich sage es der Bônday“ und eilte<br />

aufgewühlt fort. Dayla und Findus blieben allein zurück.<br />

91


Dayla betrachtete Findus sehr nachdenklich. Sie meinte: „Du<br />

bist wirklich sehr begabt. Was du sagst, ist völlig richtig.<br />

Andere brauchen Tage oder viele Monde, um das so zu<br />

erfahren und auch noch richtig zu interpretieren. Dir dagegen<br />

gelingt es auf Anhieb.“ Beide sahen sich an, schwiegen.<br />

Machten sich ihre eigenen Gedanken.<br />

„Ist das die Sprache der Tiere, die ich verstehe?“ wollte<br />

Findus wissen. Dayla: „Nicht gerade eine richtige Sprache,<br />

aber doch, so ungefähr stimmt es schon.“ Schritte näherten<br />

sich. Lyonora kam mit der Bônday zurück. Die Bônday sah<br />

Dayla an. Dayla nickte. Nonverbale Kommunikation. Wissen<br />

ohne die Notwendigkeit, Worte wechseln zu müssen.<br />

Gedanklicher Gleichklang. An Findus gewandt sprach die<br />

Bônday: „Lyonora hat mir mitgeteilt, was für unglaubliche<br />

Fortschritte du binnen kürzester Zeit machst. Und Dayla hat<br />

es mir bestätigt. Übe jetzt allein, drei Tage lang. Dann habe<br />

ich eine neue Aufgabe für dich - du sollst versuchen, deine<br />

Gefühle auf die Tiere zu übertragen.“ Erschrocken blickte<br />

Lyonora die Bônday an und Dayla sog scharf die Luft ein.<br />

Das bedeutete, die Tiere zu beeinflussen, vielleicht sogar zu<br />

beherrschen. Eine sehr seltene Gabe, die nur den<br />

allerwenigsten Menschen vorbehalten war. Und wenn, dann<br />

erst nach vielen Sommern des intensiven Trainings. Und<br />

Findus sollte das jetzt schon machen? Einfach so?<br />

Drei Tage lang versuchte Findus, über seine synästhetische<br />

Erfahrung die Inhalte des Wahrgenommenen zu erkennen. Es<br />

funktionierte immer besser, am Ende sogar schon rein<br />

instinktiv und ohne darüber nachdenken zu müssen.<br />

Zunächst beschränkte er sich auf Vögel. Bald aber stellte er<br />

fest, dass es auf der Insel auch ein paar Katzen gab. Da war es<br />

schon schwieriger - vor allem auch deshalb, weil Katzen doch<br />

sehr eigenwillige Raubtiere sind. Sie suchten nur die Nähe der<br />

Menschen, weil sie ihren eigenen Vorteil darin sahen.<br />

Ansonsten akzeptierten sie außer sich selbst niemanden. Sie<br />

waren völlig eigenständig. Sie hatten Charakter. Findus<br />

erkannte und respektierte das. Auch ihre Wahrnehmung war<br />

gänzlich anders. Mehr Geräusche, mehr Gerüche, mehr<br />

Berührung. Bessere Augen als beim Menschen. Die Katzen<br />

verfügten über ein irgendwie ‚schärferes‘ Weltbild.<br />

92


Ganz langsam, geradezu unmerklich, versuchte Findus am<br />

dritten Tag, seine eigenen Gefühle auf eine der Katzen zu<br />

projizieren - indem er seine eigene synästhetische<br />

Wahrnehmung zu manipulieren trachtete. Es gelang ihm zum<br />

Teil. Die Katzen waren nämlich wildlebend. Diejenige, die er<br />

sich ausgesucht hatte, befand sich auf einer Mäusejagd. Sie<br />

unterbrach ihre Jagd. Sehr ungewöhnlich. Setzte sich und<br />

drehte den Kopf zu Findus. Blickte zu ihm hinüber. Dann<br />

erhob sie sich und glitt geschmeidig auf ihn zu. In einer<br />

Entfernung von etwa zwei Mannslängen setzte sie sich<br />

wieder. Blickte Findus nochmal an, miaute. Danach sprang sie<br />

auf und jagte in großen Sätzen und quer durch eine herrlich<br />

bunte Blumenwiese hinter der Maus her - gerade so, als ob sie<br />

vergessen hätte, etwas sehr Wichtiges dringend zu erledigen.<br />

Ohne dass Findus es bemerkte, war er beobachtet worden.<br />

Aus einiger Entfernung hatte die Bônday zugeschaut. Nun<br />

trat sie auf ihn zu.<br />

„Es ist wirklich erstaunlich, was für unglaubliche<br />

Fähigkeiten du an den Tag legst. Nicht nur, dass du es gelernt<br />

hast, binnen allerkürzester Zeit die Gedankensprache der<br />

Tiere zu erkennen. Du schaffst es bereits, Tiere in deinem<br />

Sinne zu beeinflussen. Das können nur die Wenigsten. Und<br />

du übst ausgerechnet mit einem Tier, dass als unbeeinflussbar<br />

gilt: Mit einer Katze. Respekt. Aus dir könnte glatt eine<br />

Bônday werden.“ Die Bônday schmunzelte. Dann fuhr sie<br />

fort: „Übe das weiter. Beides. Das Verstehen und das<br />

Beeinflussen. Denn was dir dabei noch fehlt, dass ist<br />

Erfahrung. Und die musst du dir selbst aneignen. Erfahrung<br />

kann dich niemand lehren. Aber lehren können wir dich noch<br />

etwas anderes. Das wird Dayla tun. Ab Morgen. Einige<br />

magische Techniken. Wenn jemand über magische Kraft<br />

verfügt - so wie du - dann bedarf es nur der geeigneten<br />

Techniken, um diese Macht auch einzusetzen. Die Techniken<br />

funktionieren wie ein Hebel, mit dem du etwas in Gang<br />

setzen kannst. Ohne die magische Kraft des Ausführenden<br />

sind sie wirkungslos. Mit magischer Kraft sind sie wie ein<br />

Focus. Mit magischer Kraft und genügend Erfahrung bedarf<br />

es dann sogar irgendwann dieses Focus´ auch nicht mehr.<br />

Dann machst du das einfach so.“ Sie schnippte mit den<br />

Fingern und ein Regenbogen blitzte am Himmel auf.<br />

93


„Was sind das für Techniken?“ wollte Findus neugierig<br />

wissen. „Oh, zum Anfang einfache Grundtechniken:<br />

Sigillenmagie, Knotenmagie. Danach dann fortgeschrittenere<br />

Verfahren. Spiegelmagie und Runenkunde beispielsweise.<br />

Schließlich das Wichtigste von allem, die Elementarmagie.<br />

Auch wirst du in diesem Zusammenhang die alte Sprache der<br />

Magie erlernen müssen, denn anders kannst du keine<br />

wirksamen Zaubersprüche formulieren. Viel Spaß dabei!“ Sie<br />

wollte sich umdrehen und gehen, doch Findus´ Wissensdurst<br />

war noch nicht gestillt: „Wird er mich dabei nicht entdecken<br />

können?“ Schon im Weggehen begriffen drehte die Bônday<br />

ihm noch einmal den Kopf zu. Mit einer Stimme, die er<br />

wahrnahm wie golden-reifes Korn, welches kurz vor der<br />

Ernte nass geworden ist und von unwirklichen<br />

Nebelschwaden durchzogen wird, sagte sie: „Nein, denn<br />

Lyonora und ich schirmen deine Übungen ab. Du bist hier in<br />

Sicherheit.“ Damit ließ sie ihn stehen. „Das verspricht<br />

interessant zu werden“ dachte Findus bei sich.<br />

Was er nicht wusste und absolut nicht ahnte war die Tatsache,<br />

dass es so unendlich Vieles zu lernen gab. Anfangs nur die<br />

Sigillenmagie: Findus lernte es, einen Wunsch auf eine<br />

Kernaussage von nur zwei oder drei Worten einzuschränken<br />

und diese wenigen Worte in Runenform darzustellen. Unter<br />

Daylas Anleitung schrieb er die Runen auf den Sandstrand<br />

und strich alle doppelt vorkommenden Zeichen aus. Dann<br />

nahm er ein Pergament und malte aus den verbliebenen<br />

Zeichen ein mantrisches Bild, womit er seinen Wunsch der<br />

Sigille einprägte. Im Anschluss machte Findus seine<br />

Gedanken frei - so frei, wie er es getan hatte, als er begann,<br />

die Stimmen der Tiere zu verstehen. Das diente dazu, seinen<br />

ursprünglichen Wunsch gänzlich aus dem Gedächtnis zu<br />

verbannen. Wenn er aus seinem schamanischen<br />

Geisteszustand wieder zurück kehrte und sich beim<br />

Betrachten des Bildes an seinen Wunsch erinnerte, dann war<br />

etwas schiefgelaufen. Wenn der Wunsch weg, aus seinem<br />

Gedächtnis gestrichen war, dann war auch alles in Ordnung.<br />

Im letzteren Fall wurde das Pergament dann verbrannt... Es<br />

94


dauerte recht lange, bis Findus den richtigen Bogen raus<br />

hatte. Das mit Abstand Wichtigste dabei war das Erreichen<br />

des richtigen Geisteszustandes. Danach allerdings hätte er die<br />

Sigillenmagie in jeder Situation anwenden können - und<br />

notfalls auch ohne den Focus des Pergaments zu benötigen.<br />

Übung macht den Meister.<br />

An einem schönen Tag saß Findus am Strand. Er blickte<br />

auf die trockene Tiedsiepe hinaus. Irgendwann begann der<br />

Boden, sich zu verfärben. Erst nur fleckweise und schleichend<br />

langsam. Es war später Nachmittag und der Mond stand<br />

bereits weiß und blass am Himmel; parallel dazu versank die<br />

Sonne hinter den beiden Helgebarg-Gipfeln. Je höher der<br />

Mond stieg, desto mehr Wasser gab auch der Boden der<br />

Tiedsiepe frei. Es musste da einen Zusammenhang geben.<br />

Findus fragte die Bônday danach. „Es ist wohl so“<br />

antwortete ihm die weise Frau. „Der Mond übt eine seltsame<br />

Anziehungskraft aus. Jetzt liegt es aber an dir selbst zu<br />

erkennen, warum die sich hier so äußert.“ Wissend lächelnd<br />

überließ die Bônday ihn seinen Grübeleien. Findus dachte:<br />

„Wenn der Mond eine Anziehungskraft ausübt und ich die<br />

nicht spüren kann, dann muss die sehr schwach sein. Wieso<br />

aber kann dann eine so gewaltige Wassermenge scheinbar<br />

durch nichts bewegt werden...?“<br />

Plötzlich hatte er es. Er sprang auf und rannte zur Bônday.<br />

„Die Gegenkraft fehlt“ keuchte Findus, noch atemlos von<br />

seinem Lauf. „Winzige Kräfte summieren sich auf und<br />

können nur deshalb wirksam werden, weil keine Gegenkraft<br />

da ist. Deswegen steigt das Wasser.“ „Du hast Recht“<br />

entgegnete die Bônday und fügte hinzu „und was glaubst du,<br />

welchen Einfluß das auf die Magie hat?“ So lernte Findus, wie<br />

wichtig es bei den magischen Techniken war, die<br />

astronomischen Konstellationen zu berücksichtigen. Warum<br />

ein und der gleiche Zauber einmal alle Erwartungen übertraf<br />

und ein andernmal nur wenig Wirkung zeigte. Die<br />

aufsummierten winzigen Kräfte konnten mit der Magie oder<br />

aber dagegen arbeiten, denn auch die Magie selbst bestand aus<br />

winzigen aufsummierten Kräften, zu denen es keinen<br />

Gegenpart gab. Es lag an den Himmelskörpern, die es zu<br />

berücksichtigen galt.<br />

95


In besonderem Maße galt das für die Knotenmagie. Den<br />

Focus bildete dabei einfach nur eine hinreichend dicke<br />

Schnur, in die unter dem Rezitieren eines Zauberspruches ein<br />

Knoten gebunden wurde. Anschließend war die Schnur zu<br />

vergraben. Eigentlich ganz einfach... ...eigentlich, wären da<br />

nicht die Zaubersprüche gewesen. Um die erfolgreich<br />

einsetzen zu können, musste Findus die Bedeutung des<br />

Futhorks erlernen, sich die Kenntnis der Runen aneignen.<br />

Das ging einher mit dem Erlernen der alten magischen<br />

Sprache. Fehu oder Far: Der spirituelle Reichtum. In seiner<br />

Umkehrung jedoch die geistige Unausgewogenheit, eine Form<br />

der Schwäche. Ur oder Uruz: Die Stärke, aber die Schwäche<br />

in der Umkehrung. Thurisaz: Die spirituelle Autorität. Othila<br />

oder Os: Konzentration und Freiheit. Verlust in der negierten<br />

Form. Raido oder Rit: Diese Rune symbolisierte den ewigen<br />

Kreislauf des Lebens. Stagnation, Stillstand und Verhärtung,<br />

wenn man sich dagegen sträubte. Kenaz oder Kaun: Die<br />

Erleuchtung - Wissen und Macht, gepaart mit Verantwortung.<br />

Hagalaz oder Haegl: Die Herausforderung. Nauthiz, Noth,<br />

Nyd: Das Bedürfnis und die Notwendigkeit, die eigene dunkle<br />

Seite zu erkennen. Es waren so viele Runen, so viele Dialekte.<br />

Findus schwindelte der Kopf davon. Doch verbissen kämpfte<br />

er sich weiter durch seine Lektionen.<br />

Isa oder Is: Der Stillstand. Allerdings positiver Stillstand<br />

im Sinne von Geduld - etwas, was Findus immer schwerer<br />

fiel. Gegenteilig gesehen konnte der Stillstand aber auch<br />

Rückschritt bedeuten. Eine Rune mit durchaus negativen<br />

Aspekten. Ar, Ansuz oder Ansur: Das Verstehen einer<br />

Botschaft. Umgekehrt Unwissen und Voreingenommenheit.<br />

Sigel oder Sowelo: Glück, Wahrheit und die Dunkelheit<br />

vertreibendes Licht. Die Umkehrung brachte Lug, Trug und<br />

Dunkelheit. Tyr oder Teiwaz: Initiation durch neue Einsicht.<br />

Schwäche durch Starrköpfigkeit in ihrer negativen Form. Bar,<br />

Berkana, Beorc: Neubeginn und neue Abenteuer. Laf oder<br />

Laguz oder Lagu: Leben in Harmonie mit der Schöpfung.<br />

Gegenteilig Inaktivität und Stagnation. Man oder Mannaz:<br />

Akzeptanz des eigenen Schicksals. Gewandelt Pessimismus,<br />

Kraftlosigkeit und Entscheidungsschwäche. Yr, Algiz oder<br />

Eolx: Innerer Schutz durch Selbstvertrauen. Umgedreht<br />

zerstörerische Hast und der Drang, den falschen Ratgebern<br />

96


zu folgen. Ehu - Ehwaz - Eh: Fortschritt durch Loyalität.<br />

Negiert Ausnutzung durch Parasiten. Die Anzahl der Runen<br />

schien kein Ende nehmen zu wollen. Meist waren sie auch<br />

noch durchaus zweideutig, besaßen eine offenkundige und<br />

eine verborgene Bedeutung. Zusätzlich noch symbolisierten<br />

bestimmte Edelsteine, Pflanzen und Bäume eine Rune.<br />

Findus stöhnte.<br />

Beispielsweise könnte er mit dem Spruch „Zuru-Uhef-Tir“<br />

- der Umkehrung von Uruz-Fehu-Rit - einen Feind verwirren<br />

und zurückweisen. Doch wäre der Spruch mächtiger als jedes<br />

Schwert, wenn er dabei mit einem Eichenknüppel drohend<br />

unter einer Birke stehen könnte und einen Moosachat in der<br />

Tasche hätte. Denn die Eiche stand für Rit, die Birke für Uruz<br />

und der Moosachat für Fehu. Wenn dann noch eine günstige<br />

Sternkonstellation hinzu käme...<br />

Jetzt erst verstand Findus auch den Sinn der Armbänder<br />

von Dayla und Lyonora. Das war mehr als nur Schmuck - das<br />

waren sehr machtvolle magische Gegenstände! Nachdem ihm<br />

das zu Bewusstsein gekommen war, machte er mit neuem<br />

Eifer weiter. Gibor, Gebo, Gyfu: Ein spirituelles Geschenk,<br />

welches auf einer Art von Tausch beruhte. Fand nur ein<br />

Geben und Nehmen ohne Gegenleistung statt, dann stand<br />

der Beschenkte in der Schuld des Gebers. Dagaz oder Daeg:<br />

Das Gute im Leben - Glück durch Wahrheit und Erfolg<br />

durch die Macht des Lichts. Eoh oder Eihwaz: Wandlung und<br />

Transformation durch Reifung.<br />

Jetzt verstand Findus auch, wie Lyonora das magische<br />

Boot für Bewok erschaffen hatte. Der Lichtstrahl war in einen<br />

Mondstein, welcher für die Rune Beorc stand, gelangt. Das<br />

entsprach einem Neubeginn. Der Mondstein hatte den Strahl<br />

in einen Topas, der Eihwaz symbolisierte, reflektiert:<br />

Transformation. Damit war aus dem gewandelten Licht etwas<br />

Neues entstanden, nämlich Bewok´s Boot. So langsam<br />

verstand Findus die Grundlagen der Zauberei.<br />

Ingwaz, Ing, Inguz: Das vorantreibende innere Feuer der<br />

Inspiration; der persönliche Weg, den man einfach gehen<br />

muss! Sein Weg? Gewandelt die reine Führbarkeit - das<br />

schiere Mitläufertum ohne Kreativität, ohne Eigeninitiative.<br />

Jera und Jara: Die Ernte, der Lohn harter Arbeit. Aber auch<br />

die Stärkung von Wissen und Weisheit für die noch<br />

97


kommenden Herausforderungen. Perth, Peord, Pertho: Die<br />

zur Entscheidung führende freie Wahl. Das Sich-in-das-<br />

Schicksal-Ergeben, die Fremdbestimmung, in umgekehrter<br />

Form. Wunjo oder Wynn: Glück durch Ausgewogenheit und<br />

Harmonie im Leben. Negiert die Blindheit für das eigene<br />

Glück, die ständige Gier nach mehr, nach Neuem.<br />

„Harmonie im Leben“ dachte Findus „das ist auch<br />

Harmonie mit der Natur. Das Verstehen der Natur und ihrer<br />

Kräfte.“ Irgendwie machte es ‚Klick‘ in seinem Kopf, als er<br />

das verstand. Er begriff den wohl wichtigsten Grundsatz:<br />

„Magie und Natur sind untrennbar miteinander verbunden.<br />

Magie ist Natur und Natur ist Magie.“<br />

Dennoch wurde es ein sehr mühsames Lernen, bis er alle<br />

Runen in allen magischen Dialekten, ihre pflanzlichen<br />

Entsprechungen, ihre Baumentsprechungen und die sie<br />

repräsentierenden Steine im Schlaf kannte. Es dauerte sehr,<br />

sehr lange. Doch danach beherrschte er die Sprache der<br />

Magie und konnte erstmals Magie ganz gezielt anwenden.<br />

Dennoch blieb sein ‚echter‘ Name ihm zunächst noch ein<br />

Rätsel - Findus Far-Ur-Rit: Alles ist im Fließen bis du Dich<br />

selbst erkennst und Deinem Schicksal vertraust. Aber was war<br />

sein Schicksal? Und wer war er wirklich?<br />

Findus traf die Bônday in Begleitung ihrer beiden<br />

Novizinnen an. Er fragte die Bônday. Sie betrachtete ihn<br />

lange und nachdenklich. „Du bist jetzt schon vier volle<br />

Monde hier und du hast viel gelernt. Sehr viel. Genug, um<br />

dich selbst als Lohnmagier durchschlagen zu können. Wenn<br />

du deine Kräfte vorsichtig genug einsetzt, dann wird Baldur<br />

das gar nicht einmal bemerken. Doch du musst auch noch<br />

mehr lernen. Hier auf der Insel geht das nicht. Die überaus<br />

starken Erdströme machen das unmöglich. Deswegen reise<br />

ab. Übermorgen, auch wenn der Sommer schon beinahe zu<br />

Ende ist. Dayla wird dich begleiten. Ihr reist als Paar; du als<br />

einfacher Lohnmagier und sie als dein kräuterkundiges<br />

Eheweib. Das ist Tarnung genug. Und ihr seid zu zweit.<br />

Baldur sucht nur nach einem. Niemand wird euch<br />

verdächtigen. Deine Reise wird die Ausbildung<br />

vervollständigen, besonders hinsichtlich der Magie der<br />

Elementare.“<br />

98


Die Bônday sah ihm direkt in die Augen und ihr Blick<br />

vermittelte Kraft. „Dayla kann dir das beibringen. Doch sei<br />

vorsichtig mit dem magischen Geflecht. Du bist dann nicht<br />

mehr abgeschirmt. Deine Kräfte sind groß; setze sie daher nur<br />

sehr sparsam ein.“ Das war nun wirklich nicht die Antwort,<br />

die Findus eigentlich erwartet hatte und so begehrte er auf:<br />

„Aber - was ist mein Schicksal? Und was ist mit meiner<br />

Vergangenheit?“ „Beides hängt sehr eng miteinander<br />

zusammen. Ein Rätsel, welches du selbst lösen musst. Ich<br />

werde dir bei der Lösung helfen, wenn du drei Prüfungen<br />

bestehst.“ „Welche drei Prüfungen?“ fragte Findus. Die<br />

Bônday, Oberste aller Hexen in <strong>Norgast</strong>, sagte nur drei Sätze:<br />

„Bring´ mir den weißen Raben.“<br />

„Bring´ mir den Geist des Waldes.“<br />

„Bring´ mir den Stein des Lebens.“<br />

Dann wandte sie sich ab. Hilflos sah Findus zu Dayla und<br />

Lyonora hinüber, die ihn ausdruckslos betrachteten. Nur um<br />

Daylas Mundwinkel spielte ein feines, wissendes Lächeln...<br />

99


Kapitel 6: Der weiße Rabe<br />

Findus hatte kapiert, dass erneut eine Reise bevorstand.<br />

Doch zuvor fehlten noch einige Vorbereitungen, welche<br />

insbesondere seitens Dayla zu treffen waren. So ging sie mit<br />

sehr aufmerksamen Augen über die Insel und sammelte hier<br />

ein Stück Holz, da einen Stein. Birke für Uruz, Eiche für<br />

Thorn, einen Mondstein für Beorc, eine Perle für Laguz,<br />

einen Bernstein für Ingwaz und so weiter - bis sie die<br />

Grundstoffe für alle vierundzwanzig Buchstaben des<br />

Futhorks beisammen hatte. In der ersten Stunde des nächsten<br />

Tages fertigte sie aus diesen Materialien Runen für die Reise<br />

an - machtvolle, magische Verbündete.<br />

Der Zeitpunkt der Herstellung war von ihr ganz bewusst<br />

gewählt worden, denn er lud die Runen mit magischer<br />

Energie auf. Sie streute etwas Meersalz an das Ufer der<br />

Tiedsiepe, sprach ein kurzes Gebet an die Erdgöttin Erce,<br />

schloss auch die Idisi mit ein, bestreute die Runen ebenfalls<br />

und tauchte jede kurz ins Wasser, um sie spirituell zu reinigen.<br />

Es schloss sich eine Räucherung an. Dayla ging sehr sorgfältig<br />

vor. Sie füllte eine flache, irdene Schale mit Sand und legte ein<br />

Stück glühender Holzkohle darauf. Letzteres bestreute sie mit<br />

etwas Harz vom Wicbaum und hielt die Runen dann zum<br />

Trocknen und zwecks Räucherung in den aufsteigenden<br />

Rauch. Danach führte sie jede der Runen kurz durch eine<br />

Kerzenflamme, um ihnen die Energie des Feuers zu<br />

schenken. Schließlich breitete sie ihr Werk noch für längere<br />

Zeit auf nackter Erde in der Mittagssonne aus, was für eine<br />

einzigartige, weitere Aufladung sorgte. Die Runen waren<br />

damit den vier Elementaren Wasser, Erde, Luft und Feuer<br />

geweiht worden.<br />

In der Zwischenzeit war Findus mit Lyonora unterwegs,<br />

um Kräuter zu sammeln. Magische Kräuter wie Schwarzdorn,<br />

Klee, Brennessel oder Beifuß ebenso wie möglicherweise<br />

benötigte Heilkräuter: das Licht der Erde als Anregungsmittel,<br />

Alfblut zum Finden der inneren Ruhe, Plan als Schmerzmittel<br />

und vieles mehr. Selbst Propolis als Universalheilmittel aus<br />

einem Stock von Wildbienen nahmen sie mit – ein nicht ganz<br />

100


ungefährliches Unterfangen, doch sie beruhigten die Tiere auf<br />

magische Weise. Ergänzt wurden die Kräuter um zwei<br />

kräftige Wanderstöcke aus Eibenholz, dem Symbol für Kraft<br />

und Sicherheit. Findus lernte dabei viel über die<br />

Kräutermagie. Sie brachten die frischen Kräuter zur Bônday,<br />

welche die Substanzen gegen getrocknetes und daher<br />

haltbares Material austauschte. Alle Utensilien - Kräuter wie<br />

auch die Runen - wanderten in zwei lederne Hirschfellranzen,<br />

welche bequem auf dem Rücken getragen werden konnten.<br />

Zuletzt wurde noch zweckmäßige Reisebekleidung<br />

benötigt. Dayla entschied sich für ein Bilou-ähnliches, seitlich<br />

geschnürtes und nicht ganz knöchellanges Kleid, welches ihr<br />

genügend Bewegungsfreiheit beim Laufen gestattete. Die<br />

Farbe dieses Kleides war ein Fahlblau. Es entsprach damit der<br />

Bedeutung der Rune Dagaz und sollte der Trägerin Schutz,<br />

Erfolg und Weiterentwicklung durch die Macht des Lichts<br />

bescheren. Ein wildledernes Wams für den Oberkörper und<br />

ein Umhang mit Kapuze - gegen die Unbilden des Wetters -<br />

rundeten Daylas Kleidung ab. Findus hingegen trug eine<br />

knöchellange Hose aus derben Leinenstoff, dazu einen<br />

Gambeson und ebenfalls den Umhang. Seine Farben waren<br />

das Schwarz der Rune Pertho und das fahle Gelb der Rune<br />

Wunjo. Sie symbolisierten die freie Entscheidung über das<br />

eigene Schicksal sowie Glück und Harmonie durch<br />

Ausgewogenheit. Neben der magischen Symbolik hatte die<br />

Kleidung der Beiden aber auch noch einen ganz profanen<br />

Nebeneffekt. Die Farben tarnten nämlich im Wald! Festes<br />

Schuhwerk ergänzte ihrer beider Wanderausrüstung. Daylas<br />

Waffen waren ihre Runen. Findus hatte noch nicht genug<br />

Vertrauen in die Magie. Er nahm zusätzlich das Kurzschwert<br />

mit - sein Geschenk von Bewok. Am nächsten Tag, als das<br />

Wasser der Tiedsiepe gerade weit genug zum Laufen<br />

gesunken war, brachen Dayla und Findus zur ‚Insel der<br />

Gestrandeten‘ auf.<br />

Sie gingen schon eine ganze Weile. Dayla schritt zügig aus<br />

und Findus stapfte in Gedanken brütend hinter ihr her. Er<br />

überdachte sein Verhältnis zu Dayla. Einerseits liebte er sie<br />

101


von ganzem Herzen, sehnte sich mit jeder Faser seines<br />

Körpers nach ihr. Andererseits aber sprach sie immer so<br />

weise, so abgeklärt und das missfiel ihm. Es vermittelte ihm<br />

das Gefühl, ein kleiner, unwissender Junge zu sein. Das<br />

Gefühl, gegängelt zu werden. Doch er würde es wohl<br />

akzeptieren müssen, denn schließlich hatte ja jeder Mensch<br />

seine Eigenheiten. Vielleicht änderte sich das irgendwann,<br />

vielleicht würde die Weisheit auch ihn einmal besuchen. Das<br />

brachte Findus auf eine Frage. Mit raschem Schritt war er<br />

neben Dayla. „Sag´“, begann er noch immer etwas missmutig<br />

„wo soll ich einen weißen Raben finden?“ Dayla sah ihn an<br />

und schüttelte ungläubig den Kopf - hatte er es denn immer<br />

noch nicht begriffen?<br />

„Wie klingt das Klatschen mit einer Hand?“ lautete ihre<br />

Gegenfrage. Findus sah seine Geliebte nur verständnislos an.<br />

„Schau´ mal“ fuhr Dayla fort „kann es sein, dass du die<br />

falsche Frage gestellt hast? Nicht ‚wo‘ sondern ‚wie‘?<br />

Manchmal ist nämlich der Weg an sich wichtiger als das Ziel.<br />

Manchmal kannst du nur dann eine Erkenntnis haben, wenn<br />

du aufhörst, über das Problem nachzudenken. Deswegen<br />

benutzen wir auch kein magisches Boot oder sowas. Du<br />

kannst ein Land und seine Bewohner nur dann wirklich<br />

begreifen, wenn du es von unten her kennenlernst, wenn du<br />

es selbst erfährst. Nur dann wirst du auch dich selbst, wirst du<br />

Antworten auf deine Fragen finden. Alles andere ist<br />

realitätsfern. Und nur so kann es geschehen, dass der weiße<br />

Rabe dich findet...“ Sie schwieg und sie wanderten weiter. Die<br />

‚Insel der Gestrandeten‘ kam langsam näher. „Und warum zur<br />

‚Insel der Gestrandeten‘?“ wollte Findus wissen.<br />

Dayla antwortete: „Auf der ‚Insel der Gestrandeten‘ sind<br />

die Erdströme nicht annähernd so stark wie auf der<br />

‚namenlosen Insel‘. Obwohl beide Inseln unmittelbar<br />

benachbart sind. Das ist eben das Wesen der Magie. Hier sehr<br />

stark, unmittelbar daneben aber nur ganz schwach. Wie der<br />

Pfad durch den Sumpf. Hier fest, doch nur einen Schritt zur<br />

Seite bereits bodenlos. Andererseits ist die ‚Insel der<br />

Gestrandeten‘ eben noch der Bônday nahe genug, um uns<br />

Schutz zu gewähren, falls etwas Unvorhergesehenes<br />

geschehen sollte. Ich werde dich auf der Insel mit der Magie<br />

als der allumfassenden, wertfreien Urkraft der Welt vertraut<br />

102


machen. Diese Urkraft ist chaotisch und das magische<br />

Geflecht bildet sich durch Selbstorganisation aus eben dem<br />

Chaos heraus. Aufgrund der Selbstorganisation kann eine<br />

verschwindend kleine Ursache zu gigantischen Wirkungen<br />

führen.“<br />

„Das verstehe ich nicht. Wie meinst du das?“ „Hast du<br />

schon einmal Wäsche mit Seife gewaschen?“ fragte Dayla.<br />

„Natürlich“ entgegnete Findus. „Was hast du dabei gesehen?“<br />

wollte die Hagia wissen. „Schaum, eine bunte Mischung vieler<br />

winziger Luftblasen“ war Findus´ Antwort. „Nicht schlecht,<br />

aber geht´s vielleicht etwas genauer? Welche Form hatten die<br />

Luftblasen?“ „Rund?“ erwiderte Findus fragend, weil er sich<br />

an die runde Form großer Seifenblasen erinnerte. „Falsch“<br />

sagte Dayla und fügte erläuternd hinzu: „Eine einzige, große<br />

Seifenblase ist natürlich rund. Kommen aber mehrere<br />

zusammen, dann kleben sie mit den größtmöglichen Flächen<br />

aneinander. Dabei geht die runde Form verloren. Es bilden<br />

sich von allein Sechsecke, Waben. Die Seifenblasen<br />

organisieren sich selbst zu Waben. Wie in einem Bienenstock.<br />

Es ist eine Form, die einerseits der Kugel noch am nächsten<br />

kommt und die andererseits die größtmögliche<br />

Packungsdichte gewährleistet. Ohne Lücken zwischen den<br />

ursprünglichen Kugeln. Die Natur macht es uns vor. Lerne zu<br />

beobachten, wirf´ allen Ballast über Bord und dann erkennst<br />

du es. Die Magie funktioniert ganz genau so, denn es ist eine<br />

natürliche Kraft. Es ist die Kraft der Natur. Beeinflusst du<br />

- mit welcher Technik auch immer - nur eine einzige, winzige<br />

Strömung des magischen Geflechts, dann beeinflusst du<br />

automatisch auch immer das Ganze.“<br />

Findus dachte über das Gehörte nach. Nach einiger Zeit<br />

bemerkte er: „Aber - wenn ich grundsätzlich immer alles<br />

beeinflusse, dann kann das doch sowohl positiv wie auch<br />

negativ, weiße wie schwarze Magie sein. Wie soll ich wissen,<br />

welche Auswirkungen mein Handeln hat?“ „Dieses Wissen ist<br />

Verantwortungsbereitschaft. Sie macht einen guten Magier<br />

aus. Tu was du willst, aber schade niemandem. Das ist der<br />

magische Grundsatz. Ohne Verantwortungsbereitschaft<br />

kannst du dem nicht genügen.“ Dayla schwieg kurz und fuhr<br />

dann fort „Die Richtung der Magie ist lenkbar. Die<br />

Auswirkungen eines Tuns zu steuern, verlangt allerdings sehr<br />

103


viel Übung und Können. Verlangt Vorausschauen und<br />

Folgenabschätzung. Deswegen setzen die mächtigsten Magier<br />

und Hexen ihre Magie auch immer nur äußerst sparsam ein.<br />

Sie wissen um die damit verbundenen Gefahren.“<br />

Findus´ Neugier war aber noch nicht befriedigt. „Hmm...“<br />

begann er „...wie passt das mit den Machtkonzentrationen bei<br />

der Bônday oder bei Baldur zusammen? Widerspricht sich das<br />

nicht, wenn einerseits magische Kraft angehäuft wird und<br />

andererseits die Anwendung selbst kleinster Magie zu<br />

unabsehbaren Folgen führen kann?“ Dayla blieb kurz stehen<br />

und sah ihm in die Augen. „Erstaunlich...“ war ihr<br />

Kommentar und „Malweýn hatte vor vielen Jahren ähnliche<br />

Gedanken. Aber du hast Recht, ja. Das ist wirklich ein<br />

Dilemma. Doch um das aufzulösen, müsste es eine wirklich<br />

mächtigste Bônday geben und einen wirklich mächtigsten<br />

Magier. Nur beide zusammen könnten einen Teil ihrer Kraft<br />

auf das magische Geflecht zurück übertragen. Sie müssten<br />

dann aber bereit sein, sich möglicherweise freiwillig von ihrer<br />

Macht zu trennen. Die dem Geflecht zurück gegebenen<br />

Kräfte kämen allen Menschen zu Gute. Vielleicht würden die<br />

dann wieder Elfen, Trolle und Kobolde wahrnehmen<br />

können...“ Jetzt war es an Dayla, nachdenklich zu<br />

verstummen. Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Gegen<br />

Abend erreichten sie die ‚Insel der Gestrandeten‘.<br />

Es war schon spät, als sie ihr Nachtlager aufschlugen. Sie<br />

aßen von den mitgebrachten Vorräten. Das Wetter war gut<br />

und deswegen verzichteten sie auf ein Lagerfeuer und auf den<br />

Zeltaufbau. Lediglich ein bläuliches Flirren huschte vorbei<br />

- das Geräusch von Blättern, die durch einen Windstoß<br />

raschelten. Mit den Umhängen als Unterlage nächtigten beide<br />

eng aneinander gekuschelt im weichem Moos. Irgendwie hatte<br />

sich eine Feder zwischen sie verirrt. Findus nahm lächelnd die<br />

Feder und reizte damit spielerisch Daylas vollkommenen<br />

Körper. Er verstand es, ihre innere Glut zu entfachen. Ihr<br />

wurde heiß; sie presste ihre katzenhafte Weiblichkeit an ihn.<br />

Findus´ Arme schlossen sich um sie. Sie liebten sich heiß und<br />

104


innig, wobei Dayla´s Finger Kratzspuren auf Findus´ Rücken<br />

hinterließen.<br />

Nachdem er eingeschlafen war, lag sie noch lange wach.<br />

Betrachtete sein Profil im Mondlicht. Machte sich Gedanken<br />

über ihr Verhältnis zueinander. Ungeachtet ihres jugendlichen<br />

Körpers war Dayla alt, erfahren und abgeklärt. Der Endpunkt<br />

ihrer magischen Fähigkeiten war schon vor geraumer Zeit<br />

erreicht worden. Die nächste Stufe könnte nur noch darin<br />

bestehen, selbst zu einer Bônday zu werden. Anders bei<br />

Findus. Er war für sie wie ein junger Baum. Noch zart und<br />

zerbrechlich, doch auch noch weit vom Höhepunkt seiner<br />

Macht entfernt. Sehr weit. Und seine magische Kraft war -<br />

ohne dass er sich dessen bewusst sein konnte - der ihren jetzt<br />

schon fast ebenbürtig. Ein Baum, den es zu hegen und zu<br />

pflegen galt, damit er irgendwann einmal seine volle Größe<br />

erreichen und sein volles Potenzial ausspielen könnte.<br />

Aber war eine derartige Anhäufung von magischer Kraft<br />

überhaupt sinnvoll? Waren die von den Magiern und von den<br />

Bôndays eingeschlagenen Wege der Machtkonzentration<br />

richtig? Dayla zweifelte daran. Jede Konzentration von Magie<br />

schwächte das alles umfassende magische Geflecht. Das blieb<br />

nicht ohne Auswirkungen. Die magischen Völker, die im<br />

Geflecht eine regulierende Funktion innehatten, wurden<br />

immer kleiner. Die Menschen wurden immer blinder für die<br />

Wahrnehmung der Natur. Zwerge, Kobolde, Dryaden,<br />

Najaden, Zentauren, Feen, Wichtel, Elfen, Harpyen - all die<br />

wurden von ihnen schon jetzt kaum mehr erkannt. Andere<br />

magische Wesen schrumpften. Irgendwann würden sie<br />

unsichtbar klein sein und dann im Verborgenen Schaden<br />

anrichten. Findus war - ohne es zu wissen - in der Anderswelt<br />

bereits mit den entsprechenden Erfahrungen konfrontiert<br />

worden. Dort riefen die geschrumpften Wesen Krankheiten<br />

hervor.<br />

Nur die Geburt von vielen - von sehr vielen! - Menschen<br />

könnte das magische Geflecht wieder stärken. Doch diese<br />

Energie wäre ohne die regulierende Funktion ungerichtet. Die<br />

Folge: Übervölkerung und Chaos! Dayla hatte eine schwache<br />

Ahnung davon bekommen, als sie heimlich in Findus´<br />

Gedanken nach dessen Vergangenheit suchte und seine<br />

Erlebnisse in der Anderswelt fand. Vor ein paar Tagen. Ihr<br />

105


war eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen. Und genau<br />

hier lag das Dilemma: Einzig Findus´ voll entwickelte<br />

Fähigkeiten würden dem Herrscher und dem Irrweg der<br />

Magier Einhalt gebieten können. Das aber bedeutete<br />

Machtkonzentration, bedeutete dauerhafte Schwächung des<br />

magischen Geflechts. Ein Teufelskreis. Wer würde ihnen da<br />

heraushelfen können? Die Menschen sicherlich nicht.<br />

Überhaupt, die Menschen...<br />

In dem zeitlosen, unwirklichen Dämmerzustand zwischen<br />

Wachen und Schlafen tauchten Bilder vor Dayla´s innerem<br />

Auge auf. Bilder aus ihrer eigenen Vergangenheit. Bilder von<br />

der eisigen Ablehnung, die ihr als Kind ob ihrer Hexenkünste<br />

und Seherfähigkeiten immer entgegen geschlagen war. Wie<br />

man sie ausgrenzte, nachdem das, was sie vorausgesehen<br />

hatte, auch eintrat. Wie man sie ausgrenzte, weil sie den<br />

anderen unheimlich erschien! Wie man von ihr erteilte,<br />

wertneutrale Auskünfte als selbstbemitleidend und als<br />

selbstbeweihräuchernd herabsetzte. Wie man sie<br />

Kassandraruferin schimpfte, wenn sie vor den Folgen von<br />

Fehlentscheidungen warnte – die dann natürlich auch<br />

eintrafen. Wofür man ihr die Schuld gab! Wie sie gezwungen<br />

wurde, wider besseres Wissen falschen Anweisungen zu<br />

folgen und Fehler zu begehen – die man dann prompt ihr<br />

selbst anlastete. Wie man sie zwingen wollte, das, was sie<br />

wahrnahm, zu ignorieren. Wie Menschen, denen die<br />

ganzheitliche Sicht der Welt abhanden gekommen war, sie<br />

aufgrund ihrer umfassenden Wahrnehmung schlichtweg für<br />

verrückt erklärten. Wie sie lernen musste, sich zurück zu<br />

halten, immer im Hintergrund zu bleiben. Nur nicht auffallen,<br />

um keinen Preis der Welt, denn sonst... Wie man sie für<br />

dumm hielt, gerade weil sie sich nur selten äußerte - obwohl<br />

ihr vieles klarer als ihren Mitmenschen war und obwohl sie<br />

sehr viel schneller begriff und vorausschauender dachte als<br />

die!<br />

Unheimlich, verrückt, dumm und obendrein auch noch<br />

von niederer Herkunft - Hexe, Hexe! Einsperren, nur weg mit<br />

der! So entstanden Vorurteile. So handelten Menschen<br />

– Menschen, die alles besser wussten. Menschen, die von<br />

anderer Stelle manipuliert wurden. Damals war der Verdacht<br />

in ihr aufgekeimt, vielleicht gar nicht dieser Rasse<br />

106


anzugehören. Bevor es zum Äußersten kam, gelang ihr eines<br />

Nachts die Flucht. Lange war sie unterwegs, bis sie auf ein<br />

Kräuterweib stieß. Das erkannte sofort, was mit Dayla<br />

wirklich los war, was in ihr steckte. Und bildete sie zur echten<br />

Hexe aus. Schickte sie irgendwann zur ‚namenlosen Insel’ der<br />

Bônday. Seit damals wusste Dayla, was es mit dem lockeren<br />

Netzwerk der über ganz <strong>Norgast</strong> verstreuten Hexen auf sich<br />

hatte. Es war - zumindest teilweise - gerade auch ein<br />

Anlaufpunkt für die von der menschlichen Gesellschaft<br />

Ausgestoßenen. Für die aufgrund ihrer besonderen<br />

Fähigkeiten Ausgestoßenen. Für Querdenker. Für Kritische.<br />

Für Naturverbundene. Für zukünftige Hexen... Was die<br />

Menschen unsicher oder gar verrückt vor Angst machte, war<br />

die unbestimmte Ahnung, wie illusionär die Wirklichkeit<br />

tatsächlich war - nicht viele konnten das ertragen. Sie lehnten<br />

solche Gedankengänge ab. Und sie lehnten gerade auch die<br />

Mitmenschen ab, die solche Gedankengänge hatten. Mit<br />

diesen Überlegungen schlief sie endgültig ein. Morgen würde<br />

sie sich weiter um Findus Ausbildung bemühen. Doch es<br />

sollte anders kommen. Ganz anders.<br />

Es war finstere Nacht - der Mond längst untergegangen - als<br />

Dayla durch einen halblaut-erstickten Schrei geweckt wurde.<br />

Findus wälzte sich neben ihr unruhig hin und her. Ein<br />

Alptraum hielt ihn gefangen! Vorsichtig, um ihm zu helfen,<br />

versuchte Dayla in seine Traumgedanken einzudringen. Was<br />

sie dort fand, erschreckte sie zutiefst. Der violettockerfarbene<br />

Geruch von verbranntem Menschenfleisch war<br />

plötzlich in ihrem Kopf. Blut, zerstückelte Körper, zerrissene<br />

Gliedmaßen, tote Kinder, Feuer und Zerstörung - Mord,<br />

namenlose Grausamkeit und Massaker, wohin sie auch sah.<br />

Es war unaussprechlich furchtbar!<br />

Findus hatte einen divinatorischen Traum. Den Alptraum<br />

einer durchaus realen Zeit, vielleicht gar nicht einmal so weit<br />

entfernt – denn Baldur´s Häscher waren gnadenlos!<br />

Wahrscheinlich sogar sehr nahe. Mit diesem Traum mischten<br />

sich quälende Bilder aus der Anderswelt. Verhungernde<br />

Kinder hier, maßloser Überfluss da. Verlogene und<br />

107


selbstherrliche Herrschende, die den Menschen etwas<br />

versprachen und das genaue Gegenteil taten, jeder nur auf<br />

seinen eigenen Vorteil bedacht. Die jeden Kontakt zu ihrer<br />

Realität verloren hatten. Zuviele Menschen, die die Welt<br />

zerstörten. Die keine eigene Spiritualität mehr kannten.<br />

Schmutz, brennende Wälder, Abfallberge, verseuchte<br />

Gewässer. Hektik. Arbeitsbedingungen, welche die Menschen<br />

krank machten.<br />

Die Menschen gaben den gutsherrenartig Herrschenden<br />

nicht mehr den zehnten Teil ab, sondern sogar schon die<br />

Hälfte oder noch mehr. Jedenfalls die, die ohnehin schon<br />

wenig hatten. Die Wohlhabenden deutlich weniger.<br />

Menschen, die ganz offensichtlich manipuliert wurden.<br />

Einzelne, die das erkannten – und angreifbar wurden, sobald<br />

sie es wagten, etwas zu sagen. Dabei berief man sich auf<br />

Gesetze – von den Herrschenden gemacht! Eine Welt, in der<br />

die Natur keinen Wert mehr in sich selbst hatte – weil sie kein<br />

Geld war. Wo man nur einem vermeintlich sicheren,<br />

materiellen Reichtum hinterher lief. Ein Irrweg! Und die<br />

Menschen verschlossen die Augen davor, ignorierten die<br />

Tatsache, dass man Geld nicht essen kann...<br />

Dayla sah es als ihre Pflicht an, Findus aus diesem<br />

furchtbaren Traum heraus zu helfen. Sie beugte sich über ihn,<br />

versuchte seine Arme festzuhalten, ihn zu wecken. Es ging<br />

nicht; er schüttelte sie ab. Doch sie gab nicht auf, besann sich<br />

ihrer eigenen magischen Kraft und setzte die ein. Dayla<br />

zeichnete die Schutzrune Thorn über Findus in die Luft.<br />

Thorn glühte hellrot auf - flackerte dann aber nur kurz und<br />

verblasste. Sie versuchte es mit einem hellblau glimmenden<br />

Kenaz, gefolgt von Nauthiz, schwärzer noch als die Nacht<br />

und murmelte dabei beruhigende Worte. Findus wurde<br />

ruhiger. Dayla schickte noch eine silberweiß leuchtende<br />

Sowilu-Rune als Dunkelheit vertreibenden Sonnenstrahl<br />

hinterher, legte die von ihr vorbereitete Rune auf Findus´<br />

Körper und glaubte, das Schlimmste sei überstanden, als sie<br />

ein mächtiger mentaler Schlag traf.<br />

Sie taumelte, brach neben Findus zusammen und rollte<br />

sich - am ganzen Körper zitternd - schluchzend zur Seite.<br />

Röchelte. Etwas Feuchtes. Ihre Nase blutete. Heftig. Sie ließ<br />

das Blut laufen. Dayla war zutiefst verwirrt. Ihr war<br />

108


schwindlig. Eine Folge des geistigen Schlages. Findus war um<br />

soviel stärker als sie! Eine Vervielfachung seiner magischen<br />

Kräfte durch den Traum. Er hatte ihre Bemühungen so<br />

einfach und beiläufig abgeschüttelt, wie man eine lästige<br />

Fliege verscheucht. Dennoch - gänzlich erfolglos war sie nicht<br />

geblieben. Der Nachtmahr ließ Findus los. Er erwachte. Sah<br />

Dayla bluten und war sofort bei ihr.<br />

„Bist du verletzt? Was ist geschehen?“ Findus war vor<br />

Sorge völlig außer sich, aufgeregt, hockte - den üblen Traum<br />

schon wieder vergessend - besorgt vor ihr. Dayla schüttelte<br />

den Kopf, unfähig zum Sprechen. „Ich...“ begann sie, doch<br />

die Stimme versagte ihr. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie<br />

war völlig durcheinander. Hätte Findus´ nur ein klein wenig<br />

mehr Kraft in seinen magischen Schlag gelegt, dann wäre sie<br />

jetzt tot. „Du...“ begann sie, schluckte und fuhr fort „...du<br />

wolltest das nicht. Es geht schon wieder. Du hattest einen<br />

Alptraum. Ein Nachtmahr war über dich gekommen. Und als<br />

ich dir zu Hilfe geeilt bin, da traf mich deine Magie. Ich war<br />

völlig unvorbereitet...“ Sie verstummte und sah ihn an.<br />

„Ich war das?“ Findus grauste es vor sich selbst. Solche<br />

Macht konnte er nicht haben, wollte er gar nicht haben! Und<br />

doch: In Dayla´s Augen erkannte er, dass sie die Wahrheit<br />

sprach. „Ich wollte das nicht“ sagte er mit erstickter Stimme.<br />

„Das weiß ich doch“ verzieh ihm Dayla und setzte hinzu:<br />

„Aber das wirft alles über den Haufen. Ich kann dich nicht in<br />

der Magie der Elementare unterweisen. Noch nicht. Dazu bist<br />

du zu unausgeglichen.“ Sie verstummte, senkte den Blick,<br />

murmelte: „Du musst zuerst ins Nebeltal, zur Nebelsenke.<br />

Morgen. Das ist gefährlich. Ich werde dich hinführen, aber<br />

nicht dort hinein begleiten können.“ Jetzt sah sie ihn aus<br />

traurigen, klaren Augen an. „Um ganz ehrlich zu sein: Es ist<br />

durchaus möglich, dass dies unsere letzte gemeinsame Nacht<br />

ist. Du könntest dort sterben. Aber nur dort - und sonst<br />

nirgends - kann dir geholfen werden. Ohne die Hilfe würde<br />

die Magie dich in einen zweiten Baldur verwandeln und<br />

deswegen kann und darf ich dich nicht unterweisen.“ „Ich<br />

vertraue dir – und ich liebe dich“ entgegnete Findus und legte<br />

seine Wange an die ihre. „Ich werde das Nebeltal überstehen.<br />

Danach sehen wir weiter.“ Er küsste sie und eng<br />

109


umschlungen legten sie sich erneut schlafen. Die restliche<br />

Nacht verlief ereignislos.<br />

In dem Moment, in dem Dayla den magischen Schlag<br />

empfing, hob Baldur den Kopf. Wie ein Beute witternder<br />

Jagdhund. Er sah hinauf zur Kabinendecke. Wie ein kurzer,<br />

aber umso heftigerer Blitz im Geflecht der Magie hatte das<br />

ausgesehen. Das war die Spur, nach der er suchte! Ungefähr<br />

südlich von hier. Mit einem einfachen Wetterzauber beseitigte<br />

er die Flaute. Rauschender Wind füllte knatternd die Segel<br />

und die Bark der Kaufleute nahm Fahrt auf. Rasche Fahrt.<br />

Der Kapitän konnte den Kurs nach Westboog nicht halten.<br />

Zu ungestüm war der Wind. Stattdessen bewegte sich das<br />

Schiff jetzt zwischen Untiefen und Inseln hindurch auf<br />

Norstedt zu. Norstedt würde als Nothafen dienen müssen.<br />

Aber nicht für Baldur. Der hatte jetzt seine Spur! Er würde<br />

dort nur das Transportmittel wechseln.<br />

Doch es gab noch jemanden, dem die Erschütterung des<br />

Geflechts nicht entgangen war. Jemand, der unter Baldur´s<br />

Machtkonzentration jetzt schon zu leiden hatte. Jemand, der<br />

einem magischen Volk angehörte und der sich direkt unter<br />

der Bark befand - verborgen von graugrünen, salzigen Fluten.<br />

Es war der Wassermann, auch Nöck genannt. Während die<br />

Najaden das Wasser nur bewohnten, beherrschte der Nöck<br />

dieses Element an sich. Er warnte die Najaden, die daraufhin<br />

panisch seine Gegenwart flohen. Dann setzte der Nöck alles<br />

daran, Baldur aufzuhalten. Das Meer gehorchte dem<br />

Wassermann...<br />

Unglaublich schnell rauschte das Wasser, wurden die<br />

Wogen haushoch. Tiefhängende Wolken rasten auf das Schiff<br />

zu; der Wind – ohnehin schon bösartig und ohrenbetäubend<br />

– wurde zum wüsten Sturm. Zischend wie Schlangen gischten<br />

weiß-schäumende giftgrüne Grundseen hoch, wirbelten das<br />

Schiff nach Backbord. Ein furchtbarer, harter Grundstoß und<br />

„Wasser im Schiff!“ gellte ein im Tosen des Sturmes<br />

untergehender Schrei. Der Schiffsboden war eingedrückt<br />

worden und die Bark saß auf dem Sand fest. Brecher auf<br />

Brecher rissen das Schiff aus dem Sandbett und ließen es<br />

110


immer wieder hart aufschlagen, gerade so, als wollten sie den<br />

Segler zermahlen. Brechendes Holz und Eisenstücke hagelten<br />

auf das Deck, erschlugen die Mannschaft und rissen Löcher.<br />

Längst war der Mast gebrochen. Eindringendes Wasser,<br />

ruckartige Bewegungen: Das Schiff legte sich auf die Seite!<br />

Baldur fluchte unentwegt und auf ordinärste Weise. Das<br />

hier war kein normaler Sturm mehr! Da hetzte jemand das<br />

Meer gegen ihn auf! Na warte, er würde das nicht vergessen!<br />

Das hob er sich für später auf. Jetzt galt es, erst einmal das<br />

eigene Leben zu retten. Baldur war es egal, was mit der<br />

Besatzung geschah. Waren ohnehin nur Leute minderen<br />

Standes. Untere Chargen! Er wechselte seine Gestalt, wurde<br />

zur Möwe, zum Sturmvogel. Schraubte sich in dem Inferno<br />

aus Sturm, Salz, Gischt und Wellen höher und höher, bis auf<br />

den Gipfel der Sturmfront. Wich dabei Blitzen aus, was ihn<br />

sehr viel Kraft kostete.<br />

Es kostete ihn dann nochmal viel Kraft, die wild tosende<br />

Wolke unter seinen Füßen soweit zu verfestigen, dass er sich<br />

darauf niederlassen konnte. Dann würde es eben eine<br />

Wolkenreise werden! Doch so rasch, wie der Sturm begonnen<br />

hatte, ebbte er auch wieder ab. Die Wolke fiel in sich<br />

zusammen. Baldur fiel auch - aber noch immer in<br />

Möwengestalt. Missmutig schlug er mit den Schwingen. Mit<br />

dem Licht der aufgehenden Sonne erreichte er Norstedt.<br />

Seine Stimmung war auf dem Tiefpunkt und er selbst völlig<br />

erschöpft. Rückverwandlung. Mit magischer Kraft rief er<br />

seine Häscher und ließ sich einen ganzen Gasthof reservieren.<br />

Dessen protestierende Besitzer wurden kurzerhand von den<br />

Soldaten erschlagen. Doch die nur so kurz aufgeblitzte Spur<br />

war wieder weg. Jetzt hieß es erneut warten. „Ich hasse das!“<br />

dachte Baldur übellaunig. Doch er war sich sicher, dass etwas<br />

geschehen würde. Sehr bald sogar. Und dann wollte er<br />

vorsichtshalber nicht allein stehen. Daher ließ Baldur nach<br />

Neville und seinen Männern schicken.<br />

Am nächsten Morgen gab Dayla sich sehr wortkarg.<br />

Nacheinander wuschen sich Dayla und Findus an einer nahe<br />

gelegenen Quelle. Als Findus aufsah, erblickte er einen<br />

111


Baumgeist - eine Dryade von geradezu ätherischer Schönheit.<br />

„Hab´ keine Angst vor der Nebelsenke“ sagte sie und „trage<br />

das hier auf deiner Haut.“ Sie reichte ihm ein ledernes Band<br />

mit einem Anhänger daran: Ein in Alraunenform<br />

geschnitztes, dunkelblau eingefärbtes Stück Eibenholz, in<br />

welches ein Topas vom Aussehen der Rune Eihwaz<br />

eingelassen worden war. Das Symbol für Langlebigkeit. „Der<br />

Stein wird dich beschützen. Du kannst diese Prüfung<br />

bestehen, wenn du an dich glaubst. Denn du bist unsere<br />

Hoffnung. Unsere einzige Hoffnung...“ setzte sie noch traurig<br />

flüsternd hinzu und verschwand wie ein Nebelhauch im<br />

Wind. Findus hängte sich den Stein um, verbarg ihn unter<br />

seinem Wams.<br />

Dann begab er sich zu Dayla. „Sag´ - was hat es mit der<br />

Nebelsenke auf sich? Warum ist sie so gefährlich, dass du<br />

nicht mitkommen willst?“ Forschend betrachtete Dayla ihn.<br />

„Willst du das wirklich wissen?“ „Ja!“ „Die Nebelsenke ist ein<br />

seltsamer Ort. Vielleicht der Seltsamste überhaupt in ganz<br />

<strong>Norgast</strong>. Er ist zwar hier, aber eigentlich befindet er sich nicht<br />

in dieser Welt, sondern irgendwo anders. Das Nebeltal - und<br />

die umliegenden Berge - werden vom alten Volk bewohnt.<br />

Von den Zwergen. Die mögen uns Menschen nicht gerade,<br />

weil sie in der Vergangenheit ausgesprochen schlechte<br />

Erfahrungen mit uns gemacht haben.“ Dayla hielt inne,<br />

überlegte, suchte nach den passenden Worten.<br />

„Die Zwerge verfügen über eine sehr starke Magie, die<br />

sich nicht aus unserem magischen Geflecht nährt, sondern<br />

aus den viel älteren Urkräften der Welt selbst. Aus der Urkraft<br />

der Erde, die geordnet und fokussiert dem Leben die<br />

Grundlage liefert. Aus der Urkraft des Meeres, die<br />

unfokussiert und chaotisch Leben gebärt. Es waren die<br />

Zwerge selbst, die die Nebelsenke erschaffen haben - damit<br />

sie dort in Ruhe gelassen werden. Normale Sterbliche können<br />

die Nebelsenke nicht einmal wahrnehmen. Sie durchwandern<br />

lediglich einen Wald wie jeden anderen. Nur magisch begabte<br />

Personen erkennen sie als das, was sie wirklich ist. Und die<br />

Zwerge mögen keine Besucher. Wer dorthin geht, der tut es<br />

nur einmal in seinem Leben. Und ich war schon einmal<br />

dort...“ Sie schwieg und blickte Findus vielsagend an.<br />

112


Verstehend nickte er. Was immer dort auch auf ihn<br />

wartete - mehr oder umfangreichere Auskünfte erhielte er von<br />

Dayla wohl nicht. Wahrscheinlich konnte sie selbst nicht<br />

einmal abschätzen, was ihm bevorstand. Die Nebelsenke<br />

schien individuell unterschiedlich zu wirken. Wortlos wies<br />

Dayla den Weg. Sie gingen los, in Richtung auf das Zentrum<br />

der ‚Insel der Gestrandeten‘ zu. Es gab keinen Pfad, ging nur<br />

bergauf und sie mussten sich ihren Weg selbst suchen<br />

- weshalb ihre Wanderung auch recht beschwerlich wurde.<br />

Morgens gingen sie los und erst im Verlauf des<br />

fortgeschrittenen Vormittags erreichten sie eine Anhöhe, von<br />

welcher aus sich ein Tal unter ihnen ausbreitete.<br />

Zuerst sah es nur wie ein ganz gewöhnliches,<br />

walddurchwachsenes Tal aus. Doch bei genauerem Hinsehen<br />

schien die Luft darüber seltsam zu flirren und geradezu<br />

unmerklich wandelte sich das Bild. Was blieb, waren bläulichsilbrige<br />

Nebel, aus denen dunkle Tannenspitzen ragten:<br />

geisterhaft, verzaubert, spukhaft und unwirklich. Irgendwie<br />

strahlte der Ort eine feierliche Stimmung aus. Beide, sowohl<br />

Dayla wie auch Findus, verspürten eine Art von innerem<br />

Feuer. Ein magisches Ziehen ließ Flammen vor dem inneren<br />

Auge aufsteigen. Flammen, die sich in der Mitte vereinigten,<br />

grell-gelb und an den Rändern silberweiß. Und je näher sie<br />

dem Tal kamen, desto mehr näherte sich die Farbe dieser<br />

virtuellen Flammen einem heißen Blau. Auf einmal blieb<br />

Dayla stehen. „Ich kann nicht mehr weiter“ sagte sie<br />

keuchend und „geh´ jetzt allein. Bis zur Talmitte. Da findest<br />

du eine Lichtung mit einem blutroten Stein drauf. Was dann<br />

passiert kann ich nicht sagen.“ Mit tränenfeuchten Augen<br />

blickte sie ihn an: „Geh jetzt - viel Glück!“ „Ich schaffe das<br />

schon“ meinte Findus selbstbewusst, küsste seine Geliebte<br />

und ging.<br />

Dayla blickte ihm aus traurigen Augen nach. Was ihn wohl<br />

erwartete? Mit jedem Schritt, den Findus in Richtung<br />

Nebelsenke tat, wurde er selbst unwirklicher.<br />

Durchscheinender, wie Nebel. Wie eine Welle, die ihn<br />

erreichte und als Teil ihrer selbst entführte, von dieser Welt<br />

fortzog. Nicht lange und er war Dayla´s Augen entschwunden<br />

- in die andere Welt eingegangen. Die Welt des alten Volkes,<br />

der Zwerge. Dayla seufzte. Sie würde auf Findus warten. Und<br />

113


wenn es ihr ganzes Leben dauerte! Doch plötzlich sah sie, wie<br />

er zurück kam. Erst nur klein und halbtransparent, wurde<br />

seine Gestalt mit jedem Schritt auf sie zu fester und größer.<br />

Doch Findus schien sich verändert zu haben, denn er wirkte<br />

irgendwie anders. Reifer. Stärker. Erfahrener. Abgeklärter. War<br />

das noch der Findus, den sie gekannt hatte? Was war passiert?<br />

Für Findus stellte sich die Situation gänzlich anders dar. Noch<br />

lange sah er Dayla dort oben auf der Anhöhe stehen, wenn er<br />

den Kopf umwandte. Mehrmals winkte er ihr zu, doch sie<br />

schien ihn nicht wahrzunehmen - oder nicht mehr? Er setzte<br />

den Weg fort, ging in den Wald hinein. Es war ein überaus<br />

seltsamer Wald. Die Bäume schienen ein geheimnisvolles<br />

Eigenleben zu führen. Wie unter einem schneidenden Wind<br />

- der tatsächlich aber gar nicht da war - ruckelten, zuckelten<br />

und wackelten die Blätter. Gerade so, als ob sie sich von<br />

selbst bewegen würden. Wurzeln veränderten ihre Positionen.<br />

Wo eben noch ein Pfad war, da stand im nächsten Augenblick<br />

ein undurchdringliches Dornendickicht. Und wo eben noch<br />

dichtes Unterholz lag, da eröffnete sich völlig unerwartet ein<br />

neuer Pfad. Findus hatte das Gefühl, vom Wald selbst geleitet<br />

zu werden. Doch wohin? Und auch der Zeitablauf war<br />

irgendwie durcheinander geraten. Als er losging, hatte die<br />

Sonne am Mittagshimmel gestanden. Jetzt dagegen neigte sie<br />

sich sogar sehr schnell ihrer Nachtruhe zu.<br />

Findus war nach seinem eigenen Dafürhalten gar nicht<br />

lange unterwegs. Dennoch - die Sonne war untergegangen<br />

und der Mond schien, als der Wanderer auf eine Lichtung<br />

traf. Im bleichen Mondlicht lag ein großer Stein, ein uralter<br />

Opferstein. Er schimmerte rötlich. „Was jetzt?“ dachte<br />

Findus. Ihm war kalt. Es war Nacht und die feuchte Kälte des<br />

Nebels biss in seine Haut.. Findus setzte sich neben den alten<br />

Opferstein, versuchte sich zu sammeln. Zu kalt. Er stand auf,<br />

blickte den Stein abschätzend an. Ein Gedanke: „Magie<br />

- warum eigentlich nicht?“ Wozu hatte er schon soviel<br />

gelernt? Er zeichnete eine Rune in die Luft: „Sowelu erhelle<br />

diesen Stein, auf dass er mich wärme“ - ein einfacher Spruch,<br />

aber von verblüffender Wirkung. Vom Luftbild der Sowelu-<br />

114


Rune zog sich eine gleißende Leuchterscheinung hin zum<br />

Opferstein. Der begann zu glühen. Kurz darauf zeigten sich<br />

Flammen auf seiner Oberfläche. Der Stein selbst brannte!<br />

Erschrocken trat Findus zurück. Die Hitze vertrieb die Kälte<br />

- und wie! Nie hätte der Mann ohne Gedächtnis geahnt, wie<br />

machtvoll sich sein Handeln auswirken könnte.<br />

Es war, als hätte der Wald nur auf die Anwendung der<br />

Magie gewartet. Laub knisterte und raschelte. Waldgeister<br />

versammelten sich in der Dunkelheit: Feen, Wichtel,<br />

Waldelben, Luftgeister, Dryaden, Quellnixen, Elfen und<br />

andere Naturwesen. Auch Kobolde waren darunter. Eine<br />

Stimme, tief wie der Schoß der Erde selbst, sagte: „Du<br />

sterblicher Narr. Was treibt dich her? Sprich schnell!“ Findus<br />

aber gelang es nicht, den Urheber dieser Frage ausfindig zu<br />

machen. Doch dann lösten sich drei Gestalten aus dem<br />

Dunkel. Gestalten von durchaus menschlichem Aussehen,<br />

aber ihm höchstens bis zum Nabel reichend. Muskulös,<br />

martialisch gepanzert und Kraft ausstrahlend, verkniffene<br />

Gesichter mit roten Bärten und ledernrunzlig-braunkupferner<br />

Haut. Das mussten die Zwerge sein! Einer von ihnen<br />

- anscheinend der Sprecher der drei - trat vor.<br />

„Wer bist du und was suchst du hier?“ fragte der Sprecher.<br />

„Man nennt mich Findus. Ich bin hier weil...“ Verlegen<br />

verstummte Findus und blickte zu Boden, entschloss sich<br />

dann aber für schonungslose Offenheit. Er sah wieder auf<br />

und sagte mit fester Stimme. „Ich bin hier, weil ich mich<br />

selbst und meine Bestimmung suche. Man sagte mir, Ihr<br />

könntet mir dabei helfen.“ „Was sagt dir deine Erinnerung<br />

hinsichtlich deiner Bestimmung?“ fragte der Zwerg. „Ich<br />

habe keine. Mein Gedächtnis ist weg.“ Der Zwerg begann zu<br />

lächeln. „Wenn du wirklich der bist, für den du dich ausgibst,<br />

dann verfügst du über ein ganz spezielles Schmuckstück.“<br />

Findus zeigte ihm den Alraunen-Topas-Anhänger. Der Zwerg<br />

nickte. „Ich fühle, dass du die Wahrheit sprichst. Nun gut.<br />

Niemand soll Zweifel an unserer Höflichkeit und<br />

Gastfreundschaft hegen. Ich bin Brokk, der Schmied. Das<br />

dort...“ - er wies auf die beiden schweigsam hinter ihm<br />

stehenden Zwerge – „...sind Gübich der Kämpfer und<br />

Bonneführlein, unser Vogt. Dein Kommen wurde uns<br />

115


avisiert. Wir werden dir helfen.“ Er schwieg und blickte<br />

Findus ernst an.<br />

„Doch du bist bewaffnet. So etwas mögen wir bei Gästen<br />

gar nicht. Gib´ mir dein Schwert.“ Nur widerstrebend<br />

übergab Findus ihm die Waffe. Der nahm Bewok´s Geschenk<br />

an sich, zog es aus der Scheide, wog es prüfend und<br />

betrachtete es lange. Es wurde totenstill. Eine beinahe schon<br />

feierliche Stimmung breitete sich aus. Brokk sprach leise und<br />

ehrfürchtig: „Dieses Schwert ist alt. Uralt. Sein Stahl<br />

entstammt einem vom Himmel gefallenen Stein. Das härteste<br />

Eisen überhaupt. Einst lag ein Zauber auf dieser Klinge. Ein<br />

Zauber, der sie befähigte, im Verteidigungsfalle jeden Gegner<br />

zu töten. Das Schwert wurde aber missbräuchlich eingesetzt<br />

und der Zauber verflog. Woher hast du es?“ Forschend<br />

blickte der Schmied Findus an.<br />

Der antwortete: „Der Tiedsiepefischer - Bewok ist sein<br />

Name - hat es mir vor längerer Zeit geschenkt. Wie es in<br />

seinen Besitz gelangt ist, weiß ich nicht.“ Nachdenklich<br />

schaute Brokk auf den Stahl. „Du wirst es irgendwann<br />

brauchen. Ich werde es dir neu schmieden und mit einem<br />

Zwergenzauber versehen. Einem Schwertzauber, mit dem du<br />

jede feindliche Waffe abwehren kannst. Doch das wird lange<br />

dauern. Mindestens einen Sommer und einen Winter lang.<br />

Auch musst du lernen, die Waffe perfekt zu beherrschen.<br />

Auch das wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Bist du<br />

dazu bereit?“ Vorsichtig entgegnete Findus: „Meine Gefährtin<br />

wartet außerhalb der Nebelsenke auf mich...“ „Oh, hab´ keine<br />

Angst. Hier vergeht die Zeit anders. Für Dayla“ - Brokk<br />

lächelte verschmitzt – „wirst du kaum einen Lidschlag lang<br />

verschwunden sein. Sie wird dich nicht vermissen.“ „Dann<br />

gerne!“ antwortete Findus erleichtert.<br />

„Zuerst musst du zu dir selbst finden“ empfahl Brokk und<br />

setzte hinzu: „Deswegen werden wir dich jetzt allein lassen.<br />

Öffne deinen Geist dem, was dir der Wald zu sagen hat. Höre<br />

in dich hinein. Erfahre den Wald, werde eins mit ihm. Lass´<br />

die Welt los und du begreifst, was es mit den Elementaren auf<br />

sich hat. Lerne! Ich werde danach rechtzeitig wieder bei dir<br />

sein.“ Sprach´s und trat zusammen mit seinen Gefährten<br />

wieder in den Schatten der Dunkelheit. Findus blieb allein<br />

zurück. Nun ja - nicht ganz allein. Denn um ihn herum waren<br />

116


da ja noch die Naturgeister, flüsternd, wispernd - und<br />

unsichtbar. Die Flammen über dem Opferstein waren<br />

zusammen gefallen. Dennoch strahlte der Stein eine<br />

angenehme Wärme aus. Findus suchte seine Nähe und<br />

kauerte sich hin. Zog die Schuhe aus, wollte das nasse Laub<br />

auf den nackten Fußsohlen und auf den Handflächen spüren.<br />

Eine wohlige Müdigkeit überkam ihn.<br />

Findus ließ seine Gedanken schweifen, dachte an gar<br />

nichts mehr und machte seinen Kopf frei. Seine Finger und<br />

Zehen vermittelten ihm das Gefühl, sich wie Wurzeln in die<br />

Erde zu bohren. Hätte es hier und jetzt einen außenstehenden<br />

Beobachter gegeben, so wäre der über die Veränderung des<br />

Wanderers erschrocken. Es dauerte nämlich nicht lange, und<br />

Findus war der menschlichen Welt entflohen. Seine Gestalt<br />

ähnelte eher einer alten knorrigen Wurzel mit entfernt<br />

menschlichem Aussehen.<br />

Findus selbst aber bekam von seiner Veränderung nichts<br />

mit. Vielmehr erschien es ihm so, als seien die Naturwesen<br />

Schutzgeister. Seine Schutzgeister. Er fühlte die Kraft des<br />

Waldes in sich - den ewigen Kreislauf von Leben, Sterben<br />

und Wiedergeburt. Wie im Zeitraffer rasten Tage und Nächte,<br />

Sonne und Regen, Windstille und Sturm vor seinem geistigen<br />

Auge dahin. Er war eins mit den Pflanzen geworden, wusste,<br />

wann und warum sie heilsame Stoffe ausbildeten - ihr Schutz<br />

gegen das ‚Gefressen werden‘, gegen das ewige Gesetz der<br />

Natur. Das war die Grundlage der Kräutermagie!<br />

Er sah die Welt mit den Augen der Tiere. Die völlig<br />

ungewohnten Farben, nach denen eine Biene sich orientierte.<br />

Die seltsamen Töne, die einer Fledermaus den Weg zeigten.<br />

Die Welt der Gerüche, die einen Fuchs oder Wolf zur Beute<br />

führten. Die Bewegungen der Luft und des Windes, die einem<br />

Eichelhäher das Fortkommen ermöglichten. Findus spürte<br />

den Ethos des Waldes und des Landes; war Teil des Ganzen.<br />

Vision und Wirklichkeit waren für ihn nicht mehr<br />

unterscheidbar. Und überhaupt: Was war denn Wirklichkeit?<br />

Existierte eigentlich so etwas wie eine ‚richtige‘ Realität? Oder<br />

war das nur eine stillschweigende Übereinkunft? War die<br />

‚Wirklichkeit‘ an sich nicht vielmehr einzig durch die<br />

Wahrnehmung geprägt?<br />

117


Findus erkannte das ursächliche Wesen der Elementare.<br />

Das Wasser: Symbol für das Leben. Aber auch für die damit<br />

verbundene Wandlung, für das Nachgeben, für Intuition und<br />

Säuberung. Symbol für weibliche Emotionalität als Ausgleich<br />

für maskuline Härte. Wasser - Flexibilität und Energie vom<br />

kleinsten unscheinbaren Tautropfen bis hin zur Urgewalt des<br />

ungebändigten Meeres. Die Erde: Sie stand für Geborgenheit,<br />

Macht und Festigkeit. War gleichzeitig Fruchtbarkeit, Heilung<br />

und Vertrauen. Symbol des Männlichen im Weiblichen. Vom<br />

kleinsten Staubkorn bis hinauf zum größten Felsen. Wasser<br />

war nichts ohne Erde und Erde war nichts ohne Wasser. Erst<br />

beides zusammen bewirkte Lebenskraft, ergab heilende<br />

Energien, zog das Negative aus den Lebewesen heraus - wenn<br />

sie es nicht verlernten, mit der Erde in Kontakt zu treten.<br />

Findus erlangte auf diese meditative Weise die Fähigkeit<br />

zur Betrachtung aus der Ferne mit ungerührter Klarheit.<br />

Sequenzartig kehrte sein Gedächtnis zurück, fügte sich<br />

Puzzlestein um Puzzlestein zusammen. Er sah sich selbst als<br />

Säugling, in wärmende Tücher gehüllt und an die Brust eines<br />

Mannes mit dem Namen Ravon gepresst, welcher ihn mit<br />

scharfem Ritt vor seinem Bruder in Sicherheit brachte.<br />

Welchem Bruder? Sah sich sich selbst als Kind, aufgezogen von<br />

einem Kräuterweib, durch Gehölz und Dickicht streifend,<br />

erste magische Lektion erlernen. Erfuhr, wie sie ihn zur<br />

Bônday brachte, wo seine magische Ausbildung fortgesetzt<br />

wurde und wie die Bônday die magischen Völker über die ihm<br />

innewohnende Macht informierte. Wie er in jugendlichem<br />

Leichtsinn von dort ausriss, nur um wenig später den<br />

Versprechungen eines falschen Freundes zu folgen. Wie<br />

dieser falsche Freund ihn zu einem vermeintlichen fahrenden<br />

Händler lockte, der ihn daraufhin vergiftete. Und der Händler<br />

war niemand anderes als Baldur höchstpersönlich gewesen!<br />

Welches erbärmliche Leben er in der Anderswelt gehabt<br />

hatte. Einer Anderswelt, in der er als einer von vielen elendig<br />

krepiert und verweht wäre, hätte nicht ein dort tödlicher<br />

Unfall seinen Geist urplötzlich zurück nach <strong>Norgast</strong><br />

geschleudert.<br />

Seine damaligen Kenntnisse der Elementare hatten ihm<br />

beim Überleben geholfen. Das Elementar der Luft:<br />

Lebensenergie, Freiheit, Inspiration und Weite. Grenzenlose<br />

118


Erneuerung. Vom kleinsten Lufthauch bis hin zum wüstesten<br />

Tornado. So leicht und ungreifbar und dennoch machtvoll<br />

formend. Ein Element, welches man auf der nackten Haut<br />

spüren musste, um es zu verstehen. Das Elementar des<br />

Feuers: Wärme und Licht, Leidenschaft und Vitalität.<br />

Ungezügelt, allesverzehrend und zerstörerisch, wenn man sich<br />

seiner nicht zu bedienen wusste. Ein unverzichtbares, aber<br />

auch ein furchtbares Element. Schon der allerkleinste Funke<br />

konnte - einmal seinen Schranken entlassen - zum<br />

verheerenden Waldbrand ausarten. Doch auch ein nützliches<br />

Element, half es doch mit innerem Feuer - mit Fieber - gegen<br />

Krankheiten und ermöglichte es das Überleben in<br />

Winterskälte oder in der Dunkelheit.<br />

Findus erkannte ganz klar, dass ein Element nichts ohne<br />

das andere war, dass erst ihr Zusammenspiel das Leben an<br />

sich ausmachte. Ihm wurde schlagartig bewusst, wie er Wasser<br />

und Luft zu einem einfachen Wetterzauber zusammenfügen<br />

musste, mit dem sich Regen erzeugen ließ. Wie eine solche<br />

Magie, ergänzt um Erde und Feuer zu einem Erntezauber<br />

wurde. Wie alles aufeinander aufbaute. Findus begriff<br />

instinktiv und aus seinem innersten Gefühl heraus die<br />

Elementarkräfte. Begriff, wer er selbst war im Rahmen seiner<br />

zeitlosen Meditation. Nur seine Herkunft blieb noch im<br />

Dunkel. Doch war die Meditation wirklich zeitlos? Sein<br />

Körper regte sich; es war ein strahlender Sommertag. Brokk<br />

stand vor ihm und überreichte Findus das neu geschmiedete<br />

Schwert. „Ein Jahr ist vergangen“ sagte der Zwerg.<br />

„Das ist Gnarp“ führte Brokk aus und wies auf das<br />

Schwert. „Es wehrt jede feindliche Waffe ab. Aber nur, wenn<br />

du damit umzugehen weißt. Das bedeutet eine lange<br />

Lehrzeit.“ Fragend sah er Findus in die Augen. Findus nickte<br />

- ja, auch dazu war er bereit. Wenn schon, denn schon.<br />

Neugierig zog Findus nun die Klinge aus der Scheide und<br />

betrachtete Brokk´s Werk. Die Sägezähne waren<br />

verschwunden. Dafür gleißte die Klinge im Sonnenlicht. Sie<br />

sah nicht nur sehr scharf aus, sie war es auch. Und sie war<br />

auffallend leicht. Viel leichter, als Findus das Schwert in<br />

Erinnerung hatte. Eingearbeitete Hohlkehlen dienten jetzt der<br />

Gewichtsersparnis. Und die sorgsam-fein eingravierten Runen<br />

Uruz, Thurisaz, Isaz, Sowelo, Teiwaz, Dagaz, Eiwaz mit den<br />

119


Bedeutungen von Stärke, Schutz, Hindernis, Sonne,<br />

Kriegsgott, Licht und Unsterblichkeit sorgten für magische<br />

Kraft.<br />

„Ich zeige Dir etwas“ sagte Brokk und griff nach dem<br />

Schwert. Findus gab es ihm zurück. Brokk nestelte aus dem<br />

Beutel an seinem Gürtel eine Feder heraus. Er warf sie in die<br />

Luft. Sacht segelte die Feder nach unten und traf auf Gnarp´s<br />

Schneide. Die Feder wurde zerteilt! Brokk reichte ihm Gnarp<br />

zurück. „Eine weitere Demonstration. Halte das Schwert ganz<br />

still waagerecht in der Luft, wenn ich mit meinem eigenen<br />

Schwert zuschlage. Wehre den Schlag einfach nur passiv ab.“<br />

Brokk zog sein eigenes Schwert, holte aus, legte seine ganze<br />

Kraft in den Hieb und schlug zu. Traf Gnarp. Dessen Klinge<br />

vibrierte. Die Vibration endete noch vor dem Knauf. Dieses<br />

Schwert würde seinen Träger im Kampf niemals ermüden!<br />

Brokk´s Schwert hingegen war zerbrochen. Gnarp - das war<br />

ein Schwert für Könige, unbezahlbar wertvoll! „Morgen<br />

beginnt deine Kampfausbildung. Sie dauert mindestens ein<br />

weiteres, ganzes Jahr lang. Das wird Gübich übernehmen.<br />

Folge mir jetzt.“<br />

Der Zwerg drehte sich um und Findus trabte hinterdrein.<br />

Brokk führte ihn in eine Höhle, in den Berg hinein. In das<br />

eigentliche Reich des alten Volkes. Zuerst hingen noch bizarr<br />

geformte Stalagtiten von der Decke, denen sich Stalagmiten<br />

von unten her näherten. Später waren die Steine zu wahren<br />

Vorhängen zusammen gewachsen und der Weg wurde<br />

beschwerlicher. Das letzte Stück quetschte Findus sich durch<br />

einen eigentlich für ihn schon viel zu engen Gang, sich dabei<br />

Knie und Hände aufschürfend. Doch plötzlich weitete die<br />

Höhle sich wieder, mündete in einen gigantischen Dom.<br />

Findus sah andere Zwerge - viele. Auch viele Feuer. Der Berg<br />

hallte vom Hämmern seiner Bewohner wieder. Bonneführlein<br />

kam auf sie zu und wies Findus einen Schlafplatz an. Eine<br />

Zwergenfrau brachte Wasser und Essen. Dann war er allein<br />

und schlief einen tiefen Schlaf mit einem seltsamen Traum.<br />

Er sah den Berg von innen. Wie sich Wasser durch enge<br />

Spalten schlängelte, um die Tropfsteine zu formen. Im Traum<br />

begriff Findus, wie Wasser und unscheinbarer Kalk<br />

zusammen wirkten, um die Luft atembar zu erhalten – ein<br />

ewiges Gleichgewicht. Er sah die Adern mit dem kostbaren<br />

120


Erz, die den Zwergen ihr ureigenstes Leben ermöglichten.<br />

Wie tief im Untergrund eine unbändige Glut vom<br />

geschmolzenem Gestein brodelte. Er spürte den Geist des<br />

Berges in sich.<br />

Findus wurde viel zu früh - und wie er fand auch ziemlich<br />

unsanft - geweckt. Gübich stand vor ihm. „Deine<br />

Kampfausbildung beginnt. Jetzt! Lass´ Gnarp ruhig hier<br />

liegen. Du brauchst das Schwert nicht. Noch sehr lange<br />

nicht.“ Findus guckte ziemlich überrumpelt, woraufhin<br />

Gübich schallend zu Lachen begann. „Was glaubst du denn,<br />

was Schwertkampf ist?“ fragte der Zwerg belustigt. „Hau<br />

drauf und gib ihm? Nein, mein Junge - das ist eine hohe<br />

Kunst, bei der jede Bewegung erlernt und im Schlaf<br />

beherrscht werden muss. Wasch´ dich und folge mir danach<br />

zum Kampfplatz; wir beginnen mit Stöcken.“ Eine hastige<br />

Morgentoilette, kein Frühstück. Gübich wartete ungeduldig,<br />

Findus´ Eile spöttisch kommentierend und erwies sich so als<br />

unbarmherziger Ausbilder. Auf dem Weg zum Kampfplatz<br />

dachte Findus noch, dass er ob seiner eigenen Körpergröße<br />

Gübich gegenüber im Vorteil wäre. Aber auf dem<br />

Kampfplatz angelangt, wurde er schnell eines Besseren<br />

belehrt. Entweder war Gübich gewachsen oder Findus<br />

geschrumpft - jedenfalls standen sie sich in Augenhöhe<br />

gegenüber. Bei den Zwergen schien alles möglich zu sein.<br />

Der Kampfplatz selbst war eine Arena. Am Arenarand<br />

bauten sich soeben ein paar Zwerge mit Musikinstrumenten<br />

auf. Gübich sagte: „Wir beginnen mit den Grundschritten.<br />

Die sind das Wichtigste. Stell´ dir vor, dass du einen fast<br />

doppelt mannslangen Stock in der Hand hast und mach´ mir<br />

die Schritte nach.“ Er sah zum Arenarand hinüber. „Musik!“<br />

rief er. Die anderen Zwerge begannen mit dem Spielen der<br />

Instrumente. Es war eine seltsame Musik, aber nicht<br />

unmelodisch. Findus hörte die Töne nicht nur, sondern nahm<br />

sie auch optisch vor dem inneren Auge wahr: grüngoldene<br />

Bögen, röhrenartige goldennass-schimmernde Wellen, das<br />

dunkelrote bienenkorbähnliche Wummern der Trommel,<br />

Silberringe von Schellen und vieles mehr. Er konzentrierte<br />

sich so auf das Aussehen der Musik, dass er beinahe Gübich´s<br />

erste Lektion übersah. Doch was sollte das? Das waren<br />

121


Tanzschritte! Weibisch! Sollte Findus damit Baldur später zu<br />

Tode langweilen oder zum Totlachen bringen?<br />

Unwillig - und unbeholfen - versuchte Findus, Gübich die<br />

Schritte nachzumachen. Der wurde sehr ungehalten,<br />

schimpfte. „Das ist Mist, Mist und nochmal Mist! Wenn du<br />

kämpfen willst, dann müssen die Schritte sitzen. Eine<br />

Choreographie, die du im Schlaf beherrscht, ohne darüber<br />

nachdenken zu müssen. Wenn du mir nicht glaubst, dann<br />

machen wir´s eben auf die harte Tour!“ Am Arenarand lagen<br />

zwei Stöcke bereit. Gübich holte sie. Gab einen davon<br />

Findus. „Und jetzt pass´ auf!“ sagte der Zwerg. Die Musik<br />

setzte erneut ein. Findus wurde von einem Schlag getroffen,<br />

versuchte sich zu wehren. Doch sein Gegener war nicht da,<br />

war schon ganz woanders. Der nächste Schlag und noch einer<br />

und noch einer. Als die Musik endete, war es Findus noch<br />

nicht gelungen, selbst auch nur einen einzigen Schlag<br />

anzubringen. Zum Ausgleich dafür hatte er zahllose blaue<br />

Flecken. „Frühstück!“ verkündete Gübich. Findus stöhnte<br />

nur gequält auf.<br />

Während sie aßen erläuterte Gübich ihm die Situation. „Im<br />

Kampf kommt es darauf an, dem Gegner keine Angriffsfläche<br />

zu bieten. Stell´ Dir mal einen Baum vor. Im Sturm überlebt<br />

der nur, weil er biegsam ist. Alte und knorrige Bäume<br />

brechen. Siegen durch ausweichen. Fairness existiert nicht,<br />

denn es geht um Dein Leben. Heldenmut und Sportlichkeit<br />

sind vielleicht ganz schön, aber es gibt verdammt wenige alte<br />

Helden. Mit dir ist das genauso. Du darfst niemals dort sein,<br />

wo dein Gegner Dich vermutet. Dazu dienen die Schritte. Es<br />

gibt Grundschritte und Variationen davon. Zuerst lernst du<br />

die Grundschritte. Dann die Varianten. Zuletzt üben wir mit<br />

den Waffen, sonst ist es zu gefährlich. Hast du das jetzt<br />

begriffen?“ „Ja“ antwortete Findus, ziemlich ernüchtert. Ihm<br />

tat jetzt schon jeder Knochen weh.<br />

Dann ging es weiter. Grundstellung, Grundschritte,<br />

Schrittfolgen - auch mit Variationen. Findus übte. Stunden,<br />

Tage, ganze Mondumläufe. Wieder und wieder. Er verlor<br />

jegliches Zeitgefühl, automatisierte seine Bewegungsabläufe.<br />

Später folgten die Übungen mit den Stöcken. Jetzt wurde es<br />

schon deutlich komplizierter, mussten doch Füße und Hände<br />

unabhängig voneinander bewegt werden. Aber Findus lernte<br />

122


aus seinen Fehlern, lernte aus jeder Blessur. Messerkampf,<br />

Axtkampf. Ihm wurde klar, dass immer derjenige mit der<br />

längeren Waffe im Vorteil war und er erkannte, was er tun<br />

musste, um diesen Vorteil wieder zunichte zu machen.<br />

Zuletzt der Schwertkampf: Angriff, Parade, Finte, Stoß und<br />

Gegenstoß. Die Steigerung davon: der Zweischwerterkampf.<br />

Die Attacke mit unterschiedlichen Waffen: Schwert und<br />

Morgenstern, Dolch und Axt. Wehren und Abwehren. Kaum<br />

ein Abend, an dem Findus nicht ausgepumpt und ramponiert<br />

auf sein Nachtlager sank.<br />

Nichts als Übungen tagein tagaus. Irgendwann war im<br />

Zwergenland ein ganzer Sonnenumlauf beendet, in <strong>Norgast</strong><br />

hingegen eine kaum wahrnehmbare Zeitspanne vergangen.<br />

Gegen Ende der Ausbildung übte Findus mit einem speziellen<br />

Schwert, welches in Länge, Gewicht und Aussehen Gnarp<br />

glich - damit er sich an die Waffe gewöhnte. Gnarp selbst<br />

kam jedoch nur zum Abwehren von Pfeilen zum Einsatz,<br />

denn diese Waffe war einfach zu gefährlich. Irgendwann<br />

beherrschte Findus auch die Kampfkunst perfekt, besiegte<br />

Gübich. Bonneführlein hatte diesen letzten Kampf genau<br />

beobachtet und kam auf Findus zu. „Deine Ausbildung ist<br />

beendet. Gübich kann dir nichts mehr beibringen. Deswegen<br />

geh´ jetzt zurück zu Dayla. Sie erwartet dich. Brokk wird dich<br />

führen.“ Findus dankte den Zwergen überschwänglich und<br />

trottete hinter Brokk her. Der Rückweg durch die<br />

Tropfsteinhöhle war wesentlich einfacher als der Hinweg.<br />

Am Höhleneingang stehend blickte Brokk dem Kämpfer<br />

ernst in die Augen. „Es liegt allein an dir, was du aus deiner<br />

Kunst und aus dieser Waffe machst. Benutze deine<br />

Fähigkeiten niemals zum Angriff, sondern einzig und allein<br />

zur Verteidigung. Nur dadurch kannst du einen klaren Kopf<br />

bewahren. Und nur mit einem klaren Kopf bleibst du am<br />

Leben. Es liegt bei dir allein. Werde mächtig, besiege Baldur<br />

und stelle das Gleichgewicht im magischen Geflecht wieder<br />

her. Denn andernfalls... ...andernfalls werden wir alle sterben<br />

müssen, weil die Magie versiegt.“ Der Schmied drückte ihn an<br />

sich, wies nach draußen und sagte „Geh jetzt!“. Findus<br />

drückte ihm zum Abschied gerührt die Hand. Er fand keine<br />

Worte, hatte einen dicken Kloß im Hals und nickte nur. Dann<br />

drehte er sich um und verließ das Nebeltal.<br />

123


Mochte sich die Nebelsenke auch in einer Zwischenwelt<br />

außerhalb des Landes <strong>Norgast</strong> befinden, so blieb Findus´<br />

Ausbildung seitens der Zwerge doch nicht gänzlich ohne<br />

Auswirkungen auf das magische Geflecht. Um die Mittagszeit<br />

des Tages erspürte Baldur in Norstedt ein schwaches und<br />

kurzes Rumoren der Magie. Nicht mal einen Lidschlag lang,<br />

doch er war aufmerksam. Seine Spur - er hatte Recht<br />

behalten! Südlich von hier. Allerdings konnte niemand<br />

abschätzen, welche Macht sein Gegner inzwischen besaß.<br />

Deswegen wäre es wohl besser, nicht allein zu gehen.<br />

Fieberhaft erwartete Baldur daher Neville´s Ankunft, welche<br />

noch einige Zeit auf sich warten ließ. Da die Spur heiß war,<br />

gönnte er den Männern keine Pause. Zusammen mit Neville<br />

und vier anderen aus der Todesschwadron verließ der<br />

Herrscher Norstedt. Zu Pferde, denn Baldur wusste nicht, wo<br />

er den Gesuchten finden würde. Sie mussten einfach auf alles<br />

und jeden achten. Der Ritt führte flussaufwärts am Wilderfrio<br />

entlang - genau auf Bewok´s <strong>Heim</strong>statt zu...<br />

Der Findus, der sich Dayla näherte, war muskulöser als der<br />

Junge, den sie eben noch gesehen hatte. Er wirkte in sich<br />

gekehrt, machtvoller und einfach - reifer. „Was ist mit Dir<br />

geschehen?“ flüsterte Dayla. „Ich weiß jetzt, wer ich bin und<br />

wo meine Bestimmung liegt. Auch wenn sich meine Herkunft<br />

immer noch meiner Kenntnis entzieht. Sag´ - wer ist mein<br />

Bruder? Kennst du ihn?“ Dayla schüttelte überrascht den<br />

Kopf. „Nein, ich... ...erzähle doch erstmal!“ forderte sie ihn<br />

auf. Und Findus berichtete. Alles, vom Opferstein, über seine<br />

Erfahrung des Landes an sich, sein Verstehen der<br />

Elementarmagie, seine Begegnung mit den Zwergen und über<br />

seine Ausbildung durch Gübich. Er zeigte ihr Gnarp.<br />

Ehrfürchtig bestaunte Dayla das Schwert, fühlte die ihm<br />

innewohnende Macht.<br />

„Ich bin also als Säugling von einem Mann namens Ravon<br />

zu einer Kräuterfrau gebracht worden, verbrachte dort meine<br />

Kindheit und wurde dann zur Bônday geschickt. Sie, du und<br />

124


Lyonora - ihr habt mich in den magischen Techniken<br />

ausgebildet. Ich aber riss aus und bin falschen Freunden in die<br />

Falle gegangen. Baldur selbst versuchte mich zu töten. Ich<br />

weiß alles von damals und über mein Leben in der<br />

Anderswelt. Fragt sich nur noch, vor welchem Bruder Ravon<br />

mich in Sicherheit gebracht hat.“ fasste Findus zusammen.<br />

Fragend schaute er Dayla an. Doch die antwortete: „Von<br />

Deiner Herkunft und von einem Bruder weiß ich nichts. Ich<br />

glaube, dass Dir da nur die Bônday selbst weiterhelfen kann.“<br />

Nachdenklich schwieg sie und fuhr fort: „Dieses Gift, das<br />

Baldur Dir damals gegeben hat... Ich kenne nur ein Gift, das<br />

so wirkt. Es nennt sich ‚Traumtrank‘ und wird aus<br />

Unterweltpflanzen hergestellt. Wenn Baldur über dieses Gift<br />

verfügt hat, dann musste er sich dazu der Hilfe eines Dämons<br />

versichern. Der Herrscher ist noch weitaus gefährlicher, als<br />

wir dachten. Es ist der Beweis für unsere Vermutungen. Das<br />

muss die Bônday unbedingt ganz schnell erfahren!“<br />

Doch es war über Findus Bericht hinweg schon Abend<br />

geworden. Sie beschlossen, ihr Nachtlager gleich hier auf der<br />

Anhöhe an Ort und Stelle aufzuschlagen und entfachten ein<br />

kleines Lagerfeuer. Mit Hilfe eines Tierzaubers lockte Findus<br />

ein Kaninchen an. Er tötete es, schlachtete es aus, vergrub die<br />

Abfälle und sie brieten das Tier über dem Feuer. „Was tun<br />

wir jetzt?“ fragte er Dayla. Die schmiegte sich an ihn. „Lass´<br />

uns alles überschlafen. Morgen sehen wir weiter.“ Sie<br />

schliefen miteinander und die Nacht verging ruhig.<br />

Am nächsten Morgen verkündete Findus: „Ich werde<br />

versuchen, die Elementare in einem magischen Kreis<br />

anzurufen. Vielleicht zeigen sie mir ja etwas aus der Zukunft.<br />

Das wird uns die Entscheidung erleichtern, ob wir unsere<br />

Reise fortsetzen, uns trennen oder zur Bônday zurück kehren<br />

sollen.“ Dayla nickte. „Ich helfe dir“ sagte sie und suchte aus<br />

ihrem Ranzen etwas Räucherwerk, welches sie ihm gab, und<br />

einen silbernen Kelch hervor. „Ich hole Quellwasser“ meinte<br />

sie. Findus sah sie dankbar an und machte sich selbst auf die<br />

Suche nach einer prächtig blühenden Blume. Nachdem er die<br />

gefunden hatte, entnahm er seinem Ranzen eine Kerze. Im<br />

Lagerfeuer war noch genügend Glut zum Entzünden von<br />

Räucherwerk und Kerze. Mit Hilfe von Gnarp zog er dreimal<br />

einen großen Kreis auf den Boden. Dieser Kreis wurde mit<br />

125


jeder Umdrehung auf magische Weise stärker; er stellte einen<br />

Platz zwischen den Welten dar. Eine Kontaktstelle zur<br />

Astralebene, gleichzeitig Schutz vor bösen Einflüssen bietend.<br />

Dann viertelte Findus den Kreis entsprechend den<br />

Himmelsrichtungen. Er blickte auf die nach Osten weisende<br />

Linie und sprach „Luft - ich rufe Dich!“ Platzierte in Folge<br />

das Räucherwerk auf dieser Linie. Findus wandte sich gen<br />

Süden. „Feuer - ich rufe Dich!“ Er entzündete die Kerze und<br />

stellte sie auf die nach Süden gerichtete Linie. Zum Westen<br />

gewandt sprach er mit klarer Stimme „Wasser - ich rufe<br />

Dich!“ und stellte den mit Quellwasser gefüllten Kelch auf die<br />

zugehörige Linie. Schließlich blickte er nach Norden und<br />

vollendete mit „Erde - ich rufe Dich!“ und dem Niederlegen<br />

der Blume auf die nach Norden weisende Linie die Anrufung.<br />

Er setzte sich in die Kreismitte, zog den Alraunen-Topas-<br />

Anhänger der Dryade hervor und versenkte seinen Geist<br />

meditativ in den Stein. Schneller als er es erwartet hatte stellte<br />

sich eine Vision ein.<br />

Findus sah eine Sequenz aus einer nicht weit entfernten,<br />

möglichen Zukunft: Eine ihm nur allzu vertraute Hütte.<br />

Verwittertes Holz mit einem Schilfdach. Die Hütte stand in Flammen.<br />

Aus ihrem Innern ertönten die grauenvollen Schreie eines Menschen, der<br />

lebendig verbrannt wird. Snofork! Vor der Hütte ein lebloser Körper mit<br />

abgeschlagenem Kopf - Bewok. Dessen Boot versenkt, Netze und Reusen<br />

zerstört. Das Vieh hingemetzelt. Sechs dunkle Gestalten, die das<br />

Refugium des Fischers dem Erdboden gleich machten. Eine dieser<br />

Gestalten kam Findus sehr bekannt vor. Der Händler, der<br />

ihm den Traumtrank verabreicht hatte. Baldur!<br />

Schweißgebadet löste sich Findus aus der Elementaranrufung<br />

und brach das magische Symbol, indem er den Kreis<br />

zerstörte. Er war verstört. Ging zur Quelle, wusch sich.<br />

Atmete tief durch.<br />

„Was hast du gesehen?“ wollte Dayla voll von ängstlicher<br />

Vorahnung wissen. „Sie sind zu sechst. Sie kommen. Bald.<br />

Und Baldur führt sie an. Sie werden Bewok und Snofork<br />

töten, wenn wir nichts unternehmen.“ „Sechs sind zu viele.<br />

Ich begleite Dich!“ Findus nickte - ja, Dayla würde ob ihrer<br />

magischen Kräfte eine große Hilfe sein. „Wir müssen sie<br />

zuerst von Bewok ablenken. Kennst du einen dafür<br />

geeigneten Ort?“ Dayla überlegte kurz und nickte. „Ja, aber...<br />

126


Der Ort ist sehr gefährlich. Die Menschen meiden ihn.“<br />

„Umso besser, wo ist es?“ „Genau östlich von hier“<br />

entgegnete Dayla, doch Findus schüttelte unwillig den Kopf.<br />

„Dort ist doch nur der Sumpf!“ „Ja, und in dessen<br />

Verlängerung zum Wilderfrio hin gibt es einen Wald, der den<br />

Namen Myrkviör trägt. Dieser Wald ist von Geistern<br />

bewohnt. Die Menschen meiden das Gebiet, weil der Wald<br />

böse ist.“ „Bring´ mir den Geist des Waldes...“ flüsterte<br />

Findus und sah Dayla an.<br />

„Meinst du wirklich?“ fragte sie. „Ja. Wir gehen dorthin.<br />

Ich werde dann einen Zauber entfachen, den Baldur einfach<br />

nicht übersehen kann. Das lenkt ihn von Bewok ab.“ „Wie<br />

wollen wir dorthin gelangen?“ „Du beherrscht doch die<br />

Kunst der Tierverwandlung?“ Dayla nickte. Natürlich - was<br />

für eine Frage! „Kannst du Dich samt Gepäck in ein Tier<br />

verwandeln?“ „Ja, das geht. Viele können das nicht. Mich<br />

kostet es nur mehr Kraft.“ Versonnen blickte Findus zu<br />

einem Baum hinauf. Drei schwarze Krähen saßen dort.<br />

Krächzten, flatterten manchmal ziellos herum und amüsierten<br />

sich über das, was die Menschen sich selbst vormachten.<br />

„Lass´uns fliegen“ schlug er vor, ohne den Blick abzuwenden.<br />

Dayla nickte, verwandelte sich in einen Schwan. Strahlend<br />

weiß und schön anzusehen. Findus aber sah die Welt mit den<br />

Augen der Krähen, verspürte ihre unbändige Freiheit. Auch<br />

er verwandelte sich.<br />

Seine Kleidung und sein Schwert wurden zum Federkleid.<br />

Einem blütenweißen Federkleid, welches auf mächtigen<br />

Schwingen saß. Sein Körper hingegen nahm eine Gestalt ganz<br />

ähnlich der der Krähen an. Nur größer. Viel größer. Die<br />

Gestalt eines Raben. Findus war zum weißen Raben<br />

geworden! Rabe und Schwan flogen hinaus in das weite Land,<br />

in Richtung des Sonnenaufgangs...<br />

127


Kapitel 7: Der Geist des Waldes<br />

Die Reise verlief ereignislos. Sie dauerte beinahe einen<br />

ganzen Tag lang. Es war schon spät, als die beiden im Licht<br />

der untergehenden Sonne auf einem Grasstreifen landeten.<br />

Ein Schwan wurde zu Dayla und ein weißer Rabe verwandelte<br />

sich zurück in Findus. Schockiert betrachteten sie die<br />

Landschaft. Der Grasstreifen war von dunklem Braun und<br />

schlüpfrig, etwa fünfzig Mannslängen breit. Er trennte den<br />

Sumpf vom Wald. Der Boden war matschig. Überall standen<br />

Pfützen mit schalem, übelriechendem Wasser. Dunstiger<br />

Himmel und ein trüber Schleier schien zwischen Land und<br />

Sonne zu liegen. Schlangen zischten giftig in schwarz-weißem<br />

Gekrissel, wanden sich und flüchteten vor den beiden. Kein<br />

schöner Platz zum Übernachten.<br />

Erschrocken sah Dayla den Forst an und flüsterte „Er ist<br />

so groß geworden - so mächtig...“ Ein Wald, dichter als jedes je<br />

zuvor gesehene Gehölz. Fremdartige Pflanzen wucherten.<br />

Äste starrten hervor wie Messerspitzen, wechselten sich mit<br />

kahlen, verwinkelt-verkrümmten Bäumen von bläulichschwärzlichem<br />

Holz ab. Dazwischen wogten Schwaden aus<br />

dunklem Dampf. Schleimig-feucht glänzende Blätter und<br />

riesige grellbunte, kelchartige Blüten mit Farben, welche dem<br />

Auge Schmerzen verursachten und welche Insekten und<br />

Vögel fingen - und fraßen! Das Unterholz ein einziger dunkler<br />

Schatten, in den hinein sich kein einziger Lichtstrahl verirrte<br />

- nacktes Grauen.<br />

Findus blickte zu seiner Gefährtin. „Was meinst du<br />

damit?“ „Ich kenne diesen Wald von früher her. Aber da war<br />

er viel kleiner. Es ist schon sehr lange her. Er wächst. Und<br />

wird stärker. Wie ein Geschwür.“ Findus spürte, was sie<br />

meinte. „Ja“ entgegnete er „der Wald ist böse. Durch und<br />

durch. Eine fremde dunkle Macht wohnt ihm inne. Ich kann<br />

sie sehen - grauschwarze Schlieren, die Farben fressen. Eine<br />

Macht, die nicht von dieser Welt ist - ein Dämon.“ Und Dayla<br />

fügte entsetzt hinzu: „Der Dämon entzieht dem magischen<br />

Geflecht die Kraft. Es ist wie ein unersättliches Loch. Früher<br />

war es noch nicht annähernd so schlimm, nicht ansatzweise<br />

128


so deutlich. Myrkviör ist ein alle Kraft aufsaugender<br />

Schwamm. Er fängt <strong>Norgast</strong>´s Seelen. Irgendwann wird er<br />

sich das ganze Land einverleibt haben.“<br />

Findus konnte ihr ansehen, wie schockiert sie war. „Wie<br />

sah denn nun eigentlich dein Plan in Bezug auf Baldur aus?“<br />

„Ich wollte, dass er durch den Wald reitet. Das der Wald ihn<br />

schwächt. Aber Baldur ist mit einem Dämon im Bunde. Und<br />

in diesem Wald wohnt auch ein Dämon; das zumindest ist<br />

nun deutlich. Ich wusste das vorher nicht. Zwei Dämonen<br />

- entweder sie bekämpfen sich gegenseitig oder aber sie<br />

machen gemeinsame Sache. Wir würden beides nicht<br />

überleben und auch <strong>Norgast</strong> würde beides nicht überstehen.<br />

Damit ist Baldur zweitrangig geworden.“ „Lass´ uns erstmal<br />

das Nachtlager aufschlagen“ meinte Findus „und morgen bei<br />

Tageslicht sehen wir weiter.“<br />

Das Aufschlagen des Nachtlagers war leichter gesagt als<br />

getan. Die beiden suchten lange, bevor sie ein hinreichend<br />

trockenes Stück Grasland fanden. Das Ziehen des magischen<br />

Schutzkreises, bestärkt durch ein Bestreuen mit Meersalz, ließ<br />

ihre Reserven an magischen Utensilien dramatisch<br />

dahinschmelzen. Doch der Kreis war nötig - diente er doch<br />

dazu, die Schlangen und die Bosheit des Waldes abzuhalten.<br />

Findus wollte ganz auf Nummer Sicher gehen und zeichnete<br />

mit den Worten „Vereint mit Erce, Thorn schütze uns!“ eine<br />

Schutzrune in die Luft. Die Rune glimmte aber nicht wie<br />

üblich auf, sondern verwehte still in einen violetten Dunst,<br />

während vom Wald herüber ein unangenehmes Zischen an<br />

ihre Ohren drang.<br />

Dayla hielt das für ein böses Omen. Nichts ging hier mit<br />

rechten Dingen zu. Sie versuchte beinahe vergeblich, ein<br />

Lagerfeuer zu entfachen, musste dazu aber letztlich doch auf<br />

ihre magischen Hexenkräfte zurück greifen. Doch weil das<br />

Holz nicht trocken war und Dayla befürchtete, mit ihren<br />

Kräften sparsam umgehen zu müssen, gab das Feuer nur<br />

wenig Wärme ab - dafür aber umso mehr an beißendem<br />

Qualm. Es würde wohl eine eher unruhige Nacht werden.<br />

Dayla und Findus sprachen kurz miteinander und entschieden<br />

sich, abwechselnd Wache zu halten. Und so streckte Findus<br />

sich zum Schlafen aus. Regelmäßige Atemzüge signalisierten<br />

Dayla, dass er Ruhe gefunden hatte. Sie aber starrte grübelnd<br />

129


in das Feuer. Doch nicht lange. Denn plötzlich veränderte<br />

sich der Rhythmus von Findus´ Atem! Alarmiert und mit<br />

einem Satz kauerte Dayla bei ihm. Selbst in dem schwachen<br />

Feuerschein war die wächserne Blaugraufärbung seines<br />

Gesichts unverkennbar. Auch seine Lippen wiesen einen<br />

bläulichen Schimmer auf. Er röchelte und rang nach Luft. Mit<br />

offenen, leblosen Augen starrte der Schlafende in den leeren<br />

Nachthimmel. Sein Körper zuckte konvulsivisch.<br />

Findus: „Es war seltsam. Ich schlief beinahe augenblicklich<br />

und auch genauso schnell stellte sich der Traum ein. Im<br />

Traum sah ich zahllose Punkte - nein, bei genauerem<br />

Hinsehen Köpfe. Graue Knochenschädel vor einem<br />

dunkelbraunroten Hintergrund. Darüber gleißendes weißes<br />

Licht. Ich glitt - flog - über die Schädel hinweg nach oben und<br />

in das Licht hinein. Badete förmlich darin, verlor jegliches<br />

Zeitgefühl. Irgendwann sah ich unter mir meinen Körper<br />

liegen und sich in Zuckungen winden. Dayla kniete daneben<br />

und führte nur undeutlich erkennbare, hastige Bewegungen<br />

aus. Mir war es egal. Mir war auch der Körper - mein Körper!<br />

- völlig gleichgültig. Ich brauchte ihn nicht mehr, flog<br />

euphorisch immer höher ins Licht. Unerwartet drehte sich<br />

von rechts unten eine schwarze Scheibe in mein Gesichtsfeld<br />

- schwärzer noch als die schwärzeste Nacht. Wie ein Loch.<br />

Und dieses Loch saugte nicht nur das Licht und die Schädel<br />

in sich auf - nein, auch ich flog mit gelähmtem Willen immer<br />

schneller darauf zu. Es saugte die Lebenskraft aus mir heraus.<br />

Doch plötzlich veranlasste mich ein inneres Gefühl, mich<br />

umzudrehen. Und ich erblickte in der anderen Richtung einen<br />

freundlich und lebensbejahend schimmernden Regenbogen.<br />

Unter ihm stand Dayla. Sie streckte mir die Hand entgegen.<br />

Ich versuchte, diese Hand zu ergreifen, mich festzuhalten,<br />

doch vergeblich. Je mehr ich mich anstrengte, desto<br />

schwächer wurde ich. Verloren! Auf einmal wuchs Dayla über<br />

sich hinaus, ergriff mich und zog mich zurück. Die<br />

Dunkelheit zerriss. Zurück in Sicherheit!“<br />

Dayla: „Findus wurde im Schlaf von einem<br />

heimtückischen magischen Angriff überrascht. Ich erkannte<br />

die Symptome sofort. Er war auf einer unkontrollierten<br />

Astralreise und sein Geist hatte den Körper verlassen. Mehr<br />

als fraglich, ob sie je wieder würden zusammenfinden können.<br />

130


Ich handelte so schnell ich konnte, bot alles auf, was ich hatte.<br />

‚Kaunan, nimm´ Dich seiner an und weise ihm mit Deinem<br />

Licht den Weg! Sowelo, vertreibe die Dunkelheit und hilf´<br />

ihm damit! Teiwaz, gib´ ihm die Kraft, das durchzustehen!<br />

Algiz, schütze dieses Leben! Dagaz, lass´ ihn den Tag erleben!<br />

Ihwaz, erinnere Dich seiner und schenke ihm Langlebigkeit!‘<br />

Zu jedem Spruch entnahm ich meinem Ranzen hastig eine<br />

der aufgeladenen Runen, zeichnete damit das zugehörige<br />

Symbol über Findus´ Körper und legte die Runen auf seine<br />

Brust. Zuletzt zog ich Gnarp aus der Scheide, legte es über<br />

die Runen und zog Findus´ Alraunen-Eiben-Topas-Anhänger<br />

über Gnarp. Erst alles zusammen gab mir die Kraft, ihn<br />

geistig zu erreichen - und zu seinem Anker zu werden. Er<br />

hatte schon beinahe das Reich des Dämons erreicht. Jetzt<br />

aber kehrte Findus zurück. Ich war heilfroh, denn ich hatte<br />

nicht nur die Kampfmagie abwehren können, sondern ihm<br />

dadurch auch noch das Leben gerettet.“<br />

Findus erwachte kurz, schaute sich einen Moment lang<br />

desorientiert um und erblickte die neben ihm hockende<br />

Dayla. „Danke!“ sagte er nur noch, dann schlossen sich seine<br />

Augen. Der Kopf rollte zur Seite und er fiel in einen tiefen<br />

Schlaf. Diesmal ungestört. Dayla wachte über ihn. Im frühen<br />

Morgengrauen - Dayla konnte kaum selbst noch die Augen<br />

offen halten - erwachte Findus. Er legte ihr die Hand auf die<br />

Schulter. „Schlaf´ du jetzt“ waren seine Worte „denn morgen<br />

müssen wir ausgeruht sein.“ Seufzend nickte Dayla. Er hatte<br />

Recht und hundemüde war sie auch. Sie legte sich hin.<br />

Findus ließ sie bis weit in den Vormittag hinein schlafen.<br />

Als Dayla die Augen öffnete, erblickte sie einen neuen, trüben<br />

Tag. Kein aufmunternder Anblick. Kurze Zeit später saß sie<br />

mit Findus zusammen. Sie sprachen über den magischen<br />

Angriff in der vergangenen Nacht. „Weißt du, das kam<br />

einfach zu überraschend“ erläuterte Findus. „Ich habe diesen<br />

Dämon direkt vor mir sehen können. Er zeigt sich als alles<br />

verschlingendes schwarzes Loch. Und die Schädel - das<br />

können doch eigentlich nur die Geister von den Toten sein,<br />

die ursprünglich mal im Wald umgekommen sind.“ „Und was<br />

tun wir jetzt?“ „Es ist Tag. Das ist günstig für uns. Ich glaube,<br />

dass ich diesen Dämon unter bestimmten Umständen in seine<br />

131


Unterwelt zurück verbannen kann.“ „Wie willst du das<br />

anstellen?“<br />

Versonnen blickte Findus zum Wald hinüber. „Nicht ich,<br />

sondern wir beide“ korrigierte er sanft und sah ihr fest in die<br />

Augen: „Allein kann ich das unmöglich schaffen. Deine<br />

Künste sind absolut unverzichtbar. Ein Risiko gibt es dabei<br />

natürlich. Wenn wir versagen, dann verschlingt uns der<br />

Dämon.“ „Und wenn wir nichts tun, dann verschlingt er über<br />

kurz oder lang ganz <strong>Norgast</strong> und uns beide gleich mit“<br />

ergänzte die Hexe bitter. Eine vertrackte Situation! Findus<br />

unterbreitete ihr daraufhin seinen Vorschlag: „Ich habe die<br />

Kraft, dieses Loch im magischen Geflecht zu schließen. Doch<br />

ohne einen Anker nützt mir das gar nichts. Da verliere ich<br />

mich im Nichts. Du hast die Kraft, mein Anker zu sein. Nur<br />

du kannst mich von der Astralebene wieder zurück holen.<br />

Das hast du letzte Nacht eindringlich bewiesen.“<br />

„Sprich´ weiter“ forderte Dayla ihn auf und Findus fuhr<br />

fort: „Wir bereiten uns intensiv auf die Begegnung vor. Durch<br />

eine meditative Übung hier im Schutzkreis. Wir haben<br />

abnehmenden Mond. Das ist günstig für jede Art von<br />

Bannzauber - und wir wollen den Dämon ja bannen.<br />

Verbannen. Die Übung wird uns mit magischer Energie<br />

aufladen. Gegen Ende der Übung verlasse ich meinen Körper<br />

und stelle mich dem Dämon. Es wird deine Aufgabe sein,<br />

über mich zu wachen und mir den Weg zu weisen.“ „Du<br />

solltest deinen Anhänger in die eine und Gnarp in die andere<br />

Hand nehmen. Das gibt dir noch mehr Kraft.“ „Gute Idee“<br />

erwiderte Findus. „Aber“ warf Dayla ein „dann sind da immer<br />

noch die Geister der Toten. Selbst wenn es dir gelingt, den<br />

Dämon aus dieser Welt zu verjagen, dann bleiben die Toten<br />

hier. Mit dir verbunden. Sie können dir durchaus zu Diensten<br />

sein. Aber glaub´ mir - schön ist das nicht. Auf die Dauer<br />

wird es dich verrückt machen. Die Macht über die Toten ist<br />

eine furchtbare Waffe.“<br />

Versonnen vor sich hinblickend murmelte Findus „Bring´<br />

mir den Geist des Waldes...“ Er sah auf. „Ich könnte sie doch<br />

auch freigeben, so dass sie ins Totenreich eingehen dürfen“<br />

entgegnete Findus. „So einfach ist das nicht“ antwortete<br />

Dayla „denn es muss ein Übergang zum Totenreich da sein.<br />

Und den spüre ich hier nicht.“ Schweigen. Beide überlegten.<br />

132


„Hier nicht“ sprach Findus auf einmal „aber ich kenne so<br />

einen Ort. Jetzt passt auch alles zusammen. Wir machen<br />

Folgendes...“ Detailliert erklärte er ihr seinen Plan. Das würde<br />

schwierig werden, aber es war grundsätzlich machbar. Auch<br />

das ‚Baldur‘-Problem ließe sich dadurch auf ganz einfache<br />

Weise lösen...<br />

„Lass´ uns beginnen“ forderte Findus seine Gefährtin auf<br />

und fragte „Was nehmen wir?“ „Ich habe einen Mondstein<br />

bei mir.“ „Energie und Aktivität - gut!“ Dayla entnahm ihrem<br />

Ranzen den Stein und legte ihn in die Mitte des Schutzkreises.<br />

Aus Sumpfmoos - dem Symbol für freie und ungebundene<br />

Stärke - richtete Findus zwei Sitzmulden her. Dayla setzte sich<br />

vor den Stein, Findus sich ihr gegenüber. Sie reichten sich die<br />

Hände, hielten zusammen Gnarp und den Anhänger fest und<br />

versenkten den Geist in die so herrlich bunte Welt der<br />

anderen Wahrnehmung. Da war das Rauschen des<br />

Luftelementes, eine verwirbelnd-fraktale Struktur in<br />

Dunkelgrau bildend. Der blaugrünliche Geruch eines vom<br />

Sumpf herüberwehenden Dunststreifens. Das creme-silberne,<br />

rehbraun-durchwachsene und wie ineinander verschlungene<br />

Tropfsteine aussehende Quarren und Quaken der Frösche<br />

und Kröten. Dazwischen immer wieder das scheinbar<br />

allgegenwärtige schwarz-weiße Gekrissel vom Zischen der<br />

Schlangen. Halbrund-pastellfarben bunte Farbtupfer: die Rufe<br />

der Vögel außerhalb des verwunschenen Waldes. Beide<br />

konzentrierten sich auf diese Form der Wahrnehmung und<br />

betrachteten dabei den Stein. Erlangten das Wissen um seine<br />

Form. Das Wissen um die Form führte zum Wissen um die<br />

Formgebung. Das Wissen um die Formgebung führte zum<br />

Wissen um die Herkunft. Das Wissen um die Herkunft ließ<br />

sie teilhaben an der Urgewalt der Welt...<br />

Findus und Dayla öffneten gleichzeitig die Augen.<br />

„Bereit?“ fragte Findus. „Ja“ antwortete die Hagia. Dayla<br />

entnahm ihrem Ranzen die Algiz-Rune und legte sie in die<br />

Kreismitte. Zusammen mit Findus intonierte sie den Gesang<br />

„Algiz schütze uns vor dem Dämon des Myrkviör. Algiz leite<br />

unseren Weg. Algiz verleihe uns die Macht, den Dämon zu<br />

vertreiben.“ Findus schloss die Augen wieder und trennte<br />

seinen Geist vom Körper. Es war für ihn zunächst das gleiche<br />

Gefühl wie in einem dieser seltsamen luziden Träume, in<br />

133


denen man seinen Körper verlässt und über die Welt fliegen<br />

kann. Findus Geist stieg höher und höher - ins Licht.<br />

Währenddessen sang Dayla mit glockenheller Stimme ihre<br />

Zaubersprüche: „Erce, Erdgöttin und Friedensfürstin,<br />

schenke diesem Land Deine Gunst. Gib´ uns goldene Kraft<br />

um das zu vertreiben, was hier nicht hergehört. Thorn, wir<br />

bitten Dich um Deinen Schutz...“ Ihr Gesang schwang<br />

irgendwo im hintersten Winkel von Findus´ Geist mit - ein<br />

Spinnweb-artig verwobenes Silbergebilde mit golden<br />

funkelnden Tautropfen darauf, Orientierung und Kraftquelle<br />

zugleich. Ein Regenbogen manifestierte sich in diesem<br />

zeitlosen Kontinuum aus Licht und Findus steuerte auf<br />

dessen höchsten Punkt zu.<br />

Jetzt sah er auch den Dämon wieder - eine abstoßend<br />

schwarze Scheibe, genau wie letzte Nacht. Geleitet durch<br />

Daylas Gesangsmuster steuerte Findus jetzt den gesamten<br />

Regenbogen auf die schwarze Scheibe zu. „Was du gewesen,<br />

sei vergessen. Geh´ zurück dorthin, von wo du gekommen<br />

bist“ beschwor er das fremde Etwas und formte den<br />

Regenbogen zu einem Kreis, welcher die hässliche schwarze<br />

Scheibe einschloss. Nur noch ein unendlich dünn<br />

auslaufender Trichterstiel, stabilisiert durch Dayla´s<br />

Gesangsspinnweben, verband ihn und den Kreis aus<br />

materialisiertem Licht mit seiner Welt - mit <strong>Norgast</strong>. Der<br />

namenlose Dämon geriet in Bedrängnis, wollte den ihn<br />

umschließenden bunten Lichtkreis abschütteln. Das Schwarz<br />

begann sich zu drehen und in das Blau des<br />

Regenbogenkreises hinein zu fressen. Dann in das Grün und<br />

in das Gelb. Findus rief im Gegenzug Berkana, Raido und<br />

Laguz an. Die Kraft dieser Runen ließ das Rot und Violett des<br />

Kreises anschwellen und verdrängte das Schwarz aus dem<br />

Gelb. Der Dämon drehte sich schneller und schneller. Die<br />

Ränder der dämonischen Scheibe bröckelten und mit jedem<br />

Stück, das sich löste, gewann die Regenbogenscheibe an<br />

Größe und Leuchtkraft zurück, transformierte seine Energie,<br />

bis sie sich schließlich ähnlich einer Irisblende über dem<br />

verblassenden Schwarz schloss.<br />

Jetzt verblassten auch die Regenbogenfarben und Findus´<br />

Geist schwebte zurück in seinen Körper. Zurück blieb<br />

anstelle des Dämons eine Art von grauem Neutrum. Ein Ort,<br />

134


der zwar Bestandteil von <strong>Norgast</strong> war, an dem es aber kein<br />

magisches Geflecht und damit auch keine Magie mehr gab<br />

- wie ein Narbengewebe. Findus kannte diese Art von<br />

Gewebe schon von der Anderswelt her... Der ganze magische<br />

Kampf schien nur wenig Zeit beansprucht zu haben, doch er<br />

hatte Findus richtiggehend ausgelaugt. Der öffnete jetzt die<br />

Augen und erblickte Dayla. Sah hoch zur Sonne. Die aber<br />

stand schon tief. Für Dayla musste der Kampf endlos lange<br />

gedauert haben. Ängstlich sah sie ihn an. „Geschafft?“ war<br />

ihre bange Frage. „Geschafft ja, aber noch nicht fertig“<br />

erwiderte Findus erschöpft. „Da sind noch die Seelen der<br />

Toten“ erläuterte er.<br />

Findus schloss die Augen erneut und versetzte sich in den<br />

unwirklich-meditativen Zustand zwischen Wachen und<br />

Traum - eine der ersten Übungen, die er von der Bônday<br />

gelernt hatte. Im Wachtraum - einem von ihm bewusst<br />

beeinflussbaren Traum - ließ er seinen Geist ähnlich einem<br />

Netz durch den Wald driften und fing die zuvor vom Dämon<br />

festgehaltenen Bewusstseinssplitter der Toten ein. Verbittertverängstigte<br />

und jetzt orientierungslose Geister, kaum noch<br />

klarer Gedanken fähig. Nicht länger an das magische Geflecht<br />

gebunden waberten diese Seelen ziellos herum. Nachdem sie<br />

von ihm eingesammelt worden waren, erlangte Findus den<br />

Wachzustand zurück. Laut befahl er „Geister der Toten<br />

- sprecht zu mir!“ Die Antwort war eine dumpf klingende und<br />

von überall her kommend scheinende Stimme: „Ich bin der<br />

Geist der Toten. Du bist mein Herr. Verfüge über mich!“<br />

Findus lächelte jetzt. „Was ist dein sehnlichster Wunsch?“<br />

„Gib´ uns frei, auf dass wir endlich in das Reich der Toten<br />

einkehren können. Weise uns den Weg dorthin.“ „Bald. Ich<br />

verspreche es. Doch zuvor habe ich eine Aufgabe für dich.<br />

Wir erwarten Besuch“ sagte er „sechs Reiter. Verwirrt sie,<br />

wenn sie im Wald sind. Versucht sie aufzuhalten.“ Versonnen<br />

blickten er und Dayla zum Wald hinüber. Der Hauch des<br />

Bösen war von dort verschwunden. Endgültig. Aber irgend<br />

etwas tat sich da - nur was, das hätte keiner von ihnen zu<br />

sagen vermocht. Myrkviör war zwar ein Teil von <strong>Norgast</strong>,<br />

aber aufgrund des fehlenden magischen Geflechts irgendwie<br />

auch wieder nicht. Was würde aus den dortigen Bäumen und<br />

135


Pflanzen werden? Was würde sich dort neu ansiedeln - oder<br />

überhaupt ansiedeln können?<br />

Einige Zeit vorher. Sechs Reiter auf dem Weg stromaufwärts<br />

am Wilderfrio entlang. Ytarre, Söldner. Weder Tod noch<br />

Teufel fürchtend und nie nach dem Grund für einen Befehl<br />

fragend. Joritu, Söldner. Narbig, kampferprobt und bösartig.<br />

Talieste, Söldner. Ein gefühlloser Schlächter, der sich an den<br />

Qualen seiner Opfer weidete. Charlos, Söldner. Das Einzige,<br />

was er fürchtete, waren böse Geister, mieses Essen und<br />

schlechter Sold. Neville, Kommandeur der Truppe. Ein<br />

Spion. Baldur, der Herrscher. Anführer. Kurz nachdem die<br />

Sonne den Zenit eben überquert hatte, zügelte Baldur sein<br />

Pferd und blieb stehen. Er hob die Hand und bedeutete den<br />

anderen damit, still zu sein.<br />

Baldur horchte in sich hinein, wie ein witternder Wolf. Er<br />

spürte etwas. Er spürte die Spur, nach der sie suchten. Er<br />

spürte sein Opfer. Etwas Großes geschah da. Etwas, das im<br />

magischen Geflecht nicht bloß ein Rumoren oder Vibrieren<br />

hervorrief. Nein, etwas viel Größeres, was das magische<br />

Geflecht wie ein Erdbeben durchschüttelte. Um was immer<br />

es sich dabei auch handeln mochte - genau das war es! Nun<br />

konnte er ihm nicht mehr entkommen! Höchstens einen<br />

Tagesritt von hier, exakt in westlicher Richtung! Baldur wies<br />

den anderen den Weg, rief „Hüa!“ und gab seinem Pferd die<br />

Sporen. Ihr scharfer Ritt durch den Auwald dauerte bis zum<br />

Abend. Sie erreichten einen lichten Streifen, wo Baldur sie das<br />

Nachtlager aufschlagen und rasten ließ. Morgen - morgen<br />

würde er einen Konkurrenten weniger haben...<br />

Der nächste Tag. Schon früh brachen die Sechs auf.<br />

Baldur kannte nur ein Ziel - die Vernichtung seines<br />

Widersachers! Kein Blick nach rechts oder links. Auch nicht<br />

auf die überaus seltsamen Gewächse des Waldes. So entging<br />

ihnen allen die von den fleischfressenden Pflanzen<br />

ausgehende Gefahr. Da es keinen Pfad durch den Myrkviör<br />

gab, mussten sie absitzen und sich ihren Weg zu Fuß bahnen.<br />

Als Ersten erwischte es Talieste. Er stolperte über eine<br />

Wurzel und fiel hin. Ytarre war Zeuge des Sturzes und hätte<br />

136


eschwören können, dass die Wurzel seinen Kumpan<br />

absichtlich zu Fall brachte. Wie auch immer - kaum, dass<br />

Talieste auf dem Boden lag, schoss ein Baum scharfe, spitze<br />

Dornen auf ihn ab. Der sonst so gefühllose Söldner schrie,<br />

machte etwas von dem durch, was sonst nur seine Opfer zu<br />

spüren bekamen. Ranken schossen aus dem Wald hervor und<br />

umwickelten ihn, zogen den schweren Mann zu einem der<br />

riesigen Blütenkelche. Letzterer stülpte sich über Talieste und<br />

schloss sich mit einem unangenehm-fleischigen Schmatzen.<br />

Talieste´s Schreie waren nur noch gedämpft zu hören - doch<br />

sie hatten nichts Menschliches mehr an sich.<br />

Joritu war der Nächste. Der Waldboden gab unter ihm<br />

nach und er stürzte in eine gar nicht mal so tiefe Grube. Doch<br />

bevor er sich daraus befreien konnte, wimmelte es nur so von<br />

Abermillionen an Ameisen, Spinnen und Käfern. Sie<br />

zerfetzten den unbeugsamen Mann bei lebendigem Leib.<br />

Längere Zeit geschah dann nichts mehr und die vier noch<br />

verbliebenen Personen kämpften sich durch den unwegsamen<br />

Forst, wiegten sich in falscher Sicherheit. Denn plötzlich<br />

waren die Seelen der Toten da. Von Grauen geschüttelt<br />

rannte Charlos blindlings los, ins Unterholz hinein. Prallte<br />

gegen einen Baumstamm, stürzte und brach sich dabei das<br />

Genick. Die Toten jubelten. Mit jedem verlöschenden Leben<br />

wurden es ihrer mehr. Ytarre war der Letzte. Sein Schicksal<br />

entschied sich, als ein aufgebrachter Eber ihren Weg kreuzte.<br />

Die von dem wilden Tier ausgehende Gefahr unterschätzend<br />

wollte Ytarre es mit dem Schwert abschlachten. Doch die<br />

Hauer des Tieres mit den vierundvierzig scharfen Zähnen<br />

waren schneller...<br />

Baldur hatte keine Möglichkeit, seine Männer zu schützen.<br />

Seine Magie versagte in diesem Wald, stand einfach nicht zur<br />

Verfügung. Es gab hier keine Magie! Er war außer sich vor<br />

Wut. Macht war seiner Meinung nach dazu da, genossen und<br />

zum eigenen Wohl angewandt zu werden. Und hier hatte er<br />

keine Macht! Ein ihm völlig unbegreiflicher, ungewohnter<br />

Zustand. Gnadenlos trieb er Neville an, ohne zu bemerken,<br />

dass der überfordert wurde. „Alles Versager!“ fluchte Baldur<br />

und gab noch zahllose weitere beleidigende Äußerungen von<br />

sich. Seine Laune war auf dem absoluten Tiefstpunkt<br />

angekommen. Er brauchte unbedingt jemanden zum<br />

137


Abreagieren! Er schikanierte seinen Begleiter, kritisierte wild<br />

drauflos, ohne konkret zu werden. Neville musste sich<br />

Diskreditierungen und Unterstellungen gefallen lassen. Doch<br />

da vorn wurde es heller. Baldur spannte seine Armbrust,<br />

machte sie schussbereit. Neville – nun ob Baldur´s<br />

schmählicher Behandlung gleichfalls wütend - zog seine<br />

Doppelaxt. So erreichten beide den Rand des Waldes. Auf der<br />

Lichtung standen Findus und Dayla.<br />

Aus den Reaktionen der Toten war es Findus möglich<br />

gewesen zu ermitteln, mit wie vielen Gegnern sie es noch zu<br />

tun hatten. Zwei gegen Zwei. Rein zahlenmäßig ein<br />

ausgeglichenes Verhältnis. Und doch auch wieder nicht. Denn<br />

Findus und Dayla standen auf dem Grasstreifen. Sie konnten<br />

auf ihre magischen Fähigkeiten zurück greifen. Für die im<br />

Myrkviör befindlichen Angreifer stand diese Option nicht zur<br />

Verfügung. Ruhig und mit Gnarp in Hand stand Findus im<br />

Gras. Ebenso ruhig und gefestigt im Wissen um ihre Macht<br />

wartete Dayla neben ihm, nur bewaffnet mit einem Ritualstab<br />

aus Eibenholz.<br />

Als Baldur und Neville die beiden erblickten, griffen sie<br />

sofort und erbarmungslos mit aller Härte an. Neville warf<br />

seine Axt auf Dayla. Die aber zeichnete - zu schnell, um den<br />

Bewegungen mit dem Auge folgen zu können - mittels des<br />

Ritualstabes eine Algiz-Rune in die Luft. Blendend goldenes<br />

Licht ging von der Rune aus: Der Axtstiel verbrannte noch im<br />

Flug und die Schneide schmolz. Es zischte laut, als das<br />

flüssige Eisen auf das nasse Gras tropfte. Baldur hingegen<br />

feuerte gleichzeitig seine Armbrust auf Findus ab. Geisterhaft<br />

schnell zuckte dessen Hand mit Gnarp darin vor und die<br />

Schneide des magischen Schwertes lenkte den tödlichen<br />

Bolzen seitlich in den Boden.<br />

Mit lauten Schreien, die Schwerter den Scheiden entrissen,<br />

stürmten Neville und Baldur jetzt vor. Dayla belegte Neville<br />

in kurzer Folge mit Zeitzaubern, die den Spion immer für<br />

kurze Momente in der Bewegung einfrieren ließen. Als Folge<br />

davon strauchelte er, verlor das Gleichgewicht und fiel. Fiel<br />

zwischen die Schlangen. Als er sich wieder erhob, waren seine<br />

138


Augäpfel derart verdreht, dass man nur noch das Weiße darin<br />

sehen konnte. Eine schwarze Schlange hatte sich in seinem<br />

Nacken festgebissen. Eine Kupferfarbene wand sich um<br />

seinen Hals und biss ihn eben ins Gesicht. Die langen<br />

Giftzähne mit den daraus hervorperlenden, kleinen<br />

blassgelben Tropfen funkelten in der Sonne. Eine Grauweiße<br />

hing, die Giftzähne noch in seiner Haut verhakt, von seiner<br />

Hand herunter. Neville röchelte und fiel. Regte sich nicht<br />

mehr - tot!<br />

Baldur hingegen stürmte wie ein Unwetter und vor<br />

unbändiger Wut laut brüllend auf Findus zu. Schwerter<br />

kreuzten sich, blitzend wirbelnde Klingen im Sonnenlicht.<br />

Baldur´s Schwert stieß plötzlich aus der Hüfte vor. Wurde<br />

von Gnarp abgelenkt. Stoß-Parade-Gegenstoß. Die Kämpfer<br />

schenkten sich nichts, verzichteten aber auf den Einsatz von<br />

Magie. Baldur, weil er sich ohnehin für den Stärkeren hielt<br />

und Findus, weil ihm das nur ein allerletztes Machtmittel sein<br />

sollte. Keuchend umkreisten sie einander. Der Kampf legte<br />

eine kurze Atempause ein. Plötzlich Finte, Ausfall und<br />

erneute Parade. Angriff. Wirbelnder Stahl und Funken der<br />

furios aufeinander treffenden Klingen. Findus war von den<br />

Zwergen sehr gut ausgebildet worden. Er drängte Baldur<br />

zurück. Zurück in den Myrkviör. Kaum aber hatte Baldur<br />

einen ersten Schritt rückwärts in den seltsamen Wald hinein<br />

getan, da stolperte er über eine merkwürdig verdrehte Wurzel.<br />

Oben am Baum brach ein Ast ab und fiel herunter, traf<br />

Baldur am Kopf. Der blieb bewusstlos liegen. Der Kampf<br />

zwischen dem Herrscher und seinem Opfer war vorbei.<br />

Ein Stöhnen, Raunen und Wispern ringsum. Die Geister<br />

der Toten versammelten sich, wollten die Seele des<br />

Herrschers. „Nein, lasst ihn“ wies Findus sie zurück. Erstaunt<br />

blickte Dayla ihn an: „Aber warum?“ „Ich höre die Stimme<br />

seines Blutes“ flüsterte Findus kaum hörbar. Er sah seine<br />

Gefährtin und Geliebte aus tränennassen Augen an. „Spürst<br />

du es denn nicht? Er... ist... mein... Bruder!“ Die Stimme<br />

versagte ihm. Dayla schaute perplex auf den Bewusstlosen<br />

hinab. Trocken und pragmatisch denkend bemerkte sie:<br />

„Dann nenn´ wenigstens seinen richtigen Namen, um ihn an<br />

Dich zu binden! Damit er kein Unheil mehr anrichten kann.“<br />

„Nein, er soll seine Chance bekommen. Seine Letzte. Als<br />

139


Blutsverwandter bin ich ihm dazu verpflichtet.“ Aus dem<br />

Augenwinkel heraus bemerkte Findus eine sich nähernde<br />

Schlange. „Zurück“ wies er sie an und das Tier gehorchte<br />

augenblicklich. „Komm´, hilf´ mir, ihn in den Schutzkreis zu<br />

tragen.“ Dayla fasste mit an und sie schleppten Baldur zu<br />

zweit in den magischen Kreis hinein. Vorsichtshalber<br />

erneuerte Findus den Kreis sogar noch. „Er mag hier liegen<br />

bleiben, bis er aufwacht“ sprach der Sieger „und dann tun,<br />

was ihm beliebt. Wenn er einsichtig ist, dann weiß er, was<br />

getan werden muß. Wenn nicht...“ Findus ließ den Rest des<br />

Satzes offen und schwieg vielsagend.<br />

Ernst blickte er Dayla in die Augen. „Sag´ - wenn die<br />

Bônday von dem Dämon im Myrkviör gewusst hätte, hätte sie<br />

Dir dann davon erzählt?“ „Mit Sicherheit“ erwiderte Dayla.<br />

„Und du warst völlig überrascht. Dann hat sie davon nicht<br />

gewusst. Dann konnte sie auch das mit den Seelen der Toten<br />

nicht wissen und ihre Befreiung war nicht meine zweite<br />

Prüfung“ folgerte Findus. „Das dürfte richtig sein“ meinte<br />

Dayla und setzte hinzu „Was hast du jetzt vor?“ „Unsere<br />

Wege trennen sich vorerst. Die Bônday muss informiert<br />

werden. Mach´ du das. Ich werde den Balumer Wald<br />

aufsuchen und die Seelen der Toten dort freigeben. Danach<br />

mache ich mich auf die Suche nach dem Geist des Waldes<br />

und nach dem Stein des Lebens. Allein. Wenn ich beides<br />

gefunden habe, dann kehre ich zur ‚namenlosen Insel‘ zurück.<br />

Warte dort auf mich. Die Bônday sollte sich auf diesen Tag<br />

gut vorbereiten. Sie wird mir nämlich helfen müssen, etwas<br />

über meine Herkunft zu erfahren. Die letzten Rätsel aus<br />

meiner Vergangenheit müssen gelöst werden. Unbedingt!“<br />

Dayla nickte - ja, was er sagte, das war alles logisch und<br />

nachvollziehbar. Es war der beste Weg. Sie küssten und<br />

umarmten sich zum Abschied. Dayla verwandelte sich wieder<br />

in den weißen Schwan und flog nach Westen davon - in<br />

Richtung Tiedsiepe.<br />

Findus schaute zum Wald hinüber. Es gab da eine<br />

Verbindung... - eine Drachenlinie! Ein vom magischen<br />

Geflecht selbst zur Verfügung gestellter Pfad in einer<br />

140


unwirklichen Zwischenwelt. Ein Pfad, quer durch alle<br />

Landschaften, Lebewesen und Gebäude. Ein zeitloser Pfad.<br />

Wer den Eingang zu diesem auch als Ley-Linie bezeichneten<br />

Weg fand, der konnte riesige Entfernungen praktisch in<br />

Nullzeit zurück legen. Allerdings offenbarten sich derartige<br />

Eingänge nur den allerwenigsten Menschen. Vielleicht<br />

manchmal den Menschen, die fähig waren, die Welt mit den<br />

Augen der Tiere zu sehen und die Gedanken der Tiere zu<br />

verstehen. Es bedurfte zum Auffinden schon einer<br />

besonderen, sehr seltenen Sensibilität, gepaart mit großer<br />

innerer Stärke. Nur Menschen, die über diese Eigenschaften<br />

verfügten, vermochten das flüchtige Flirren der Luft oder das<br />

seltsame Ziehen beim Reisen zu bemerken, welches vom<br />

Münden einer Ley-Linie kündete. Baldur konnte es nicht.<br />

Dayla auch nicht – oder nur noch nicht?<br />

Findus lächelte. Ja - genau da drüben flirrte die Luft.<br />

Kaum wahrnehmbar, wie eine Wärmeschliere und nur allzu<br />

leicht zu übersehen. Dort befand sich ein Ort, an dem der<br />

Wechsel von <strong>Norgast</strong> auf eine der Kraftlinien des magischen<br />

Geflechts möglich war. Findus trat darauf zu. Er verspürte im<br />

Kopf ein schwaches Ziehen, gerade so, als streife ein<br />

schwacher Wind an seiner Wange vorbei - nur eben Innen.<br />

Findus schloss die Augen und ließ den Ort auf sich wirken.<br />

Sah wieder das graue Narbengewebe Myrkviörs. Sah eine<br />

vernarbte und bis zum Balumer Wald reichende, hauchdünne,<br />

gleichfalls grau-vernarbte Linie. Daneben aber, breit und<br />

einladend, lag die Drachenlinie nass-kupfern schimmernd<br />

genau vor ihm. Er öffnete die Augen wieder. „Geist der<br />

Toten, sprich´ zu mir“ befahl er. „Ich höre dich, Herr“<br />

ertönte es von überall her. „Ihr Toten habt mir im Kampf<br />

gegen den Herrscher geholfen“ äußerte Findus „und dafür<br />

gebührt euch mein Dank. Sammelt euch. Ich führe euch zu<br />

einem Ort, an dem ihr freigegeben werdet. Dort sollt ihr in<br />

das Totenreich eingehen und eure ewige Ruhe finden.“ „Herr,<br />

wir hören dich und wir danken dir. Wir folgen“ erscholl es<br />

zur Antwort. Er schloss die Augen erneut und konzentrierte<br />

sich auf die Ley. Findus durchschritt - den Pulk der Toten im<br />

Gefolge - die magische Grenze.<br />

141


Baldur erwachte. Er war allein. Keine Überlebenden bei<br />

seinen Männern. Das kam seiner Einstellung gleichzeitig aber<br />

auch sehr entgegen, denn nur so konnte niemand von seiner<br />

Niederlage berichten. Die Niederlage - etwas in dieser Art war<br />

ihm noch nie zuvor passiert. Und dann auch noch gegen so<br />

einen Niemand! Das alles kratzte an seinem<br />

Selbstbewusstsein. Gewaltig sogar. Er war unterlegen - und<br />

kein Mensch durfte je davon erfahren. Aber was jetzt? Baldur<br />

stellte fest, dass er in einem magischen Kreis lag. Gut. Die<br />

Magie funktionierte also wieder. Scheu blickte er zu dem<br />

seltsamen Wald hinüber. Ein mögliches Rückzugsgebiet, für<br />

den Fall, dass der Shâgun ihn angriff. Denn wo keine Magie<br />

existierte, da konnte auch ein Dämon nichts ausrichten. Aber<br />

nur die allerletzte Möglichkeit des Rückzuges, denn ein Ort<br />

zum Leben war dieser Wald ganz gewiss nicht. Dann schon<br />

eher zum Sterben...<br />

Doch wie sollte es nun weitergehen? Baldur dachte nach<br />

und besann sich auf genau das, was er am Besten beherrschte:<br />

Intrigen durch Lug und Trug zu sähen, dabei aber selbst<br />

immer als das Sinnbild der Gerechtigkeit, als der Inbegriff des<br />

Guten dastehend. Hinterlist und <strong>Heim</strong>tücke - seine liebsten<br />

Waffen, die er auch einzusetzen gedachte. Die Verfolgungen<br />

mussten sofort eingestellt werden. Das brachte jetzt ohnehin<br />

nichts mehr. Er würde die Männer ganz bewusst opfern und<br />

es so darstellen, als wären das Rebellen gewesen. Rebellen, die<br />

seine Gutartigkeit ausnutzten, um ihm ihre Untaten in die<br />

Schuhe zu schieben.<br />

Ja, so müsste es funktionieren. Dazu noch die<br />

entsprechenden Falschinformationen unter die Bevölkerung<br />

bringen - das konnte das Syndikat der Kaufleute erledigen.<br />

Baldur würde sich selbst als den strahlenden Helden<br />

präsentieren, dem es nur unter Einsatz seines eigenen Lebens<br />

gelungen war, die Köpfe der Rebellion auszuschalten. Das<br />

hörte sich schlüssig an. Und die Leute glaubten alles, wenn<br />

man es ihnen nur oft und laut genug von offizieller Seite<br />

sagte. Sogar das Gegenteil von dem, was sie selbst erfahren<br />

hatten. Das war schon immer so gewesen und würde wohl<br />

auch bis an das Ende aller Ewigkeit so bleiben.<br />

142


Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, erhob sich<br />

Baldur. Er legte seine Kleidung ab und wechselte die Gestalt.<br />

Wurde zur Krähe und flog zurück nach Helgenor. Nicht lange<br />

Zeit danach hörten die Verfolgungen auf. Viele der Häscher<br />

wurden auf sein Geheiß hin hingerichtet. Die Kaufleute<br />

berichteten den Menschen von einer fehlgeschlagenen<br />

Rebellion, doch sei jetzt wieder Frieden im Land. Aber was<br />

für ein Frieden...<br />

Eine Art von Lähmung hatte <strong>Norgast</strong> ergriffen. Jeder<br />

versuchte nur noch, für sich ganz allein zu überleben. Keine<br />

Nachbarn halfen sich mehr. Der Frieden war auf Angst und<br />

Misstrauen gegründet worden. Jeder gegen jeden, auf das<br />

Recht des Stärkeren pochend. Kritische Stimmen<br />

verstummten für immer, weil ihre Besitzer plötzlich auf<br />

klammheimliche und mitunter höchst seltsame Weise<br />

verschwanden. Querdenker wurden verlacht, aus den Städten<br />

geprügelt oder gleich erschlagen. Und insgeheim formierte<br />

Baldur eine neue Polizeitruppe. Die hatte nur einen einzigen<br />

Auftrag: Den Mann zu finden, der für ihn den Staatsfeind<br />

Nummer Eins darstellte! Baldur war vielleicht unterlegen,<br />

aber nachdem er seinen Widersacher schon einmal erfolgreich<br />

vergiftet hatte, stand es damit bestenfalls unentschieden. Die<br />

Sache war noch nicht ausgestanden – noch lange nicht!<br />

Doch die Suche nach Findus geschah in aller <strong>Heim</strong>lichkeit<br />

und unter massiver Bespitzelung der Bevölkerung. Baldurs<br />

eifrigste Zuträger waren die Kaufleute, koordiniert durch den<br />

jetzt doch nicht abgesägten Mijneer Vankampen. Für sowas<br />

war der alte Schleimer allemal noch gut genug. Und gelangte<br />

von den Maßnahmen doch einmal etwas an die<br />

Öffentlichkeit, dann wurde das mit Schutzbestrebungen<br />

begründet. Mit der Notwendigkeit, den Anfängen zu wehren<br />

und rebellische Zellen schon sehr frühzeitig ausschalten zu<br />

müssen – eben zum Schutz der Bevölkerung! Baldur hatte<br />

doch nur das Wohlergehen seiner Untertanen im Sinn, wie er<br />

selbst zynisch erklärte. Damit ließ sich alles begründen - auch<br />

das Beschneiden persönlicher Freiräume bei harmlosen<br />

Bürgern, auch jedwede Art von ‚vorbeugenden‘ Kontroll-,<br />

Überwachungs- und Haftmaßnahmen...<br />

143


Zwischenspiel: Dayla war knapp zwei Tage unterwegs, bevor<br />

sie die ‚namenlose Insel‘ erreichte. Die Bônday zeigte sich<br />

höchst erstaunt darüber, Dayla allein zurück kommen zu<br />

sehen. Sie ahnte, dass etwas vorgefallen sein musste. Das<br />

Beben im magischen Geflecht hatte sie alarmiert. Im Beisein<br />

von Lyonora berichtete Dayla daraufhin von ihrer Reise mit<br />

Findus. Sie setzte die beiden über Findus Erfahrungen bei<br />

den Zwergen, über das magische Schwert Gnarp, die<br />

neugewonnene magische Kraft und über alles Weitere in<br />

Kenntnis. Besonders das, was Dayla über die Brüderschaft<br />

mit dem Herrscher, den Myrkviör und über den Dämon zu<br />

sagen hatte, versetzte die Bônday in helle Aufregung. „Ein<br />

solcher Dämon kommt nicht von selbst“ bemerkte die<br />

Größte der Hexen <strong>Norgast</strong>´s und fügte hinzu: „Der muss<br />

beschworen worden sein. Vielleicht sogar unbeabsichtigt, so<br />

dass er nur ein offen stehendes Tor nach <strong>Norgast</strong> gefunden<br />

hat. Aber wenn das einmal geschehen ist, dann kann es auch<br />

öfter passieren. <strong>Norgast</strong> kann daran zugrunde gehen! Wir<br />

müssen unbedingt herausbekommen, wer das getan hat.“<br />

Ernst sah sie ihre beiden Novizinnen an: „Wir werden<br />

unsere Neutralität aufgeben und uns einmischen müssen. Es<br />

hilft nichts; es geht nicht anders. Wenn das eine Bônday tut,<br />

dann betrifft das den ganzen Zirkel und damit auch<br />

automatisch alle Bôndays. Ich werde mit den anderen<br />

Kontakt aufnehmen.“ An Dayla gewandt setzte sie noch<br />

hinzu: „Findus hat Recht damit, dass dem Geheimnis seiner<br />

Herkunft jetzt größte Bedeutung beizumessen ist. Bereite du<br />

eine Evokation vor. Vergangenheit und vielleicht sogar<br />

frühere Inkarnationen von ihm. Die Evokation wird er<br />

natürlich selbst durchführen müssen, wenn er kommt. Aber<br />

dann sollte es sehr schnell gehen. Verzögerungen können wir<br />

uns nicht mehr leisten. Die Lage ist ernster, als ich dachte.“<br />

Und so wurde der gesamte Hexenzirkel alarmiert und die<br />

Bônday, Lyonora sowie Dayla warteten sehnlichst auf Findus´<br />

Rückkehr...<br />

Findus überschritt die Grenze zur Ley-Linie. Für einen<br />

Außenstehenden hätte es so ausgesehen, als würde seine<br />

144


Gestalt von einem orangenen Licht umspült werden und<br />

langsam verblassen. Dann lag <strong>Norgast</strong> hinter ihm. Um ihn<br />

herum die Geister der Toten - gesichtslose Schädel, verirrte<br />

Wanderer. Es mussten ihrer Hunderte sein und er war ihr<br />

Führer. Eine eigentümliche Stille umfing sie. Kein Laut war<br />

hier zu hören. Vor ihm lag ein höchst merkwürdiger Weg in<br />

Orange getaucht. Der Zeitablauf war verändert. Die<br />

Drachenlinie führte quer durch <strong>Norgast</strong>, quer durch Bäume,<br />

Tiere und Menschen. Auch durch das Innere der Bewohner.<br />

Aber alles war in seiner Bewegung erstarrt, wie eingefroren.<br />

Für Findus und die Toten hingegen verging Zeit - Reisezeit.<br />

Die Kraftlinie veränderte das Empfinden der Reisenden.<br />

Sie verfügten schlagartig über eine nie gekannte Einsicht und<br />

Klarheit der Gedanken. Sie verfügten über Erkenntnis. Das<br />

Wesen der Magie an sich offenbarte sich ihnen. Findus<br />

erkannte, dass die Magie in verschiedenen Ausprägungen<br />

auftrat und dass eben diese Ausprägungen eines<br />

Ordnungsprinzips oder eines Fokus bedurften. Die<br />

Ordnungsprinzipien selbst - das waren die Symbole,<br />

beispielsweise die Runen, die Steine, die Kerzen, die<br />

Ritualstäbe, die Kräuter. Sie variierten je nach Kultur und<br />

bewirkten doch alle das Gleiche - nämlich die Bereitstellung<br />

eines stofflichen Symbols. Das diente einzig dazu, die eigenen<br />

Gedanken derart zu konzentrieren, dass man das magische<br />

Geflecht nutzen konnte. Deswegen gab es für ein und die<br />

gleiche Art von Magie auch nicht nur ein einziges Symbol,<br />

sondern zumeist sogar deren viele.<br />

Die magische Kraft musste seitens ihres Benutzers fühlbar<br />

sein. Nur dann war es ihm möglich, ein magisches Symbol<br />

auch wirksam einzusetzen. Genau deswegen konnte aber die<br />

laienhafte, direkte Übernahme fremder magischer Techniken<br />

nicht funktionieren. Das wäre wie ein Wagen ohne Pferd<br />

gewesen. Das Pferd - das war der die Kräfte erfahrende<br />

Benutzer. Der Wagen - das war die Technik an sich: Die<br />

Rune, das Ritual, die Beschwörung, der Fluch. Die Dschinns<br />

in der fernen Wüste wandten andere Techniken als die Magier<br />

und Hexen <strong>Norgast</strong>´s an. Aber dennoch griffen sie auf die<br />

gleichen magischen Grundlagen zurück.<br />

Jede Kultur, ja jeder Magier oder jede Hexe entwickelte<br />

hinsichtlich der Technik einen ganz eigenen, persönlichen Stil.<br />

145


Abwandlungen davon kamen im Lauf der Zeit zwar auf, aber<br />

die beeinflussten die Wirkung der Kräfte nicht. Auf diese<br />

Weise wurde der ganz persönliche magische Stil immer<br />

ergebnisorientiert eingesetzt und beeinflusste die<br />

Selbstorganisation der chaotischen Urkraft. Kleine Ursache<br />

und große Wirkung - womit sich ein Kreis schloss: Die<br />

Funktionsweise der Magie.<br />

Findus erblickte weitere Drachenlinien, alle einander<br />

ähnlich - selbstähnlich. In der Anderswelt hätte man das mit<br />

dem Fachbegriff ‚fraktal‘ bezeichnet. Zusammen bildeten die<br />

Linien Muster. Muster, welche denen überaus ähnlich waren,<br />

die er mit seiner anderen Art der Wahrnehmung vor dem<br />

inneren Auge immer sah. Muster, die manchmal auch im<br />

Lande <strong>Norgast</strong> einen Abdruck hinterließen - in Form von<br />

Bergrücken, Streifen ohne Bewuchs, Hainen mit bestimmten<br />

Pflanzen und auf andere Weise.<br />

Mit den Toten im Gefolge schritt er die Drachenlinie<br />

entlang. Folgte dem orangenen Licht durch das Innere von<br />

Bäumen hindurch. Sah deren Jahresringe und deren<br />

lebensspendende Säfte. Erstarrte Dryaden dazwischen. Sah<br />

tief in der Erde verankerte Wurzeln und die Würmer und die<br />

Bodenbewohner ringsum. Sie glitten durch einen scheinbar<br />

mittig geteilten Menschen, durchwanderten später eine Hütte,<br />

in welcher Findus´ das Fischerpaar Bewok und Snofork zu<br />

erkennen glaubte. Sie durchschritten Gewässer, ohne nass zu<br />

werden. Sahen bewegungslose Fische und Najaden.<br />

Hier und dort gewahrte Findus einen blassen Spalt im<br />

allgegenwärtigen Orange - die Ein- und Ausgänge der<br />

Drachenlinie. Einen dieser Spalte drückte er mit<br />

Gedankenkraft auseinander und trat hinaus. Er war wieder in<br />

<strong>Norgast</strong>. Hier war keinerlei Zeit vergangen. Er befand sich an<br />

dem seltsamen und doch so vertrauten Ort südlich von<br />

Balum. An dem Ort mit den merkwürdig verdrehten Bäumen<br />

- dort, wo Baldur ihn einst vergiftet hatte. „Geist der Toten,<br />

sprich zu mir!“ rief Findus. „Herr, ich bin hier“ ertönte die<br />

Antwort. „Dieser Ort ist ein Übergang zwischen den Welten.<br />

Ihr seid frei. Geht ein in das Totenreich und findet Eure<br />

ewige Ruhe!“ „Wir danken dir!“ Ein Rauschen, Raunen und<br />

Brausen erhob sich. Es dauerte nicht lange und Findus war<br />

allein.<br />

146


Er ließ die Seltsamkeit dieses Übergangs zwischen den<br />

Welten - dieses ‚Kraftplatzes‘ - auf sich einwirken. Blickte auf<br />

das ihm so wohlvertraute Gehölz. Auf die gnomenhafte<br />

Wurzel, aus der sich zwei lange Baumtriebe rechts und links<br />

wie Arme nach oben erstreckten. Auf den hölzernen<br />

Schlangenkopf. Auf den mannsstarken, korkenzieherartig<br />

verdrehten Stamm eines anderen Baumes. Daneben einer mit<br />

einem Ring im Stamm. Findus´ Blick verlor sich in der<br />

Unendlichkeit. Der Wald verschwamm vor seinen Augen.<br />

Stattdessen sah er Punkte. Winzige, vernarbte Punkte von<br />

Grau und alle miteinander durch hauchzarte Narbenfäden<br />

verbunden. Einer davon führte an der Ley-Linie entlang. Hier<br />

war es gewesen. Hier hatte das Unheil seinen Lauf<br />

genommen. Hier war der Dämon nach <strong>Norgast</strong> hinein<br />

diffundiert und dann der Kraftlinie gefolgt, um sich<br />

schließlich im Myrkviör zu manifestieren.<br />

Aber warum war der Myrkviör-Dämon gekommen? Wer<br />

hatte ihm den Zutritt ermöglicht? Fragen, die Findus quälten.<br />

Fragen, die einer Antwort harrten. Und dann war da noch<br />

etwas: Dieser überaus seltsame Ort erschien ihm wie eine Art<br />

von dreidimensionalem Spiegel. Spiegel sind schon seltsame<br />

Gegenstände. Auf den ersten Blick zeigen sie einem nur das<br />

eigene Spiegelbild. Richtig angeordnet und das Licht<br />

umlenkend kann man aber mit mehreren Spiegeln auch<br />

fremde Orte betrachten. Und wenn man sich erst einmal in<br />

der Betrachtung eines Spiegelbildes verliert, dann können<br />

noch weitaus merkwürdigere Dinge geschehen - gerade so, als<br />

sähe man die Rückseite des Spiegels. Was wäre wohl auf der<br />

Rückseite dieses Spiegels, dieses seltsamen Ortes, zu<br />

erwarten?<br />

Findus entspannte sich, machte seine Gedanken frei und<br />

führte eine meditative Übung durch. Ja - da war eine<br />

Schwingung. Sie zeigte die Rückseite des Spiegels. Ein Baum.<br />

Uralt, verwinkelt, dickborkig und knorrig. Mit einer riesigen<br />

Krone, die ihn wie eine Glocke umgab und deren Äste bis<br />

zum Boden reichten. Noch merkwürdiger geformt als die<br />

Bäume hier. Aber dieser eine Baum war mehr - war der<br />

König, der Herrscher des hiesigen Gehölzes. Findus stand auf<br />

und trat durch den Spiegel hindurch. Nun stand er in der<br />

Glocke, vor diesem einen Baum, in einem gänzlich anderen<br />

147


Wald. Der Wind rauschte und die Vögel sangen. Dies hier<br />

mochte durchaus auch noch <strong>Norgast</strong> sein – nur ein gänzlich<br />

anderer Ort.<br />

Doch was war das? Um den Baum herum lag ein<br />

Bannzauber, wie Findus ihn noch nie erfahren hatte. Findus<br />

trat aus der Baumkronen-Glocke hinaus und betrachtete das<br />

Gebilde kopfschüttelnd von außen. Unglaublich! Der Bann,<br />

der um diesen Baum herum lag, war hier draußen geradezu<br />

lachhaft schwach. Kaum zu bemerken und jeder Magienovize<br />

oder jede Junghexe hätte den Zauber problemlos aufheben<br />

können. Im Innern der Glocke jedoch war der Bann geradezu<br />

überwältigend stark. Auf Findus wirkte das wie eine<br />

Monsterwelle. Vom Rücken her - also von außen - bis zum<br />

Kamm hin nur sacht ansteigend, aber auf der anderen Seite<br />

eine vernichtende, unbezwingbare Wand.<br />

Um einen solchen Bannzauber zu installieren bedurfte es<br />

großer magischer Kraft bei gleichzeitig geringen Kenntnissen<br />

der Magie oder aber umgekehrt perfekten Kenntnissen der<br />

Magie bei vergleichsweise schwacher Kraft. Oder aber... ...es<br />

bedurfte zweier Personen. Eines Magiers, welcher noch nicht<br />

auf der Höhe seiner Kunst angelangt war und fremder,<br />

mächtiger Hilfe. Beispielsweise dämonischer Kraft! Und<br />

genau das war die Verbindung zu dem seltsamen Wald bei<br />

Balum, durchfuhr es Findus siedend heiß. Wenn sich dort<br />

jemand einer durch und durch bösen Macht bedient hatte, um<br />

hier ein Wesen festzusetzen, dann konnte dieses festgesetzte<br />

Wesen eigentlich nur gut sein! Findus entschloss sich daher,<br />

den Bann aufzuheben. „Berkana und Sowilu, vertreibt die<br />

Dunkelheit. Gewährt diesem gefangenen Geschöpf einen<br />

Neubeginn.“ Er zeichnete die Runen in die Luft. Beide<br />

flammten kurz auf und waren verschwunden.<br />

Zunächst geschah gar nichts, so dass Findus schon<br />

annahm, sein Befreiungsversuch seie fehlgeschlagen. Doch<br />

urplötzlich raschelte es in den Blättern und sie bewegten sich<br />

- gerade so, als würden sie von einem Wind, der vom Stamm<br />

ausgeht, nach oben auseinander gedrückt werden. Tatsächlich<br />

geschah auch genau das. Die Äste bewegten sich nach oben<br />

und schrumpften dabei. Die Blätter kehrten in das Holz<br />

zurück. Die nun aufgerichtete Baumkrone schrumpfte in den<br />

Stamm hinein. Was übrig blieb, war ein knorriger Stamm von<br />

148


entfernt menschenähnlicher Statur. Und auch dieser knorrige<br />

Stamm verwandelte sich unaufhaltsam weiter. Bis am Ende<br />

ein sehr, sehr alter Mann von machtvoller Ausstrahlung dort<br />

stand - ein Magier. „Danke“ sagte der nur.<br />

Findus starrte den Magier an. „Wer bist du? Und wo sind<br />

wir hier eigentlich?“ fragte er. Der alte Magier begann weise<br />

zu lächeln und stellte eine Gegenfrage: „Wer bist du denn,<br />

Jüngling, dass du die Kraft hast, mich zu befreien und<br />

gleichzeitig zu unwissend bist, um deinen eigenen<br />

Aufenthaltsort zu kennen?“ „Man nennt mich Findus. Ich bin<br />

von Balum aus hierher gelangt.“ „Von Balum aus, so so...<br />

Und wie bist du hergekommen?“ „Über den seltsamen Ort<br />

dort im Wald. Er funktioniert wie ein Spiegel. Ich suchte die<br />

Rückseite des Spiegels. Dann bin ich durchgegangen.“<br />

„Einfach so, ja? Es gibt da eine ganze Menge, was du mir<br />

noch erzählen musst. Jemanden mit einer magischen Kraft<br />

wie der deinen gibt es nur selten. Aber dazu kommen wir<br />

später, denn ich will nicht unhöflich sein. Du befindest dich<br />

hier im Haucain. Ich selbst werde - oder wurde, denn ich weiß<br />

nicht, wieviel Zeit vergangen ist, seit ich in die Baumgestalt<br />

gesperrt worden bin - Malweýn genannt.“<br />

„Malweýn“ keuchte Findus und blickte den Alten<br />

entgeistert an. Dann kam es flüsternd aus seinem Mund<br />

„Meine zweite Prüfung... Bring´ mir den Geist des Waldes...“<br />

Der Alte verfügte über sehr gute Ohren. „Wer hat Dir das<br />

aufgetragen?“ fragte er. „Die Bônday von der ‚namenlosen<br />

Insel‘“ lautete wahrheitsgemäß Findus´ Antwort. Malweýn<br />

lächelte versonnen „Meine alte Freundin und Konkurrentin.<br />

Es gibt sie also immer noch. Sag´“ er blickte Findus nun<br />

direkt an „wer regiert jetzt <strong>Norgast</strong>?“ „Baldur.“ In den Augen<br />

des Alten blitzte es zornig auf. „Baldur. Ausgerechnet! Von<br />

allen möglichen Wahrscheinlichkeiten die mit Abstand<br />

Allerschlimmste! Dann kann es dem Land nicht gut gehen!“<br />

„Das tut es auch nicht. <strong>Norgast</strong> heute, das ist jeder gegen<br />

jeden. Mord, Folter, Intrigen und Angst. Baldur lebt gut<br />

davon. Er hält die Menschen unwissend, versorgt sie mit<br />

falschen Informationen und presst aus ihnen heraus, was<br />

herauszupressen ist.“ „Und ich wette, die Kaufleute<br />

unterstützen ihn dabei nach Kräften.“ „Das mag sein“<br />

mutmaßte Findus „doch davon weiß ich nichts.“<br />

149


„Wir sollten uns jetzt ganz intensiv miteinander<br />

unterhalten“ schlug Malweýn vor und setzte sich. „Erzähl mir<br />

alles, was du weißt.“ Und Findus berichtete. Von dem<br />

Kräuterweib, das ihn aufgezogen hatte. Von seiner Zeit des<br />

Erwachsenwerdens auf der ‚namenlosen Insel‘. Wie er von<br />

dort ausgerissen war und wie Baldur ihn vergiftete. Von den<br />

Erlebnissen in der Anderswelt. Wie sein Gedächtnis<br />

verschwand. Von Bewok und Snofork und von seiner<br />

Rückkehr zur ‚namenlosen Insel‘. Von Dayla, seiner<br />

Geliebten. Er sprach über die drei Prüfungen, welche die<br />

Bônday ihm abverlangte. Erwähnte die Nebelsenke, die<br />

Zwerge und Gnarp. Wie er selbst zum weißen Raben wurde.<br />

Die ganze Zeit über hörte Malweýn ihm aufmerksam zu,<br />

ohne ihn zu unterbrechen. Nur an der Stelle, als Findus´<br />

Erzählung auf die Geschehnisse um den Dämon im Myrkviör<br />

und auf Baldur kam, da wurde der Alte lebendig.<br />

„Ich ahnte, daß etwas Schlimmes passieren würde. Baldur<br />

hat auch mich seinerzeit vergiftet. Dennoch wäre es ihm<br />

niemals möglich gewesen, mich so zu bannen, wie es dann<br />

doch passiert ist. Dazu reichte seine Magie einfach nicht aus.<br />

Er hat Hilfe beschworen. Dämonische Hilfe. Er war es, der<br />

den Myrkviör-Dämon nach <strong>Norgast</strong> hinein gelassen hat!“ Der<br />

alte Zauberer schwieg wieder und Findus setzte seinen<br />

Bericht fort. Wie er die Drachenlinie benutzte und wie die<br />

Seelen der Toten ihre Ruhe fanden. Wie er hierher gelangt<br />

war.<br />

Mit den Worten „Und was machen wir jetzt?“ schloss<br />

Findus seinen Bericht. „Nicht wir, mein Junge, sondern du.<br />

Du ganz allein. Ich für meinen Teil weiß ganz genau, was ich<br />

zu tun habe. Deswegen muss ich dich auch entäuschen. Der<br />

Geist des Waldes - das bin ganz zweifellos ich selbst. Aber du<br />

wirst mich nicht zur Bônday bringen, ganz im Gegenteil. Ich<br />

werde die Bônday veranlassen, zu mir zu kommen. Das<br />

zwingt sie, ihre sinnlose und gefährliche Einstellung der<br />

Nichteinmischung aufzugeben und endlich mal Partei zu<br />

ergreifen.“ „Du kennst sie von früher?“ „Oh ja, und wie. Eine<br />

weise und schöne Frau, die es versteht, einem Mann die<br />

schönsten Freuden zu schenken. Wir standen uns sehr nahe,<br />

standen aber auch in Konkurrenz miteinander, haben uns<br />

zusammengerauft, geliebt, gehasst, geliebt, gestritten und<br />

150


wieder geliebt. Ich kann nicht ohne sie sein und sie nicht<br />

ohne mich. Aber wir beide zusammen - da wird ein kritischer<br />

Punkt überschritten und das geht erst Recht nicht gut. Wir<br />

sind eben zwei zu selbstbewusste, querdenkende Geister.<br />

Manchmal mit gleichen Ansichten. Manchmal aber auch<br />

nicht. Und dann knallt´s eben.“ Versonnen lächelnd blickte<br />

Malweýn in die Ferne.<br />

Ächzend erhob sich der alte Magier. „Gut, dann will ich<br />

dich mal in meine Pläne einweihen. Baldur schöpft seine<br />

politisch-weltliche Macht aus seinem Reichtum. Nur, dass<br />

<strong>Norgast</strong> selbst kaum Reichtümer zu bieten hat. Geld, Gold,<br />

Edelsteine und so weiter - all das stammt aus dem Süden und<br />

wird von den Kaufleuten herangeschafft. Unter dem Strich<br />

sind sie es, die Baldur´s Herrschaft erst ermöglichen. Eine<br />

Situation, die sich im Laufe der Zeit so entwickelt hat. Geld<br />

kam zu Geld und irgendwann waren es die mit dem meisten<br />

Geld, die nur noch ihnen genehme Herrscher einsetzten. Das<br />

Vermögen der Kaufleute kommt aus dem Süden, aus der<br />

Gegend um die Suderhelge und aus der Wüste. Karawanen<br />

handeln dort mit Lebensmitteln aus <strong>Norgast</strong>, denn da unten<br />

wächst kaum etwas. Gold und Edelsteine sind der Gegenwert.<br />

Eingesammelt wird das alles in Sirval am Rande der<br />

Steinwüste. Von dort aus werden in regelmäßigen Abständen<br />

geheime und schwer bewachte Kutschen nach Diekenboog<br />

und Westboog geschickt. Das war schon zu meiner Zeit so<br />

und daran wird sich bis heute nichts geändert haben.“<br />

Malweýn schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Der<br />

Weg dieser Kutschen führt durch den Bomenhau. Schneidet<br />

man Baldur hier den Nachschub seines Reichtums ab, dann<br />

schneidet man ihm auch die Lebensader ab. Er hatte mich<br />

gebannt, aber meine Macht konnte er nicht brechen.<br />

Deswegen war ich zwar bewegungslos, aber nicht untätig.<br />

Komm´ mit!“ Der Zauberer trat vor und öffnete wie beiläufig<br />

den Zugang zu einer Ley-Linie. Sie traten ein, doch kaum<br />

waren sie in dem orangenen Licht, da befanden sie sich auch<br />

schon wieder draußen - im Wald von Balum. Hinter ihnen<br />

knisterte es und schwarze Funken schwebten für kurze Zeit in<br />

der Luft. „Diese Ley ist eben zusammen gebrochen“ meinte<br />

Malweýn und erläuterte achselzuckend: „Die Verbindung<br />

bestand sowieso nur aufgrund des alten dämonischen<br />

151


Einflusses. Eigentlich müsste ich Baldur dafür sogar dankbar<br />

sein. Denn ohne diese künstliche Verbindung wäre mir das<br />

hier nie gelungen.“ Malweýn stand da und breitete mit einer<br />

weit ausladenden Bewegung seine Arme zum Wald hin aus.<br />

„Was meinst du mit ‚das hier‘?“ fragte Findus, der sich<br />

neben dem Alten plötzlich wieder ganz klein und unwissend<br />

vorkam. Malweýn grinste ihn freudig an. „Was siehst du?“<br />

„Die verdrehten Bäume. Und die seltsamen Wurzeln.“<br />

„Erinnern Dich die Formen der Wurzeln nicht an irgend<br />

etwas?“ „Ja schon. Teilweise haben sie entfernte Ähnlichkeit<br />

mit Tieren oder Menschen.“ „Es sind Tiere oder Menschen.<br />

Und Zwerge und Trolle und Kobolde. Und mehr.<br />

Eingefangen und verholzt. Meine Horde, mit der ich Baldur<br />

und die Kaufleute zu erledigen gedenke. Die Tiere gehorchen<br />

mir ohnehin. Den Menschen und den anderen Wesen werde<br />

ich es freistellen, ob sie mich begleiten wollen. Aber ich bin<br />

sicher, dass die meisten es tun werden. Sie sind Flüchtlinge<br />

und Ausgestoßene. Menschen, die unter Baldur gelitten<br />

haben.“<br />

Malweýn intonierte einen für Findus´ Ohren völlig<br />

fremdartigen Gesang in einer unbekannten Sprache.<br />

Metallisch-bläulich glühendes Licht umspielte den Körper des<br />

Alten. Wie von innen heraus leuchtete seine Aura. Von seinen<br />

Fingerspitzen aus fuhren grünlich-türkisfarbene Blitze in die<br />

Wurzeln und gaben das frei, was darin steckte. Hier einen<br />

Menschen, der sich verwundert die Augen rieb. Da eine<br />

Schlange. Ein Wildschwein. Und noch viel mehr... Nachdem<br />

das alles vorüber war, umfasste die Horde gut fünfzig<br />

Mitglieder – Menschen ebenso wie magische Wesen und<br />

Tiere. Malweýn sprach zu ihnen, legte ihnen seine Absichten<br />

dar. Er beabsichtigte, sie zum Bomenhau zu führen. Quer<br />

über das Land; eine Reise von ungefähr der Dauer eines<br />

halben Mondes. Nicht einer der Befreiten wollte zurück<br />

bleiben.<br />

„Nun zu dir“ sagte Malweýn, vor neugewonnener Energie<br />

nur so berstend, an Findus gewandt. „Bei der Suche nach<br />

dem Stein des Lebens kann ich dir nicht helfen. Es kann<br />

durchaus sein, dass es sich um einen realen Stein handelt.<br />

Aber es ist genauso gut möglich, dass das nur im<br />

übertragenen Sinne gemeint ist. Die Bônday liebte es schon<br />

152


immer, sich einen orakelhaften Anschein zu geben und in<br />

Rätseln zu sprechen. Für sie hat das den Vorteil, dass<br />

niemand sie auf etwas festnageln kann. Einer unser ältesten<br />

Streitpunkte überhaupt. Doch egal. Wie gesagt - ich selbst<br />

kann dir nicht helfen. Aber ich kenne jemanden, der sich sein<br />

ganzes Leben lang mit der Magie der Steine befasst hat. Es ist<br />

ein Dschinn. Er lebt etwa westlich von Sirval, dort, wo Wüste<br />

und Suderhelge ineinander übergehen. Gehe dorthin. Bestelle<br />

ihm einen schönen Gruß von mir. Er wird Dir sehr<br />

wahrscheinlich weiterhelfen können. Ach ja - und er ist<br />

manchmal etwas sonderbar, um nicht zu sagen schrullig. Sieh´<br />

es ihm nach.“ Malweýn hob zum Abschied grüßend die Hand<br />

und zog, begleitet von seiner Horde, los.<br />

153


Kapitel 8: Der Stein des Lebens<br />

„Ausgerechnet ein Dschinn!“ dachte Findus am Tag darauf,<br />

lange nachdem Malweýn losgezogen war, und rekapitulierte<br />

kurz, was er eigentlich über die Dschinn wusste. Viel war es<br />

nicht und es entstammte noch der Zeit seiner Ausbildung bei<br />

der Bônday. Aus der Zeit vor dem Verlust seines<br />

Gedächtnisses. Erst bei den Zwergen hatte er dieses Wissen<br />

zurück erlangt. Danach handelte es sich bei den Dschinn um<br />

Geistwesen, die irgendwo zwischen Menschen und Göttern<br />

einzuordnen waren. Sie sollten aus rauchlosem Feuer<br />

bestehen - was immer das auch sein mochte. Und sie konnten<br />

sich in bestimmten Fällen durch Vergeistigung aus einem<br />

Menschen entwickeln. Weit im Süden glaubten die Leute, dass<br />

ein jeder Zeit seines Lebens von einem Dschinn, den er Qarin<br />

oder Gefährte nannte, begleitet wurde.<br />

Ob das den Tatsachen entsprach, vermochte niemand zu<br />

sagen. Immerhin - starb ein magisch begabter Mensch, dann<br />

konnte er im Dschinn aufgehen und zukünftig mit dem eine<br />

Einheit bilden. Andererseits aber konnte ein Mensch niemals<br />

die Befehlsgewalt über einen Dschinn erlangen. Und genau<br />

so, wie es gute wie böse Menschen gab, sollten auch<br />

freundliche wie schlechte Dschinns existieren. Nur - selbst<br />

mit den Guten war das so eine Sache... Denn allzu oft<br />

verloren sie den Kontakt zur Realität oder entwickelten recht<br />

seltsame Schrullen. Deswegen tat man gut daran, den Kontakt<br />

mit einem Dschinn nicht zu suchen. Sie lebten eben ihr<br />

eigenes Leben.<br />

Doch selbst dann, wenn der Kontakt absichtlich gesucht<br />

wurde, waren die Dschinns häufig nicht zu finden. Es gab<br />

welche, die im Boden lebten. Anderen war die Luft eine<br />

<strong>Heim</strong>at. Und schließlich gab es eine letzte, erdgebundene<br />

Gruppe. Diese Dschinns lebten in Tieren oder in<br />

Gegenständen - Ruinen, Bäumen, Dünen. Heute hier, morgen<br />

dort. Nein, einen Dschinn finden konnte man nicht. Vielmehr<br />

wurde man selbst von einem gefunden! Nicht gerade rosige<br />

Aussichten. Findus seufzte. Er verwandelte sich wieder in den<br />

weißen Raben und flog los. Richtung Osten, auf die Wüste zu.<br />

154


Schnell breitete sich sonnendurchglühtes Land unter dem<br />

hochfliegenden Vogel aus. Weißes Salz, soweit das Auge<br />

reichte. Wie ein liegender und nach oben weisender Haizahn<br />

schob sich die Wüste in nordöstlicher Richtung nach <strong>Norgast</strong><br />

hinein. Doch es war keine einheitliche Landschaft - weit<br />

gefehlt, wer das glaubte! Kurz vor dem Erreichen der<br />

heißesten Zeit des Tages begann das Land, sich zu wandeln.<br />

Unmerklich zunächst, wurde es schnell immer deutlicher, dass<br />

das Salz einer Sandfläche wich. Findus blickte auf sanft<br />

geschwungene Dünen hinab. Feinster Sand - hübsch<br />

anzusehen, solange er ruhig lag. Eine tödliche Gefahr, wenn<br />

Wind – der Sufon, wie ihn die Bewohner des Südens nannten<br />

- hinzu kam!<br />

Zum Glück aber war es windstill und Findus hatte keinen<br />

Sandsturm zu befürchten. Doch die Hitze machte ihm zu<br />

schaffen, trocknete ihn aus. Er brauchte Wasser. Unbedingt<br />

und schnell! Der weiße Rabe hielt Ausschau nach dem Grün<br />

von Pflanzen, welches Wasser oder gar eine Oase signalisieren<br />

würde, doch er konnte nichts finden. Findus flog weiter - und<br />

höher, denn weiter oben war es kühler. Doch damit nahm er<br />

ganz bewusst den Nachteil in Kauf, die Wüste nicht mehr in<br />

allen Einzelheiten mit den Augen absuchen zu können. So<br />

bemerkte er auch erst recht spät, wie sich die Berge der<br />

Suderhelge vor ihm aufzutürmen begannen.<br />

Er flog tiefer, entdeckte Grün, landete. In einer schattigen<br />

Nische fand er nach einigem Suchen sogar Wasser und<br />

konnte seinen Durst löschen. Er verwandelte sich in die<br />

menschliche Gestalt zurück und blickte sich um. Eine<br />

trostlose Mondlandschaft umgab ihn! Hübsch bunt<br />

gemusterte Felsen zwar, aber bar jeglichen Lebens. Kahle<br />

Berghänge in einem abweisenden, lebensfeindlichen<br />

Urzustand. Weiter draußen, zur Sandwüste hin, türmten sich<br />

Geröllberge auf - wie Schutt, den spielende Riesen hier<br />

abgeladen hatten. Über allem spannte sich, im krassen<br />

Gegensatz zur Feindseeligkeit des Landes stehend, ein<br />

azurblauer Himmel. Der Ort stimmte. Doch wie, um alles in<br />

der Welt, sollte er hier den von Malweýn erwähnten Dschinn<br />

finden? Zumal die Sonne sich jetzt bereits neigte? Um sich<br />

vor Schlangen und ähnlichem Getier zu schützen, zog Findus<br />

mit Gnarp einen magischen Kreis. Fraglich, ob der hier<br />

155


funktionierte. Daher fügte er in den Kreis noch ein<br />

Pentagramm mit ein und schlug exakt in der Mitte sein<br />

Nachtlager auf. Sein Magen knurrte. Morgen würde er<br />

weitersehen.<br />

Findus erwachte noch vor Sonnenaufgang. Ihn fröstelte; es<br />

war empfindlich kühl - und er hatte Hunger. Aber nichts zu<br />

essen. Wirklich nicht? Sein Blick fiel auf das Grün, welches<br />

ihn gestern hierher geführt hatte. Pflanzen. Vielleicht essbar.<br />

Und wo Pflanzen wuchsen, da gab es für gewöhnlich auch<br />

Insekten. Er kramte eine kleine hölzerne Schale aus seinem<br />

Ranzen und schöpfte damit etwas Wasser. Dann ging er zu<br />

den Pflanzen hinüber: unbekannte Gewächse. Möglicherweise<br />

giftig. Doch das Risiko würde er eingehen müssen. Er<br />

untersuchte das Kraut und fand - Ameisen! Vermutlich gab es<br />

keinen Ort auf der Welt, den diese kleinen Tierchen nicht<br />

besiedelt hatten. Aber egal - das war Nahrung und er spürte,<br />

dass er Kraft brauchen konnte.<br />

Der einsame Reisende sammelte soviele Ameisen wie er<br />

konnte und brach auch einige der grünen Stängel ab. Das alles<br />

wanderte zerkleinert in die Schale mit dem Wasser. Unter der<br />

Anrufung von Sig´s Kräften erwärmte sich das Wasser zu<br />

einer vielleicht nicht gerade wohlschmeckenden, aber doch<br />

stärkenden Suppe. Findus leerte alles aus - wer wusste schon,<br />

wann er die nächste Mahlzeit bekommen könnte? Doch so<br />

‚ganz ohne‘ waren die Pflanzen nicht, denn schon kurz nach<br />

diesem Frühstück füllte sich sein Geist mit einem<br />

bemerkenswerten Weitblick. Findus richtete seine Gedanken<br />

zur Wüste hin, machte den Kopf frei und verinnerlichte die<br />

Macht von Othila. Irgendwann bemerkte er, dass die Sonne<br />

schien. Irgendwann stellte er fest: Da draußen war - etwas!<br />

Er stand auf, kniff die Augen zusammen und beschattete<br />

sie obendrein noch mit der Hand, um nicht vom grellen<br />

Sonnenlicht geblendet zu werden. Blickte zur Wüste hinaus.<br />

Wie eine Windhose erhob sich dort ein blassgraugelber<br />

Schleier vor den Geröllbergen - ein Staubteufel! Und genau<br />

der übte eine eigenartige, magische Anziehungskraft aus.<br />

Findus wechselte in die Gestalt des weißen Rabens und flog<br />

156


hin. Nein - das war kein Staubteufel. Das war eine<br />

Staubwolke, hervorgerufen von einem springenden<br />

Sandwurm! Sandwürmer: selten, riesig und überaus gefährlich!<br />

Diese Tiere erinnerten auf den ersten Blick an einen<br />

überdimensionalen, hausgroßen Regenwurm. Doch im<br />

Gegensatz zum Regenwurm verfügten sie über ein<br />

ausgeprägtes Kopf- und Schwanzende. Das Schwanzende war<br />

extrem muskulös und erlaubte ihnen weite Sprünge. Auf diese<br />

Weise durchquerten die Tiere Geröllflächen und gelangten in<br />

ihren angestammten Lebensraum, den Sand. Dort gruben sie<br />

sich mit Hilfe des riesigen, dreieckigen und Tentakellippenbesetzten<br />

Mauls ein. Dabei schluckten sie Unmengen von<br />

Sand - und zogen alles an Wasser und fleischlicher Nahrung<br />

aus dem Sand heraus, was sie zum Überleben brauchten.<br />

Sandwürmer verwerteten alles, und zwar vollständig. Auch<br />

Mensch und Tier verschmähten sie nicht - ganz im Gegenteil,<br />

so etwas deckte ihren Nährstoffbedarf für eine lange Zeit. Sie<br />

wuchsen sehr langsam und wurden uralt dabei. Und<br />

verdammt groß. Anhand der Größe ließ sich ihr Alter<br />

abschätzen. Dieses Exemplar hier vor Findus erreichte die<br />

Größe einer typischen Kaufleute-Bark. Es musste Hunderte<br />

von Sonnenumläufen alt sein. Schon aufgrund seiner schieren<br />

Masse war es praktisch unangreifbar.<br />

Ein Sandwurm hier mitten im Geröllfeld - weit weg von<br />

jeder Sandfläche. Wie kam der hierher? Das augenlose Tier<br />

witterte Findus auf eine nicht erkennbare Weise und rollte<br />

sich ähnlich einer angriffsbereiten Schlange zusammen. Es<br />

hob den Kopf und öffnete das Maul. Findus blickte in einen<br />

fremdartigen Rachen und zog vorsichtshalber Gnarp. Er war<br />

auf einen Angriff vorbereitet. Und das Tier - es nieste! Staub<br />

und Geröllbrocken - letztere gefährliche Geschosse von der<br />

Größe eines Männerkopfes - flogen Findus um die Ohren.<br />

Gedankenschnell parierte er mit Gnarp und es gelang ihm, die<br />

Steine abzuwehren. Dann eine kurze Stille und der Boden<br />

vibrierte. Ein tiefer, dunkler, wolkig-voluminöser, nasskupferfarbener<br />

Ton - und ganz entfernt an so etwas<br />

Ähnliches wie ein menschliches Lachen erinnernd. Der<br />

Sandwurm senkte den Kopf, schien auf etwas zu warten.<br />

Hinter Findus ein Geräusch. Alarmiert blickte er kurz über<br />

die Schulter nach hinten - und erstarrte.<br />

157


Findus´ Mund öffnete sich, doch kein Geräusch entrang<br />

sich ihm. Findus stand nur da und staunte. Die Steine. Die<br />

abgewehrten Steine! Sie bildeten eine Form, eine Figur<br />

- nämlich : Far-Ur-Rit! Das Untier kannte Findus´<br />

wirklichen Namen! Dann konnte es kein normales Tier sein!<br />

War das etwa der schrullige Dschinn, den Malweýn erwähnt<br />

hatte? „Wer oder was bist du wirklich?“ rief er dem Tier<br />

entgegen. Wieder dieses tief-vibrierende Lachen. Dann löste<br />

sich etwas in der Luft Flirrendes aus dem Körper des Tieres.<br />

Der Sandwurm blieb liegen, schlief ein und das Flirren<br />

schwebte auf Findus zu.<br />

„Ich kann mir nur eine Person vorstellen, die mir einen<br />

weißen Raben schickt“ standen plötzlich fremde Worte in<br />

Findus´ Geist und spöttisch: „Gibt es den alten Möchtegern-<br />

Zauberer immer noch?“ „Meinst du Malweýn?“ „Keinen<br />

anderen.“ „Ja, es gibt ihn noch. Oder besser, es gibt ihn<br />

wieder. Er trug mir auf, mich nach einem Dschinn<br />

umzusehen, der mir helfen kann. Der soll hier in dieser<br />

Gegend leben.“ „Ich weiß hier nur von einem Dschinn und<br />

das bin ich selbst. Wobei helfen?“ „Bei der Suche nach einem<br />

Stein.“ „Was für ein Stein? Erz? Edelsteine? Seltene Kristalle?<br />

Reichtum? Das ist es doch, was euch Sterbliche einzig<br />

interessiert!“ „Nein, mir ist eine Aufgabe auferlegt worden.“<br />

„Was für eine Aufgabe?“ „Bring´ mir den Stein des Lebens!“<br />

„Wer hat dir diese Aufgabe gestellt?“ Die Stimme des<br />

Dschinns in Findus´ Kopf klang plötzlich kalt und<br />

schneidend, ernst und schmerzend. Der spöttische Unterton<br />

darin war restlos verschwunden.<br />

Findus spürte instinktiv, dass er hier an uralte Geheimnisse<br />

rührte. Verborgenes Wissen, welches nur einigen ganz<br />

Wenigen zugänglich war. Er entschied sich daher wieder für<br />

schonungslose Offenheit, wie seinerzeit auch Malweýn<br />

gegenüber: „Diese Aufgabe hat mir die Bônday gestellt, die in<br />

<strong>Norgast</strong> auf der ‚namenlosen Insel‘ inmitten der Tiedsiepe<br />

lebt - falls dir das etwas sagt.“ „Oh ja, es sagt mir etwas. Sogar<br />

sehr viel. Es bedeutet nämlich, dass eine Bônday sich<br />

einmischt. Das hat es noch nie gegeben. Nun, mir soll es<br />

Recht sein. Ich muss es ja nicht ausbaden. Du wirst den ‚Stein<br />

des Lebens‘ hier allerdings nicht finden. Dennoch werde ich<br />

versuchen, dir zu helfen. Erschrick´ nicht!“ Das Flirren kam<br />

158


auf Findus zu und durchdrang ihn. Schlagartig wurde ihm<br />

unendlich heiß. Jetzt fühlte er am eigenen Körper, was ‚aus<br />

rauchlosem Feuer gemacht‘ bedeutete. Ein heißer Schmerz<br />

zwang ihn, die Augen zu schließen. Als er sie wieder öffnete,<br />

stand er in einer Höhle. Neben ihm flirrte es in der Luft.<br />

„Was siehst du?“ klangen fragende Worte in Findus´ Geist<br />

auf. Er blickte sich aufmerksam um. Kristalle - da waren<br />

Kristalle an den Wänden. Sechseckige pyramidale Kristalle,<br />

prismatische Stifte und seitlich aufgewachsene Doppelender,<br />

teilweise unterarmlang. Er fühlte sich von dieser natürlich<br />

entstandenen, zeitlosen Vollkommenheit seltsam berührt. Der<br />

flirrende Dschinn neben ihm leuchtete in der Farbe des<br />

Tageslichts und die vom Geist ausgehenden Lichtstrahlen<br />

wurden von den Kristallen vielfach und in allen möglichen<br />

Farben gebrochen. Wasserklar vom Bergkristall, violett vom<br />

Amethyst, goldfarben vom Rauchquarz, rötlich vom<br />

Rosenquarz, gelb vom Citrin, blau vom Saphirquarz.<br />

Teilweise bildeten sich sternförmige und sich in einem<br />

einzigen Punkt schneidende Lichtstreifen oder je nach<br />

Blickwinkel unterschiedliche, buntfleckige Farbenspiele. Das<br />

hier war eine natürliche Schatzkammer, wie sie bisher nie<br />

eines Menschen Auge erblickt hatte. Viel zu vollkommen für<br />

den Menschen...<br />

Findus schuckte. Er versuchte sich zu artikulieren, doch<br />

fehlten ihm angesichts dieses Naturwunders die richtigen<br />

Worte. Es ließ sich einfach nicht mit Silben beschreiben, was<br />

er sah, was er fühlte. „Du sagst ja gar nichts“ ertönte die<br />

Stimme des Dschinns. „Dir hat´s wohl die Sprache<br />

verschlagen? Das kann ich verstehen. Und dennoch ist das,<br />

was du hier siehst, nur ein schwacher, unvollständiger<br />

Abklatsch dessen, was du eigentlich suchst. Der ‚Stein des<br />

Lebens‘ ist ein natürlicher Stein. So wie diese Kristalle hier.<br />

Aber es ist ein Stein im Stein, ein Kristall im Kristall und<br />

darin wieder ein Kristall und so weiter bis hinein in die<br />

Unendlichkeit.“<br />

Die Stimme schwieg, ließ Findus die überwältigenden<br />

Eindrücke in sich aufnehmen und fuhr kurze Zeit später fort:<br />

„Einen solchen Stein gibt es hier nicht. Wenn du ihn siehst,<br />

dann wirst du begreifen, was es mit <strong>Norgast</strong>, den<br />

Anderswelten und dem Universum auf sich hat. Wie alles<br />

159


zusammenhängt und welche Rolle der Magie wirklich<br />

zukommt. Doch dazu musst du den Stein erst sehen.“ „Wo<br />

finde ich ihn?“ fragte Findus tonlos. „Weit weg von hier. Im<br />

Norden. Hinter dem Maar. Dort liegt eine Insel namens<br />

Fucunor. Auf der Insel gibt es ein paar Hütten, die den<br />

Namen ‚Nifelheim‘ tragen. Dort lebt eine Bônday, die eine<br />

Harpyie ist. Sie mag keine Fremden.“ Das Flirren umhüllte<br />

Findus erneut und nun stand er nicht weit entfernt von<br />

seinem letzten Nachtlager. „Mehr Hilfe kann ich dir nicht<br />

geben. Viel Glück!“ Das Flirren und die Stimme in seinem<br />

Kopf verschwanden. Findus war allein. Allein und sehr<br />

nachdenklich...<br />

Wieder in Rabengestalt verwandelt flog Findus los, einen<br />

Kurs immer etwas rechts von der Sonne haltend, in Richtung<br />

Nordwesten. Er flog sehr lange, bis das Gleißen der Wüste<br />

unter ihm verschwand. Erst mit den letzten Strahlen der<br />

untergehenden Sonne erreichte er bewaldetes Gebiet und hielt<br />

nach etwas ganz Bestimmtem Ausschau. Und nach einigem<br />

Suchen fand er es dann auch, nur aus großer Höhe als das zu<br />

erkennen, was es war: Ein Netz von Linien mit schwächerem,<br />

abweichendem oder gar fehlendem Bewuchs. Ähnlich dem<br />

Netz einer Spinne. Das Netz der <strong>Norgast</strong> durchziehenden<br />

Drachenlinien! Er landete im Wald nahe einer solchen<br />

Sakrallinie und nahm Menschengestalt an. Wasser gab es hier<br />

ganz im Gegensatz zur Wüste zur Genüge, doch der Hunger<br />

quälte ihn.<br />

Findus suchte einen Eingang zur Ley, welche hier unten<br />

am Erdboden absolut nicht mehr auszumachen war. Dabei<br />

fiel sein Blick auf ein paar recht große Pilze und sein Hunger<br />

meldete sich wieder unüberhörbar. Er kannte diese Art von<br />

Pilzen zwar nicht, doch es gab Schnecken, die sich an den<br />

Pilzen labten. Der alte Waldläufer-Grundsatz fiel ihm ein:<br />

„Pilze, die von Schnecken befallen werden, sind essbar.“ Die<br />

anderen mochten vielleicht nicht unbedingt giftig sein, doch<br />

sollte man da sehr viel Vorsicht walten lassen. Immerhin<br />

- diese Pilze konnten seinen größten Hunger stillen. Er<br />

pflückte einige davon, entfernte die Schnecken und benutzte<br />

160


Gnarp, um das Pflanzenmaterial zu putzen. Über diese<br />

Tätigkeit brach die Dunkelheit herein.<br />

Der Reisende aß ungeachtet des leicht bitteren<br />

Geschmacks die Pilze roh, so groß war sein Hunger. Doch<br />

Schnecken oder nicht - als so ‚völlig wirkungslos‘ erwiesen<br />

sich die Pilze dann aber doch nicht. Nicht lange nach der<br />

Mahlzeit fühlte Findus eine seltsame, klarsichtige und<br />

allumfassende Leichtigkeit der Gedanken. Die Geräusche<br />

wurden deutlicher und sein Gespür für alles Magische nahm<br />

deutlich zu. Trotz der Dunkelheit fand er daher auch rasch<br />

einen ansonsten unsichtbaren Eingang zur Ley.<br />

Er trat hindurch und das wohlbekannte orangefarbene<br />

Licht umfing ihn. Findus folgte der Drachenlinie durch das<br />

bewegungslos erscheinende <strong>Norgast</strong>. Vorbei an stillstehenden<br />

Quellfeen, vorbei an erstarrten Waldelben. In einem breiten<br />

Fluss, welchen er trockenen Fußes durchqueren konnte, sah<br />

er Reusen mit Fischen und Flusskrebsen darin. „Natürlich<br />

- der Wilderfrio!“ durchfuhr es ihn. Und warum sollte er nicht<br />

bei seinen alten Bekannten übernachten? Nach der<br />

Durchquerung des breiten Stromes suchte der Wanderer<br />

daher einen Ausgang aus der Ley-Linie. Er fand auch bald<br />

einen und trat hindurch.<br />

Stille umfing Findus. Er stand in einem nassen Wald, an<br />

dessen Gehölz die fortgeschrittene Jahreszeit bereits<br />

unübersehbare Spuren hinterlassen hatte. Hier oben, weiter<br />

im Norden, war die Sonne zwar auch schon untergegangen,<br />

aber die Dämmerung lag noch über dem Wald. Dichte Nebel,<br />

Portale zur magischen Welt der Drachenlinien, wogten hin<br />

und her, den Uneingeweihten den Blick versperrend und den<br />

Eingeweihten dagegen den Weg weisend. Der Nebel dämpfte<br />

jedes Geräusch, erzeugte die Illusion von der Geborgenheit in<br />

einer anderen Welt. Findus erkannte diesen Ort sofort wieder.<br />

Hier geschah es, dass er seinerzeit dem Fuchs begegnet war.<br />

Nicht weit von der Hütte des Fischers. Er machte sich auf<br />

den Weg dorthin.<br />

Als der Reisende die kleine Hütte erreichte, war es bereits<br />

tiefdunkle Nacht. Man konnte die Hand vor Augen nicht<br />

mehr sehen. Von drinnen waren vereinzelte, gedämpfte<br />

Wortfetzen zu hören. Lautstark klopfte Findus an die Tür.<br />

Drinnen plötzliche Stille. Dann eine tiefe, brummige und nur<br />

161


allzu gut bekannte Stimme: „Wer ist dort?“ „Ein müder<br />

Wanderer.“ „Und was willst du?“ „Ich suche ein Lager für die<br />

Nacht.“ „Wer bist du, dass ich Dir ein Nachtlager gewähren<br />

sollte?“ „Jemand, den du aus dem Wilderfrio gefischt hast.<br />

Jemand, den du, Bewok, auf Snofork´s Geheiß hin zur<br />

‚namenlosen Insel‘ gebracht hast.“ Nur ein kurzer,<br />

überraschter Moment der Stille. Dann erklang ein freudiglautstarkes,<br />

zweistimmiges Gebrüll „Findus!!!“ und die Tür<br />

wurde ungestüm aufgerissen.<br />

Die beiden Alten begrüßten ihn wie einen verlorenen Sohn<br />

und bestürmten ihn mit Fragen. „Wie ist es dir ergangen?“<br />

„Wo kommst du her?“ „Wohin willst du, wie lange bist du<br />

schon unterwegs?“ „Hast du Hunger?“ „Du musst uns alles<br />

erzählen!“ „Was führt dich ausgerechnet in diese Gegend?“<br />

Sie umarmten und drückten ihn dermaßen, dass Findus kaum<br />

noch Luft bekam. „Langsam“ wehrte er lächelnd ab und das<br />

Fischerpaar trat zurück. „Lass´ dich ansehen“ meinte Snofork<br />

und stellte fest „Größer bist du geworden. Und muskulöser.<br />

Reifer siehst du aus - und irgendwie auch mächtiger. Und du<br />

trägst ein wertvolles Schwert.“ „Sowas zieht Ärger an. Kannst<br />

du wenigstens damit umgehen?“ fragte Bewok weniger<br />

begeistert und fügte hinzu „Na, komm´ erstmal rein!“<br />

Findus wurde zum Tisch genötigt und Snofork wuselte in<br />

Windeseile in der Hütte hin und her, um für ihn ein<br />

Abendessen zusammen zu stellen. „Das Schwert“ sagte<br />

Findus zu Bewok „erkennst du es denn nicht wieder?“ Er zog<br />

Gnarp und legte es auf den Tisch. Wie ein silberner Edelstein<br />

funkelte die Klinge im Kerzenschein. Snofork unterbrach ihre<br />

Tätigkeit und trat an den Tisch. „Es war immer schon ein<br />

Zauberschwert. Jetzt ist es wieder eins“ flüsterte sie. Nur<br />

Bewok guckte verständnislos. „Alter Klotzkopf, dein<br />

Gedächtnis war auch schon mal besser!“ fuhr dessen Frau ihn<br />

an. „Das alte Schwert...-werkzeug?“ fragte Bewok erstaunt.<br />

„Genau das“ antwortete Findus. „Woher hattest du es<br />

eigentlich?“ „Es hing vor Urzeiten mal in einem meiner<br />

Netze, draußen im Fluss.“<br />

„Die Klinge ist neu geschmiedet worden“ stellte Snofork<br />

fachmännisch fest. „Von Könnern. Wer har das gemacht?“<br />

„Die Gleichen, die mich im Schwertkampf ausgebildet haben.<br />

Die Zwerge“ entgegnete Findus. „Zwerge?“ dröhnte Bewok.<br />

162


„Wo soll es denn hier in <strong>Norgast</strong> Zwerge geben?“ „Es gibt<br />

sie!“ „Na ja“ - Bewok blickte Findus schräg an – „wirst wohl<br />

Recht haben. Du hattest ja wohl schon immer seltsame<br />

Freunde. Doch jetzt erzähle alles mal der Reihe nach!“<br />

Snofork stellte Essen und Getränke auf den Tisch und Findus<br />

berichtete. Alles. An der Stelle, als seine Erzählung auf Baldur<br />

und dessen Leute sowie auf die Auseinandersetzung im<br />

Myrkviör kam, blickten sich Bewok und Snofork vielsagend<br />

an.<br />

„Dein Traum war also richtig“ sagte Bewok zu seiner<br />

Frau. „Natürlich - wie konntest du nur daran zweifeln?“<br />

Findus sah die beiden fragend an und Bewok erklärte ihm:<br />

„Snofork hatte einen Traum, in dem sie die Zukunft gesehen<br />

hat. Sechs Reiter, die uns überfielen und töteten. Sie bat mich,<br />

alles Notwendige zusammen zu packen und von hier fort zu<br />

gehen. Ich habe sie für übergeschnappt gehalten und ihren<br />

Traum für eine Narretei.“ „Für die Narretei eines alten<br />

Weibes, gib´s zu“ keifte Snofork aufgebracht und fuhr fort<br />

„Siehst du jetzt endlich ein, dass ich Recht hatte? Wenn der<br />

Junge hier nicht gewesen wäre, dann wären wir jetzt tot!“<br />

Betretenes Schweigen folgte. Um die peinliche Situation zu<br />

beenden räusperte Findus sich und setzte seinen Bericht fort.<br />

Er erzählte von den Toten, der Ley, Malweýn, seinen<br />

Erlebnissen in der Wüste und dass er im Grunde nur auf der<br />

Durchreise mit dem Zielpunkt Fucunor war.<br />

„Fucunor...“ meinte Bewok versonnen. „Junge, da hast du<br />

dir aber was verdammt Großes vorgenommen. Soweit ich<br />

weiß, fahren nur ein- oder zweimal im Jahr Schiffe dorthin.<br />

Wenn überhaupt. Und um diese Jahreszeit schon gar nicht.<br />

Die Schiffsroute beginnt in Torboog mit einem<br />

Zwischenstopp auf der letzten unserer vorgelagerten Inseln.<br />

Die Insel ist unbewohnt, aber sie hat Süßwasser. Dort ergänzt<br />

man die Vorräte vor der eigentlichen großen Reise. Aber wie<br />

gesagt: Um diese Jahreszeit bestimmt nicht mehr. Keine<br />

Chance!“ Er schwieg.<br />

Snofork fügte noch hinzu: „Und eine Drachenlinie kannst<br />

du auch nicht benutzen. Keine passierbare Ley führt direkt zu<br />

einer Bônday.“ „Und fliegen?“ fragte Findus. „Schlag´ Dir das<br />

mal gleich wieder aus dem Kopf“ antwortete Bewok. „Der<br />

Weg über das Meer ist weit und gefährlich - selbst für einen<br />

163


weißen Raben. Die Stürme dort oben können Dich schon auf<br />

kürzesten Strecken töten. Aber lass´ uns mal überlegen,<br />

vielleicht gibt´s noch einen anderen Weg...“ Der alte Fischer<br />

dachte angestrengt nach. Snofork sah ihm dabei in die Augen.<br />

Plötzlich begann sie zu lächeln. Ein paar Gedanken ihres<br />

Mannes waren zu ihr herübergeweht. „Das ist es!“ strahlte sie.<br />

„Was?“ wollte Findus wissen. Bewok: „Du machst das so.<br />

Erstmal musst du Torboog erreichen. Da gibt´s Kaufleute<br />

und da gibt´s Piraten. Beide sind sich nicht grün. Aber es gibt<br />

garantiert auch heruntergekommene Kaufleute, die hin und<br />

wieder mit den Piraten Geschäfte machen - denn sonst<br />

könnten die gar nicht überleben. Ich weiß von den fahrenden<br />

Händlern, dass solche Geschäfte immer weit im Norden auf<br />

offener See abgewickelt werden. Damit keines Menschen<br />

Auge sie bemerkt. Such´ Dir also ein möglichst vergammelt<br />

aussehendes Kaufleuteschiff, das weit in den Norden reist.<br />

Von dessen Ankerplatz aus fliegst du dann als Rabe nach<br />

Fucunor. Auch das wird wohl noch hart genug werden. Aber<br />

es ist machbar.“<br />

Snofork ergänzte: „Du heuerst als einer von der<br />

Mannschaft an. Als Passagier kannst du nicht reisen, denn das<br />

ist auffälliger als ein Leuchtfeuer. Gib´ einen falschen Namen<br />

an. Alle auf solchen Schiffen haben Dreck am Stecken und<br />

laufen vor irgendwas oder irgendwem weg. Wenn einer von<br />

denen auf See verschwindet, dann kräht kein Hahn danach.<br />

So eine Person musst du werden. Ich weiß auch schon eine<br />

schöne Geschichte für Dich.“ Sie strahlte. „Und welche?“<br />

fragte Findus. „Na, ist doch klar. Du siehst gut aus; bist im<br />

besten Mannesalter. Du bist auf der Flucht. Vor dem Mann,<br />

mit dessen Frau du´s getrieben hast.“ „Weib!“ schimpfte<br />

Bewok aufgebracht. „Nein, lass´“ sagte Findus „die<br />

Geschichte hat was. Die ist gut. Das ist glaubhaft.“ „Deine<br />

Entscheidung“ knurrte der Fischer. Er gähnte. „Es ist<br />

verdammt spät geworden. Du weißt ja, wo dein Bett steht.<br />

Und Morgen ist auch noch ein Tag.“ So begaben die Drei sich<br />

zur Nachtruhe.<br />

Im Verlauf des nächsten Tages meinte Bewok „So wie du<br />

aussiehst, kannst du nicht bleiben. Zu auffällig für Torboog.<br />

Ich suche dir mal andere Kleidung raus.“ Er verschwand<br />

hinter dem die Hütte teilenden Vorhang und kehrte kurze<br />

164


Zeit später mit einem Bündel auf dem Arm zurück. „Hier, das<br />

dürfte dir passen. Waldläuferkleidung. Alt und abgetragen<br />

zwar, aber sauber. Und vor allem: Frei von Flöhen, Wanzen<br />

und anderem Viehzeug.“ Dankbar nahm Findus das Bündel<br />

entgegen und zog sich um. Eine dunkle Hose mit etlichen<br />

Flicken darauf. Das Kleidungsstück war sicherlich<br />

irgendwann einmal von heller Farbe gewesen, doch das lag<br />

wohl schon lange zurück. Ein warmes, dunkelgrünes Hemd<br />

und darüber ein wärmender, beinahe schwarzer Umhang mit<br />

wallender Kapuze. Festeres Schuhwerk, welches ihm sogar<br />

passte und wollende Handschuhe - Winterbekleidung.<br />

„Gut siehst du aus“ kommentierte Snofork die Wandlung<br />

und fügte hinzu „wie ein richtiger Waldläufer.“ „In Torboog<br />

wirst du Geld brauchen“ ergänzte Bewok „aber das habe ich<br />

leider nicht. Doch manchmal gibt der Wilderfrio noch was<br />

anderes frei als Zauberschwerter.“ Er warf einen scheuen<br />

Blick auf Gnarp, welches wieder an Findus´ Hüfte baumelte.<br />

Mit „Warte einen Moment“ verschwand der Fischer wieder<br />

hinter dem Vorhang. Findus hörte ihn in irgend etwas<br />

kramen. Dann kam Bewok zurück. In seiner Hand hielt er ein<br />

wertvolles Armband. Gold, mit edlen Steinen besetzt. „Das<br />

hier dürfte mindestens für etwas Essen und ein paar<br />

Übernachtungen im Gasthaus reichen. Feilsche - sonst nimmt<br />

dich keiner ernst. Das Teil ist sehr wertvoll.“ Er übergab<br />

Findus das Armband und drückte ihn dann an sich. Snofork<br />

gab Findus einen Kuss auf die Wange. „Pass´ gut auf dich auf,<br />

Junge. Spiel´ nicht mit dem Feuer“. Es war die Zeit des<br />

Abschieds...<br />

Am späten Nachmittag machte Findus sich auf den Weg.<br />

Zurück in den Wald, zurück zur Drachenlinie. Er fand sie<br />

rasch und trat in die Nebenwelt der Magie ein. Folgte der<br />

Linie durch Wasser - es war Flut in der Tiedsiepe -, durch<br />

Wald und durch die Berge des Helgebarg. Hinter einem Fluss<br />

fand sich eine grasbewachsene Ebene mit einem Ausgang.<br />

Sollte er die Ley hier schon verlassen? Sein Blick folgte dem<br />

magischen Weg. Ja, es schien besser zu sein. Denn irgendwo<br />

in der Ferne zerfaserte die Linie im Wasser. Das Meer war<br />

165


nicht mehr weit. Der Wanderer betrat <strong>Norgast</strong> nicht weit von<br />

Torboog entfernt in einem kleinen Wäldchen, welches in<br />

dieser gräsernen Ebene wie deplatziert wirkte. Doch es bot<br />

einen guten Sichtschutz.<br />

Ein kleines Problem tat sich allerdings auf. Rings um den<br />

Ausgang herum wuchs das Unkraut zum Teil mannshoch.<br />

Vorsichtig bahnte sich Findus den Weg hindurch.<br />

Dreissigeckige und dadurch nahezu rund wirkende<br />

Spinnennetze glänzten silberfarben im Licht der späten<br />

Sonne, von angefrorenen Tautropfen in funkelnde Juwelen<br />

verwandelt. Sie blieben an seiner Kleidung hängen. Er war<br />

empfindlich kalt. Sein Atem kondensierte zu kleinen,<br />

gefrierenden Nebelwölkchen. „Eben hoher Norden“ dachte<br />

der Reisende. Dornenbewehrte Ranken schienen nach ihm zu<br />

greifen. Vorsichtig setzte Findus Fuß vor Fuß in das kniehohe<br />

und den Boden verdeckende Gras, denn versteckte Löcher<br />

und Steine konnten einen Wanderer schnell zu Fall bringen.<br />

Als er das Gehölz hinter sich gelassen hatte, war nicht mehr<br />

viel von der Sauberkeit seiner Kleidung übrig geblieben. Jetzt<br />

sah er wirklich wie ein waschechter Waldläufer aus!<br />

Torboog lag nun schon so nahe, dass er die Stadt mit<br />

bloßem Auge sehen konnte. Er marschierte darauf zu und<br />

bemerkte das bereits verschlossene, große Stadttor. Neben<br />

dem Tor befand sich eine kleine Tür. Lautstark klopfte<br />

Findus dort an. Eine Sichtluke wurde zur Seite geschoben.<br />

„Wer begehrt Einlass?“ fragte ein mürrisch wirkender<br />

Torwächter. „Ein Waldläufer, der ein Nachtlager, ein warmes<br />

Essen und etwas Unterhaltung sucht.“ „Waldläufer verirren<br />

sich nur selten in die Stadt.“ „Mag sein, aber ich brauche eine<br />

Schiffspassage.“ Der Torwächter sah ihn abschätzend an.<br />

Waldläufer gehörten nicht unbedingt zu den Personen, die<br />

der Stadt Wohlstand und Reichtum brachten. Sie besaßen<br />

nichts. Normalerweise waren solche Leute nicht gern gesehen.<br />

In sich gekehrt und nachdenklich redeten sie nicht viel,<br />

wirkten unheimlich. Andererseits - auf einen Waldläufer war<br />

immer Verlass. „Um diese Jahreszeit? So komm´ denn rein“<br />

entschied der Wächter und öffnete das kleine Tor.<br />

Findus trat ein; blieb vor dem Wächter stehen. Der<br />

betrachtete den Reisenden interessiert. „Suchst du zusätzlich<br />

noch eine Unterkunft?“ „Das auch.“ „Gut. Gerade aus hoch<br />

166


und dann die dritte Gasse links. Dort hinein und auf der<br />

rechten Seite findest du die Herberge ‚Zum Wohlhabenden<br />

Schiffsmann‘. Da kannst du beides finden: Unterkunft und<br />

vielleicht auch eine Passage.“ „Sei bedankt“ antwortete<br />

Findus und marschierte los, in die fremde, dunkle Stadt<br />

hinein. Enge Gassen. Stinkende Gassen. Unrat auf der<br />

Strasse. Und quiekende Ratten, die im Unrat nisteten. Nicht<br />

gerade sonderlich einladend.<br />

Der ‚Wohlhabende Schiffsmann‘ sah noch wesentlich<br />

weniger einladend aus. Das Schild hing schief. Die Fenster,<br />

durch welche trübes Kerzenlicht sich kraftlos seinen Weg<br />

nach draußen bahnte, waren winzig und vom Staub sowie von<br />

Spinnweben mit den darin hängenden toten Fliegen völlig<br />

verdreckt. „In so einem Gasthaus kann es nur einen<br />

Wohlhabenden geben, nämlich den Wirt“ dachte Findus und<br />

trat ein. Der Raum war zwar als Saal gebaut worden, aber<br />

dennoch klein. Ein säuerlicher Geruch von menschlichen<br />

Ausdünstungen hing im Zimmer und schien selbst von den<br />

Holzwänden ausgeatmet zu werden. Roh<br />

zusammengezimmerte Holzbänke und -tische bildeten neben<br />

einer Theke das einzige Mobiliar. Über einer Feuerstelle<br />

brodelte in einem Kessel eine dünne Suppe mit<br />

undefinierbaren Fleischstücken darin. Ob Hund, Schwein<br />

oder Ratte - Findus wollte es lieber gar nicht erst wissen.<br />

Im Raum befanden sich an die dreissig Personen, meist<br />

Seeleute und teils schon sehr stark angetrunken - was<br />

angesichts des säuerlich-dünnen Weines an sich schon eine<br />

Leistung darstellte. Streit, Ärger und Aggression lagen<br />

förmlich in der Luft. Findus steuerte auf einen überaus fetten<br />

und hinter der Theke stehenden Mann zu. „Seid ihr der Wirt<br />

hier?“ „Wer will das wissen?“ lautete die unfreundliche<br />

Antwort. „Ein Wanderer, der eine Unterkunft, ein Essen und<br />

eine Schiffspassage sucht.“ „Ihr?“ „Ja, ich.“ „Ihr seht aus wie<br />

ein Waldläufer. Womit gedenkt ihr denn zu bezahlen?“<br />

„Damit“ antwortete Findus und zog den von Bewok<br />

stammenden Armreif aus der Tasche. Die Augen des Wirts<br />

begannen vor Gier zu glänzen. „Ein Essen, eine<br />

Übernachtung“ sagte der. „Vergesst es“ meinte Findus und<br />

steckte den Reif wieder weg. „Mit dem Schmuckstück könnte<br />

ich eure ganze Herberge kaufen!“<br />

167


Im Gesicht des Wirtes arbeitete es. Er wollte den Reif.<br />

Unbedingt. Sie feilschten. Schließlich einigten sie sich auf<br />

maximal einen vollen Mond an Unterkunft und Essen. „Wen<br />

kann ich fragen, wenn es um eine Schiffspassage geht?“ wollte<br />

Findus wissen. „Wohin wollt ihr?“ „Nach Norden, möglichst<br />

weit.“ „Aussichtslos. Das einzige Schiff, das um diese<br />

Jahreszeit noch das Nordmeer befährt, ist die ‚Königin von<br />

Fucunor‘. Und Schiff ist da wohl zuviel gesagt.“ „Warum?“<br />

„Weil der Kahn ein Seelenverkäufer ist. Der Kapitän<br />

- Einauge nennt man ihn - ist zwar ein Kaufmann, aber man<br />

munkelt von einer Piratenvergangenheit. Er soll auch heute<br />

noch mit den Piraten dunkle Geschäfte machen.“ „Bingo!“<br />

dachte Findus. „Wo kann ich ihn erreichen?“ „Gar nicht. Alle<br />

Geschäfte erledigt sein Zahlmeister. Seht Ihr den Kerl mit<br />

dem dunkelroten Umhang da hinten am Tisch? Den Dicken?<br />

Das ist er.“<br />

In diesem Moment rempelte ein stark Betrunkener Findus<br />

heftig an und unterbrach das Gespräch. Der betrunkene<br />

Seemann war auf Streit aus und wusste nicht mehr, was er tat.<br />

„Wassollndas?“ lallte er lautstark und stierte Findus aus<br />

glasigen Augen an. „Willstestreit? Kannstehabn!“ Er zog sein<br />

Schwert und schlug zu. Findus war schneller. Gnarp stand in<br />

der Luft und parierte die Klinge. Das Schwert des Angreifers<br />

zerbrach. Fassungslos glotzte der nur auf das Heft in seiner<br />

Hand und stammelte „Das... das...“ Dann wandte er sich an<br />

den Wirt und meinte ernüchtert „Gib´ mir noch mehr Wein!“<br />

Der Zwischenfall hatte alle Aufmerksamkeit auf den<br />

vermeintlichen Waldläufer und auf den Betrunkenen gezogen.<br />

Für einen Moment war es im Saal totenstill geworden.<br />

Besonders der Dicke mit dem roten Umhang schaute sehr<br />

aufmerksam herüber. „Jetzt oder nie“ dachte Findus und ging<br />

auf ihn zu. „Der Wirt meinte, ihr als Zahlmeister der ‚Königin<br />

von Fucunor‘ könntet mir weiterhelfen. Ich suche eine<br />

Passage nach Norden.“ „Jemanden, der sein Schwert zu<br />

handhaben weiß, können wir immer gebrauchen. Wir laufen<br />

aber schon morgen bei Flut aus, also kurz nach der<br />

Mittagszeit. Kommt früh morgens zum Schiff. Dann sehen<br />

wir weiter.“ Findus nickte und verabschiedete sich. Er suchte<br />

sich einen Platz in der Gaststube und eine Magd brachte ihm<br />

etwas sauren Wein und von dem Essen aus dem Kessel. Es<br />

168


schmeckte auch so, wie es aussah. Die Unterkunft selbst<br />

konnte Findus danach erst Recht nicht mehr erschüttern...<br />

Schon der erste Hahnenschrei brachte Findus wieder auf die<br />

Beine. Nur fort von hier, fort aus dieser schmutzstarrenden<br />

Kaschemme! Er fragte sich bis zum Hafen durch. Es war kalt.<br />

Viele Schiffe lagen hier nicht mehr und eine dünne Eisschicht<br />

überzog das Wasser. Ein paar Fischerboote. Ein paar zum<br />

Winter hin eingemottete Großsegler. Und - ein gehöriges<br />

Stück abseits, gerade so, als wolle niemand damit etwas zu tun<br />

haben - eine Brigg: Die ‚Königin von Fucunor‘. Das Schiff<br />

war dreckig; die Planken sahen stellenweise sogar morsch und<br />

angefault aus. Die schlaff von den beiden Masten<br />

herunterhängenden Segel schienen nur aus Flicken zu<br />

bestehen - Flicken, die ein Einrollen des Tuchs unmöglich<br />

machten. Das Schiff wies zwei Aufbauten auf, an Backbord<br />

für die Offiziere sowie für die Schiffsleitung und mittschiffs<br />

für die Mannschaft.<br />

Trotz der noch frühen Stunde herrschte schon ein reges<br />

Treiben. Die Mannschaft war mit dem Stauen der Waren<br />

beschäftigt. Welcher Waren? Besser nicht danach fragen.<br />

Überhaupt, die Mannschaft: Was Findus davon zu Gesicht<br />

bekam, machte nicht gerade den besten Eindruck. Irgendwie<br />

passte die Meute zum Zustand des Schiffes. Menschen und<br />

Schiff ähnelten einander auf geradezu frappierende Weise.<br />

Kaufleute sollten das sein? Seltsame Kaufleute! Ein jeder von<br />

ihnen sah aus - und benahm sich auch so - als könne er es gar<br />

nicht abwarten, so schnell wie möglich von hier fort zu<br />

kommen. Gehetzte, misstrauische Blicke allenthalben. Und<br />

vermutlich hatte auch jeder von denen einen ganz bestimmten<br />

und guten Grund dafür. Leute, die nichts mehr zu verlieren<br />

hatten. Die keine Zukunft kannten. Auf seine Frage nach dem<br />

Zahlmeister wurde Findus zu dem hinteren Aufbau<br />

verwiesen. Er fand die Tür, die er suchte, klopfte und wurde<br />

aufgefordert, einzutreten.<br />

„Sieh´ an, der Waldläufer von gestern Abend.“ Der Dicke<br />

lächelte falsch. „Es war dir also ernst mit dem Anheuern?“<br />

„Ja, das war es“ entgegnete Findus wortkarg. „Warum willst<br />

169


du weg?“ Forschend sah der Zahlmeister ihn an. „Will ich<br />

das?“ fragte Findus zurück. „Hör´ zu, mein Junge, versuche<br />

nicht, mich zu verarschen. Jeder hier an Bord hat Dreck am<br />

Stecken, denn sonst wäre er nicht hier. Da machst du keine<br />

Ausnahme. Aber wir nehmen auch nicht jeden. Brandstifter,<br />

Diebe und Säufer oder sowas brauchen wir hier an Bord<br />

nicht. Also?“ Er fixierte Findus. „Nun ja - ich werde<br />

verfolgt.“ „Hast du jemanden umgebracht?“ „Nein...“ Findus<br />

entschloss sich, noch einen draufzusetzen „...eher im<br />

Gegenteil.“ Unverständnis im Gesicht seines Gegenübers.<br />

Dann langsames Verstehen und ein breites Grinsen. „Und<br />

jetzt ist sie mit dem Kind hinter dir her?“ „Sie nicht. Aber ihr<br />

Mann.“ Der Zahlmeister brach in ein brüllendes Gelächter<br />

aus. „Das ist gut! Ein Waldläufer, der...“ Vor Lachen blieb<br />

ihm die Luft weg.<br />

Dann aber beruhigte der Zahlmeister sich wieder. „Warst<br />

du schon einmal auf See oder auf einem Schiff? Hast du<br />

Erfahrung mit dem Meer?“ Findus schüttelte den Kopf. „Das<br />

macht gar nichts“ meinte der Zahlmeister und fuhr fort:<br />

„Entweder du bekommst diese Erfahrung oder du stirbst. So<br />

einfach ist das. Schon eine kleine Unachtsamkeit kann tödlich<br />

sein. Wenn du in das Wasser des Nordmeeres fällst, dann<br />

stirbst du augenblicklich durch den Kälteschock. Falls du es<br />

aber überleben und rausgefischt werden solltest, dann erfrierst<br />

du langsamer. Kein schöner Tod, glaub´ mir! Gut, du wirst<br />

Mitglied der Mannschaft. Mädchen für alles. Du bekommst<br />

freie Kost und Logis. Am Ende einer erfolgreichen Fahrt<br />

kommt noch ein Lohn hinzu, den der Kapitän allein festlegt.<br />

Der Kapitän ist für dich so etwas wie ein Gott. Du hast ihn<br />

nicht anzusprechen. Gleiches gilt für die Offiziere. Dein<br />

einziger Ansprechpartner bin ich selbst.“<br />

Er legte eine kurze Pause ein und sprach dann weiter: „Als<br />

Mannschaftsmitglied wirst du in die Gilde der Kaufleute<br />

aufgenommen. Bei uns gelten bestimmte Regeln. Ich nenne<br />

sie dir jetzt - merke sie dir gut! Zuerst: Die Öffentlichkeit<br />

erfährt niemals, wie wir unsere Geschäfte abwickeln und was<br />

für Geschäfte wir machen. Wer plaudert, der hat die<br />

Konsequenzen zu tragen. Unangenehme Konsequenzen. Sehr<br />

unangenehm! Weiter: Nur ein Kaufmann ist befähigt, die<br />

Befähigung anderer Kaufleute zu beurteilen, aber kein<br />

170


Kaufmann darf jemals gegen einen anderen Kaufmann<br />

aussagen. Der Einzelne ist nichts; die Gilde ist alles. Sollte<br />

jemand auf die Idee kommen, von einem Händler übervorteilt<br />

worden zu sein, dann muss der Betreffende selbst den Beweis<br />

dafür erbringen.“ Der Zahlmeister schwieg und sah Findus<br />

an.<br />

Findus ergänzte: „Und da er das nicht beurteilen kann und<br />

kein Händler gegen einen anderen aussagen darf, dürfte ihm<br />

das schwerfallen.“ Breit grinsend meinte der Zahlmeister:<br />

„Du kannst ja sogar denken. Ich sehe, wir haben uns<br />

verstanden. Hier ist dein Kontrakt, als Namen habe ich<br />

‚Waldläufer‘ eingesetzt. Setze drei Kreuze darunter und dann<br />

geh´ nach vorn. Frage nach dem Seehundsjäger; er wird dich<br />

einteilen.“<br />

Damit war Findus entlassen. Er suchte den Seehundsjäger,<br />

fand ihn und half auf dessen Anweisung hin beim Stauen der<br />

Ladung mit. Währenddessen lief die Flut auf. Nachdem die<br />

Sonne ihren Zenit überschritten hatte, herrschte ablaufendes<br />

Wasser. Findus arbeitete unter Aufbietung aller Kräfte am<br />

Ankerspill - der Anker wurde aufgeholt. Es folgte das<br />

Loswerfen der Leinen und die ‚Königin von Fucunor‘ ließ<br />

sich vom Ebbstrom langsam auf die offene See hinausziehen.<br />

Mit dem Land verschwanden auch die einzelnen Nebelfetzen,<br />

die noch über dem Wasser gelegen hatten. Wind kam auf,<br />

füllte knallend die ächzenden Segel. Es roch nach Salz - nach<br />

vielen winzigen, beigefarben-würzigen Polyedern, hellgrünlich<br />

und weißgepunktet krisselig mit einem spitzen und<br />

tiefoliven Geschmack: Soltwind! Die Brigg machte Fahrt und<br />

Findus sah besorgt hinauf zu den mächtigen, geblähten<br />

Leinenmassen. Doch die hielten der Brise stand. Das Schiff<br />

befand sich in einem besseren Zustand, als sein<br />

heruntergekommenes Aussehen vermuten ließ.<br />

Kalt war es. Besonders der schneidende Wind kühlte den<br />

Körper aus. Sechseckige Schneeflocken tanzen wild in der<br />

Luft. Horizontal peitschte der Nordwest Findus die<br />

Eiskristalle ins Gesicht, jede Berührung ein winzig kleiner<br />

Schmerz in Ultrablau, wie die Flamme eines Schmiedefeuers,<br />

aber kalt. Eiskalt und dennoch schön. Tausende und<br />

Abertausende von diesen Funken. Wolkig-rauchig-grau mit<br />

weißen Punkten durchsetzt wie eine zerfasernde, alte<br />

171


Teppichrolle - aber trotzdem unvergleichlich ästhetisch - lag<br />

über allem das rauschende Donnern der ewigen Brandung.<br />

Spitz zulaufende, weißlich-blaßgelbe Bögen am Himmel; die<br />

Schreie der allgegenwärtigen Möwen. Die Möwen flogen in<br />

die Bögen hinein; es sah aus, als würden die Bögen ein Teil<br />

von ihnen sein. Neben Findus´ Ohren baute der Wind<br />

fauchend wahre gräuliche, kugelige Gebirge auf. Trotz dicker<br />

Kleidung drang die quietsch-bonbonrote, schmutzigweißfarben-getüpfelte<br />

Kälte langsam durch. Von den<br />

mitgerissenen Wassertröpfchen wurde die Kleidung immer<br />

feuchter, nasser, kälter. Der Nordwest trieb ihm die Tränen in<br />

die Augen; die Gischt flog über ihn hinweg: Das Schiff war<br />

auf dem offenen Meer!<br />

Die ‚Königin von Fucunor‘ benötigte gegen die Strömung<br />

beinahe zwei volle Tage, um die vorgelagerte Insel zu<br />

erreichen. Die anrollenden Wellen - bleigrau mit weißen<br />

Schaumkämmen, dazwischen treibende Eisbrocken -<br />

verzögerten die Fahrt und warfen das Schiff immer wieder<br />

hin und her, so dass Ausweichkurse nötig wurden. Manch<br />

einer wurde seekrank; Findus´ jedoch blieb das zum Glück<br />

erspart. Es waren die zwei Tage, während denen er erkannte,<br />

dass Malweýn mit seinen Ausführungen zur Rolle der<br />

Kaufleute in <strong>Norgast</strong> richtig lag - und nicht nur das! Was<br />

Findus seitens der anderen Besatzungsmitglieder erfuhr, warf<br />

ein noch sehr viel schlechteres Licht auf die Gilde als Solche.<br />

Die Händler legten aufgrund ihrer Monopolstellung die<br />

Ankaufspreise bei den Produzenten fest; sie kauften billig und<br />

verkauften teuer - ohne je selbst etwas zu schaffen, ohne<br />

jemals selbst irgendwo Hand anzulegen. Sie machten auf<br />

Kosten der Erzeuger großen Profit und brachten dem Land<br />

Reichtum. Aber darüber hinaus: Sie wurden eben dadurch<br />

- durch die Ausnutzung der Bevölkerung - auch entsprechend<br />

einflussreich. Und sie waren skrupellos.<br />

Sie ‚kauften‘ politisch einflussreiche Personen, um Einfluss<br />

auf die Politik zu nehmen: Ratgeber, Lehrer, Erzieher,<br />

Bürgermeister, Richter. Letztere reagierten dann in ihrem<br />

Sinne und nicht mehr im Sinne der Bevölkerungsmehrheit.<br />

Die Kaufleute glaubten sich aufgrund ihres großen Einflusses<br />

als über den Gesetzen stehend. Sie scheuten auch nicht davor<br />

zurück, mit Verbrechern Geschäfte zu machen, wenn es<br />

172


ihrem Profit diente. Die Verbrecher ‚beschäftigten‘ sich als<br />

Letzte in der Kette mit den Leuten, die der Gilde<br />

unangenehm waren - immer dann, wenn ein gildeninterner<br />

Anschlag auf die körperliche Gesundheit der Betroffenen<br />

oder der Versuch, solche Leute zu disqualifizieren nichts<br />

gebracht hatte. Die Gildenführer berieten Baldur und Baldur<br />

änderte dafür <strong>Norgast</strong>s Gesetze - zu ihren Gunsten! Eine<br />

Hand wäscht die andere!<br />

Immer mehr und immer neue Gesetze. Den Menschen<br />

wurde dadurch das Denken abgewöhnt. Weitsicht,<br />

Folgenabschätzung - wozu denn? Alles war doch von oben<br />

her verordnet und reglementiert. Hatte man aber den<br />

Bewohnern des Reiches auf diese Weise erst einmal<br />

abgewöhnt, sich selbst Gedanken zu machen, dann war das<br />

Spiel leicht geworden. Man konnte den Leuten einreden, was<br />

sie denken sollten. Man konnte sie Glauben machen, diese<br />

oder jene Waren unbedingt kaufen zu müssen, um ihre<br />

persönliche Situation zu verbessern. Querdenker wurden<br />

seitens des Staates kriminalisiert; sie störten doch nur die<br />

Ordnung. Und wer profitierte davon? Natürlich die Gilde!<br />

Findus fragte sich, ob Baldur diese Machenschaften<br />

überhaupt durchschaute. Vielleicht war gar der auch nur ein<br />

Rädchen im Getriebe? Ein wichtiges Rädchen zwar, aber eben<br />

nur ein Rädchen. Und damit beliebig austauschbar. Die Fäden<br />

im Reich zog nicht der Herrscher. Die zogen andere - nämlich<br />

die Kaufherren.<br />

Dieses perfide und festgefügte, sich inzwischen selbst<br />

stabilisierende System erinnerte Findus an den Myrkviör-<br />

Dämon: Erst langsam eingesickert und dann wuchernd wie<br />

ein Krebsgeschwür. Nur war der Dämon leichter zu<br />

bekämpfen gewesen, denn es hatte sich um einen erfahrbaren<br />

Gegner gehandelt. Die Gilde hingegen bildete eine<br />

schwammige, niemals direkt greifbare, allgegenwärtige Masse.<br />

Malweýn hatte von einer Lebensader gesprochen und damit<br />

vollkommen Recht. Er meinte nur den Falschen. Doch wenn<br />

er diese Lebensader abschneiden könnte, dann träfe das<br />

automatisch auch die Richtigen!<br />

Auf der vorgelagerten Insel wurde Trinkwasser<br />

aufgenommen und die Mannschaft beseitigte die Schäden, die<br />

sich auf der Herfahrt gezeigt hatten, so gut es eben ging.<br />

173


Findus packte tatkräftig mit an. Dann begann die Fahrt auf<br />

das eigentliche Nordmeer hinaus. Das Maar veränderte sich.<br />

Anfangs manövrierten sie zwischen Untiefen, brausenden und<br />

donnernden Brechern hindurch. <strong>Heim</strong>tückisch glucksend und<br />

gurgelnd fluteten die Wasser rings um das Schiff herum,<br />

gerade so, als wollten sie den Kahn mit Mann und Maus<br />

hinab in die eisigen Tiefen ziehen. Später schlugen die<br />

brausenden Wogen weniger hoch; das Schiff lag ruhiger. Der<br />

Wind dreht auf südöstliche Richtung und die Brigg machte<br />

schnelle Fahrt gen Norden.<br />

Zwei Tage später veränderte sich auch das Meer selbst.<br />

„Eisberg voraus!“ erscholl eine Stimme vom Ausguck. Jetzt<br />

war es vorbei mit der schnellen Fahrt. Die ‚Königin von<br />

Fucunor‘ kreuzte nur noch langsam und vorsichtig durch die<br />

Gewässer, zwischen den eisigen Hindernissen hindurch.<br />

Abends - die Sonne ging hier oben im Norden nicht mehr<br />

völlig unter - erblickten sie im Schatten eines Eisberges ein<br />

weiteres Schiff: eine Piratenfregatte! Doch es kam nicht zur<br />

Konfrontation, ganz im Gegenteil! Vielmehr blitzen von<br />

dieser Fregatte aus Lichtsignale zur Brigg hinüber. Mit Hilfe<br />

von Silberspiegeln fingen die Offiziere der ‚Königin‘<br />

Sonnenstrahlen ein und schickten sie zurück<br />

- Lichtkommunikation über weite Entfernungen hinweg.<br />

Beide Schiffe kamen längsseits. Eine kurze Begrüßung der<br />

Schiffsführungen – man kannte einander! - und die auf der<br />

Brigg verstauten Waren wurden umgeladen.<br />

Es war reine Knochenarbeit. Findus rang nach Atem und<br />

blickte in Richtung Norden. Da war etwas, rechts von der<br />

Sonne. Kaum sichtbar und nur hin und wieder im Zwielicht<br />

kurz rötlich aufglimmend. Der Seehundsjäger gesellte sich zu<br />

ihm. „Na, Waldläufer, kannst du nicht mehr?“ „Doch, es geht<br />

gleich wieder. Was ist das da im Norden?“ „Das da? Fucunor.<br />

Die verwunschene Insel mit ihren feuerspeienden Bergen.<br />

Besser nicht hinsehen. Nicht mal drüber sprechen. Komm´,<br />

fass´ wieder mit an.“ Er ging erneut zu den Umladearbeiten<br />

hinüber, in der Annahme, dass Findus ihm folgen würde.<br />

Doch Letzterer blieb allein zurück. Eine gute Gelegenheit!<br />

Fucunor in Sichtweite und er war allein! Findus wurde zum<br />

weißen Raben und flog hoch in den klaren Himmel hinauf<br />

mit Kurs in Richtung Norden. Ein unaufmerksamer<br />

174


Beobachter mochte ihn für einen kleinen Albatros oder für<br />

eine sehr große Möwe halten. Es wurde ein sehr langer Flug<br />

- denn auf dem Meer können die Entfernungen gewaltig<br />

täuschen!<br />

Die Insel Fucunor: Aus Feuer geborenes Eis. Schroffe<br />

schwarze, steil aufragende Berghänge, gekrönt von<br />

feuerspeienden Kratern in Gelbrot. Schneebedeckte<br />

Bergflanken und dichte Wolken weißen Wasserdampfes<br />

überall dort, wo sich Feuer und Schnee zu nahe kamen.<br />

Zwischen dem Strand und den Vulkanflanken heiße Quellen<br />

und Geysire, welche schmale grüne Streifen üppig beheizten<br />

und so für eine geradezu überschäumende Vegetation<br />

sorgten. Schwarz, Weiß, Gelbrot und Grün inmitten eines<br />

silberblauen und von türkis-weißen Eisbergen reichlich<br />

durchsetzen Meeres. All das nahm Findus aus der großen<br />

Höhe seines Fluges wahr. Und noch etwas sah er: Von einem<br />

der Berghänge löste sich etwas. Auf den ersten Blick sah es<br />

aus wie ein sehr großer Vogel. Doch nur auf den ersten Blick.<br />

Findus landete nahe einem der Grünstreifen und nahm<br />

wieder seine menschliche Gestalt an. Wohin er auch blickte:<br />

Berge und die Unendlichkeit der See. Der vermeintliche<br />

Vogel landete neben ihm. Es war aber kein Vogel - es war<br />

eine Harpyie. Der Unterleib eines Adlers, die Füße in scharfen<br />

und langen Raubvogelklauen auslaufend. Der nackte<br />

Oberkörper einer wunderschönen Frau, schwarzhaarig und<br />

mit leicht schräg gestellten Mandelaugen. Ihre Arme liefen<br />

nach hinten in die Schwingen aus, mit denen sie flog und<br />

mündeten seitlich in ganz normalen menschlichen Händen.<br />

Die Harpyie blickte Findus an. Sie begrüßte ihn mit den<br />

Worten: „Wir mögen hier keine Fremden. Auch dann nicht,<br />

wenn sie ihre Gestalt wechseln können. Du bist hier nicht<br />

willkommen!“<br />

„Das mag durchaus sein, aber ich habe einen Auftrag von<br />

der Tiedsiepe-Bônday zu erfüllen. Du bist doch eine Novizin<br />

der hiesigen Bônday. Bring´ mich zu ihr!“ entgegnete Findus<br />

sehr bestimmt. Perplex sah die Harpyie ihn an. Er<br />

kommandierte sie! Doch sie bemerkte noch etwas - nämlich<br />

175


die von dem Ankömmling ausgehende magische Kraft. „So<br />

komm´ denn mit“ lenkte sie ein und schwang sich in die<br />

Lüfte. Findus verwandelte sich wieder in den weißen Raben<br />

und flog mit ihr zu einem der Berghänge. Sie landeten und<br />

Findus wurde wieder zum Menschen. Vor ihm tat sich ein<br />

steinerner Saal auf, in dem sich eine weitere Harpyie aufhielt.<br />

Die jedoch war dunkelhäutig mit bernsteinfarbenen<br />

Katzenaugen und wasserstoffblond-silbernem Haar: Die<br />

Bônday von Fucunor!<br />

„Ah, Lanyla - du bringst Besuch mit?“ „Er behauptet, er<br />

käme im Auftrag der Tiedsiepe-Bônday.“ „Stimmt das?“<br />

richtete die Fucunor-Bônday nun ihre Frage an Findus. Der<br />

bemerkte „Ja und nein. Ich erhielt von der Tiedsiepe-Bônday<br />

den Auftrag, nach dem Stein des Lebens zu suchen. Ein<br />

Dschinn verriet mir, dass ich ihn hier finden kann.“ „Wie ist<br />

Dein Name?“ „Findus.“ „Nun Findus, siehst du hier irgend<br />

etwas, das wie ein Stein des Lebens aussieht?“ Findus blickte<br />

sich um - vergeblich. „Nein“ gestand er „hier ist nichts. Aber<br />

vielleicht auf Deiner Insel. Ich werde eben suchen müssen.“<br />

„Vielleicht auf meiner Insel...“ meinte die Harpyie versonnen.<br />

„Du bist hartnäckig. Das erklärt, warum meine Schwester in<br />

der Tiedsiepe so große Hoffnungen in dich setzt. Gut. du isst<br />

erst einmal und schläfst dich aus. Es dürfte eine anstrengende<br />

Reise gewesen sein. Morgen weise ich dir einen Weg. Was<br />

danach passiert, dass liegt jedoch ganz allein bei dir.“ Findus<br />

nickte. Es wurde ein gutes Essen und das Lager war allemal<br />

besser als das auf dem Schiff.<br />

Am Vormittag des Folgetages ließ die Bônday nach Findus<br />

rufen. „Flieg´ mit mir“ lud sie ihn ein. Beide stiegen auf und<br />

flogen über die Insel, vorbei an Schneefeldern und zwischen<br />

den grollenden, aktiven Vulkanen hindurch. Irgendwo im<br />

Innern von Fucunor landeten sie schließlich. „Siehst du die<br />

große Höhle in dem Berg dort drüben?“ fragte die Harpyie.<br />

„Ja“ bestätigte Findus. „Wenn es hier irgendwo das gibt,<br />

wonach du suchst, dann dort. Aber sei gewarnt. Hüte Dich<br />

vor dem Wächter, denn er mag Fremde noch sehr viel<br />

weniger als ich. Es liegt alles nur bei dir!“ Sprach´s und erhob<br />

sich wieder in die Luft, Findus allein zurück lassend. Der<br />

nahm die Warnung sehr ernst. Dennoch - er war schon zu<br />

weit gereist, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen.<br />

176


Entschlossen setzte er seinen schon vor langer Zeit<br />

eingeschlagenen Weg fort, den Berg hinauf zur Höhle.<br />

Findus war noch nicht bei der Höhle angelangt, als eine<br />

feurige Lohe den Felsblock vor ihm zerspringen ließ. Die<br />

Wucht des Feuers warf den Wanderer auf den Rücken, doch<br />

behende stand Findus wieder auf den Beinen, Gnarp bereits<br />

wachsam in der Hand. Aus der Höhle bahnte sich ein<br />

Schatten seinen Weg ins Freie. Ein riesiger Schatten! Erst als<br />

das Geschöpf vollständig draußen war, konnte Findus<br />

erkennen, um was es sich handelte. Es war ein gigantischer<br />

Drache! Der erdfarbene Reptilienkopf auf jeder Seite von vier<br />

spitzen Hörnern umsäumt. Geschuppte, ledrige Haut. Lange<br />

und garantiert auch scharfe Zähne. Zwei ledrige Fledermaus-<br />

Schwingen, jeweils so lang wie zehn ausgewachsene<br />

Menschen. Vier Gliedmaßen mit Krallen, denen man besser<br />

nicht zu nahe kam. Ein mächtiger Körper, in einen langen<br />

und dünnen, peitschenartigen Schwanz mit einer stachligen<br />

Keule am Ende auslaufend. Ein Urtier aus einer längst<br />

vergangenen Zeit; einer Zeit, in der die Magie noch sehr viel<br />

mächtiger und verbreiteter war als heute!<br />

Findus sprang - unsichtbar für den Drachen, wie er hoffte<br />

- zur Seite und presste sich in eine Felsnische. Keinen<br />

Moment zu früh, denn auf die Stelle, an der er eben noch<br />

gestanden hatte, fiel ein Feuerregen nieder, der seinen<br />

Ursprung in den Nüstern des Drachen hatte. Findus überlegte<br />

fieberhaft. Rein logisch betrachtet konnte er es mit diesem<br />

Untier, mit dieser unbändigen Kraft, niemals aufnehmen.<br />

Seine einzige Chance bestand darin, schnell, unsichtbar klein<br />

und lautlos zu sein. Und die empfindliche Stelle des Drachen<br />

zu treffen. Vermutlich von der Unterseite aus, vermutlich das<br />

Herz. Schnell, unsichtbar und lautlos: Das alles hatte Bewok<br />

ihm einmal beigebracht, als es darum ging, Forellen mit<br />

bloßer Hand zu fangen. „Wo bist du, Sterblicher?“ röhrte der<br />

Drachen mit einer Lautstärke, welche die Wände erzittern<br />

ließ. Kleine Gesteinsbrocken lösten sich durch den Lärm und<br />

prasselten nach unten. Einer davon fiel Findus genau vor die<br />

Füße. Schnell bückte er sich und nahm ihn auf. Eine einfache<br />

List fiel ihm ein.<br />

Er warf den Stein, der mit einem cremeweiß-klackenden<br />

Geräusch aufkam. Der Kopf des Drachen ruckte suchend in<br />

177


Richtung auf das Geräusch herum; ein Feuerstoß folgte. Drei,<br />

vier lange Sätze und Findus stand unter dem Ungeheuer.<br />

Gnarp zuckte hoch und bohrte die Spitze handspannenlang in<br />

die ledrige Haut. Schwarzes Drachenblut prasselte auf Findus<br />

hernieder, durchnässte ihn völlig, machte ihn - wenn man den<br />

Sagen Glauben schenken durfte - unverwundbar. Der Drache<br />

hingegen stand still, wie zur Salzsäule erstarrt. Er wusste, dass<br />

jede Bewegung seinerseits nun ausreichen würde, um ihm die<br />

Schwertspitze bis ins Herz zu treiben. Aber warum machte<br />

der Sterbliche dem Kampf kein Ende? Findus stand<br />

gleichfalls unbeweglich da, im Regen aus Drachenblut. In<br />

seinem Kopf hörte er wieder Brokk´s Worte. „Benutze deine<br />

Fähigkeiten niemals zum Angriff, sondern einzig und allein<br />

zur Verteidigung“ und auch die Empfehlung der alten<br />

Zigeunerin „Tu was du willst, aber schade niemandem.“<br />

„Mach´ endlich ein Ende, oder willst du mich langsam<br />

verbluten lassen?“ sagte der Drache resignierend. „Ich will<br />

dich gar nicht töten“ antwortete Findus und fügte hinzu „Wir<br />

können uns durchaus einigen. Gib´ mir dein Wort, dass du<br />

mich nicht mehr angreifst und ich ziehe das Schwert zurück.“<br />

„Das Wort eines Drachen - weißt du, was du da von mir<br />

verlangst?“ „Ja. Genau deswegen verlange ich es ja.“<br />

Menschen konnten lügen, konnten Meineide schwören.<br />

Drachen nicht. Sie waren um ihres eigenen Lebens willen für<br />

immer und ewig an ihr Wort gebunden. Und ein<br />

Drachenleben währte sehr viel länger als das Leben eines<br />

Menschen. Sogar viel länger als das Leben einer Bônday. Sich<br />

einen Drachen zu verpflichten oder ihn gar zum Freund zu<br />

haben - etwas Besseres konnte einem Menschen nicht<br />

passieren. „So sei es denn, ich gebe dir mein Wort. Ich werde<br />

dich nicht mehr angreifen“ lenkte der Drache ein und:<br />

„Nenne mich Draconis.“ Findus zog Gnarp zurück und ließ<br />

das Schwert in der Scheide verschwinden. Mit einem sanften<br />

Schmatzen schloss sich die Wunde im Leib des Ungetüms.<br />

Der Blutregen versiegte augenblicklich. „Mein Name ist<br />

Findus“ erwiderte er und trat unter dem gewaltigen Leib<br />

hervor, um dem Drachen in die senkrecht geschlitzten<br />

Pupillen sehen zu können.<br />

„Lass´ uns wie zivilisierte Wesen miteinander reden“<br />

schlug Findus vor. „Ein Sterblicher, der sich mit Gewalt einen<br />

178


Drachenschatz aneignen will - nennst du das etwa zivilisiert?“<br />

Findus lächelte. „Darf ich dich darauf hinweisen, dass du<br />

mich zuerst angegriffen hast? Aber es geht mir gar nicht um<br />

irgendeinen Schatz. Und ich verspreche, nichts aus der Höhle<br />

mitzunehmen, zu dem du nicht die Erlaubnis erteilst.“ „Bist<br />

du sicher, dass in deinem Kopf noch alles in Ordnung ist?“<br />

spottete Draconis. „Durchaus“ antwortete Findus ernst und<br />

fuhr fort „Ich suche einen einzigen Stein. Den Stein des<br />

Lebens. Die Bônday sagte, er könnte dort drin sein...“<br />

- Findus wies zur Höhle – „...war sich aber nicht sicher. Lass´<br />

mich hinein und dort suchen. Das ist alles. Mehr will ich<br />

nicht.“ Der Drache schüttelte in völlig menschlicher Manier<br />

den Kopf. „Unglaublich“ brummte er „einfach unglaublich.<br />

Geh´ schon!“<br />

Findus blickte erst den Drachen an und betrat dann die<br />

Höhle, die einen tiefgrünlichen Geruch ausstrahlte. Schon<br />

kurz hinter dem Eingang fand er das, wovon Draconis<br />

gesprochen hatte: den Drachenschatz! Gold, Silber, edle<br />

Steine, Münzen, funkelnde Diademe, Messer, Schalen, Perlen,<br />

Korallen, seltene Metalle. Und alles nicht das, wonach er<br />

suchte - denn alles war von Menschenhand gemacht oder<br />

doch zumindest von Menschenhand bearbeitet worden. Der<br />

Stein des Lebens hingegen musste mehr sein - mehr als ein<br />

Mensch je zu schaffen vermochte. Folglich konnte er nur<br />

natürlichen Ursprungs sein, wie der Dschinn es gesagt hatte.<br />

Findus untersuchte den Schatz daher nur oberflächlich. Hier<br />

ein Blick, da ein Blick. Oh ja, soviel Reichtum würde<br />

bestimmt große weltliche Macht verleihen - Macht, die er<br />

nicht wollte, die ihn abstieß!<br />

Findus fand in dem Haufen von Geschmeide und<br />

materiellem Wert nicht das, wonach ihm der Sinn stand.<br />

Deswegen wagte er sich tiefer und tiefer in die sich immer<br />

weiter verengende Höhle hinein. Ganz hinten am Ende war<br />

da auf einmal nur noch ein schmaler Spalt im Fels. Ein Spalt<br />

allerdings, aus dem Licht schimmerte. Findus quetschte sich<br />

hindurch, das scharfkantige und auf seiner Haut scheuernde<br />

Gestein nicht achtend. Und stand urplötzlich in einer kleinen<br />

Kammer, deren Wände über und über mit Bergkristallen<br />

bewachsen waren. Durch ein kleines Loch in der Decke fiel<br />

Licht. Licht, welches von den Kristallen tausendfach<br />

179


gebrochen und reflektiert wurde. Atemberaubend chaotisches<br />

Licht. Still und stumm betrachtete er das optische Schauspiel.<br />

Sein Blick folgte den verschiedenen Strahlen. Dann plötzlich<br />

entdeckte er das Ziel seiner Suche.<br />

Es war ein auf den ersten, flüchtigen Blick ganz ordinärer<br />

Bergkristall. Ein Doppelender, an einer Längsseite mit der<br />

Felswand verwachsen. Doch dieser Kristall wies eine<br />

Besonderheit auf. Er war nicht so vollendet rein und klar wie<br />

die anderen Steine. Vielmehr hatte sich bei seinem Wachstum<br />

immer wieder und wieder irgend etwas Mineralisches auf den<br />

einzelnen kristallinen Flächen abgelagert. Danach war er<br />

einfach weiter gewachsen und dieses Wachstum führte zum<br />

Einschluss der Mineralabscheidung, so dass der Stein nun<br />

aussah wie ein Kristall in einem Kristall in einem Kristall und<br />

so weiter bis in alle Unendlichkeit – genau wie es der Dschinn<br />

beschrieben hatte. Es war eine seltene Form vom Bergkristall<br />

- ein Phantomquarz, der Stein des Lebens!<br />

Findus vergaß alles um sich herum und ließ seinen Blick<br />

über dieses Symbol höchster Vollkommenheit schweifen. Ja,<br />

genau das war es! Eine Versinnbildlichung ihrer aller Welt,<br />

nein, sogar aller möglichen Welten überhaupt, die<br />

Anderswelten mit eingeschlossen! Jede Ebene, jede<br />

Kristallfläche stand für den vorgezeichneten Weg einer<br />

einzigen Welt. Vom Anfang bis zum Ende. Doch es waren<br />

unendlich viele Kristallebenen, folglich auch unendlich viele<br />

Welten. Und doch hingen sie alle zusammen, waren sie<br />

miteinander verwachsen! Dadurch würde das, was auf einer<br />

Ebene geschah, automatisch auch Auswirkungen auf alle<br />

anderen Ebenen zeigen müssen. Mal mehr, mal weniger. Mal<br />

im Kleinen, dafür aber gerichtet und mal im Großen, dafür<br />

aber ungerichtet.<br />

Jede Kristallebene entsprach einer statischen,<br />

vorgezeichneten Möglichkeit, einer Wahrscheinlichkeit.<br />

Welche dieser Möglichkeiten aber schließlich zur individuellen<br />

Realität wurde, dass hing einzig und allein vom Verhalten des<br />

Ebenenbewohners, von seinem Bewusstsein, von seiner Seele,<br />

von seinen Entscheidungen ab. Entscheidung bedeutete<br />

nämlich, auf eine andere Ebene überzuwechseln. Zeit,<br />

Entwicklung, Evolution - all das entstand erst durch die<br />

Wechselwirkung des Bewusstseins mit der Gesamtheit der<br />

180


Welten. Ohne die Berücksichtigung des Beobachters wäre die<br />

Beschreibung der Welten weder vollständig noch machbar.<br />

Erst der Beobachter selbst ermöglichte überhaupt diese<br />

Welten. Der Phantomquarz versinnbildlichte das Wesen aller<br />

Welten an sich!<br />

Die Findus so wohlbekannten seltsamen Orte - das waren<br />

die Übergänge von einer Ebene zur anderen. Und zwar die<br />

‚großen‘ Übergänge, mit denen sich Weltenebenen<br />

überspringen ließen. Daneben gab es natürlich noch die<br />

Verwachsungspunkte, die ‚kleinen‘ Übergänge. Sie waren<br />

unendlich viel zahlreicher und standen für den Verlauf des<br />

Lebens. Heute diese Entscheidung, morgen jene: Das<br />

bedeutete, heute einen Wechsel in eine benachbarte Welt und<br />

morgen in eine andere. In Welten, die der derzeitigen<br />

Existenz so frappierend ähnlich waren, dass man sie gar nicht<br />

als neue Ebenen zu erkennen vermochte. Jeder Bewohner,<br />

jedes Wesen suchte sich so einen chaotischen,<br />

unvorhersehbaren Weg durch die verschiedenen Ebenen.<br />

Viele Welten - viele Doppelgänger. Der einzelne Geist oder<br />

die einzelne Seele verteilte sich auf all diese multiplen Welten<br />

in multiple Existenzen. Das Betreten einer neuen Welt führte<br />

automatisch dazu, dass der zuvor dort vorhandene, ganz<br />

persönliche Doppelgänger auch in eine andere<br />

Wahrscheinlichkeit gelangte - wo er wieder einen<br />

Doppelgänger verdrängte und so weiter bis in alle<br />

Unendlichkeit.<br />

Auf diese Weise blieben Energie und Materie für jede<br />

Weltebene konstant und erhalten. Insgesamt gesehen jedoch<br />

befand sich alles im permanenten Umbruch, generierte<br />

dadurch laufend neue Erkenntnisse, neue Erfahrungen - wie<br />

das Licht, welches zwischen den einzelnen Kristallebenen<br />

eingefangen hin und her gespiegelt wurde. Der Wechsel von<br />

einer Ebene zur anderen - für ein Lebewesen wie den<br />

Menschen hier ein vielleicht etwas ziehendes Gefühl, dort<br />

vielleicht eine kurze Irritation. Ein Messer, welches heute hier<br />

lag, lag morgen – auf einer anderen Ebene, in einer anderen<br />

Welt - woanders. Oder ein Teller oder ein Becher. Eine Szene<br />

aus der Vergangenheit, an die man sich genau erinnern<br />

konnte, von der man sicher wusste, dass alles auf genau diese<br />

Weise und nicht anders geschehen war. Was dann aber<br />

181


seltsamerweise auf einmal nicht mehr stimmte... Der winzige<br />

Moment völliger Irritation, weil der eben noch so<br />

wohlbekannte Weg kurzzeitig unendlich fremd erschien.<br />

Solche unmerklichen Kleinigkeiten zeigten den<br />

Ebenenwechsel an - und wurden übersehen, wurden für eine<br />

Unachtsamkeit gehalten. Oder sie äußerten sich als Déjà-Vu.<br />

Nur deshalb schien es dem Einzelnen so, als seien die<br />

anderen Ebenen unendlich weit entfernt oder nicht existent.<br />

Tatsächlich jedoch befand er sich bereits mittendrin, ohne es<br />

zu erkennen. Es gab keine absolute Realität – nur einzelne,<br />

individuelle Wirklichkeiten. Das, was gemeinhin für ‚real‘<br />

gehalten wurde, beruhte nur auf einer Kommuniktion unter<br />

Zuhilfenahme eines kleinsten gemeinsamen Nenners.<br />

Wiedergänger – Tote, die auf einmal unvermittelt für kurze<br />

Zeit wieder auftauchten - das waren nur irregeleitete<br />

Doppelgänger, die sich kurzfristig auf einer für sie falschen<br />

Weltenebene befanden.<br />

Die das alles definierende und durchziehende, ja lenkende<br />

Struktur, der zugrunde liegende Bauplan - das war die Magie<br />

selbst! Auf jeder einzelnen Ebene zeigte sich von ihr nur ein<br />

winziger Ausschnitt des gesamten Bauplanes, so dass dieser<br />

winzige Ausschnitt chaotisch wirken musste. Hier eine<br />

Magieanwendung, vielleicht in Form eines durch einen<br />

Wetterzauber hervorgerufenen Hagelschauers, da die<br />

mächtige Ley-Linie. Über alles gesehen jedoch wies die Magie<br />

durchaus eine sehr geordnete Struktur auf - bestimmte sie<br />

doch die Konstruktion für alle Weltenebenen! Nur musste<br />

man sich - um eben das zu erkennen - von liebgewordenen<br />

Vorstellungen lösen.<br />

Findus blickte auf. Das Licht war deutlich schwächer<br />

geworden. Wie lange hatte er hier gesessen, versunken in die<br />

Betrachtung dieses so wunderbaren Steins? Er wusste es<br />

nicht. Er fühlte sich wie aus einem langen Schlaf erwachend.<br />

Und er hatte Erkenntnis gewonnen. Fundamentale<br />

Erkenntnis. Wie sagte doch die Bônday aus der Tiedsiepe?<br />

„Bring´ mir den Stein des Lebens!“ Nein - das würde er nicht<br />

tun. Der Stein musste hier bleiben. Hier und nirgendwo<br />

anders. Nur hier gehörte er hin. Ihn von der Felswand zu<br />

lösen wäre ein Frevel sondergleichen gewesen. Findus erhob<br />

182


sich und verließ wie im Traum, wie betäubt, die Höhle.<br />

Draußen wartete der Drache.<br />

„Hast du gefunden, wonach du suchtest?“ wollte Draconis<br />

wissen. „Ja“ war Findus´ einsilbige Antwort, noch ganz<br />

entrückt von dem so unerwartet Erlebten. „Und was hast du<br />

mitgenommen?“ „Gar nichts.“ „Wie - gar nichts? Da drin<br />

liegt ein riesiger Schatz! Für sowas tut ihr Sterblichen doch<br />

alles!“ „Ich nicht. Der Schatz interessiert mich nicht. Ich habe<br />

den Stein des Lebens gesucht. Er gehört nicht zum Schatz,<br />

sondern ist Teil der Höhlenwand. Ihn mitzunehmen wäre<br />

eine Blasphemie. Er gehört hier her und kann nur hier<br />

bleiben!“ Findus schwieg und blickte den Drachen an.<br />

„Du warst lange fort“ murmelte Draconis. „Wie lange?“<br />

wollte Findus wissen. „Zwei volle Tage und Nächte. Ich<br />

dachte schon, dir sei etwas passiert.“ Zwei volle Tage und<br />

Nächte - seltsam! Findus verspürte weder Hunger noch Durst<br />

oder Müdigkeit. Dieser meditative Zustand bei der<br />

Betrachtung des Phantomquarzes musste sämtliche<br />

Lebensvorgänge seines Körpers angehalten haben. Erst jetzt<br />

gewahrte Findus auch, dass es Nacht war. Die Nacht des<br />

Nordens. Die Sonne als schmale Sichel über dem Horizont,<br />

ein helles Dämmerlicht verbreitend. Der über dem Meer<br />

stehende Mond und ein über das tiefblau daliegende Wasser<br />

wogendes Nebelfeld. Noch immer aufgewühlt setzte er sich.<br />

Draconis erkannte, wie tief bewegt Findus war. „Was hast<br />

du jetzt vor?“ lautete seine Frage. „Ich muss zurück. Nach<br />

<strong>Norgast</strong>, zur Tiedsiepe. Zur dortigen Bônday.“ „Und wie<br />

willst du das anstellen? Dein Schiff dürfte längst über alle<br />

Berge sein.“ „Weiß ich noch nicht. Vielleicht in Gestalt einer<br />

Robbe oder eines Fisches. Mal sehen.“ Findus schwieg wieder<br />

und blickte nachdenklich auf das Meer hinaus. „Magie“<br />

dachte er „das ist der Schlüssel zu allem.“ „Ein weiter und<br />

gefährlicher Weg. Weißt du, wenn schon ein Sterblicher kein<br />

Interesse an meinem Schatz mehr hat, dann ist es sinnlos, hier<br />

noch länger etwas zu bewachen. Was hältst du von<br />

Begleitung?“ Überrascht schaute Findus den Drachen an.<br />

„Wie meinst du das? Du willst mitkommen? Nach <strong>Norgast</strong>?<br />

Aber ja - warum eigentlich nicht!“ „Ich fliege dich hin. Ein<br />

Drachen ist sehr schnell, selbst wenn seine Knochen schon so<br />

uralt sind wie die Meinen. Steig´ auf! Bevor die Sonne am<br />

183


Mittagshimmel steht sind wir da!“ Und so wurde Findus zum<br />

Drachenreiter...<br />

184


Kapitel 9: Forst der Entscheidung<br />

Der Drache und sein Reiter erreichten die Tiedsiepe am<br />

späten Vormittag, wobei die sich auf der ‚namenlosen Insel‘<br />

vereinigenden Erdströme auf den Drachen wie ein<br />

unübersehbares, astrales Leuchtfeuer wirkten. Draconis´ hohe<br />

Körpertemperatur verhinderte zudem, dass der Flugwind<br />

Findus zu Eis erstarren lassen konnte. Dennoch war es für<br />

den Drachenreiter auch so noch anstrengend genug gewesen.<br />

Lyonora bemerkte sie zuerst. Die Novizin sammelte gerade<br />

Kräuter im Norden der ‚namenlosen Insel‘, als sie am Himmel<br />

einen sich nähernden und dadurch stetig größer werdenden<br />

Punkt wahrnahm. So schnell wie möglich informierte sie<br />

Dayla und ihre Bônday. Letztere trat ins Freie und suchte den<br />

Himmel ab. Ihre Katzenaugen waren schärfer als die eines<br />

Menschen. „Das ist ein Drache!“ sagte die Bônday und setzte<br />

noch hinzu: „Ich wusste gar nicht, dass es noch welche gibt.<br />

Das wird sicherlich interessant! Vielleicht sogar gefährlich...“<br />

Auch Draconis hatte die drei Personen am Boden schon<br />

erspäht. „Unser Empfangskomitee wartet bereits“ rief er<br />

Findus über die Schulter hinweg zu. „Dann lande irgendwo in<br />

ihrer Nähe. Wer weiß, wie sie auf dich reagieren.“ Draconis<br />

schüttelte sich vor Lachen und der Flug wurde unruhig. Sein<br />

Passagier hatte dadurch seine liebe Mühe, nicht den Halt zu<br />

verlieren. „Kannst du dich vielleicht mal wieder beruhigen“<br />

schimpfte Findus, erreichte mit seiner Bemerkung aber genau<br />

das Gegenteil. Resignierend hielt er den Mund und nahm sich<br />

vor, zukünftig einen fliegenden Drachen nicht mehr zum<br />

Lachen zu bringen – zumindest keinen, auf dem er selbst als<br />

Passagier mitflog. Wohlbehalten landeten sie kurze Zeit später<br />

nicht weit von den drei Frauen entfernt und Findus stieg ab.<br />

Er ging auf die Bônday zu. „Findus!“ staunte die. „Ich hätte<br />

es mir denken können. Wer sonst würde einen der letzten<br />

Drachen oder vielleicht sogar den letzten Drachen <strong>Norgast</strong>s<br />

ausfindig machen?“ „Bônday“ - er begrüßte sie mit einem<br />

Kopfnicken und schloss auch Lyonora und Dayla mit ein.<br />

„Ich bin zurück von meinem Auftrag. Doch ich habe nur<br />

eine der drei Prüfungen bewältigen können.“ „Ja, der weiße<br />

185


Rabe. Dayla erwähnte es bereits. Aber was ist mit dem Geist<br />

des Waldes?“ „Malweýn ist wieder frei. Er war in Baumgestalt<br />

gebannt worden. Ich bat ihn, hierher zu kommen, doch er<br />

verweigerte sich. Er hat eigene Pläne und dürfte in diesen<br />

Tagen den Bomenhau erreichen. Mir erschien es, als warte er<br />

darauf, dass du ihn besuchst und nicht umgekehrt.“ „Er war<br />

schon immer ein alter Sturkopf und daran hat sich wohl<br />

nichts geändert. Und was ist mit dem Stein des Lebens?“<br />

„Dabei handelt es sich um einen Phantomquarz in<br />

Draconis´...“ - Findus wies mit dem Kopf zum Drachen<br />

hinüber – „...Höhle. Der Stein symbolisiert das<br />

Zusammenspiel von dieser Welt mit allen Anderswelten,<br />

wobei die Magie selbst den Bauplan bildet. Der Stein ist<br />

insofern gefährlich, als dass man sich in seiner Betrachtung<br />

verlieren kann. Er ist Bestandteil der Höhlenwand. Das ist<br />

sein natürlicher, angestammter Platz und nur dort gehört er<br />

auch hin. Deswegen ließ ich ihn, wo er ist.“<br />

Die Bônday sah Findus direkt in die Augen. „So betrachte<br />

ich denn alle drei Prüfungen als bestanden“ teilte sie ihm<br />

formell mit. Dann trat sie auf ihn zu und ergriff seine Hände.<br />

„Willkommen zurück!“ sagte sie und ihre Augen blitzten. „Du<br />

siehst reifer aus als früher. Und abgekämpft. Und - nimm´ es<br />

mir nicht übel - du brauchst auch dringend ein Bad.“ „Ich<br />

habe alles gehört“ meldete sich jetzt Draconis mit seiner<br />

gewaltigen Stimme aus einiger Entfernung zu Wort. „Er<br />

stinkt. Er stinkt nach meinem Blut!“ „Drachenblut?“ fragte<br />

die Bônday erstaunt. Findus nickte: „Ich erzähle euch später<br />

alles, in Ordnung?“ Die Bônday nickte. „Dann bist du überall<br />

da, wo sein Blut dich benetzt hat, unverwundbar. Doch geh´<br />

jetzt. Dayla wird dir helfen. Und ich muss unbedingt ein paar<br />

Worte mit deinem neuen Freund wechseln.“ Sie übergab<br />

Findus in Dayla´s Obhut und trat zu Draconis, mit dem sich<br />

ein leise geführter Wortwechsel entspann.<br />

Einige Zeit später – der Tag neigte sich bereits - trafen die<br />

fünf am Tiedsiepe-Strand unterhalb der Hütten erneut<br />

zusammen. Findus war inzwischen wieder sauber, verpflegt<br />

worden und er hatte auch neue Kleidung erhalten. Sie saßen<br />

im Kreis und er berichtete, wie es ihm ergangen war.<br />

Nachdem er geendet hatte, ergriff die Bônday das Wort. „Ich<br />

habe vorhin ausführlich mit Draconis gesprochen. Er ist kein<br />

186


Freund von vielen Worten und bat mich, für ihn zu sprechen.<br />

Er hat Findus sein Drachenwort gegeben, dass er ihn nicht<br />

angreift. Und Findus hat das nicht ausgenutzt, obgleich es<br />

viele andere Menschen in Versuchung geführt hätte. Draconis<br />

ist davon tief beeindruckt. Er bietet uns einen Pakt und<br />

speziell Findus seine Feundschaft an.“ Sie sah Findus an. Der<br />

erhob sich und trat zu dem Drachen hinüber, legte die Hand<br />

auf die Nüstern, aus welchen kleine Rauchwölkchen quollen.<br />

„Einen besseren Freund kann ich mir nicht vorstellen“<br />

meinte Findus nur. Dayla schmunzelte: „Ihr beide werdet ein<br />

unschlagbares Team abgeben.“ Damit waren Pakt und<br />

Freundschaft besiegelt. Findus setzte sich wieder.<br />

„Gut“ meinte die Bônday „nachdem das nun geklärt ist,<br />

kommen wir zum nächsten Punkt. Einem sehr wichtigen<br />

Punkt...“ - sie blickte Findus an und fuhr fort – „...nämlich zu<br />

deiner Vergangenheit. Du wurdest vor ungefähr dreissig<br />

Sommern und noch als Säugling von einem Mann namens<br />

Ravon bei einem Kräuterweib abgegeben. Er führte ihr<br />

gegenüber damals aus, dass er dich vor deinem Bruder in<br />

Sicherheit bringen wollte. Einem Bruder, der einmal große<br />

Macht haben würde. Inzwischen wissen wir alle, wer dieser<br />

Bruder ist. Baldur, der Herrscher von <strong>Norgast</strong>.“ Die Bônday<br />

seufzte. „Das Kräuterweib zog dich auf. Zehn Sommer lang.<br />

Sie spürte eine große Magie in dir und brachte dich deswegen<br />

zu uns. Du bliebst knapp zwanzig Sommer lang. Vor etwa<br />

einem Sommer bist du dann ohne meine Erlaubnis<br />

aufgebrochen, um deine Herkunft selbst zu ergründen. Den<br />

Rest kennst du. Es ging schief.“ Die Bônday schwieg und ließ<br />

ihren Blick durch die Runde wandern, ließ die Worte wirken.<br />

Im Anschluss an diesen Moment der Besinnung fuhr sie<br />

fort: „Das bedeutet, dass Findus von königlichem Blut ist.<br />

Aber wie? Seine Mutter hatte seinerzeit nur ein Kind und bei<br />

dessen Geburt ist sie gestorben. Ein Rätsel. Ein Rätsel,<br />

welches wir lösen müssen. Denn wenn Findus vom gleichen<br />

Blut ist, dann hat er ebenso einen Anspruch auf den Thron<br />

<strong>Norgast</strong>´s wie Baldur. Und er gäbe sicherlich einen<br />

menschlicheren Herrscher ab. Wir müssen also in die<br />

Vergangenheit sehen. Es gibt einen Weg, die Vergangenheit<br />

noch einmal lebendig werden zu lassen: Die Rückschau durch<br />

spiegelmagische Evokation. Ich habe daher, Findus´<br />

187


Einverständnis vorausgesetzt,“ - er nickte – „Dayla und<br />

Lyonora gebeten, alles vorzubereiten. Und Draconis hat sich<br />

bereit erklärt, uns mit seiner Drachenmagie zu unterstützen,<br />

weil wir zur Zeit keinen Vollmond haben. Damit sollte das<br />

Erfahren der Evokation uns allen möglich sein. Es ist bereits<br />

stockdunkel. So lasst uns denn beginnen!“<br />

Dayla und Lyonora erhoben sich und holten einen<br />

silbernen, etwa halb mannshohen Spiegel, an dessen<br />

Rückseite sich ein Ständer befand. Sie stellten den Spiegel auf<br />

und richteten ihn genau nach Norden hin aus. Die Bônday<br />

steuerte frisches Quellwasser bei, mit welchem der Spiegel<br />

sorgfältig gereinigt wurde. Im Anschluss stellte sie eine Kerze<br />

rechts vom Spiegel auf und entzündete die. Links vom Spiegel<br />

wurde eine Räucherschale mit dem Harz des Wicbaumes<br />

beschickt. Dann setzte sich Findus direkt vor den Spiegel, die<br />

drei Frauen nebeneinander und etwas hinter ihm. Draconis<br />

ließ kleine Flammen aus seinen Nüstern züngeln und ersetzte<br />

so das fehlende Licht des Vollmondes. Findus und die Hagias<br />

schauten in den Spiegel und entspannten sich, imaginierten<br />

ein goldenes Licht in ihrem Innern und erlangten so einen<br />

tranceähnlichen, schamanischen Geisteszustand. Nach einiger<br />

Zeit löste sich das Spiegelbild auf, verschwand einfach.<br />

Stattdessen wirbelten Szenen über den Spiegel. Gesichter,<br />

Orte.<br />

Irgendwann wurde eine Szene eingefangen. Ein Reiter, der<br />

mit einer hochschwangeren Frau auf einem Bauernhof<br />

anlangte. Sie war durchnässt. Ihre Fruchtblase war bereits<br />

geplatzt. Die Geburt. Zwei Kinder. Zweieiige Zwillinge.<br />

Brüder. Der Mann sprach die Frau mit dem Namen<br />

„Gwylon“ an. Sie hörten die Worte der Frau: „Ravon, der<br />

Erstgeborene soll den Namen Baldur erhalten. Der<br />

Zweitgeborene wird Findus genannt. Bringt Findus weg.<br />

Versteckt ihn. Ich habe schlimme Vorzeichen gesehen. Ich<br />

weiß nicht, ob Mykyllin das Kind erziehen wird.“ Die Mutter<br />

überlebte das Kindbettfieber nicht und Ravon brachte Findus<br />

zu einem Kräuterweib. Die Szene wechselte. Ein prächtig<br />

gekleideter Kaufherr sprach mit einem anderen Mann:<br />

„Merkyllum, ihr seid der Verwalter von <strong>Norgast</strong>. Ihr kümmert<br />

euch um die Erziehung des Kindes. Erzieht es in unserem<br />

Sinne und ihr werdet es nicht bereuen. Die Gilde wird sich<br />

188


erkenntlich zeigen.“ „Und der König? Mykyllin?“ „Er wird<br />

einen bedauerlichen Jagdunfall erleiden...“ Dann waren<br />

plötzlich die Spiegelbilder wieder da.<br />

Obgleich sie alle noch im Bann des soeben Gesehenen<br />

standen, erhob sich die Bônday und löschte Kerze sowie<br />

Räucherschale aus. „Ich glaube, wir haben genug gesehen.<br />

Findus ist der Sohn von Gwylon und Mykyllin. Einer von<br />

zwei Königssöhnen. Damit hat er berechtigten Anspruch auf<br />

genau die Hälfte des Reiches <strong>Norgast</strong>. Der alte König - der<br />

ein guter König war! - ist von den Kaufleuten ermordet<br />

worden, damit Merkyllum Truchsess werden konnte. Der<br />

Truchsess erzog Baldur im Sinne der Kaufleute-Gilde. Ein<br />

abgekartetes Spiel profitgieriger Mächte, die immer im<br />

Hintergrund bleiben und die sich niemals selbst die Finger<br />

schmutzig machen. Die bis heute die einfachen Menschen<br />

erfolgreich von Wissen und Bildung ausschließen, um so<br />

etwas nur ihrem eigenen Nachwuchs angedeihen zu lassen.“<br />

Sie schwieg, sah Findus an: „Bist du bereit, deinen Teil des<br />

Reiches zu beanspruchen, um diese Verhältnisse zu ändern<br />

und notfalls darum zu kämpfen?“ „Ja“ antwortete der<br />

Angesprochene schlicht. „Gut. Ich für meinen Teil werde<br />

meine Neutralität aufgeben und mich einmischen. Draconis,<br />

bringe du bitte Findus zu Malweýn. Der Alte hatte schon<br />

immer brauchbare Einfälle; er wird wissen, was zu tun ist. Ich<br />

selbst mache mit Hilfe meiner Schwestern eine Ley von hier<br />

bis zum Bomenhau begehbar. Wenn meine Hilfe erforderlich<br />

sein sollte, dann werde ich zur Stelle sein. Dayla, Lyonora<br />

- schließt ihr euch mir an?“ Zustimmendes Nicken. „In<br />

Ordnung. Bereitet für Findus eine brauchbare Ausrüstung<br />

vor, denn im Bomenhau wird schon tiefer Winter herrschen.<br />

Draconis, findet das auch deine Zustimmung?“ Zur Antwort<br />

entließ der Drache bestätigend eine feurige Loh in die klare<br />

Nachtluft.<br />

Der nächste Tag. Draconis und Findus brachen früh auf<br />

- Findus dick vermummt aufgrund der zu erwartenden<br />

Winterkälte und wieder als Drachenreiter. Obgleich der<br />

Drache sehr schnell war, wurde es ein langer Flug gegen den<br />

189


Wind. Immer genau in Richtung Osten lag die Tiedsiepe bald<br />

hinter ihnen. Nach der Überquerung des Wilderfrio mischten<br />

sich erste Schneeflächen zwischen die unter ihnen liegenden<br />

Wälder und das Land stieg stetig an - die Nähe der Gebirge<br />

Haucain und Itcain machte sich bemerkbar. Irgendwann<br />

gegen die Mittagszeit - nur erkennbar anhand einer trübe<br />

durch dicke Schneewolken blinzelnden Sonne - erstreckte sich<br />

ein großes, tiefverschneites und scheinbar unberührtes<br />

Waldgebiet unter ihnen: der Bomenhau. Irgendwo hier<br />

mussten sich Malweýn und seine Horde aufhalten. Sie<br />

mussten ‚nur‘ noch gefunden werden und Findus war sich<br />

sicher, dass Malweýn ein Meister der Tarnung war...<br />

„Draconis, kannst du irgendwas erkennen?“ „Nein, nichts.<br />

Der Schnee ist überall wie jungfräulich. Vielleicht sind sie<br />

noch nicht hier.“ „Sie sind da. Ich spüre es. Aber sie haben<br />

sich versteckt. Kein Wunder, wenn man nicht gefunden<br />

werden will. Die Horde besteht aus Leuten, die es offiziell gar<br />

nicht mehr gibt. Sie sind vogelfrei. Wenn irgendwer jemanden<br />

von ihnen erschlägt, dann kümmert sich niemand darum und<br />

der Täter geht straffrei aus. Deswegen verstecken sie sich.<br />

Drehe mal ein paar Runden über dem Wald, aber so tief wie<br />

möglich.“ „Warum - glaubst du, dass du besser sehen kannst<br />

als ich?“ „Das wohl nicht gerade, aber wenn wir sie nicht<br />

finden können, dann lassen wir uns eben von ihnen finden.<br />

Wie gut sie sich auch verstecken, einen tieffliegenden<br />

Drachen werden sie wohl kaum übersehen.“ „Gute Idee!“<br />

antwortete Draconis und ging tiefer.<br />

Nach einiger Zeit und ein paar Runden über dem<br />

ausgedehnten Forst fanden sie eine Lichtung nahe der<br />

Felswand, welche den Gipfel des Bomenhau bildete. Draconis<br />

landete dort. Nun blieb ihnen nichts weiter übrig, als zu<br />

warten. Sie harrten der Dinge, die da kommen sollten und<br />

ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Als die<br />

Abenddämmerung hereinbrach kam ein Uhu auf einen der<br />

Bäume am Rand der Lichtung herabgeschwebt und<br />

beobachtete sie unbewegt. Wartete ebenfalls. Findus wurde es<br />

langsam zu bunt. „Draconis, du hast doch eine laute Stimme.<br />

Ruf´ mal Malweýn, aber so, dass man es im ganzen Wald<br />

hört.“ „Malweýn, komm´ endlich raus!“ brüllte der Drache<br />

mit orkanartiger Stimmkraft, wobei Findus sich entsetzt die<br />

190


Ohren zuhielt. Zuerst geschah gar nichts. Doch dann<br />

schwebte der Uhu von seinem Baum herab und verwandelte<br />

sich in einen alten Mann.<br />

„Brüll´ hier nicht so rum, Drache - dies ist nicht dein<br />

Land!“ tadelte er. „Na endlich!“ meinte Findus. „Ich<br />

beobachte euch schon seit geraumer Zeit“ führte Malweýn<br />

aus und setzte hinzu „aber Geduld scheint nicht gerade zu<br />

euren Tugenden zu gehören. Und einem Drachen trauen nur<br />

Verrückte.“ „Sieh´ dich vor, alter Mann, ich kann auch<br />

anders!“ wurde Draconis langsam wütend. Findus<br />

beobachtete die Situation mit Sorge. Es war nicht gut, einen<br />

Drachen zu reizen. „Nun beruhigt euch beide mal wieder“<br />

versuchte er das Verhältnis zu entspannen. „Malweýn, das ist<br />

Draconis. Er ist auf unserer Seite. Ich habe sein Drachenwort<br />

und ich bin ganz gewiss nicht verrückt.“ „Was hast du? Wie<br />

hast du das denn gemacht?“ staunte da der Zauberer.<br />

„Später“ winkte Findus ab. „Ich werde dir alles berichten. Wo<br />

sind die anderen?“ „Versteckt rings um uns herum.“ „Seid ihr<br />

schon lange genug hier, um so etwas wie ein Lager zu<br />

haben?“ „Was glaubst du denn - natürlich! Meinst du etwa,<br />

ich wäre den ganzen weiten Weg zu Fuß gegangen? Wir<br />

haben die nächste passende Ley gesucht und benutzt.“ „Dann<br />

lass´ uns zum Lager gehen und da sollten wir miteinander<br />

reden.“ „In Ordnung. Es ist nicht weit von hier. Komm´ mit.<br />

Aber der Drache passt da nicht rein.“ „Ich warte hier“<br />

knurrte Draconis.<br />

Weit war es wirklich nicht bis zum Lager, doch Findus<br />

hätte es selbst dann verfehlt, wenn er über den Ort informiert<br />

worden wäre. Unmittelbar hinter den Bäumen begann<br />

dichtestes Unterholz. Es führte ein Weg hindurch, der sich<br />

allerdings nur dem Eingeweihten offenbarte. Auf dem Weg<br />

durch das Unterholz machte Malweýn eine beiläufige<br />

Bewegung mit der Hand. Ein kurzer Wind kam auf, fegte den<br />

Schnee nach oben und ließ ihn wieder hinunterrieseln. Ihre<br />

Spuren waren bedeckt und die Schneefläche präsentierte sich<br />

so jungfräulich wie zuvor. Gewunden und labyrinthartig<br />

mündete der durch sehr hohes, dorniges Gestrüpp führende<br />

Weg in eine zwar gut mannshohe, jedoch recht schmale<br />

Felsspalte im Massiv des Bomenhau-Gipfels. Hatte man sich<br />

durch diese Felsspalte gezwängt, dann stand man im Vorraum<br />

191


einer Höhle - ein Vorraum, der mit einer seltsam anmutenden<br />

Menagerie angefüllt war. Wildschweine hausten da neben<br />

Füchsen, Luchse neben Wölfen, Dachsen oder Schlangen. Es<br />

waren die ehemals gefangenen Tiere aus dem Wald von<br />

Balum. Sie waren Malweýn gefolgt.<br />

Von dem Vorraum aus führte ein natürlicher,<br />

tropfsteinbewachsener Gang in einen großen Dom. Hier<br />

lebten die Menschen. Männer, Frauen und Kinder - auch alles<br />

ehemalige Gefangene des seltsamen Waldes. Leute, die<br />

irgendwann einmal vor Baldur´s Häschern hatten flüchten<br />

müssen. Viele Feuer brannten und die Luftverhältnisse in der<br />

Höhle bewirkten, dass der verräterische Rauch erst weit durch<br />

den Berg geführt wurde, bevor er an gänzlich anderer Stelle<br />

austrat. „Unser Reich“ sagte Malweýn und unterstrich seine<br />

Ausführungen mit einer ausholenden Bewegung der Arme.<br />

„Ich kannte diese Höhle schon vor Urzeiten. Es sind aber<br />

nicht alle da. Einige halten draußen Wache, überwiegend die<br />

Trolle. Ein paar Kinder sind in Sirval und kundschaften die<br />

Routen der Kutschen aus. Und das ist auch gut so. Auf<br />

Kinder achtet nämlich keiner. Die werden von den<br />

Erwachsenen immer unterschätzt.“ „Die Kutschen...“<br />

murmelte Findus, sah Malweýn an und setzte hinzu: „Zum<br />

Teil hast du damit Recht gehabt. Sie sind Baldur´s<br />

Lebensader. Aber sie sind auch noch viel mehr. Sie halten die<br />

Gilde der Kaufleute an der Macht und die Gilde ist es, die<br />

Baldur als Herrscher in ihrem Sinne eingesetzt hat. Das war<br />

nämlich so...“ Und Findus berichtete, was er seit ihrer<br />

Trennung in Erfahrung gebracht hatte.<br />

Sie hatten sich an ein Feuer gesetzt und der alte Zauberer<br />

lauschte dem Bericht. Nachdem Findus endete meinte er:<br />

„Das ist sehr interessant, doch es ändert im Grunde nichts an<br />

meinen Plänen.“ „In gewisser Hinsicht sollte es schon was<br />

ändern“ widersprach Findus. „Wie meinst du das?“ „Es stellt<br />

sich die Frage, was mit den aufgebrachten Schätzen<br />

geschehen soll.“ „Nun, wenn dir ohnehin genau die Hälfte<br />

davon zusteht, dann solltest du selbst dir darüber Gedanken<br />

machen.“ „Habe ich schon getan. Und auch mit Draconis<br />

gesprochen. Auf dem Herflug. Er brachte mich auf eine<br />

Idee.“ „Der Drache hat dir Vorschläge gemacht? Na, da bin<br />

192


ich aber mal gespannt!“ Der Zauberer misstraute Draconis<br />

noch immer.<br />

„Draconis´ Vorschlag ist im Grunde nur eine Abwandlung<br />

deiner Pläne. Wir haben uns Folgendes ausgedacht: Die<br />

Kutschen werden durch Listen aufgebracht. Menschenleben<br />

werden geschont, wo immer es geht. Damit die Leute sich<br />

daran halten, entlohnen wir sie nach einem Prämiensystem.<br />

Wer das Meiste ranschafft, ohne Menschen zu töten oder zu<br />

verletzen, der bekommt auch den größten Anteil. Für jeden<br />

verletzten oder getöteten Menschen wird der Anteil<br />

gemindert. Wer von unseren Leuten im Kampf dauerhaft<br />

verletzt wird, der - oder im Todesfalle dessen Hinterbliebene -<br />

erhält eine lebenslange Grundversorgung. Das zur Motivation<br />

unserer eigenen Leute. Von jeder Kutsche nehmen wir nur<br />

genau die Hälfte - nämlich den mir allein zustehenden Anteil.<br />

Den Rest lassen wir weiter transportieren. Das sollte Baldur<br />

nachdenklich werden lassen.“<br />

Findus hielt kurz inne und fuhr fort: „Die gesammelten<br />

Reichtümer dritteln wir. Ein Drittel bleibt für uns selbst. Das<br />

wird für die Versorgung unserer Leute mehr als ausreichend<br />

sein. Die beiden restlichen Drittel aber...“ Findus schwieg.<br />

„Ja?“ fragte Malweýn interessiert. „Die Macht der Kaufleute-<br />

Gilde beruht darauf, dass die einfachen Menschen tagtäglich<br />

um ihr Überleben kämpfen müssen. Deswegen laufen sie<br />

jedem hinterher, der ihnen nur laut genug Besserung<br />

verspricht. Die Kaufleute versprechen zwar lauthals<br />

Besserung, leben aber nur aufgrund eben dieses Systems sehr<br />

gut. Sie sind daher an seiner Erhaltung und keinesfalls an<br />

einer Veränderung der Verhältnisse interessiert. Und Baldur<br />

ist nichts ohne die Gilde.“<br />

„Weiter“ verlangte der Zauberer. „Wenn wir den<br />

Menschen eine Grundversorgung zukommen lassen, dann<br />

wird auch der Überlebenskampf entschärft. Die Leute können<br />

beginnen, sich Gedanken zu machen. Dadurch finden sie<br />

Wahlmöglichkeiten. Alternativen. Sie hören nicht mehr auf<br />

jeden, laufen nicht mehr hinter jedem her, der ihnen etwas<br />

verspricht. Das wird die Macht der Gilde schwächen.“ „Du<br />

willst die verbleibenden zwei Drittel der Schätze also unter<br />

den Bewohnern <strong>Norgast</strong>´s verteilen?“ „Draconis wird das<br />

übernehmen.“ „Ausgerechnet! Der Drache wird sich damit<br />

193


einen eigenen Schatz aufbauen!“ „Nein. Das hat er gar nicht<br />

nötig - er hat nämlich schon einen. Und den hat er mir<br />

zuliebe im Stich gelassen.“ „Dann ist der Drache also wirklich<br />

und vorbehaltlos auf unserer Seite?“ „Ist er.“ „So sei es denn.<br />

Wir werden deinen Plan in die Tat umsetzen, genau so, wie<br />

du es gesagt hast. Es wird aber lange dauern, bis er Wirkung<br />

zeigt.“ „Es hat auch lange gedauert, bis die Gilde so mächtig<br />

war, wie sie es heute ist!“ Malweýn nickte verstehend. Und so<br />

verfuhren sie dann auch...<br />

Sirval: In mehreren Reihen umgaben steinerne, befestigte<br />

große Häuser einen riesigen Marktplatz, auf dem das Leben<br />

nur so quirlte. Bunte Tücher, vielfarbige und teils prächtig<br />

ausgestattete Zelte, lärmende Menschen. Dazwischen Vieh,<br />

Waren und fluchende Reiter, denen ein Durchkommen durch<br />

das Gewühl kaum möglich war. Häuser und Markt kündeten<br />

vom Reichtum der Stadt. Es war allerdings nur der Reichtum<br />

einiger Weniger, denn an die Reihen der befestigten Häuser<br />

schlossen sich schier endlose, schmale und von mehr oder<br />

weniger ärmlich aussehenden Holzhütten dicht an dicht<br />

umsäumte Gassen an. Das reinste Labyrinth. Zwischen den<br />

steinernen Häusern befand sich ein abgesperrter und streng<br />

bewachter Bereich. Hier wurden die Kutschen für den<br />

Norden mit Schätzen beladen.<br />

Das Mädchen mochte vielleicht ein Dutzend Sommer<br />

zählen. Es trug zerlumpte, ärmliche Kleidung, blickte den<br />

neben ihr in einer dunklen Ecke stehenden Erwachsenen an.<br />

Der nickte. Sie trat auf den Markt hinaus. Schaute hier,<br />

schaute dort, wie zufällig. Ein unvorsichtigerweise offen<br />

liegen gelassenes Brot wechselte insgeheim den Besitzer. Auf<br />

diese Weise näherte sie sich langsam dem abgesperrten<br />

Bereich. Hielt sich im Hintergrund, spitzte die Ohren und<br />

lauschte. Auf dem für sie unzugänglichen Gelände stand eine<br />

Sechsspänner-Kutsche, allerdings ohne Pferde. Ächzende<br />

Männer schleppten schwere Kisten dort hinein. Nur<br />

Wortfetzen wehten zu ihr herüber. Sie trat näher heran, um<br />

besser hören zu können, schlich auf eine der Wachen zu.<br />

„Was willst du, Kind?“ herrschte der Gepanzerte sie an.<br />

194


„Wasser, Herr. Nur etwas zu trinken. Könntet ihr vielleicht<br />

etwas erübrigen?“ „Ich habe kein Wasser. Und jetzt<br />

verschwinde!“ „Darf ich euch morgen oder übermorgen noch<br />

einmal fragen?“ Mitleidig betrachtete der Wachmann das<br />

Mädchen mit dem flehenden Blick aus treuherzigen<br />

Kinderaugen. Sie hätte durchaus seine Tochter sein können.<br />

„Komm´ übermorgen gegen die Mittagszeit wieder. Dann<br />

ist hier weniger los. Bis dahin musst du dich selbst<br />

durchschlagen.“ „Ich danke euch, Herr, ihr seid zu gütig.“ Sie<br />

verschwand wieder im Gewühl. Kurze Zeit später erreichte<br />

sie den Erwachsenen, der noch immer in einer dunklen Ecke<br />

auf sie wartete. Beide flüsterten miteinander. Dann drückte<br />

der Erwachsene dem Mädchen etwas in die Hand und machte<br />

sich auf, die Stadt zu verlassen. Er ging zu Fuß durch die<br />

ärmlichen Gassen. Sein Ziel war ein abseits gelegener Hügel.<br />

Furchtsam blickte der Mann sich um. Keine Verfolger - gut!<br />

Er erklomm den Hügel und entnahm dem Lederbeutel an<br />

seinem Gürtel einen kleinen Silberspiegel. Fing damit das<br />

Sonnenlicht ein und lenkte es in Richtung Norden. Schickte<br />

eine genau bestimmte Folge von Lichtsignalen. Ein kurzes<br />

Aufblitzen am Horizont bestätigte ihm den Empfang der<br />

Nachricht. Die Kette von Lichtsignalen reichte über Station<br />

zu Station von Sirval bis hin zum Bomenhau. „Übermorgen<br />

verlässt eine Kutsche Sirval“ sagte Malweýn zu Findus. Der<br />

nickte. Sie begannen mit den Vorbereitungen.<br />

Viele Wege führten durch den Bomenhau. Doch jetzt im<br />

Winter wurde auf Grund der Behinderungen seitens des<br />

Schnees nur die alte Handelsstraße benutzt. Auch war der<br />

Winter die Zeit der schweren, der besonders wertvollen<br />

Transporte, denn der Boden war tief und hart gefroren, so<br />

dass die Kutschen nicht im Morast einsinken und stecken<br />

bleiben konnten. Die avisierte Kutsche kam denn auch<br />

tatsächlich gut zwei Tage später, am sehr späten Abend. Ein<br />

Dutzend Gepanzerte begleiteten sie, bildeten die<br />

Wachmannschaft. Es geschah kurz hinter der Brücke über<br />

einen der Nebenflüsse, welche den Strom Itfrio speisten.<br />

Eine Schlange - die um diese Jahreszeit sich eigentlich in<br />

der Winterruhe hätte befinden müssen - lag auf dem Weg, als<br />

die Kutsche sich näherte. Die Schlange hob den Kopf<br />

stoßbereit und zischte angriffslustig. Die Pferde der Kutsche<br />

195


scheuten und gingen dann durch, zogen das schwer beladene<br />

Gefährt in ihrer Panik hinter sich her. Den Kutscher<br />

schleuderte es vom Kutschbock; er blieb besinnungslos<br />

liegen. Fluchend machte sich die Wachmannschaft auf, um<br />

die Kutsche zu stoppen. Doch plötzlich erklang ein leises<br />

Fauchen und es bildete sich undurchdringlicher Nebel,<br />

dichter noch als Watte. Es hatte den im Verborgenen<br />

lauernden Draconis´ nur sehr kleiner Flammen bedurft, um<br />

den allgegenwärtigen Schnee zu verdampfen. Nebel und<br />

Dunkelheit. Als die zwölf Begleiter die Kutsche schließlich<br />

fanden, war exakt die Hälfte der Ladung verschwunden - und<br />

nirgendwo waren Spuren zu finden!<br />

Jede der folgenden Kutschen traf ein ähnliches Schicksal.<br />

Mal stoppte ein Wolf oder ein Wildschwein den Transport,<br />

mal lag ein schier unüberwindliches Schneehindernis auf der<br />

Straße, mal störte ein Luchs die Fahrt und ein andernmal<br />

tauchten seltsam singende Kinder zwischen den Bäumen auf<br />

und lenkten die Wächter ab. Doch immer blieb der<br />

eigentliche Angreifer verborgen und geheim. Niemals wurde<br />

ein Dieb auch nur gesehen. Man fand nicht einmal die<br />

geringste Spur! Es fuhren binnen eines Mondes immer so um<br />

die fünf bis zehn Kutschen von Sirval aus ab. Jede hatte beim<br />

Erreichen ihres Ziels nur noch genau die Hälfte der<br />

ursprünglichen Ladung. Auch fanden sich kaum noch<br />

Bewaffnete, welche bereit waren, die Transporte zu begleiten<br />

- glaubte man auf Grund der unsichtbaren Angreifer doch an<br />

Geister!<br />

Die Schätze häuften sich in Malweýn´s Versteck. Doch<br />

nicht für lange. Was nicht an die Horde der Vogelfreien zur<br />

Auszahlung gelangte, das wurde von Draconis im Schutz der<br />

Dunkelheit verteilt. Ursächlich verteilt an die ausgesprochen<br />

armen Leute, die außerhalb der Städte und festen<br />

Ansiedlungen lebten und deren Handelspartner die fahrenden<br />

Händler waren. So mancher Bauer oder Fischer fand eines<br />

schönen Morgens Schmuckstücke oder Geld auf seinem<br />

kärglichen Besitz liegend vor und rieb sich ob dieses<br />

unerwartet vom Himmel gefallenen Reichtums verwundert<br />

die Augen. Nur auf diese Weise konnte es geschehen, dass die<br />

fahrenden Händler erstmals so etwas wie einen gewissen<br />

Wohlstand erwirtschafteten. Sie wuchsen sich langsam aber<br />

196


sicher zur echten Konkurrenz für die Kaufleute-Gilde aus.<br />

Und Konkurrenz belebt das Geschäft!<br />

Die Konkurrenz seitens der fahrenden Händler zwang die<br />

Gilde, die Preise für ihre Dienstleistungen zu senken. Das<br />

wiederum führte dazu, dass den einfachen Menschen mehr<br />

Geld zum Leben blieb. Die Gilde jedoch machte gleich in<br />

doppelter Hinsicht Verlust - nämlich einerseits durch die<br />

gezwungenermaßen preiswerter angebotenen Waren und<br />

Dienstleistungen sowie andererseits dadurch, dass ihnen von<br />

den Kutschtransporten immer nur die Hälfte blieb. Denn<br />

Letzteres hatte sich nicht mehr geändert. Auch abweichende<br />

Routen der Kutschen, stärkere Bewachung, Fallen für die<br />

Diebe - indem man den Kutschen versteckte Bewaffnete<br />

anstelle von Waren mitgab - und ähnliche Maßnahmen waren<br />

wirkungslos geblieben. In ihrer Not wandten sich die<br />

Kaufherren daher nach Ablauf von knapp sechs vollen<br />

Monden an den Herrscher.<br />

Und sie fanden bei Baldur offene Ohren! Dem war es<br />

nämlich schon aufgefallen, dass seine eigenen<br />

Steuereinnahmen drastisch zurück gingen, während das Leben<br />

der Bevölkerung immer besser wurde. Ja, mehr noch: Er<br />

selbst hatte sogar hier und da schon persönliche Abstriche bei<br />

seinem eigenen Lebenswandel in Kauf nehmen müssen - eine<br />

untragbare Situation und absolut nicht mehr hinnehmbar!<br />

Fragte er seine Berater und Verwalter nach den Gründen des<br />

geringen Steueraufkommens, so fiel immer nur ein einziges<br />

Wort: „Bomenhau!“ Baldur handelte, und zwar gleich in<br />

zweifacher Hinsicht. Einerseits ließ er Bewaffnete und<br />

Reiterei in großer Anzahl nach Diekenboog transportieren.<br />

Von dort aus würde er zuschlagen und den Bomenhau<br />

ausräuchern! Schon sehr bald!<br />

Andererseits kannte er aber auch seine Verpflichtungen<br />

gegenüber der Kaufleute-Gilde. Baldur erließ ein Gesetz. Ein<br />

Gesetz, welches die Berufsausübung in der Bevölkerung stark<br />

einschränkte. Ab sofort durfte ungeachtet der Kenntnisse und<br />

Befähigungen eines jeden Einzelnen nur noch der selbständig<br />

einen Beruf ausüben, der dazu amtlicherseits eine Erlaubnis<br />

hatte. Die betreffenden Erlaubnisschreiben stellten Baldurs<br />

Hofbeamte aus - oder eben die Kaufleute, da sie überall im<br />

Reich präsent waren. Baldur hatte sie dazu ermächtigt. Und es<br />

197


erwies sich natürlich als selbstverständlich, dass nur solche<br />

Leute eine Berufserlaubnis erhielten, die dem Herrscher oder<br />

den Kaufleuten genehm waren.<br />

So mancher Schmied, Schuster, Sattler oder Schneider<br />

musste seine Werkstatt schließen und als Arbeiter bei einem<br />

Konkurrenten für schlechten Lohn neu beginnen - selbst<br />

dann, wenn er handwerklich geschickter als der weiter oben<br />

lieber gesehene Konkurrent war. Die fahrenden Händler<br />

bekamen generell keine Berufserlaubnis mehr, standen sie<br />

doch in Konkurrenz zur Gilde. Als Folge davon blühte im<br />

Reich <strong>Norgast</strong> der Schwarzmarkt. Mancher verdiente sich<br />

eine goldene Nase durch den schwunghaften Handel mit<br />

gefälschten Papieren – Papiere, die den Besitzern ungeachtet<br />

der tatsächlichen und häufig genug gar nicht vorhandenen<br />

Kenntnisse erstklassige Fähigkeiten bescheinigten.<br />

Fantasiepapiere, die umso eher akzeptiert wurden, je<br />

offizieller sie aussahen. Die ein Sprungbrett in die<br />

Oberschicht darstellten... Auch nahm die Staatsverdrossenheit<br />

zu, denn nur die wenigsten Menschen durften hinsichtlich<br />

ihrer Fertigkeiten noch das verwirklichen, was ihnen am<br />

Meisten lag. Doch sie waren ja nur Untertanen - dummes<br />

Volk in den Augen der Oberschicht und die Gilde profitierte<br />

wieder davon.<br />

Kurzfristig jedenfalls. Doch aufgrund der so unerwarteten<br />

Grundversorgung mit edlen Materialien fragte so mancher<br />

einfacher Bewohner sich, ob es denn überhaupt noch<br />

erforderlich sei, für schlechten Lohn bei schlechten Menschen<br />

zu arbeiten. Wer sich das fragte und über ausreichende<br />

Fähigkeiten verfügte, der baute sich insgeheim eine versteckte<br />

Werkstatt auf. Wer im Untergrund weiter arbeitete und<br />

gefasst wurde, der verlor alles. Sollte der doch sehen, wie er<br />

danach verarmt klar kam! Nicht Baldur´s Problem! Es wurde<br />

für Baldur damit zum einträglichen Geschäft, seine<br />

Bevölkerung erst zu kriminalisieren und dann als Folge davon<br />

ganz legal zu enteignen.<br />

Dennoch arbeiteten viele im Untergrund weiter. So bot<br />

der Schwarzmarkt bald bessere eine Qualität als der offiziell<br />

abgewickelte Handel. Weder Baldur noch die Handelsherren<br />

bemerkten das. Wie auch - verließen sie doch niemals ihr<br />

gesellschaftliches Umfeld. In gewisser Hinsicht hatten sie<br />

198


jeden Kontakt zur Realität verloren und das Volk des Landes<br />

unterteilte sich in zwei Klassen: die wirklichkeitsfremde<br />

korrupte, hab- und machtgierige Oberschicht sowie die<br />

einfachen Menschen, welche diese Oberschicht murrend<br />

duldeten – noch! Es gärte gewaltig! Schleichend setzte eine<br />

Landflucht ein. Dieser oder jener versuchte verzweifelt und<br />

ungeachtet der damit verbundenen Risiken, sein Glück<br />

jenseits von Ithelge oder Itcain zu machen. Andere probierten<br />

über Wilderbomen nach Sudergast zu gelangen, um sich dort<br />

ein neues Leben aufzubauen. Noch andere suchten Rat bei<br />

den überall verstreut lebenden Hexen und wurden von denen<br />

nach reiflicher Prüfung mit Malweýn´s Horde in Kontakt<br />

gebracht. Die Horde der Vogelfreien nahm dadurch gewaltig<br />

an Stärke zu und die Hagias dienten als Anlaufpunkte für alle<br />

Querdenker und für alle diejenigen, die aus dem<br />

menschenverachtenden System auszusteigen gedachten.<br />

So sahen die Zustände im Reich <strong>Norgast</strong> zu Beginn des<br />

Sommers aus, als Baldur von Diekenboog aus sein Heer in<br />

Bewegung setzte. Ein riesiges Heer, welches den Auftrag<br />

hatte, den Bomenhau dicht an dicht zu durchkämmen und<br />

gnadenlos jeden zu erschlagen, der dort zu finden war. Der<br />

Mordbefehl hatte einen sehr pragmatischen Hintergrund: Es<br />

waren in der letzten Zeit nicht mehr so viele Menschen wie<br />

zuvor in <strong>Norgast</strong> verstorben. Das bedeutete aber auch wenig<br />

Nahrung für den Shâgun. Der war zwar schon lange nicht<br />

mehr aufgetaucht, doch Baldur befürchtete dessen baldiges<br />

Erscheinen. Irgendwie fühlte er es! Davor hatte er Angst und<br />

diese permanente Angst machte ihn halb verrückt. Denn der<br />

Dämon würde kommen, eine reine Zeitfrage!<br />

Während Baldur in seinem Palast auf Helegenor weilte,<br />

setzte sich auf seinen Befehl hin das Heer in Bewegung.<br />

Richtung Süden, Richtung Bomenhau. Allerdings: Sonderlich<br />

motiviert waren diese Söldner nicht gerade. Das Gerede über<br />

die Geister des Waldes zeigte bei vielen Teilnehmern des<br />

Heerzuges abschreckende Wirkung. Da das Gebiet südlich<br />

von Diekenboog dicht bewaldet war und niemand genau<br />

sagen konnte, wo nun eigentlich der Forst des Bomenhau<br />

wirklich begann, kamen sie nur sehr langsam voran - nämlich<br />

im Schritt-Tempo, immer einer in Sichtweite des anderen.<br />

199


Auf diese Weise durchsuchte eine dichte Menschenkette den<br />

Forst vom Norden bis zum Süden.<br />

Findus war als weißer Rabe zuerst auf die Bedrohung<br />

aufmerksam geworden. Er informierte Malweýn und der ließ<br />

seine Gefolgsleute allesamt die schützende Höhle aufsuchen.<br />

Mit Hilfe eines Pflanzenzaubers machte er den Zugang<br />

gänzlich unpassierbar - alles war jetzt restlos vom<br />

Dornengestrüpp zugewuchert. Doch bevor das geschah,<br />

musste noch ein Problem gelöst werden, das auf den Namen<br />

Draconis hörte. Der Drache passte ja nicht in die Höhle.<br />

Doch er verfügte über die Eigenschaft, gänzlich<br />

bewegungslos ruhen zu können, so dass ein flüchtiger<br />

Betrachter ihn aus der Ferne durchaus mit einem Haufen<br />

Felsbrocken verwechseln konnte. Draconis suchte den<br />

steinernen Gipfel des Bomenhau auf und legte sich dort<br />

nieder. Findus und Malweýn bedeckten ihn zudem mit einer<br />

dünnen Schicht von Steinen, Erde und Laub.<br />

Sollte jemand dort entlang gehen, so hätte er danach auf<br />

dem Drachen stehen können, ohne ihn zu bemerken. Und<br />

auch für den Fall, dass Baldur´s Heer die Höhle trotz allem<br />

entdeckte, war Vorsorge getroffen worden. In diesem<br />

unwahrscheinlichen Falle nämlich würde Draconis auffliegen<br />

und alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Drache hoffte,<br />

dass ihm das Auffliegen schnell genug gelingen könne, um<br />

den Pfeilen und Bolzen von Langbogen und Armbrüsten zu<br />

entgehen. Doch soweit kam es gar nicht erst. Die<br />

Menschenkette - ohnehin schon sehr lustlos - zog eher müde<br />

vorbei und bemerkte nichts. Wäre ein Magier zugegen<br />

gewesen, dann hätte der sicherlich die magischen Einflüsse<br />

spüren können - doch es war keiner dabei und so erwies sich<br />

Baldur´s aufwändige, teure Aktion als ein einziger Fehlschlag.<br />

Ein Fehlschlag, der seinem ohnehin schon sehr<br />

angeschlagenen Ansehen noch beträchtlich mehr schadete.<br />

Das Aufbringen der Kutschen ging weiter. Doch im<br />

Gegensatz zu Baldur lernten Findus und Malweýn aus ihren<br />

Fehlern, wurde doch jetzt auch der Norden und damit<br />

Diekenboog selbst von der Horde überwacht. Besonders auf<br />

ein ganz bestimmtes Ereignis warteten beide gespannt<br />

- genau darauf, dass Baldur seinen Palast verließ, um selbst im<br />

Bomenhau nach dem Rechten zu sehen. Baldur hatte das<br />

200


ganz und gar nicht vor und wollte stattdessen lieber den<br />

ganzen Forst abbrennen lassen – getreu seiner Devise, alles<br />

das, was er nicht zu beeinflussen vermochte, einfach zu<br />

ignorieren oder zu zerstören. Ignorieren aber schied in diesem<br />

Falle aus. Von dem Zerstören jedoch rieten ihm seine Berater<br />

dringend ab – denn dann hätte man den Kutschen zukünftig<br />

obenrein auch noch einen teuren Versorgungstross mitgeben<br />

müssen.<br />

Es blieb Baldur folglich nichts anderes übrig, als sich selbst<br />

zum Ort des Geschehens zu begeben. Nachdem das Heer<br />

nichts gefunden hatte, war ihm schlagartig klar geworden,<br />

dass dort im Bomenhau nur Magie mit im Spiel gewesen sein<br />

konnte! Und einen vollen Mond nachdem das Heer Höhle<br />

und Gipfel passiert hatte, war es dann auch so weit. Ein<br />

Lichtsignal kündete von einem Schiff, welches Baldur nach<br />

Diekenboog brachte. Findus und Malweýn waren über seine<br />

Ankunft schon informiert, noch bevor der Herrscher<br />

überhaupt seinen Fuß auf das Land setzen konnte. Und für<br />

Baldur´s Erscheinen waren ganz spezielle Vorkehrungen<br />

getroffen worden.<br />

Etwa auf halbem Wege zwischen dem Bomenhaugipfel und<br />

Diekenboog floss ein Wildbach vom Gebirge ausgehend in<br />

den Wilderfrio. Der Bomenhau war an diesem Ort zu einem<br />

von Sumpf durchsetzten Auwald geworden. Die beiden<br />

Herren des Waldes - Findus und Malweýn - wählten diese<br />

Stelle für ihr Treffen mit dem Herrscher sorgsam aus, weil sie<br />

weit genug von der Höhle entfernt lag. Galt es doch, die<br />

eigenen Leute zu schützen. An diesem Ort nun wirkten sie im<br />

Verborgenen mächtige Schutzzauber. Nur eben nicht ganz im<br />

Verborgenen, denn einzelne, kurze Schübe von sehr starker<br />

Magie gelangten aus dem Wald heraus und versetzten das<br />

magische Geflecht in unübersehbare Schwingungen. Einem<br />

Außenstehenden gegenüber erweckte dies den Eindruck, als<br />

würde etwas praktiziert werden, was unbedingt geheim<br />

gehalten werden sollte. Genau das aber war ihr Köder für<br />

Baldur!<br />

201


Doch der Herrscher ließ sich Zeit. Erst vier Tage nach<br />

Baldur´s Ankunft näherte sich ein Reiter langsam dem<br />

besagten Gebiet. Findus und Malweýn - beide in Vogelgestalt<br />

- sahen ihn schon von Weitem kommen. Nachdem er nahe<br />

genug war, landeten beide und nahmen wieder menschliche<br />

Gestalt an. Sie erwarteten ihn. Unweit eines<br />

baumbestandenen Sumpfes zügelte Baldur sein Pferd. Dort<br />

vorn... Da standen zwei Gestalten. Sie kamen ihm zwar<br />

bekannt vor, doch aus der Ferne war es ihm noch nicht<br />

möglich, irgendwelche Einzelheiten zu erkennen. Egal! Denn<br />

schließlich war er ja nicht nur der beste Schwertkämpfer<br />

<strong>Norgast</strong>´s, sondern obenrein auch noch der mächtigste<br />

Magier. Ihm konnte keiner etwas anhaben! Das jedenfalls<br />

dachte Baldur voller Selbstüberschätzung, als er auf die<br />

beiden Gestalten zuritt. Dann irgendwann erkannte er sie!<br />

„Mein Widersacher! Und mein greiser Lehrer! Hat er dich<br />

befreit, alter Mann? Warst du über all die Jahre hinweg zu<br />

unfähig, um das selbst zu bewerkstelligen?“ höhnte Baldur.<br />

„Sei vorsichtig Baldur“ warnte Malweýn ihn. Baldur aber<br />

grinste nur verächtlich und stieg siegessicher vom Pferd. Mit<br />

diesen beiden Maden würde er schon fertig werden! Es wäre<br />

doch gelacht, wenn es anders kommen sollte! „Und du,<br />

Söhnchen - gerade du traust dich mir noch einmal unter die<br />

Augen? Ich habe dich schon einmal besiegt! Du hast keine<br />

Chance gegen mich!“ Findus antwortete: „Das beruht auf<br />

Gegenseitigkeit. Auch ich habe dich schon einmal besiegt. Im<br />

Myrkviör. Und dir dennoch eine neue Chance gegeben. Eine<br />

Chance, die du nicht genutzt hast. Schon vergessen - Bruder?“<br />

Das Wort ‚Bruder‘ traf Baldur fast wie ein körperlicher<br />

Schlag. Jetzt erst begriff er, begriff, was ihm ein ständig<br />

unterdrücktes, inneres Gefühl hatte mitteilen wollen. Dieses<br />

Gefühl - die Stimme des Blutes. Seines eigenen Blutes. Ja,<br />

jetzt verstand er. Warum sein Plan, Findus zu töten, nicht<br />

funktioniert hatte. Warum der Shâgun sich nicht an Findus´<br />

Seele hatte laben können. Weil ihrer beider Geister<br />

miteinander verbunden waren. Untrennbar verbunden durch<br />

den gemeinsam miteinander geteilten Mutterleib. Doch auch<br />

angesichts dieser existenziellen Erkenntnis behielt Baldur´s<br />

Selbstsucht die Oberhand. Bisher war er ohne einen Bruder<br />

ausgekommen - und dass sogar sehr gut! Er polterte: „Was<br />

202


kümmert es mich, dass du mein Bruder bist? Glaubst du etwa,<br />

ich würde dir <strong>Norgast</strong> überlassen? Träum´ weiter!“ „Danke<br />

ab, Baldur“ empfahl Findus. „Niemals! Du stirbst hier und<br />

heute!“ Baldur zog sein Schwert, wollte den Kampf - den alles<br />

entscheidenden Endkampf.<br />

Doch die zu erwartende Konfrontation blieb aus, denn<br />

völlig unerwartet lag urplötzlich so ein bitter-süß-fauliger,<br />

blassrötlich-türkisfarbener Geruch in der Luft. Ein grellkeckerndes<br />

Lachen ertönte und aus der Luft schälte sich<br />

langsam eine schwarze Nebelwolke von unaussprechlichem<br />

Grauen. Auch der Dämon war durch die Schutzzauber auf<br />

diesen Ort aufmerksam geworden! „Ausgerechnet ein<br />

Shâgun“ ächzte Malweýn und setzte hinzu: „Den kann man<br />

nur bannen, aber niemals beherrschen!“ „Du sagst es, alter<br />

Mann“ erklang eine Gänsehaut-erregende Stimme, als würden<br />

Fingernägel über Schiefer kratzen. Die Stimme fuhr triefend<br />

vor Gier fort: „Und wen haben wir denn hier? Zwei Brüder!<br />

Zwei verwandte Seelen - und ich bin hungrig. Sehr hungrig<br />

sogar!“<br />

Der Shâgun schwebte im Wissen um die eigene Macht, um<br />

die eigene Unverwundbarkeit, auf Findus und Baldur zu.<br />

Langsam, als wolle er sich an der Angst, an der Qual seiner<br />

ihm sicheren Opfer weiden. Plötzlich knisterte die Luft<br />

„Schssstkracks“ in grau-schwarzen, unregelmäßig geformten,<br />

zackigen Flecken. Dahinter orangefarbenes Licht und es<br />

materialisierten drei Körper: Lyonora, Dayla und die Bônday.<br />

„Ich sagte ja schon, dass ich da sein werde, wenn man mich<br />

braucht“ meinte die Letztere lächelnd mit ihrer Stimme wie<br />

golden-reifes und von Nebelschwaden durchzogenes Korn.<br />

Sie reichte Malweýn die Hand. „Du kommst spät - wie<br />

immer!“ murrte der, obgleich ihm die große Erleichterung ins<br />

Gesicht geschrieben stand. Ihr Körperkontakt bewirkte, dass<br />

einer die Gefühle des anderen spüren und darauf eingehen<br />

konnte. Seelischer Gleichklang war die Folge und der<br />

potenzierte ihrer beider magischen Kräfte. Zwei<br />

ernstzunehmende Gegner für den Shâgun!<br />

Schnell hoben beide zwei vom Nebeltau des Shâgun<br />

benetzte Blätter auf und umschlossen sie fest mit den<br />

Händen, streckten die geschlossenen Fäuste vor sich aus. Sie<br />

konzentrierten sich darauf und vollzogen zweistimmig<br />

203


singend ein kurzes Weiheritual: „Von nun an seiest du, vom<br />

Dämon benetztes Laub, Teil des Shâgun´s. Was mit dir<br />

geschieht, das geschehe auch dem Shâgun selbst!“ Der<br />

Dämon heulte auf, als er diese Worte hörte und wandte sich<br />

umgehend der Bônday und Malweýn zu. Die beiden konnten<br />

ihm jetzt wirklich gefährlich werden! Derweil sang die Bônday<br />

bereits, blendend helle Runen in die Luft zeichnend, die<br />

Worte: „Noth gebe dem Dämon das, dessen er wirklich<br />

bedarf. Isaz steuere seine Aktivität. Tyr hilf uns und Laguz<br />

dem Land!“ Gleichzeitig griff Malweýn den Shâgun mit<br />

Wenderunen an. Mit tiefer sonorer und sicherer Stimme,<br />

Sturzrunen zeichnend, intonierte der Alte die Sprüche:<br />

„Zuruh destabilisiere dieses Wesen, Zalagah führe ihn zurück<br />

in seine angestammte Unterwelt und Othrep beeinflusse seine<br />

Kraft, auf dass er für immer dort verbleibe!“<br />

Das Einzige, was der inzwischen schon schrumpfende<br />

Shâgun diesen machtvollen Beschwörungen entgegen zu<br />

setzen hatte, war rohe Gewalt. Bläuliche Blitze zuckten von<br />

dem sich ringelnden Nebelgebilde auf Magier und Hagia zu,<br />

ohne jedoch die beiden wirklich erreichen zu können.<br />

Stattdessen wurden die Blitze abgelenkt, trafen auf das<br />

geweihte Laub! Mit jeder Abwehrmaßnahme brachte der<br />

Shâgun sich nur selbst immer stärker in Bedrängnis, denn die<br />

beiden nunmehr auf den offenen Handflächen von Malweýn<br />

und der Bônday präsentierten Blätter trockneten durch die<br />

Blitze sehr schnell aus, rollten sich krümmend zusammen,<br />

verfärbten sich erst dunkelbraun, dann schwarz und<br />

zerkrümelten schließlich zu Asche, welche zu Boden rieselte.<br />

Im gleichen Maße aber verschwand der Shâgun aus <strong>Norgast</strong>!<br />

Unmittelbar vor seinem endgültigen Verschwinden bäumte er<br />

sich - vergeblich - noch ein letztes Mal auf und schickte den<br />

Baldur so wohlbekannten und unvergesslichen, sich von tiefblutrot<br />

nach unerträglich-violett färbenden Blitz aus. Der traf<br />

Magier und Bônday. Sie blieben stehen, als sei nichts<br />

geschehen und der Shâgun verschwand endgültig in der<br />

Unterwelt. Nachdem das geschehen war, brachen beide<br />

gleichzeitig zusammen.<br />

Noch während Findus zu Malweýn eilte und Lyonora<br />

sowie Dayla zur Bônday rannten, erkannte Baldur seine<br />

Chance. Hals über Kopf raste er blindlings los, in das<br />

204


Dickicht des Waldes hinein. Fliehen, solange es noch ging;<br />

nur weg von hier! Doch aufgrund der sich zwischen den<br />

Bäumen erstreckenden Sumpfflächen kam er nicht weit.<br />

Noch ehe der Herrscher sich´s versah, war er bis zu den<br />

Schultern verschwunden, eingesunken im Morast. Und der<br />

Sumpf zog, zog ihn immer weiter hinab! Baldur schrie seine<br />

Not hinaus und Findus hörte ihn, blickte auf - doch es war zu<br />

spät. Grau-grün-braunes Wasser schloss sich mit gurgelndem<br />

Schmatzen über seinem Bruder und nur noch einzelne<br />

Luftblasen kündeten vom Ende eines menschlichen Wesens.<br />

„Baldur Os-Rit-Mannaz“ rief Findus noch den<br />

‚echten‘ Namen seines Bruders aus: Erreiche dein Ziel, indem<br />

du die Herausforderung durch den Kreislauf des Lebens anund<br />

dein Schicksal selbst in die Hand nimmst. Ein Beben<br />

erfasste das magische Geflecht - just in dem Moment, in dem<br />

Baldur´s Geist sich vom toten Körper trennte. Doch da der<br />

Körper bereits tot war, fand Baldur´s Seele keinen Anker<br />

mehr. Das verurteilte ihn zu einem Dasein als ruheloser<br />

Wanderer zwischen den Welten. Doch das Beben im Geflecht<br />

führte noch zu einem anderen Effekt. Malweýn erlangte kurz<br />

das Bewusstsein zurück, ergriff Findus´ Arm und blickte dem<br />

jungen Mann in die Augen. „Ich sterbe“ stöhnte er „nimm´<br />

meine Macht auf. Zum Wohle <strong>Norgast</strong>´s!“ Findus spürte, wie<br />

ihn eine nie gekannte, kraftvoll-magische Woge überlief, wie<br />

ihm weiteres Wissen zufloss. Ähnliches geschah bei der<br />

Bônday, neben der links und rechts sowohl Dayla wie auch<br />

Lyonora knieten. Die Bônday sah ihre beiden Novizinnen nur<br />

zufrieden lächelnd an und schloß dann die Augen – für<br />

immer.<br />

Findus blickte zu ihnen hinüber. Die beiden Frauen<br />

schauten auf. Daylas Augen waren verändert - nämlich<br />

bernsteingelb! Sie schluchzte. „Wir sollten unsere Toten<br />

zuerst bestatten“ sagte Findus etwas hilflos in seiner eigenen<br />

Trauer und mit erstickter Stimme. Unisono nickten Dayla und<br />

Lyonora. „Wir nehmen die tote Bônday mit zur ‚namenlosen<br />

Insel’ und kümmern uns dort um alles“ bemerkte Dayla<br />

tonlos und öffnete die Ley-Linie, über die sie gekommen<br />

waren. Etwas, das sie früher nicht gekonnt hatte. Erschüttert<br />

sah Findus zu, wie die beiden Frauen den toten Körper ihrer<br />

205


früheren Herrin dort hinein trugen. „Wir sehen uns später<br />

einmal...“ meinte Dayla zum Abschied „...wenn die Zeit reif<br />

ist.“ Findus konnte nur nicken, den toten Malweýn noch auf<br />

seinem Schoß gebettet.<br />

206


Kapitel 10: Das magische Geflecht<br />

Ein paar Tage später. Obgleich die Horde der Vogelfreien<br />

vollzählig versammelt war, verlief Malweýn´s Beisetzung in<br />

aller Stille. Er wurde tief im Schoß des Bomenhau vergraben<br />

- des Waldes, der ihm während seiner Bannung als Baum so<br />

lange so nah und gleichzeitig doch so fern gewesen war. Im<br />

Anschluss an die Trauerfreier hielt Findus eine kurze<br />

Ansprache an die Horde: „Ich beabsichtige, den von Malweýn<br />

einmal eingeschlagenen Weg konsequent zu einem guten<br />

Ende zu führen. Für <strong>Norgast</strong>! Ein Herrscher ist nichts ohne<br />

seine Untertanen. Nur zufriedene Untertanen sind auch treue<br />

Untertanen und nur treue Untertanen stehen zu ihrem<br />

Herrscher. Ein Herrscher muss daher immer das<br />

Wohlergehen seiner Untertanen im Auge haben. Baldur ist tot<br />

und ich als sein Zwilling bin sein legitimer Blutsnachfolger.<br />

Baldur hat die Armen ausgequetscht, um es den Reichen zu<br />

geben. Er war korrupt und hat alle Besitztümer <strong>Norgast</strong>s von<br />

unten nach oben umverteilt. Profitiert hat davon in erster<br />

Linie die Gilde der Kaufleute. Malweýn wollte diesen Trend<br />

umkehren. Als Herrscher beabsichtige ich, ganz im Sinne<br />

Malweýn´s weiterzumachen, denn wir sind noch nicht fertig.<br />

Noch lange nicht! Doch dazu brauche ich Helfer. Ich brauche<br />

euch, euch alle!“ Er machte eine Pause und blickte die um ihn<br />

herum stehenden Personen an. Neugierige Gesichter.<br />

„Wie stellst du dir das denn vor? Was genau sollen wir<br />

tun?“ fragte einer seiner Leute und Findus antwortete: „Die<br />

Vormänner bitte ich, nach Diekenboog zu gehen und dort auf<br />

meine Ankunft zu warten.“ Er wandte sich nun direkt an die<br />

Führer der Horde. „Ihr habt eure Führungsqualitäten mehr<br />

als bewiesen und solche Leute brauche ich im Palast von<br />

Helgenor. Dort sind noch die von Baldur eingesetzten<br />

Hofbeamten an der Arbeit. Solange ich neu im Amt bin,<br />

können die mir viel erzählen - zugunsten der Kaufleute und<br />

zulasten der Bevölkerung. Deswegen benötige ich<br />

zuverlässige Personen, die diesen Hofbeamten auf die Finger<br />

sehen. Und das sollt ihr sein. Ich werde euch voraussichtlich<br />

binnen eines Mondes aus Diekenboog abholen.“<br />

207


Nun wandte Findus sich wieder an alle: „Ihr anderen aber<br />

sollt ausschwärmen und verkünden, dass Baldur´s Herrschaft<br />

zu Ende ist. Das sein Bruder der neue Herrscher sein wird.<br />

Doch damit noch nicht genug. Ungleich wichtiger ist es, dass<br />

ihr weitere zuverlässige Leute anwerbt. Um herauszufinden,<br />

wer zuverlässig ist und wer nicht, müsst ihr unbedingt auf das<br />

Netzwerk der Hexen zurück greifen. Fragt die Hexen nach<br />

geeigneten Leuten! Sie waren schon in der Vergangenheit der<br />

Anlaufpunkt für alle Querdenker und sie werden es in der<br />

Zukunft erst Recht sein. Auch sind sie die Einzigen, welche<br />

die Aufrichtigkeit neuer Leute instinktiv richtig beurteilen<br />

können.“<br />

Er schwieg kurz und fuhr fort: „Richtet in jeder Stadt, in<br />

jeder Niederlassung, eine Anlaufstelle ein. Ihr erhaltet zur<br />

Finanzierung noch etwas von den restlichen Schätzen. Haltet<br />

eure Ohren offen und hört auf die einfachen Leute.<br />

Registriert Fehlverhalten, Bedrohungen, Korruption und<br />

Übervorteilungen. Die Vormänner werden so bald wie<br />

möglich wieder an euch herantreten und es wird auch<br />

geänderte Gesetze geben.“ Findus blickte in die Runde.<br />

„Draconis und ich verteilen noch die restlichen<br />

Wertgegenstände unter den Ärmsten der Bevölkerung. Dann<br />

statten wir der ‚namenlosen Insel‘ in der Tiedsiepe einen<br />

Besuch ab, um uns nach der Bônday zu erkundigen und<br />

danach begeben wir uns direkt nach Helgenor. Also - wer von<br />

euch macht mit? Wer mitmacht, der hebe seine Hand!“ Nicht<br />

eine Hand blieb unten. Man kannte Findus, kannte sein<br />

Können, achtete seine Motive. Er hatte bewiesen, dass er für<br />

seine Überzeugungen einzutreten wusste und deshalb<br />

vertraute man ihm. Taten statt Worte - und das war Ansporn<br />

genug.<br />

Ein paar Tage später hatte sich die Horde der Vogelfreien<br />

aufgelöst. Nach einer kurzen Ausstattung mit Sach- und<br />

Wertgegenständen waren die Leute losgezogen, um ihre<br />

neuen Aufgaben zu bewältigen - die ehemaligen Führer in<br />

Richtung Diekenboog und die anderen in alle<br />

Himmelsrichtungen. Auch die Höhle war jetzt leer, denn<br />

Draconis´ Flüge brachten die restlichen Schätze unter die<br />

Leute. Von Sirval aus fuhren wieder Kutschen nach<br />

Diekenboog - doch unbehelligt und gerade so, als sei nie<br />

208


etwas geschehen. Und die Kaufleute freuten sich über ihre<br />

Geschäfte, gaben sich vorerst noch der trügerischen<br />

Hoffnung hin, dass alles beim Alten bleiben würde.<br />

Draconis und Findus saßen jetzt allein auf dem Gipfel des<br />

Bomenhau. „Glaubst du wirklich, dass Baldur tot ist?“ fragte<br />

Draconis. „Nein“ entgegnete Findus „ich schätze vielmehr,<br />

dass es seinen Geist in eine der Anderswelten verschlagen<br />

haben wird. Ich glaube aber auch, dass wir hier in <strong>Norgast</strong><br />

von ihm nichts mehr befürchten müssen.“ „Wieviele<br />

Anderswelten mag es wohl geben?“ „Unendlich viele. Sieh´<br />

mal - wenn ich einen Drachen wie dich von vorn betrachte,<br />

dann weiß ich, dass es ein Drache ist. Wenn ich dich aber von<br />

der Seite oder von hinten sehe, dann weiß ich auch, dass du es<br />

bist. In meinem Kopf wird also nicht nur ein eben gesehenes<br />

Bild mit etwas schon Vorhandenem verglichen - denn sonst<br />

könnte ich dich von hinten oder von der Seite ja gar nicht als<br />

Drachen erkennen - sondern es geschieht etwas Neues. Eine<br />

Verbindung wird geknüpft und eine Erkenntnis entsteht.<br />

Diese Erkenntnis sehe ich als die Geburt einer neuen Welt<br />

- einer Anderswelt - an. Und da es unendlich viele Gedanken<br />

gibt, muss es auch unendlich viele Anderswelten geben.<br />

Vielleicht ist ja <strong>Norgast</strong> selbst nur irgendwo von irgendwem<br />

erdacht und dadurch zu unserer Realität geworden. Für den<br />

Betreffenden sind wir dann eine Anderswelt. In welche<br />

Anderswelt es Baldur allerdings verschlagen hat, das vermag<br />

ich nicht zu sagen.“ Findus schwieg und sah nachdenklich zu<br />

Draconis hinüber.<br />

Der fragte: „Was hast du jetzt eigentlich ganz konkret mit<br />

dem Land vor?“ Offen betrachtete Findus seinen Freund und<br />

erwiderte: „Zuerst gehört Baldur´s Berufsbefähigungsgesetz<br />

abgeschafft. Jeder soll wieder die Arbeit machen können, die<br />

ihm von Natur aus liegt. Nur dann sind die Menschen<br />

motiviert und nur dadurch kann es gute Arbeit und in Folge<br />

davon einen gewissen Wohlstand für jeden geben. Das<br />

Handelsmonopol der Kaufleute-Gilde werde ich auch<br />

beseitigen. Jeder soll Handel treiben dürfen. Es ist besser und<br />

sehr viel störungsunanfälliger, alles auf vielen kleinen<br />

Schultern dezentral zu verteilen, als nur auf einigen wenigen<br />

Großen.“<br />

209


Findus fuhr fort: „Die kleinen Händler können und sollen<br />

sich zusammenschließen. Doch solche Machtkonzentrationen<br />

wie in den Händen der Handelsherren darf es nie wieder<br />

geben, denn nur dadurch wurde Baldur´s Regime überhaupt<br />

erst ermöglicht. Geschäfte können zukünftig sowohl im<br />

Tausch wie auch über Geld abgewickelt werden. Von jedem<br />

Geldgeschäft beanspruche ich ein Drittel als Steuer. Auch von<br />

jedem Besitzstand, der ein gewisses Mindestmaß<br />

überschreitet, werde ich mir genau ein Drittel als Steuer<br />

nehmen. Davon wird eine Grundversorgung für die<br />

Bevölkerung finanziert, so dass niemand mehr Angst haben<br />

muss, gänzlich zu verarmen oder gar zu verhungern. Auch<br />

wird die Grundversorgung die Menschen flexibler machen<br />

- sie müssen dann nicht mehr um ihres Überlebens willen wie<br />

Sklaven für irgendwelche Parasiten arbeiten. Sie werden<br />

Wahlmöglichkeiten haben.“<br />

„Und darüber hinaus?“ fragte der Drache. „Darüber<br />

hinaus werde ich auch das Strafrecht ändern. Es gibt keine<br />

Vogelfreien mehr. Jeder Mord wird - ungeachtet des Opfers -<br />

auch als Mord geahndet werden. Übervorteilung beim Handel<br />

und Betrug werden einem Diebstahl gleichgestellt.“ „Wer soll<br />

die Einhaltung dieser Gesetze kontrollieren und wer soll<br />

Recht sprechen?“ „Ich werde das Reich in überschaubare<br />

Bezirke aufteilen. Jeder Bezirk wählt dann für<br />

Vollstreckungszwecke auf zwei Sommer einen Büttel. Der<br />

wiederum darf Helfer einstellen. Zusätzlich werden Richter<br />

und Dorfvorsteher gewählt. Aber auch nur für zwei Sommer<br />

und ohne die Möglichkeit einer Wiederwahl, damit es nicht zu<br />

Filz und Bestechung kommt. Wer korrupt ist, der verliert<br />

alles. Streitigkeiten lassen sich so zwischen den Beteiligten auf<br />

der Bezirksebene klären. Im Zweifelsfalle kann eine der<br />

Hexen als Beraterin angerufen werden, um die Motive aller<br />

und den Gesamtzusammenhang zu prüfen.“<br />

Draconis nickte zustimmend und Findus erläuterte weiter:<br />

„Den Bütteln und Richtern mehrerer Bezirke steht ein<br />

Vorgesetzter vor. Ich plane, dafür Leute aus der ehemaligen<br />

Horde einzusetzen. Weiterhin wird deren Aufgabe darin<br />

bestehen, die Steuern zu überwachen, damit niemand<br />

heimlich etwas beiseite schafft und so der Allgemeinheit<br />

schadet.“ „Und wie willst du das mit größeren Sachen<br />

210


handhaben, wenn beispielsweise eine Handelsflotte oder<br />

sowas da ist?“ „Nehmen wir einmal an, ein Handelsherr<br />

besitzt drei Schiffe. Dann geht eins davon als Steuer in<br />

meinen Besitz über. Er darf es zwar weiterhin benutzen, aber<br />

ich habe dadurch ein Mitspracherecht bei jeder Fahrt und bei<br />

jedem Besatzungsmitglied. Auch wird das Mitspracherecht auf<br />

alle irgendwo für irgendwen arbeitenden Menschen<br />

ausgeweitet werden müssen. Denn nur so kann geheimen<br />

Absprachen wirkungsvoll entgegen getreten werden.“<br />

„Was machst du mit Baldur´s Söldnern?“ „Wer von denen<br />

mir dienen will, der kann das auch tun. Ich werde Söldner<br />

brauchen, um den Piraten entgegen zu treten.“ „Ich sehe<br />

schon, dass du dir über <strong>Norgast</strong>´s Zukunft wirklich<br />

Gedanken gemacht hast. Wann willst du mit der<br />

Verwirklichung beginnen?“ fragte Draconis. „Jetzt sofort. Wir<br />

sind lange genug hier gewesen. Fliege mich zur ‚namenlosen<br />

Insel‘. Ich brauche Dayla´s Einverständnis für das, was ich<br />

vorhabe.“ „Dayla´s Einverständnis? Glaubst du, dass es noch<br />

die Dayla ist, die du kanntest?“ „Wir werden sehen“ meinte<br />

Findus und sie flogen los, in Richtung Tiedsiepe und der<br />

Sonne entgegen.<br />

Die beiden erreichten die ‚namenlose Insel‘ kurz nach<br />

Sonnenuntergang, wobei Draconis sich mit seinem<br />

Drachensinn wieder am Kreuzungs-Leuchtfeuer der<br />

Erdströme orientierte. Von oben her waren in der<br />

Dämmerung zwei Personen erkennbar - eine Frau und ein<br />

junges Mädchen. Findus riet dem Drachen, bei den beiden zu<br />

landen. Am Boden angekommen stieg der Drachenreiter ab.<br />

Die Frau, die er gesehen hatte, war ganz zweifellos Lyonora.<br />

Sie erwartete ihn. „Lyonora“ sagte Findus und nickte<br />

grüßend. Auch Lyonora begrüßte ihn kurz, stellte ihn ihrer<br />

Begleitung vor, wies auf das vielleicht ein Dutzend Sommer<br />

alte Mädchen und sagte: „Das ist Mona. Sie ist die neue<br />

Novizin.“ „Wo ist Dayla?“ Ein irritierter Blick seitens<br />

Lyonora, dann: „Warte bitte einen Moment. Ich werde die<br />

Bônday informieren.“ „Also doch!“ schoss es Findus durch<br />

211


den Kopf. Wie er es schon vermutet hatte. Dayla war zur<br />

neuen Bônday geworden!<br />

Lyonora verschwand und kam kurz darauf mit einer<br />

zweiten Frau zurück. Findus kannte die - und auch wieder<br />

nicht. Von der Gestalt her handelte es sich eindeutig um<br />

Dayla. Doch ihre Haut war dunkel und das Haar silbern<br />

geworden. Bernsteinfarbene Katzenaugen blickten ihn an und<br />

eine samtweiche, rauchige Stimme, wie Nebel in einem<br />

Kornfeld, sagte: „Ich habe dich noch nicht so früh erwartet.“<br />

„Dayla!“ antwortete Findus erfreut und wollte auf sie zu eilen,<br />

doch seine einstige Geliebte schüttelte nur bedauernd den<br />

Kopf. „Sag´ bitte Bônday. Dayla existiert nicht mehr.“ Sie war<br />

abgesehen von ihrer Erscheinung auf unbestimmbare Weise<br />

verändert. Distanzierter. Nicht mehr die Frau von früher.<br />

Reifer, erfahrener und mächtiger. Sie war ihm zwar weiterhin<br />

wohl gesonnen,. aber sie war nicht mehr seine Geliebte. Sie<br />

ging ihren eigenen Weg, einen anderen, älteren Weg. Da hatte<br />

sich etwas zwischen die einstmals Liebenden geschoben.<br />

Findus spürte das. Die Bônday auch - mit Wehmut. Doch die<br />

alten Zeiten waren vorbei. Wohl endgültig. Sie als mächtigste<br />

Hagia, er als stärkster Magier. Standen sie jetzt etwa in<br />

Konkurrenz zueinander? Oder würden sie zusammenarbeiten<br />

können oder gar müssen – wie einst die frühere Bônday und<br />

Malweýn?<br />

„Wir müssen miteinander reden“ begann Findus und fuhr<br />

fort „Wegen <strong>Norgast</strong>. Wie es weitergehen soll. Ich brauche<br />

deine Hilfe.“ Dayla - die Bônday - nickte verstehend.<br />

„Komm´ mit“ entgegnete sie und wies Lyonora sowie Mona<br />

an, sich um Draconis zu kümmern. Es würde ein Vier-Augen-<br />

Gespräch werden. Wenig später saßen Findus und die neue<br />

Bônday beisammen. Der zukünftige Herrscher legte ihr seine<br />

Pläne dar, wie er es auch schon gegenüber der früheren<br />

Horde und gegenüber dem Drachen getan hatte. Findus bat:<br />

„Ohne das Netzwerk der Hexen kommen wir nicht weiter.<br />

<strong>Norgast</strong> braucht die als Berater. Und wo wir schon mal dabei<br />

sind: Es wäre wünschenswert, wenn die<br />

Nichteinmischungspolitik der Bônday´s der Vergangenheit<br />

angehören könnte. Wenn du eine Kontrollfunktion<br />

ausübtest.“ „Was für eine Kontrollfunktion?“ wollte die<br />

Bônday wissen.<br />

212


„Über mich, über zukünftige Herrscher. Niemand ist<br />

unfehlbar. Es ist immer gut, wenn jemand da ist, der einen<br />

schon frühzeitig auf mögliche Fehlentwicklungen hinweist.<br />

Jemand, der enge Verbindung zum Volk hat. Wie du - durch<br />

die Hexen. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass es nie<br />

wieder zu so einem Machtmissbrauch wie unter Baldur´s<br />

Regentschaft kommt.“ „Eine schwierige Entscheidung“<br />

entgegnete die frühere Dayla, die es sich nicht leicht machte.<br />

„Wir sollten das überschlafen. Jeder für sich.“ fuhr sie fort<br />

und ergänzte „Morgen sehen wir weiter.“ Beide fanden in der<br />

Nacht jedoch wenig Schlaf. Zu schwer wogen die Gedanken.<br />

Das Reich musste von Grund auf umgekrempelt werden.<br />

Dazu bedurfte es der Hilfe aller. Auch die Bônday sah das ein.<br />

Am nächsten Tag teilte sie Findus ihr Einverständnis mit.<br />

„Jetzt kannst du mich zum Palast nach Helgenor bringen“<br />

sagte der daraufhin zu seinem Drachenfreund und ihre Reise<br />

ging weiter.<br />

Auf einen wochenlang schon unterwegs gewesenen<br />

Reisenden wirkte die Insel Helgenor wie eine Verheißung.<br />

Zuerst sah er vom Schiff aus, wie sich langsam eine Insel aus<br />

dem Dunst des fernen Horizonts schälte. Die Insel wuchs<br />

sich zum Berg aus und oben auf thronte der weiße Palast von<br />

Helgenor. Zu seinen Füßen kam dann nach und nach die<br />

Stadt Helgeboog in Sicht. Der mit einer<br />

Palisadenkonstruktion zum Meer hin befriedete Hafen. Die<br />

feste Stadt, umgeben von einer imposanten,<br />

halbkreisförmigen Stadtmauer aus massivem Stein. Ginge der<br />

Reisende an Land, so könnte er feststellen, dass sich an den<br />

Hafen Märkte und Handwerkshäuser anschließen. Am einen<br />

Stadtrand wären all die zu finden, deren Gewerbe mit<br />

Geruchsbelästigungen verbunden ist: die Gerber, die Färber,<br />

die Kerzenmacher, die Schmiede sowie das Fleisch und den<br />

Fisch verarbeitende Gewerbe. Am anderen Stadtrand fanden<br />

sich die Unterkünfte des Stadtvolks. Ein befestigter und<br />

gesicherter Weg führte hinauf zum Palast.<br />

Findus und Draconis jedoch bot sich ein gänzlich anderes<br />

Bild, denn sie kamen ja auf dem Luftweg. Von oben sahen sie<br />

213


den Hafen im Sonnenschein liegen. Aufgrund der warmen<br />

Meeresströmungen blühte die Insel und Frühlingsduft lag in<br />

der Luft. Große Hallen fanden sich in der Stadtmitte; ihre<br />

Reihen nur durchbrochen von den zahllosen Schenken, die<br />

- wenn man den Leuten denn Glauben schenken wollte -<br />

sogar frei von Ungeziefer sein sollten. Das Stadtvolk selbst<br />

wohnte in hübschen und gepflegten kleinen Häusern. Weiße<br />

Häuser, breite Straßen und elegante Torbögen. An den<br />

großen Markt am Hafen - der von einer Marktpolizei<br />

überwacht wurde - schlossen sich ringsum viele kleinere<br />

Märkte an, von oben leicht an den bunten Tüchern der<br />

Marktstände erkennbar. Ganz Helgeboog atmete Reichtum<br />

und Leichtigkeit aus - was so gar kein Vergleich mit dem Rest<br />

des Landes <strong>Norgast</strong> war. Und über allem: der majestätische<br />

weiße Palast des Herrschers. Luxus pur.<br />

Die Kunde vom neuen Herrscher war Findus und<br />

Draconis schon vorausgeeilt. Die Leute wussten etwas, aber<br />

nichts Genaues. Die Kaufleute hingegen hatten sich auf ihre<br />

Weise gewappnet. Draconis flog tief. Er zeigte sich den<br />

Bewohnern der Stadt und Findus inspizierte sein neues Reich<br />

von oben. Einige Pferde scheuten ob des Drachens;<br />

Menschen versteckten sich. Aber nicht alle. Findus wies<br />

Draconis an, höher zu fliegen, um Schaden zu vermeiden und<br />

bat ihn, Kurs auf den Palast zu nehmen. Auch viele der<br />

Stadtbewohner und der Soldaten strebten jetzt dorthin,<br />

gerade so, als erwarteten sie etwas. Ihren neuen Herrscher.<br />

Der von Helgeboog kommende, befestigte Weg mündete auf<br />

einen steingefassten Platz vor dem eigentlichen Palast. Dort<br />

landeten Drachen und Drachenreiter, warteten auf die<br />

Menschen. Und die kamen in Scharen und staunend.<br />

Nachdem der Platz sich gefüllt hatte, richtete Findus sich auf<br />

Draconis Rücken auf und der Drache sprach mit weithin<br />

hallender Stimme: „Ich bringe euch den neuen Herrscher von<br />

<strong>Norgast</strong>!“ Beinahe schlagartig trat Ruhe ein. Zeit für Findus,<br />

sich an sein Volk zu wenden.<br />

Er betrachtete die aufmerksame Menge vor ihm. Es waren<br />

einfache Leute - Fischer, Handwerker, Seeleute, Soldaten. Ein<br />

Mann in der vorderen Reihe fiel ihm auf, weil der trotz der<br />

milden Witterung einen langen blaugrauen Mantel trug. „Aber<br />

jeder so, wie es ihm beliebt“ dachte Findus bei sich. Mit<br />

214


klarer, lauter und volltönender Stimme begann er zu<br />

sprechen. „Ich grüße euch! Mein Name ist Findus. Ich bin der<br />

Sohn von König Mykyllin und von Königin Gwylon. Baldur<br />

war mein Zwillingsbruder. Er ist tot. Er unterlag mir im<br />

Kampf.“ Das stimmte so zwar nicht genau, aber Findus hatte<br />

nicht vor, hier und jetzt die ganze Geschichte von Baldur´s<br />

unrühmlichen Ende zu erzählen. Er schwieg kurz und<br />

überlegte sich die nächsten Worte. So entging ihm auch, dass<br />

der Mann im graublauen Mantel sich langsam und vorsichtig<br />

bückte.<br />

Die Kunde, dass Findus hinter den Vorfällen im<br />

Bomenhau gesteckt hatte, war ihm selbst lange vorausgeeilt<br />

- denn auch die Kaufleute kannten die Kommunikation mit<br />

Licht unter Verwendung kleiner silberner Spiegel. Und die<br />

Kaufleute hatten sich gewappnet. Sie wussten, was sie<br />

erwartete, wenn ein Mann des Volkes die Regierungsgeschäfte<br />

übernehmen würde. Das musste unbedingt verhindert<br />

werden! Und nicht umsonst hatte man seine Seilschaften,<br />

kannte Leute für besondere Gelegenheiten... Der Mantelmann<br />

war so ein Jemand für besondere Gelegenheiten. Ein Söldner,<br />

dem Auftrag und Auftraggeber völlig egal waren, solange nur<br />

der Lohn stimmte. Und der war in diesem Fall hoch. Wenn es<br />

ihm gelänge, Findus auszuschalten, dann winkte dem<br />

Auftragskiller ein ganzer Beutel mit Gold!<br />

Der Mantel hatte nur eine einzige Funktion. Er sollte eine<br />

kleine Armbrust und den Gürtel mit dem Spannhaken daran<br />

verbergen. Als der Mantelmann sich bückte, geschah dies nur<br />

aus einem einzigen Grund - nämlich um die Sehne der<br />

Armbrust in den Spannhaken einzuhängen, so dass die Waffe<br />

durch das Aufrichten gespannt wurde. Nachdem der Mann<br />

wieder gerade stand, knöpfte er langsam seinen Mantel auf.<br />

Insheim legte er einen Bolzen in die Schiene der Waffe ein.<br />

Die war damit schussbereit. Niemand nahm davon Notiz.<br />

Inzwischen aber sprach Findus bereits weiter.<br />

„Es gibt sicherlich einige unter euch, die Mykyllin und<br />

Gwylon noch gekannt haben. Wie man hört, sollen die beiden<br />

ein gutes Herrscherpaar gewesen sein.“ Ein zustimmendes<br />

Raunen durchlief die Menge und Findus atmete innerlich auf<br />

- er hatte genau den richtigen Ton getroffen. Er fuhr fort:<br />

„Gwylon war eine Hexe. Sie sah böse Vorzeichen und ließ<br />

215


mich deswegen nach meiner Geburt in Sicherheit bringen.<br />

Daher wurde mein Zwillingsbruder Baldur zum Herrscher<br />

- doch er war nur ein Strohmann! Ein Strohmann der Macht<br />

im Hintergrund. Einer Macht, der <strong>Norgast</strong> die heutigen<br />

Zustände zu verdanken hat. Seid ihr mit diesen Zuständen<br />

zufrieden?“ Ein einstimmiges „Nein!“ schallte ihm entgegen.<br />

„Baldur war ein Strohmann für die Gilde der Kaufleute!“ Ein<br />

erschrecktes Keuchen, vereinzeltes „Ah!“ und „Oh!“ kamen<br />

aus der Menge.<br />

Es reichte. Der Mantelmann war eiskalt, als er seinen<br />

Mantel zurück schlug, die Armbrust ansetzte, kurz zielte und<br />

abdrückte. Ein kurzes leises, erdbraunes „Plock!“ war zu<br />

hören - und der eisenbewehrte Bolzen schlug in Findus´ Brust<br />

ein. Findus fühlte den Schmerz eines Aufpralls und sah an<br />

sich herunter. Da hing ein zerbrochenes Geschoss in seiner<br />

Kleidung. Ein Armbrustbolzen. „Ihr könnt ihn nicht töten,<br />

denn er hat in meinem Blut gebadet! Er ist unverwundbar!“<br />

dröhnte Draconis. Der Mantelmann fluchte. Er wollte sich<br />

umwenden, flüchten, doch die Menschen standen wie eine<br />

unüberwindbare Mauer. Böse Blicke trafen ihn.<br />

Er erhielt einen Stoß und taumelte in den freien Raum<br />

zwischen Findus und den Menschen. Mit zusammen<br />

gebissenen Zähnen einen weiteren Fluch murmelnd spannte<br />

der Mann noch im Aufrichten seine Armbrust erneut. Mit<br />

einer einzigen fließenden Bewegung legte er einen zweiten<br />

Bolzen ein, hob die Waffe und drückte wieder ab. Doch der<br />

Drache kam ihm zuvor. Draconis entließ seinen Nüstern<br />

einen Feuerstoß, welcher den Bolzen noch im Fluge erreichte.<br />

Nur noch harmlose Funken segelten auf Findus herab und<br />

erweckten den Anschein, als wolle eine höhere Macht den<br />

neuen Herrscher erleuchten.<br />

Die Menschen traten nach vorn, auf den Söldner zu. Eine<br />

bedrohliche Situation. Er schloss mit seinem Leben ab. Dieser<br />

eine Anschlag war ein Anschlag zuviel gewesen. Der Letzte in<br />

seinem Leben. Doch es war ausgerechnet sein Opfer, welches<br />

ihn rettete. „Lasst ihn!“ rief Findus den Menschen zu, die<br />

erstaunt stehen blieben. Findus wandte sich nun selbst an den<br />

Attentäter: „Nenne mir deinen Auftraggeber und du gehst<br />

straffrei aus! Andernfalls überlasse ich dich den Leuten. Es ist<br />

deine einzige Chance. Also sprich! Wer gab dir den Auftrag,<br />

216


mich zu töten?“ Eingeschüchtert antwortete der Mann<br />

„Mijneer Vankampen.“ „Ein Handelsherr“ erwiderte Findus<br />

und wandte sich an das Volk: „Seht ihr? Sie lassen nichts<br />

unversucht. Lasst ihn jetzt gehen. Er hat keinen Schaden<br />

angerichtet.“ Murrend traten die Menschen beiseite, bildeten<br />

eine Gasse. Durch die floh der Söldner, so schnell er konnte.<br />

Ein Spießrutenlauf...<br />

Möglicherweise wusste der eine oder andere schon von der<br />

Rolle, welche die Kaufleute in <strong>Norgast</strong>´s Politik spielten. Viele<br />

hingegen hatten vielleicht nur so ein undefinierbares, nicht<br />

näher spezifizierbares Gefühl des Unbehagens, wenn sie an<br />

ihr Land dachten. Doch es war gerade dieser missglückte<br />

Anschlag, der den Menschen vollends die Augen öffnete. Als<br />

Findus weitersprach und seinen Untertanen die Pläne<br />

darlegte, die er Draconis´ und Dayla gegenüber geäußert<br />

hatte, da schlug ihm unverhohlene Begeisterung entgegen. Ja<br />

- die Bevölkerung würde mitziehen! <strong>Norgast</strong> würde wieder zu<br />

einem lebenswerten Land werden!<br />

Nach seiner Ansprache begann sich die Menge zu<br />

zerstreuen. Die Leute hatten Tätigkeiten, denen sie nachgehen<br />

mussten, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.<br />

Findus und Draconis hingegen wandten sich jetzt dem Palast<br />

zu. Die Hofbeamten, die auf der Gehaltsliste der Kaufleute<br />

standen, hatten Findus´ Redezeit genutzt, um sich schleunigst<br />

aus dem Staub zu machen. Es waren ihrer viele. Die<br />

verbliebenen Beamten hingegen waren integer, wie der neue<br />

Herrscher rasch feststellte. Nach zwei Tagen ließ er Draconis<br />

allein im Palast zurück und suchte nach einer Ley-Linie.<br />

Darüber reiste Findus nach Diekenboog. Wie versprochen<br />

holte er die Vormänner der Horde ab - seine derzeit<br />

wichtigsten Helfer.<br />

Obwohl die Vormänner, die früheren Mitglieder der Horde,<br />

die überall verteilten Hagias und die einfache Bevölkerung ihr<br />

Bestes gaben, gingen zwei volle Sommer ins Land, bis Findus´<br />

Reformen überall Wirkung zeigten - es war alles andere als<br />

einfach, das von Baldur und den Kaufleuten<br />

heruntergewirtschaftete Reich wieder zu reorganisieren!<br />

217


Baldur´s altes Berufsbefähigungsgesetz und das<br />

Handelsmonopol der Kaufleute-Gilde kippten als Erstes.<br />

Nach und nach setzte sich die neue Ein-Drittel-Besteuerung<br />

durch. So mancher versuchte dabei, wie er es aus früheren<br />

Zeiten gewohnt war, ganz selbstverständlich in die eigene<br />

Tasche zu wirtschaften - und flog auf, denn Hexen und Büttel<br />

nahmen ihre Kontrollfunktionen sehr ernst. Darüber hinaus<br />

legten die Büttel den ehemaligen Vormännern gegenüber<br />

Rechenschaft ab. Die Vormänner bereisten das Land und<br />

immer einer von ihnen war der Vorgesetzte mehrerer Büttel.<br />

Doch auch Findus verließ häufig den Palast, um selbst nach<br />

dem Rechten zu sehen. Das machte ihn beim Volk überaus<br />

beliebt.<br />

Irgendwann jedoch florierte alles - wie früher unter<br />

Mykyllin und Gwylon. Die Piraten spielten keine Rolle mehr;<br />

sie waren besiegt worden – nicht zuletzt unter aktiver<br />

Mitwirkung von Draconis. Die kleinen Tauschgeschäfte der<br />

einfachen Menschen blieben unbesteuert. Alle größeren<br />

Geschäfte hingegen wurden über Geld abgewickelt - und da<br />

gab es kein Verstecken, keine Abschreibungen, keine<br />

umfangreichen Aufkäufe von Sachwerten, welche letztlich<br />

immer nur Einzelnen die Taschen gefüllt hätten. Von jedem<br />

dieser Geschäfte ging genau ein Drittel an den Palast nach<br />

Helgenor, von wo aus es sofort wieder für die<br />

Grundversorgung der Bevölkerung ausgegeben wurde.<br />

Niemand musste mehr Hunger leiden. Niemand musste sich<br />

von einem Arbeitgeber mehr wie ein Sklave behandeln lassen.<br />

Die Menschen bekamen wieder Achtung voreinander und ein<br />

Jeder war sorgsam darauf bedacht, diesen Zustand möglichst<br />

lange bestehen zu lassen. Einer half dem anderen. Man<br />

handelte mit Blick auf die Zukunft.<br />

Eines schönen Tages jedoch kam es zu einem Vier-Augen-<br />

Gespräch zwischen Draconis und Findus. Draconis war im<br />

Verlauf der letzten Zeit immer schweigsamer geworden<br />

- gerade so, als bedrücke ihn etwas. „Was ist los mir dir?“<br />

fragte Findus ihn daher jetzt ganz unverblümt. Er setzte noch<br />

hinzu: „Sieh´ dich doch mal um - den Menschen geht´s besser<br />

und wir haben in vergleichsweise kurzer Zeit so unheimlich<br />

viel erreicht. Das Reich floriert. Und du machst hier einen auf<br />

Miesepeter! Also Klartext - was hast du?“ Draconis seufzte.<br />

218


Leise sprach er: „Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst.<br />

Wir sind Freunde. Deswegen bleibe ich bei dir. Aber<br />

manchmal da...“ Er verstummte. „Da was?“ wollte Findus<br />

wissen. „Da sehne ich mich nach den feuerspeienden Bergen<br />

zurück. Nach dem Eis und nach den Geysiren. Sogar nach<br />

meiner Höhle.“ Der Drache schwieg und der Herrscher sah<br />

ihn mitleidig an.<br />

„Du hast <strong>Heim</strong>weh... – das ist schlimm. Dann flieg´ nach<br />

Hause. Umgehend. Unserer Freundschaft tut das doch keinen<br />

Abbruch. Außerdem kannst du ja jederzeit wiederkommen.“<br />

„Danke. Genau das wollte ich aus deinem Mund hören. Ich<br />

selbst hätte nicht darum gebeten. Aber da ist noch etwas.“<br />

„Was?“ „Du hast mir mal von diesem Wald erzählt, in dem es<br />

keine Magie mehr gibt.“ „Ja, ich erinnere mich. Das ist der<br />

Myrkviör.“ „So etwas sollte es hier in <strong>Norgast</strong> nicht geben. Es<br />

gehört nicht hierher. Nicht in diese Welt. Genausowenig wie<br />

die magischen Machtkonzentrationen bei dir und bei der<br />

Bônday. Das ist ein falscher Weg. Gebt einen Teil eurer<br />

Macht auf. Gebt ihn an das magische Geflecht zurück, so wie<br />

Malweýn es früher befürwortet hat. Tut das im Myrkviör, um<br />

das magische Geflecht zu reparieren. Versprich´ mir das<br />

- bitte!“ Das Letzte hatte der Drache richtiggehend flehentlich<br />

vorgetragen.<br />

„Das würde ich dir gerne versprechen. Aber das kann ich<br />

nicht. Denn diese Entscheidung liegt nicht bei mir allein. Ich<br />

selbst würde es sofort tun. Aber die Bônday? Bei unserem<br />

letzten Treffen kam sie mir so unsagbar fremd vor...“ „Sie<br />

wird es einsehen. Es muss sein.“ Draconis hob den Kopf:<br />

„Pass´ auf, ich mache dir einen Vorschlag. Morgen breche ich<br />

auf. Ich fliege aber nicht direkt nach Fucunor, sondern<br />

erstmal nur über die Berge nach Osten. Zur Tiedsiepe, zur<br />

‚namenlosen Insel’. Dort spreche ich mit der Bônday. Auf die<br />

Weise kann ich mich auch gleich selbst von ihr verabschieden.<br />

Danach geht´s für mich zurück in den Norden. Irgendwann<br />

werde ich wohl mal zurück kommen, um hier nach dem<br />

Rechten zu sehen. Du gibst der Bônday ein paar Tage Zeit<br />

zum Nachdenken. Danach suchst Du sie persönlich auf und<br />

ihr besprecht alles Weitere gemeinsam. Sie wird die<br />

Notwendigkeit einsehen.“ Findus nickte. Der Vorschlag war<br />

gut und so machten sie es dann auch. Am nächsten Tag<br />

219


verabschiedeten sich die Freunde voneinander - für einen<br />

noch nicht absehbaren Zeitraum und Draconis flog in<br />

Richtung Helgebarg los.<br />

Findus wartete ein paar Tage ab. Tage, in denen das magische<br />

Geflecht vibrierte und bebte. Er nahm an, dass die <strong>Norgast</strong>-<br />

Bônday zu einem Hexenconvent geladen hatte, dass sie sich<br />

auf magische Weise mit den anderen Bônday´s beriet.<br />

Nachdem das Geflecht wieder zur Ruhe gekommen war,<br />

informierte er seinen Stellvertreter im Palast - einen<br />

ehemaligen Vormann - dahingehend, dass er selbst wohl für<br />

einige Zeit abwesend sein würde. Findus machte sich darum<br />

allerdings keine Sorgen. Das von ihm in <strong>Norgast</strong> eingeführte<br />

soziale System funktionierte. Und ein gutes System bewies<br />

seine Qualitäten dadurch, dass es auch ohne eine<br />

Führungskraft an der Spitze weiterhin perfekt arbeiten würde.<br />

Tragfähige Systeme regeln Störeinflüsse selbst aus. Also<br />

machte er sich beruhigt auf den Weg.<br />

Später: Ein weißer Rabe über einer schier endlosen<br />

Wasserfläche - Findus über der Tiedsiepe und auf dem Weg<br />

zur ‚namenlosen Insel’. Diesmal war es die Bônday selbst, die<br />

ihn erwartete. Sie begrüßten einander respektvoll. Die frühere<br />

Dayla wusste, warum er kam. „Draconis hat mich bereits<br />

informiert“ meinte sie. „Wir müssen das Myrkviör-Problem<br />

aus der Welt schaffen, auch wenn´s weh tun sollte. Endgültig!<br />

Ich habe deswegen bereits mit den anderen Bônday´s<br />

konferiert. Sie sind nicht gerade begeistert, aber sie werden<br />

mich unterstützen.“ Findus entgegenete lächelnd: „Dein<br />

Gespräch mit den anderen Oberhexen war nicht zu<br />

überhören. Aber ihr habt Recht. Nur leider habe ich nicht die<br />

geringste Vorstellung davon, wie unser ‚Reparaturversuch’<br />

ausgehen wird. Werden wir danach noch magische Kräfte<br />

haben? Gibt es danach überhaupt noch Magier, Hagias und<br />

Bônday´s?“<br />

Dayla: „Es ist gut möglich, dass wir alle unsere Kräfte<br />

einbüßen. Vielleicht nur wir beide; vielleicht aber auch alle.<br />

Vielleicht zerfällt auch der Orden der Magier oder das<br />

Netzwerk der Hexen. Ja, es ist ein großes Risiko. Aber dein<br />

220


Freund bat uns beide, es einzugehen. Und ich finde, wir<br />

sollten auf ihn hören.“ Findus nickte. Was sie sagte, das<br />

stimmte - leider! „Gut, werden wir mal ganz konkret. Wann<br />

soll es losgehen?“ „Sofort“ antwortete die Bônday bestimmt<br />

und verwandelte sich in den wohlbekannten weißen Schwan.<br />

Auch Findus wurde wieder zum weißen Raben und die beiden<br />

Vögel flogen los.<br />

Einige Zeit später landeten sie auf der ihnen so<br />

wohlbekannten Stelle - dem Grünstreifen, der Sumpf und<br />

Wald voneinander trennte. Aber was war das für ein Wald!<br />

Gut, die Aura des Bösen war aus ihm verschwunden. Aber<br />

das sollte auch schon alles Positive gewesen sein. Kahle, tote<br />

Äste reckten sich verdorrt, einsam und verloren in den<br />

Himmel. Das ganze Gehölz strahlte den Eindruck von<br />

deprimierender Traurigkeit und Trostlosigkeit, von Vergehen<br />

und Tod aus. Wie um diesen ersten Eindruck noch zu<br />

unterstreichen löste sich eben mit nervenzermürbendem<br />

Knirschen ein verfaulter Ast von einem der einstmals so<br />

riesigen Bäume und donnerte zu Boden. Kein Vogel sang im<br />

Myrkviör. Kein Tier verirrte sich dorthin. Es gab nur<br />

vereinzelte winzige Inseln von Grün - einem Grün, das<br />

verzweifelt um´s Überleben kämpfte, gerade so, als würde<br />

ihm etwas fehlen. Und tatsächlich fehlte dem Wald ja auch<br />

etwas - nämlich die Präsenz des magischen Geflechts.<br />

„Wie wollen wir vorgehen?“ fragte Findus die Bônday.<br />

„Von zwei Seiten“ lautete die Antwort. „Jeder von uns<br />

erspürt das magische Geflecht und jeder von uns muss<br />

versuchen, von der anderen Seite her dünne Fäden des<br />

Geflechts zu sich heran zu ziehen. Irgendwo werden die<br />

Fäden sich dann berühren und zusammenwachsen. Hoffe ich<br />

wenigstens“ meinte Dayla. „Und dann mehr und mehr Fäden,<br />

so dass sich Knotenpunkte bilden. So dass die Kraft des<br />

Geflechts einfließen kann“ ergänzte Findus. „Ja, so habe ich<br />

mir das vorgestellt.“ „Wer geht wohin?“ „Ich gehe in den<br />

Norden, du in den Süden. Wir sollten magische Schutzkreise<br />

verwenden. Nicht zum Schutz, sondern um besser in den<br />

Kontakt mit der Astralebene zu kommen.“ „Du hast Recht.<br />

So machen wir es“ signalisierte Findus sein Einverständnis,<br />

verwandelte sich erneut und flog in den Süden. Die Bônday<br />

221


egab sich in den Norden. Ein jeder von ihnen würde es<br />

spüren, wenn der andere mit der Beschwörung begann.<br />

Sie fanden geeignete Plätze. Gingen kreisförmig drum<br />

herum, Zaubersprüche murmelnd. Fügten in die Kreise<br />

Pentagramme ein, deren oberste Zacke jeweils in Richtung<br />

auf den Myrkviör wies - die Zacke würde die Kräfte der<br />

Magie bündeln. Findus setzte sich in die Mitte des<br />

Pentagramms, zog Gnarp aus der Scheide und versenkte sich<br />

in die Runengravuren auf dem Schwert. Die Bônday hingegen<br />

zog einen hölzernen und an einem Lederband befestigten, auf<br />

nackter Haut getragenen und mit ihrem eigenen Blut<br />

bemalten Dagaz-Runenanhänger hervor und versenkte ihren<br />

Geist darin. So erreichten beide einen tranceartigen,<br />

meditativen Geisteszustand. Innerhalb dieses Zustandes<br />

fühlten sie das magische Geflecht, die Linien und Ströme der<br />

Lebensenergien.<br />

Alles das, was die beiden über ihre Ohren und Augen<br />

noch wahrnahmen, erzeugte Gefühle. Die wiederum<br />

manifestierten sich gefühlssynästhetisch in Farben und<br />

Formen. Man kann sagen, dass beide über die Gefühle,<br />

welche das Geflecht in ihnen hervorrief, eben dieses Geflecht<br />

in gewissem Sinne auch ‚sahen’. Da waren breite, rote Ströme<br />

von ungebändigter, urgewaltiger Energie. Begleitet von gelben<br />

und blauen, dünneren Linien, welche die Ströme miteinander<br />

verbanden. Hier und da bildete sich eine Art von Strudel und<br />

verging wieder. Chaos, aus welchem Ordnung geboren wurde.<br />

Zeitlich begrenzt und immer nur in Form von kleinen Inseln.<br />

Dort, wo die Ordnungsinseln sich zusammenfanden, da<br />

bildete sich durch Selbstorganisation etwas Stabileres heraus.<br />

Eine Welt! Das Geflecht durchdrang alles, durchdrang alle<br />

Welten. Jede Veränderung hier musste sich überall auswirken.<br />

Und sie sahen in diesem erweiterten Bewusstseinszustand<br />

den Myrkviör. Ein Loch, eine Fehlstelle, ein Nichts in den<br />

allgegenwärtigen Strömen der Lebenskraft. Findus<br />

konzentrierte sich auf das ihm gegenüber liegende ‚Ufer’<br />

dieses Nichts und versuchte auf magischem Wege, die ihm<br />

nächste gelbe Energiebahn aufzuspalten. Er fühlte, dass sie<br />

aus zahllosen kleineren Strömungen und diese ihrerseits bis<br />

hinein in alle Unendlichkeit aus kleineren und noch kleineren<br />

Bahnen zusammengesetzt war. Und alles war zueinander<br />

222


selbstähnlich, war symmetrisch in verschiedenen<br />

Größenordnungen. Die Bônday tat es ihm gleich. Zögerlich<br />

nur lösten sich Fäden von magischer Energie aus den<br />

gelbfarbenen Strömen. Anfangs unsichtbar klein wuchsen sie<br />

zu filigranen, blitzähnlich unregelmäßig gezackten und<br />

grünlichen, überaus zarten Streifen heran. Von beiden Seiten<br />

her und aufeinander zu.<br />

Die ersten beiden hauchdünnen Linien berührten<br />

einander. Sofort schwollen sie an, änderten ihre Farbe nach<br />

gelblicher, wurden dicker. Am Berührungspunkt bildete sich<br />

ein bläulicher Konzentrationsknoten. Es funktionierte! Aber<br />

es kostete die beiden auch magische Kraft. Mehr, als sie selbst<br />

aufzubieten hatten. Instinktiv und unwillkürlich zapften sie<br />

daher andere Kraftquellen an - in Findus´ Fall andere Magier<br />

und in Dayla´s Fall andere Bônday´s, welche ihrerseits auf die<br />

Kräfte der überall verteilten Hexen zugriffen. Ein von den<br />

beiden nicht mehr bewusst zu beeinflussender Automatismus<br />

war in Gang gesetzt worden, bei dem sie selbst nur noch<br />

kanalisierend auf die ihnen zuströmende Magie wirkten. Und<br />

es bedurfte wirklich der mächtigsten Magier überhaupt, um<br />

diese Kanalisierung vornehmen zu können - keine anderen als<br />

Findus und Dayla wären dazu befähigt gewesen!<br />

Linie auf Linie wuchs unregelmäßig zum Knotenpunkt<br />

hin. Verbindungen entstanden zwischen den Linien, bildeten<br />

neue bläuliche Konzentrationsknoten. Das Loch im Geflecht<br />

wuchs zu. Langsam zwar, nur so nach und nach, aber es<br />

schloss sich. In Zukunft würde der Myrkviör wieder leben!<br />

Und ganz <strong>Norgast</strong> wäre wieder von der Magie durchdrungen!<br />

Die Folgen waren allerdings noch nicht absehbar. Als die<br />

Fäden und Knoten sich vollends zu einer - wenngleich<br />

inhomogenen - Fläche schlossen, da leuchtete das ganze<br />

Geflecht kurz auf. Findus und Dayla sahen noch, wie breite<br />

rote Magieströme abrupt ihre Richtungen veränderten und<br />

fanden sich unmittelbar darauf sehr unsanft in ihren<br />

angestammten Körpern und als normales Wachbewusstsein<br />

wieder. Etwas war zuletzt geschehen - aber was? Keiner von<br />

ihnen hätte es zu sagen vermocht. Das magische Geflecht war<br />

im Umbruch begriffen! Es reagierte chaotisch. Ein winzige<br />

Veränderung - hier das Schließen des Loches - führte durch<br />

223


Rückkoppelungsmechanismen zu einem Aufschaukeln, zu<br />

noch unabsehbaren Folgen!<br />

Aktuell erwiesen sich die Folgen für Magier und Hexe<br />

jedoch als zweitrangig. Es war Nacht; es stürmte. Beide waren<br />

hungrig, nass und durchgefrohren. Wie lange die ganze<br />

Aktion gedauert hatte, darüber ließ sich nur spekulieren. Es<br />

galt jetzt, sich selbst erst einmal in Sicherheit zu bringen.<br />

Findus versuchte, den Sturm zu beeinflussen - es gelang ihm<br />

nicht! Nicht mehr! Er suchte nach einer Ley; er konnte die<br />

Drachenlinien nicht mehr wahrnehmen. Hinsichtlich seiner<br />

magischen Fähigkeiten fühlte er sich leer und ausgebrannt.<br />

Schwach. Er schleppte sich torkelnd in Richtung Wald,<br />

errichtete mehr schlecht als recht einen primitiven Schutz aus<br />

Zweigen und Rinden. Todmüde schlief er auf der Stelle ein.<br />

Auch seiner Gefährtin auf der anderen Seite des Waldes<br />

erging es keinen Deut besser. Beide waren einfach nur fertig!<br />

Parallel zur Manifestierung einer neuen Ordnung im<br />

magischen Geflecht nahm die Stärke des Unwetters wieder<br />

ab. Am nächsten Morgen hatte es sich bereits verzogen und<br />

die Sonne schien. Das Leben kehrte in den Myrkviör zurück.<br />

Vögel sangen. Rehe sicherten vorsichtig durch das ihnen<br />

unbekannte Unterholz. Noch immer hungrig und fröstelnd<br />

versuchte Findus, die Gestalt des weißen Raben anzunehmen.<br />

Es funktionierte, obwohl es ihn ungleich viel mehr Kraft als<br />

früher kostete. Er flog zu dem Punkt auf dem Grünstreifen,<br />

von dem aus sie beide aufgebrochen waren. Eine Frau<br />

erwartete ihn dort bereits. Sie hatte das Aussehen einer<br />

Bônday - und war doch verändert. Der Herrscher von<br />

<strong>Norgast</strong> landete und verwandelte sich zurück. Vor Schwäche<br />

schwankend und stolpernd lief die Frau auf ihn zu. Er fing sie<br />

auf. Sah ihr in die Augen, als sie in seinem Arm lag. Sie<br />

lächelte. Ihr Mund öffnete sich etwas und sie schaute Findus<br />

erwartungsvoll an. Auch die Bônday hatte einen Großteil<br />

ihrer Kräfte aufgeben müssen. Aus der Bônday war mit<br />

Ausnahme des Aussehens wieder die Dayla von früher<br />

geworden. Findus´ Geliebte. Er sah den einladend geöffneten<br />

Mund. Sie küssten sich. Lange.<br />

Der Rest ist schnell erzählt. Natürlich wirkte sich die<br />

Neuorganisation des magischen Geflechts auf ganz <strong>Norgast</strong>,<br />

ja auf die ganze Welt, aus. Wo zuvor magische<br />

224


Machtkonzentrationen gwesen waren, da gab es jetzt zwar<br />

immer noch stärkere Magie, aber keine außerordentlich<br />

begabten Magier oder Hexen mehr. Je mächtiger ein Magier<br />

oder eine Hagia zuvor gewesen waren, desto mehr Kraft war<br />

auch eingebüßt worden. Am Schwächsten traf es die in<br />

magischer Hinsicht minderbegabten Personen. Doch wo ging<br />

die Macht hin?<br />

Sie übertrug sich auf die einfachen Menschen. Die wurden<br />

schlagartig sensibler, einfühlsamer. Jeder achtete jeden. Und<br />

diese neugewonnene Sensibilität öffnete so manchem die<br />

Augen. Plötzlich begann man, wieder Kobolde, Feen, Elfen,<br />

Einhörner, Fluss- und Höhlentrolle und was der magischen<br />

Wesen mehr waren zu sehen. Man berücksichtigte sie und<br />

insbesondere ihren Lebenraum bei allen Entscheidungen. Die<br />

Menschen wurden vorausschauender. Plötzlich hatte die<br />

Natur wieder einen Wert in sich selbst. Das Miteinander<br />

wurde groß geschrieben. Doch das magische Geflecht<br />

durchzog alle Welten. Seine Neuorganisation zeigte daher<br />

auch überall Auswirkungen...<br />

225


Kapitel 11: Anderswelt<br />

Rückblick - lange Zeit zuvor im Bomenhau. Da standen sie<br />

nun: Malweýn und die Bônday gegen den Shâgun. Und ihrer<br />

aller Aufmerksamkeit war auf das Duell mit dem Dämon<br />

gerichtet. Weder Findus noch Lyonora oder Dayla achteten<br />

auf Baldur. Das war seine Chance! Er rannte los, flüchtete.<br />

Egal wohin - nur weg von hier und zwar möglichst schnell.<br />

Keine Zeit, auf das Gelände zu achten. Das allerdings erwies<br />

sich als entscheidender Fehler. Baldur strauchelte und<br />

erkannte seinen Irrtum. Schon stand er bis zum Nabel im<br />

Sumpf. Panische Befreiungsversuche und das Wasser reichte<br />

ihm bis zu den Schultern – dann gab der Boden vollends<br />

unter ihm nach. Er versank. Gerbsäuren-gesättigtes, braunes<br />

und saures Wasser drang in seine Lungen. Das Ende...<br />

Der Körper starb. Baldur´s Geist löste sich vom Körper.<br />

Aus seiner neuen Perspektive sah er hinunter. Da war seine<br />

sterbliche Hülle, doch sie interessierte ihn nicht mehr. Das,<br />

was einmal seinen Körper dargestellt hatte, war ihm jetzt<br />

sowas von egal... Stattdessen nahm das vergeistigte Wesen<br />

etwas anderes wahr. Weit entfernt. Eine Helligkeit. Kein<br />

richtiges Licht, sondern vielmehr so eine Art von ätherischzartem,<br />

unwiderstehlichem, cremeweißem Glanz. Das würde<br />

sein neues Ziel sein. Er war unendlich neugierig darauf. Der<br />

Tod hatte seinen Schrecken verloren. Er stellte nur eine<br />

weitere Stufe im Kreislauf des Lebens, in der Entwicklung<br />

eines jeden Einzelnen, dar. Langsam trieb Baldur´s Geist auf<br />

die lichte Helligkeit zu, welche sich ihm inzwischen als eine<br />

Art von hell erleuchtetem Tunnel präsentierte. Ein Tunnel<br />

- wohin? Auf jeden Fall aber war es eine Art von Übergang.<br />

Eine tiefe, zuversichtliche Zufriedenheit erfüllte ihn.<br />

Plötzlich der machtvolle Ruf „Baldur Os-Rit-<br />

Mannaz!“ Sein Geist wurde zurück gerissen. Er entfernte sich<br />

vom Lichttunnel! So sehr der ehemalige Baldur sich auch<br />

anstrengte - es gab nichts, was ihn dorthin zurück bringen<br />

konnte. Wie ein Blatt im Wind taumelte sein Geist durch eine<br />

unwirkliche Zwischenwelt. Ohne Bezugspunkt, ohne Halt,<br />

226


ohne Anker. Baldur´s Seele konnte das Totenreich ob des<br />

magischen Rufes nicht betreten. Sie konnte <strong>Norgast</strong> aber<br />

auch nicht verlassen. Niemand hätte sagen können, wie lange<br />

dieser seltsame Zustand währte. Irgendwann und irgendwo<br />

jedoch fing eine Art von Sog die freie Seele ein. Es geschah<br />

an einem dieser ‚seltsamen Orte’ oder ‚Kraftplätze’. Der Sog<br />

zog Baldur´s Geist aus <strong>Norgast</strong> heraus und schleuderte ihn in<br />

eine Anderswelt. Eine Anderswelt mit schnellerem Zeitablauf.<br />

Der Junge zählte etwa anderthalb Jahre. Seine Eltern hatten<br />

ihn „Bernd“ getauft. Er war krank - totkrank! In<br />

Ermangelung einer Impfung gegen Pertussis tobte jetzt die<br />

Keuchusten-Infektion in seinem Körper. Die Eltern hielten es<br />

zunächst nur für eine böse Bronchitis. Doch als in Folge eines<br />

schlimmen Hustenanfalls der Atem aussetzte und sich<br />

Bernd´s Lippen bläulich verfärbten, da sahen sie, wie ernst es<br />

wirklich um ihn stand. Der Vater versuchte sich in Mund-zu-<br />

Mund-Beatmung, während die Mutter verzweifelt nach einem<br />

Rettungswagen telefonierte. Panik!<br />

Es war dieser eine unwahrscheinliche Moment. Der Geist<br />

des Kindes verließ die sterbliche Hülle. Doch noch war der<br />

Körper nicht ganz tot. Und er bot einen Anker. Einen Anker<br />

für eine fremde Wesenseinheit aus einer fremden Welt. Das<br />

suchende Wesen hatte nahezu alle Erinnerungen verloren,<br />

war - nachdem ein Sog es erfasst hatte - auf den Urgrund<br />

seines Seins, auf einen reinen Nucleus, reduziert worden. Es<br />

ergriff die Chance, krallte sich im Hirn des sterbenden Jungen<br />

fest, ersetzte so dessen ursprüngliches Bewusstsein. Der<br />

Rettungswagen kam schnell und eine seitens des Notarztes<br />

verabreichte Injektion holte Bernd ins Leben zurück. Aber<br />

war es wirklich noch Bernd?<br />

Der Schock, ihr Kind um Haaresbreite verloren zu haben,<br />

veränderte das Leben der Eltern. Sie hätschelten und pflegten<br />

Bernd, so gut es eben ging. Als Einzelkind wurde er umsorgt<br />

wie ein kleiner König. Auch wenn die Eltern selbst nicht viel<br />

besaßen - für ihren Bernd war nichts zu teuer oder zuviel. Er<br />

war ihr ein und alles. Nur eins fehlte dem Jungen:<br />

Sozialisierung. Wann immer Probleme mit anderen Kindern<br />

227


auftauchten, dann mischten sich die Eltern ein. Ihrer Ansicht<br />

nach waren es immer die anderen, die für Probleme sorgten,<br />

doch niemals ihr abgöttisch geliebter, unschuldiger Bernd.<br />

Der Junge wuchs unter diesen Bedingungen auf. Er erlernte<br />

niemals ein Miteinander oder Mitgefühl für andere, denn dazu<br />

bestand ja überhaupt keine Notwendigkeit. Nein, es schien<br />

sogar so zu sein, als ob alle anderen nur für ihn allein da sein<br />

müssten. Für Bernd war das selbstverständlich. Es entsprach<br />

auch dem ureigensten Verhalten des Wesens, welches Jahre<br />

zuvor vom Körper des Jungen Besitz ergriffen hatte.<br />

Bernd wuchs auf. Seine schulischen Leistungen waren<br />

nicht gerade berauschend; er war bestenfalls schwacher<br />

Durchschnitt. Die Eltern kümmerte das nicht. Auch wenn sie<br />

Überstunden leisten und all ihren Besitz zu Geld würden<br />

machen müssen - für Bernd mussten Privatlehrer her. Seine<br />

Leistungen verbesserten sich. Nicht wirklich, aber<br />

Privatunterricht schindet nun mal Eindruck und da ließen die<br />

regulären Pädagogen dann auch mit sich reden. Nach der<br />

Schule machte Bernd eine Lehre als Elektriker. Sein Vater<br />

hatte ihm die Lehrstelle besorgt. Doch was der Junge auch tat<br />

- im Betrieb eckte er mit seiner Art an. Überall. Da war<br />

nämlich der Umgang mit Menschen gefragt und der war ihm<br />

fremd. Niemand mochte ihn. Man hielt ihn für ein<br />

schleimenden, hinterlistigen Streber. Und genau das war er<br />

auch. Er haute seine Kollegen erbarmungslos und ohne<br />

Rücksicht auf Verluste in die Pfanne, wenn er sich davon<br />

auch nur den kleinsten Vorteil versprach.<br />

Wenn es eins gab, was Bernd während seiner Ausbildung<br />

wirklich lernte, dann war es die Tatsache, niemals mehr mit<br />

‚so einem Volk’, wie es seine Kollegen und Mitschüler<br />

gewesen waren, zu tun haben zu wollen. Er bekniete seinen<br />

Vater, ihm ein Studium zu bezahlen, war er doch für Höheres<br />

geboren! Sein Vater fühlte sich geschmeichelt - was hatte er<br />

nur für einen talentierten Sohn! Er arbeitete, um das Geld<br />

heran zu schaffen. Bernd studierte. Lange und ausgiebig.<br />

Länger und ausgiebiger, als ein Student normalerweise<br />

braucht, nämlich satte achtzehn Semester. Kurz - Bernd<br />

machte sich ein schönes Leben auf Papi´s Kosten. Sein Vater<br />

überlebte das nicht. Er arbeitete sich zu Tode. Kurz vor der<br />

Rente wurde er von einem Herzinfarkt erwischt.<br />

228


Für Bernd´s Leben bedeutete das einen entscheidenden<br />

Einschnitt. Er beendete sein Studium mehr schlecht als recht.<br />

Als frischgebackener Diplomingenieur, dessen<br />

hervorstechendstes Merkmal darin bestand, arrogant zu sein<br />

und im Grunde gar nichts zu können, stieß er auf den<br />

Arbeitsmarkt. Mit seinen Zeugnissen ließ sich aber kein Staat<br />

machen. Also mussten die auf die eine oder andere Weise<br />

‚geschönt’ werden. Doch gute Fälschungen kosteten Geld<br />

- viel Geld. Seine Mutter gab es ihm, obgleich sie nie erfuhr,<br />

was er damit machte. Auch war es seine Mutter, die von<br />

früher her noch einige von Papi´s Kollegen kannte. Sie ließ<br />

ihre Verbindungen spielen. Auf diese Weise kam Bernd zu<br />

einem Job bei einem Unternehmensberater.<br />

Bernd, dessen einzigste betriebliche Kenntnisse aus der<br />

nun schon über neun Jahre zurückliegenden Lehrzeit<br />

herrührten und der ansonsten nie einen Betrieb von innen<br />

gesehen hatte, sollte jetzt andere Unternehmen beraten. Wie<br />

konnte das funktionieren? Doch mit sicherem Auftreten und<br />

professioneller Rhetorik beeindruckte Bernd seinen<br />

Abteilungsleiter. Innerlich frohlockte er - nicht mehr lange,<br />

und er selbst würde die Abteilung führen. Aber von oben her.<br />

Intrigant und rücksichtslos bahnte er sich auf Kosten seiner<br />

Kollegen den Weg in die Chefetage. Eigene Fehler wurden<br />

anderen untergeschoben. Er vermied es nach Möglichkeit,<br />

selbst etwas zu tun, denn wer arbeitet, der macht auch Fehler.<br />

Und Fehler behindern einen Aufstieg. Stattdessen fand er<br />

heraus, wer im Unternehmen wirklich das Sagen hatte – und<br />

baute persönliche Beziehungen zu den betreffenden Leuten<br />

auf. Das brachte ihm Informationen, die er karrierefördernd<br />

einsetzen konnte. Absolutes Desinteresse bezüglich der<br />

Gefühle anderer, Verantwortungslosigkeit und eine<br />

ausgeprägte Missachtung aller sozialen Regeln ebneten ihm<br />

den Weg nach oben.<br />

Binnen kürzester Zeit saß er in der Chefetage. Wer ihm<br />

gefährlich werden konnte, der wurde durch gezielte<br />

Fehlinformationen und in Umlauf gebrachte Gerüchte<br />

diskeditiert - so lange, bis das Opfer seiner Hasskampagne<br />

von selbst ging. Das ersparte es dem Unternehmen, auch<br />

noch teure Abfindungen zahlen zu müssen. Bernd hatte es<br />

geschafft. Er wurde geachtet. Aber etwas fehlte ihm noch,<br />

229


nämlich soziales Ansehen. Um das zu erlangen, schloss Bernd<br />

einen Ehevertrag mit einer Frau, die er schon vor geraumer<br />

Zeit einmal kennengelernt hatte. Sie kannte ihn nicht wirklich.<br />

Und als sie hinter sein eigentliches Wesen kam, da war es für<br />

sie bereits zu spät. Sie war in wirtschaftlicher Hinsicht von<br />

ihm abhängig geworden. Um sie dauerhaft an sich zu binden,<br />

folgten dann noch zwei Kinder. Kinder, bei denen Liebe<br />

durch Geld und Sachwerte ersetzt wurde.<br />

Aber das war alles noch nicht das, was Bernd eigentlich<br />

wollte. Er saß zwar in der Chefetage, aber es war nicht sein<br />

eigenes Unternehmen. Dadurch war es ihm auch nicht<br />

möglich, so zu schalten und zu walten, wie er es gerne getan<br />

hätte. Ein eigenes Unternehmen musste her! Die Chance dazu<br />

bot sich im Rahmen einer Beratung. Es war nur ein kleiner,<br />

überschaubarer Betrieb. Bernd schickte dort Leute zur<br />

Beratung hin und sprach gleichzeitig mit dem schon in die<br />

Jahre gekommenen Geschäftsführer. Er bot sich an, seinen<br />

bisherigen job aufzugeben, sich dort einzukaufen und im<br />

Unternehmen mitzuarbeiten. Mit dem Fernziel, den Betrieb<br />

dann zu übernehmen, wenn dessen Geschäftsführer aus<br />

Altergründen ausscheiden würde. Und genau so kam es<br />

schließlich auch. Es brauchte ja niemand zu erfahren, dass<br />

Bernd das Ausscheiden des Seniors ‚geringfügig’ beschleunigt<br />

hatte - indem er den heimlich bei den Kunden schlecht<br />

machte.<br />

Jetzt besaß Bernd endlich seinen eigenen Betrieb. Ein<br />

erfolgreicher Geschäftsmann, sozial integriert durch eine vom<br />

Geld zusammen gehaltene Familie, welche ihm diesbezüglich<br />

als Alibi diente. Doch das Wesen, welches Bernd´s Körper<br />

bewohnte und steuerte, bekam niemals genug. Es fehlte an<br />

öffentlichem Ansehen. Folglich engagierte Bernd sich in<br />

öffentlichen und karitativen Veinigungen. Geld öffnet eben<br />

alle Türen. Auch kam er auf diese Weise in den Kontakt mit<br />

Leuten, die ihm auf Grund ihrer Stellung die eine oder andere<br />

Gefälligkeit erweisen konnten. Auch das hob ihn über das<br />

‚gemeine Volk’ hinaus und schmeichelte seinem Ego. Er<br />

zumindest brauchte nicht mehr lange auf irgendwelche<br />

Bearbeitungen zu warten. Was er befahl, dass hatte zu<br />

geschehen - und zwar sofort! Gesetze galten für ihn nicht. Da<br />

stand er drüber.<br />

230


Diese zweigleisige Vorgehensweise brachte allerdings auch<br />

Probleme mit sich. War Bernd jetzt nach außen hin ein<br />

geachteteter Wohltäter an der Gesellschaft, so praktizierte er<br />

in seinem Betrieb doch genau das Gegenteil davon. Seine<br />

Mitarbeiter waren für ihn Verlängerungen seiner Maschinen<br />

und seine Maschinen dienten einzig dazu, ihm das Bankkonto<br />

zu füllen. Maschinen waren ihm ohnehin lieber als Menschen<br />

- die widersprachen ihm nämlich nicht! Mit den Menschen<br />

hingegen war das so eine Sache. Im Grunde machten die<br />

doch immer, was sie gerade wollten. Und solange das nicht zu<br />

seinem unmittelbaren Nutzen geschah war das falsch!<br />

Deswegen bedurften die Menschen der Führung, nämlich<br />

seiner Führung: knallhart und ohne Rücksicht auf Verluste.<br />

Am liebsten hätte er sowieso auf die ganze Mischpoke<br />

verzichtet. Nur leider benötigte er sie zur Bedienung seiner<br />

Maschinen. Diese Schwächlinge! Wer nicht den gleichen<br />

Erfolg wie er selbst vorzuweisen hatte, der war doch im<br />

Grunde genommen lebensunfähig. Der bedurfte der<br />

permanenten Steuerung, sogar in der Freizeit! Bedingt durch<br />

diese Überlegungen scheute Bernd auch nicht davor zurück,<br />

Arbeitsverträge abzuschließen, welche die Menschenrechte<br />

des Einzelnen einschränkten. Hinzu kam seine betriebliche<br />

Überwachung: Da wurden Telefonate abgehört, Post<br />

kontrolliert, E-Mails abgefangen und so weiter. Irgendwann<br />

ging Bernd gar so weit, in den einzelnen Büro´s<br />

Videoüberwachungen einzurichten. Und es sollte bloß mal<br />

jemand wagen, dagegen aufzumucken! Der wäre sofort wieder<br />

draußen, denn Störenfriede brauchte er nicht.<br />

Aus diesem Grund hielt Bernd sich alle Möglichkeiten<br />

offen. Da war erstmal die Probezeit seiner Arbeitnehmer. Die<br />

wurde soweit wie möglich ausgedehnt, denn dann brauchte er<br />

keine Kündigungsfristen einzuhalten. Die meisten seiner<br />

Leute wechselten ja im Durchschnitt ohnehin schon nach<br />

zwölf Wochen. Egal - es gab ja mehr als genug Arbeitslose!<br />

Und wenn jemand tatsächlich mal die Probezeit ‚überlebte’,<br />

dann wurde dem danach beizeiten ein Aufhebungsvertrag<br />

angeboten. Die Abfindung bei sowas hielt sich immer in<br />

Grenzen. Langjährige Mitarbeiter hingegen wurde Bernd auf<br />

andere Weise los. Da wurde etwas zusammenkonstruiert<br />

- und mit Intrigen kannte er sich gut aus! - was aus seiner<br />

231


Sicht zur fristlosen Kündigung berechtigte. Es sollte mal<br />

jemand wagen, dagegen gerichtlich vorzugehen. Bernd würde<br />

auf Grund seines finanziellen Vermögens garantiert den<br />

längeren Atem haben und er freute sich schon darauf,<br />

renitente Niemande wirtschaftlich ‚hinzurichten’. Das machte<br />

ihm Spaß.<br />

Genauso wie das Fertigmachen von Mitarbeitern. Er lud<br />

dann ganz unvermittelt zu einem persönlichen Gespräch.<br />

Drohte ganz unverblümt. Schickte die Leute an ihren<br />

Arbeitsplatz zurück, ging dorthin und machte sie vor<br />

versammelter Mannschaft nochmal fertig. Immer dann, wenn<br />

eines seiner Mobbing-Opfer mit Tränen in den Augen und<br />

vollständig zerrütteten Nerven vor ihm saß, überkam ihn<br />

dieses Gefühl von Allmacht, an dem er sich so gern selbst<br />

berauschte. Er hatte Macht; er war besser als die anderen! Er<br />

durfte drauflospoltern, wann immer es ihm gefiel. Die<br />

anderen nicht. Er allein verfügte über abschließbaren<br />

Schreibtisch und abschließbare Büro´s, die anderen nicht.<br />

Sollten die anderen doch sehen, wo sie parkten - sein<br />

Chefparkplatz, der gut und gern für fünf Fahrzeuge<br />

ausgereicht hätte, gehörte ihm allein! Wer es wagte, etwas von<br />

ihm zu wollen, der musste erstmal durch´s Vorzimmer<br />

kommen. Private Gespräche am Arbeitsplatz waren ebenso<br />

verboten wie private Gegenstände. Foto´s der Familie oder<br />

sowas - wo kommen wir denn da hin! Verdammte<br />

Loserbande! Wer nicht mitzog, der wurde fertig gemacht.<br />

Bernd erhob das Mobbing zur Kunst.<br />

Ob Telefonterror, Bedrohungen, unsachliche Kritik am<br />

Privatleben, die bewusst falsch eingestellte Klimaanlage mit<br />

dem beständigen Zug von eiskalter Luft im Nacken, das<br />

Verbot von Pausen, Gesprächsverbote, Kontaktverweigerung,<br />

Gerüchte, Kränkungen, zotige Angebote, das Messen mit<br />

zweierlei Maß und was der Möglichkeiten mehr waren<br />

- Bernd spielte diese Klaviatur des Horrors perfekt. Zu seiner<br />

eigenen Erbauung. Und wer einmal im Leben mit ihm<br />

zusammen geraten war, der hielt zukünftig den Mund. Für<br />

immer. Dadurch brauchte Bernd sich auch niemals Kritik<br />

anzuhören. Nur manchmal, insgeheim, da zweifelte er an sich<br />

selbst. Da fragte er sich, ob ihm nicht irgend etwas fehlte.<br />

Denn wenn die anderen über Sensibilität,<br />

232


Einfühlungsvermögen, Liebe, Schönheit, Zuneigung oder so<br />

etwas sprachen, dann konnte er nicht mitreden. Er kannte<br />

zwar die Worte, aber nicht ihre eigentlichen Bedeutungen. In<br />

solchen Momenten des Selbstzweifels betäubte Bernd seine<br />

Bedenken durch ausschweifende Vergnügungen: Essen,<br />

Alkohol, zügellosen Sex, Kunst und Kultur - völlig egal,<br />

Hauptsache ablenkend!<br />

Jahrelang übte der angesehene Geschäftsmann sein<br />

geheimes Terrorregime aus, während er nach außen hin der<br />

Wohltäter an der Gesellschaft blieb. Dann geschah etwas<br />

gänzlich Unerwartetes. In <strong>Norgast</strong> reparierten Findus und<br />

Dayla das magische Geflecht, welches sich daraufhin<br />

umstrukturierte. Dessen Neuorganisation erfasste auch die<br />

Welt, in der Bernd - oder vielmehr das Wesen, welches<br />

Bernd´s Körper bewohnte - lebte. Quasi von heute auf<br />

morgen gingen die Leute auf die Straßen. Sie organisierten<br />

sich. Erkannten die Ausbeutung und die Ausbeuter.<br />

Tauschten sich über die Methoden der Manipulation aus, so<br />

dass die manipulativen Techniken der so genannten<br />

‚Menschenführung’ plötzlich durchschaubar und damit<br />

wirkungslos wurden. Geschäftsleute wie Bernd flogen auf.<br />

Bevor aber jemand sich an seinem - auf Kosten anderer<br />

erwirtschafteten - Reichtum vergreifen konnte, verkaufte er<br />

sang- und klanglos den ganzen Betrieb. Ging ins Ausland,<br />

dorthin, wo immer blaues Meer war und wo immer die Sonne<br />

schien. Es war schöner Batzen Geld. Das würde für den Rest<br />

seines Lebens reichen.<br />

Jahre später. Bernd lebte jetzt allein auf seiner Sonneninsel<br />

inmitten des blauen, warmen Meeres. Seine Kinder hatten<br />

sich in alle Welt zerstreut. Seine Frau war schon vor vielen<br />

Jahren verstorben. Ein Autounfall, wie tragisch! Sein Blick<br />

wanderte hinauf zu den Bergen. Zwei Gipfel und auf einem<br />

davon stand als Sehenswürdigkeit ein uralter Opferstein.<br />

Schon seltsam, wie bekannt einem manchmal etwas vorkam.<br />

Déjà-vu. Ihre Bremsen hatten dort oben versagt, weil die<br />

Bremsleitungen schlichtweg durchgegammelt waren.<br />

Niemand wusste davon, dass er die Leitungen über Monate<br />

233


hinweg immer wieder mit hochaggressiven Chemikalien<br />

behandelt hatte - immer in der Hoffnung, das naive Weib<br />

irgendwann loszuwerden, um endlich wirklich frei zu sein.<br />

Doch es hatte hingehauen. Innerlich grinste er.<br />

Aber auch in seinem <strong>Heim</strong>atland schien sich etwas getan<br />

zu haben. Die Krise war wohl überwunden worden, denn<br />

jetzt fanden wieder Touristen ihren Weg hierher.<br />

Scheißtouristen! Gewisse Strände betrachtete Bernd als sein<br />

Eigentum. Da hatten die nicht rumzulungern! Mischpoke!<br />

Heute auch wieder. Da lag so ein Typ mit zwei Blagen auf<br />

einem großen Badetuch. Seine Frau vergnügte sich im<br />

Wasser. Der Urlauber las in einem Buch. Der Buchtitel<br />

jedoch... Er zog Bernd´s Blick geradezu magisch an.<br />

Unwillkürlich blieb Bernd stehen. Trat auf den Mann zu. Der<br />

blickte auf. Bernd sah auf das Buch. Dann brach er laut<br />

schreiend zusammen...<br />

Alle verdrängten Erinnerungen kamen wie eine<br />

unaufhaltsame Flutwelle schlagartig zurück. Dayla, Malweýn,<br />

der Drache, Findus, die Bônday, Lyonora, der Shâgun, er<br />

selbst als Herrscher - sein Geist verwirrte sich. Er wusste<br />

nicht mehr, welche Welt die Seine war. Er erkannte sich<br />

plötzlich als Baldur und fühlte sich als um seine eigene Welt<br />

betrogen. Wusste, dass am Ende seines Weges unausweichlich<br />

der Shâgun auf ihn warten würde. Sein Geist wurde mit dem<br />

Ansturm von Informationen und Gefühlen nicht fertig,<br />

verwirrte und zerrüttete sich zusehends. Baldur-Bernd verlor<br />

die Besinnung, fiel in ein Koma, wurde in ein Krankenhaus<br />

gebracht. Er erwachte nicht wieder. Einige Wochen später<br />

verstarb er. Ein einziges Buch hatte das ausgelöst - ein Buch<br />

mit dem Titel ‚<strong>Norgast</strong>’!<br />

234


Anhang I: Making Of<br />

Nur wenige Menschen leisten sich den größten Luxus, den es im Leben<br />

gibt: Eine eigene Meinung.<br />

(Sir Alec Guinnes)<br />

<strong>Norgast</strong> ist eine rein fiktive Geschichte, welche in einer<br />

ebenso fiktiven Welt spielt - frei nach dem Motto ‚Star Wars<br />

meets Tolkien‘ (wobei das kein Anspruch sein soll). Doch es<br />

ist auch eine Geschichte, die in gewisser Weise das Leben<br />

selbst geschrieben hat und daher gibt es Realitätsbezüge.<br />

Teilweise zumindest, denn ich habe reichlich auf reale<br />

Gegebenheiten und Personen zurückgreifen können. <strong>Norgast</strong><br />

ist der letzte Band einer Trilogie, die aus zwei Sachbüchern<br />

und aus einem Roman besteht. Obgleich jeder Band dieser<br />

Trilogie (bestehend aus ‚Vernetzte Sinne - Über Synästhesie<br />

und Verhalten‘, ‚Böse Hexen gibt es nicht - Versuch einer<br />

interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens‘ und<br />

‚<strong>Norgast</strong>‘) ein in sich abgeschlossenes, von den anderen<br />

Bänden unabhängiges Ganzes bildet, gibt es doch<br />

Querverbindungen zwischen den einzelnen Büchern.<br />

So benennt ‚Vernetzte Sinne‘ Substanzen, welche die<br />

synästhetische Wahrnehmung beeinflussen bzw. für<br />

Nichtsynästhetiker überhaupt erst erfahrbar machen. Auch<br />

wird am Rande auf einen philosophischen Aspekt der<br />

Synästhesiedebatte hingewiesen - nämlich auf die Tatsache,<br />

dass unsere Realität immer wahrnehmungsgeprägt ist und es<br />

daher so etwas wie eine ‚absolute Realität‘ gar nicht geben<br />

kann. ‚Böse Hexen...‘ weist mehrere Berührungspunkte mit<br />

‚Vernetzte Sinne‘ auf, so u. a. hinsichtlich der ‚Hexenmittel‘<br />

und der Charaktereigenschaften früherer Hagias. Auch<br />

werden die Querverbindungen aus ‚Vernetzte Sinne‘<br />

aufgegriffen.<br />

<strong>Norgast</strong> schließlich mixt all dies mit einer gehörigen<br />

Portion an Fiktion und an Sozialkritik. Synästhetikern sagt<br />

man (wenn sie sich denn überhaupt zu erkennen geben) einen<br />

mitunter ‚etwas seltsamen‘ Musikgeschmack nach. Mir selbst<br />

als Coloured-Hearing-Synnie ist schon mehrfach mitgeteilt<br />

worden, dass meine musikalischen Interessen schlichtweg<br />

235


furchtbar seien - das ist gut so und so soll es auch bleiben! Ich<br />

selbst nenne das nämlich Vielseitigkeit! Auf Grund meiner<br />

synästhetischen Wahrnehmung beurteile ich Musik in erster<br />

Linie nach dem Aussehen, in zweiter Linie nach dem Text<br />

und erst zuletzt nach der Rhythmik. Ergo findet sich da auch<br />

eine ziemliche Bandbreite, welche absolut nicht mit dem<br />

kommerziellen Mainstream-Radio-Einheitsgedudele konform<br />

geht. Die synästhetisch wahrgenommenen Muster, Farben<br />

und Formen sind es auch, welche gedankliche Pirouetten<br />

erlauben, welche Zusammenfügungen ermöglichen, auf die<br />

man sonst wahrscheinlich gar nicht kommen würde. Das<br />

nennen einige Leute dann Kreativität.<br />

Aus einer solchen gedanklichen Pirouette heraus ist auch<br />

‚<strong>Norgast</strong>‘ entstanden - ohne Exposé. Statt dessen kommt der<br />

Musik der wichtigste Einfluss überhaupt zu. Die Texte der<br />

Musikstücke und die farbigen Formen der Melodien waren es,<br />

die das fehlende Exposé ersetzten. Dabei sind mir die Einfälle<br />

zur <strong>Norgast</strong>-Geschichte allerdings nicht in chronologischer<br />

Reihenfolge gekommen, sondern durcheinander. Ich habe sie<br />

dann wie ein Puzzlespiel zu dem Roman zusammen gesetzt.<br />

Den Musikern gebührt daher mein innigster Dank, denn ohne<br />

sie wäre die Geschichte ungeschrieben geblieben.<br />

Insbesondere haben die nachfolgend beschriebenen Stücke<br />

die Story erst ermöglicht.<br />

Kapitel 1: Der Intrigant<br />

„Der Tyrann“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />

Schwefel“, 2004)<br />

„Spielmannsfluch“ von In Extremo (aus dem Album „Verehrt und<br />

Angespien“, 1999)<br />

Diese beiden Songs lieferten die Grundlage zur<br />

Beschreibung von Baldur´s fiesem Charakter und seiner<br />

menschenverachtenden Herrschaft.<br />

„Waldmär“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“, 2005)<br />

Der Text dieses Liedes lag Baldur´s Tierverwandlung zu<br />

Grunde, als er beim Warten auf Findus´ Tod in Wolfsgestalt<br />

die beiden Köhler fraß.<br />

236


„Geisterschiff“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />

Schwefel“, 2004)<br />

Die Strandpiraten sind - neben realer Historie - vom<br />

Anfang dieses Liedes abgeleitet worden.<br />

„Planet Hell“ von Nightwish (aus dem Album „Once“, 2004)<br />

Die Unterweltschilderungen im Text des Songs<br />

inspirierten mich hinsichtlich der Figur des Shâgun.<br />

Sonstiges:<br />

Baldur existiert in gewissem Sinne wirklich, denn ich bin<br />

seinem Vorbild im realen Leben begegnet. Es handelt sich um<br />

einen Soziopathen. Dieser ist zumindest zeitweise ein<br />

erfolgreicher Geschäftsmann, der seinen erfahrenen und<br />

humorvollen Partner (hier: Malweýn) mit ziemlich linken<br />

Methoden ausbootete und statt dessen auf einen<br />

schleimenden und eher unfähigen ‚Chef-Chef-ich-weiß-was‘-<br />

Streber setzte. Im Roman geht Baldur´s Pakt mit dem Dämon<br />

auf Goethe´s ‚Faust‘ zurück. Der Shâgun ist eigentlich nichts<br />

weiter als eine Personifizierung der allgegenwärtigen<br />

deutschen Steuerbehörden, gemischt mit einer Firma, von<br />

welcher der ‚echte‘ Baldur aufgrund gemeinsamer Leichen im<br />

Keller gegängelt wird. Die Strukturen vom Syndikat der<br />

Kaufleute habe ich beim deutschen Gesundheitswesen<br />

abgeschaut, einem Staat im Staate. Einem Syndikat, welchem<br />

die ‚Kunden‘ von Unternehmen wie dem o. e. zugeschoben<br />

werden. Da ist alles so perfekt organisiert, dass eigentlich<br />

niemand mehr diese (zum Nachteil der Patienten)<br />

zementierten Strukturen aufzubrechen vermag. Baldur´s<br />

Tierverwandlung an sich beruht auf den psychoaktiven<br />

Wirkungen der wirklich hundsgefährlichen Solanazeen-<br />

Drogen. Für die geografische Größe von <strong>Norgast</strong> legte ich<br />

Deutschland zu Grunde. Die Vorlagen für die vorgelagerte<br />

Inselkette bilden die ostfriesischen Inseln. Das Vorbild für die<br />

Opfersteine des Helgebargs und später in der Nebelsenke war<br />

der Opferstein ‚Alte Taufe‘ im Deister, dem nördlichsten<br />

deutschen Mittelgebirge. Sandstedt war der Nordsee-Kurort,<br />

der sich heute Büsum nennt, bis ins 19. Jahrhundert hinein.<br />

Den im Zusammenhang mit einem seltsamen Ort südlich von<br />

Balum gelegenen Wald gibt es wirklich. In der Realität<br />

befindet er sich nordöstlich der Stadt Rodenberg am Deister<br />

und besteht aus den nur in dieser Gegend wachsenden<br />

237


Süntelbuchen - einer Buchenmutation. Das Coverfoto ist dort<br />

entstanden. Bei dem Ithelge-Gebirge erinnerte ich mich an die<br />

Tour durch die Sierra Nevada. In diesem Kapitel schlägt mein<br />

Sachbuch ‚Böse Hexen gibt es nicht’ gleich in doppelter<br />

Hinsicht durch - nämlich einerseits mit dem, was machbar ist<br />

und andererseits mit dem, was man getrost zum Reich der<br />

Fantasie zählen darf.<br />

Kapitel 2: Der Findling<br />

„Nechein Man“ von Faun (aus dem Album „Zaubersprüche“, 1997)<br />

„Sonnenstrahl“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“,<br />

2002)<br />

„Reich der Träume“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />

Schwefel“, 2004)<br />

„Nemo“ von Nightwish (aus dem Album „Once“, 2004)<br />

Alle diese Stücke zusammen lieferten mir die Vorlagen für<br />

die Figur des Findus, welcher ganz bewusst als Gegenpart zu<br />

Baldur angelegt worden ist.<br />

„Der Spion“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“, 2002)<br />

Das Lied gab mir die Idee für den Spion Neville (auch<br />

wenn Schandmaul´s Spion ganz anders aussieht...).<br />

Sonstiges:<br />

Auch Neville findet sein Vorbild im realen Leben, ist er<br />

doch in der Geschäftsleitung von ‚Baldur´s‘ Unternehmen<br />

tätig. Der Soziopath hat ihn in der Hand und daher ist er dem<br />

Boss geradezu hündisch ergeben. Die Untergebenen werden<br />

permanent gemobbt und wie (Lohn-) Sklaven behandelt.<br />

Derartige Unternehmen gibt es wohl viele... Das Vorbild für<br />

Mijnheer Vankampen ist gleichfalls ein Firmenmitarbeiter<br />

- der o. e. ‚Chef-Chef-ich-weiß-was‘-Typ. Letzterer schiebt<br />

seine Fehler grundsätzlich immer anderen in die Schuhe, so<br />

dass er selbst glänzen kann. Da haben sich zwei Leute gesucht<br />

und auch gefunden. Baldurs Verhaltensweise (ich meine<br />

natürlich die seines Vorbilds) habe ich im wirklichen Leben<br />

tatsächlich erlebt.<br />

Kapitel 3: Der Fischer<br />

„Egil Saga“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003)<br />

Runen sind ein zentrales Element in der gesamten<br />

Geschichte und bilden die Grundlage der - hoffentlich<br />

238


nachvollziehbar dargestellten - magischen Techniken. Die<br />

Idee dazu entnahm ich diesem Stück von Faun.<br />

„Der Fischer“ von Achim Reichel (aus dem Album „Regenballade“,<br />

1978)<br />

„American Remains“ von Highwaymen (aus dem Album<br />

„Highwayman 2“, 1990)<br />

„Unda“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003)<br />

Der Fischer Bewok, das Leben der einfachen Menschen<br />

und wie es in diesem Fall durch den Strom Wilderfrio<br />

definiert wird - all das kann auf diese drei Tracks zurück<br />

geführt werden.<br />

„Regenballade“ von Achim Reichel (aus dem Album „Regenballade“,<br />

1978)<br />

„Miyama No Sato“ von Tôsha Suihô (aus dem Album „Die Vier<br />

Jahreszeiten In Kyoto“, 1983)<br />

Findus´ Waldspaziergang beruht auf einer Story, die ich in<br />

ähnlicher Form schon an anderer Stelle veröffentlicht habe.<br />

Die Schilderung als Solche ist daher authentisch. Nur ging mir<br />

damals immer und immer wieder Achim´s Lied im Kopf<br />

herum. Und als ich das wieder mal hörte, da dachte ich, dass<br />

Findus´ Erfahren des Waldes doch prima passen würde. Und<br />

niemand kann solche synästhetischen Erlebnisse besser<br />

akustifizieren als Tôsha Suihô mit seiner japanischen<br />

Shinobue-Flöte.<br />

„Waldmär“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“, 2005)<br />

Die Begegnung mit dem Fuchs hat es wirklich gegeben.<br />

Aber um da was draus zu machen, bedurfte es des Anstoßes<br />

durch das Schandmaul-Lied. So wurde es dann zu Findus´<br />

Beinahe-Verwandlung.<br />

„Keridwen & Gwion“ von Faun (aus dem Album „Zaubersprüche“,<br />

1997)<br />

Der Trank, um den es in diesem Stück geht, bildete die<br />

Vorlage für den Findus seitens Snofork verabreichten<br />

Erinnerungstrank (nicht jedoch für das Rezept des Trankes!).<br />

Für die Bestandteile des Tranks griff ich auf mein früheres<br />

Sachbuch ‚Böse Hexen gibt es nicht - Versuch einer<br />

interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens‘ zurück.<br />

„Das Schloss am Meer“ von Faun (aus dem Album „Zaubersprüche“,<br />

1997)<br />

Das Lied war die Vorlage für Baldur in Helgenor.<br />

239


„16th Century Greensleeves“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />

„Past Times With Good Company“, 2002)<br />

„Ivory Tower“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost Of A<br />

Rose“, 2003)<br />

„Herr von Falckenstein“ von Falckenstein (aus dem Album<br />

„Feuerstuhl“, 1980)<br />

Die Hungertürme und die Geschichte des Bauern Mallok<br />

lassen sich auf einen Traum und auf die Texte dieser drei<br />

Songs zurück führen.<br />

Sonstiges:<br />

Ich bin Synästhetiker seit ich mir meiner selbst bewusst<br />

bin. Alle geschilderten synästhetischen Erfahrungen sind<br />

daher authentisch. Hinsichtlich Findus´ erstem<br />

Waldspaziergang habe ich mir ein Plagiat der auf meiner<br />

Homepage im Internet veröffentlichten Stories erlaubt und<br />

auch viele andere Schilderungen dieser Form der<br />

Wahrnehmung sind den dortigen Geschichten entnommen<br />

worden. Die Begegnung mit dem Fuchs hat in ähnlicher<br />

Form tatsächlich stattgefunden; die spätere Sache mit der<br />

Blaumeise ebenfalls und die spirituellen Erfahrungen an<br />

‚seltsamen Orten‘ oder ‚Kraftplätzen‘ gibt es wirklich. Die<br />

Hypothese der spirituellen Erfahrung anhand eines<br />

Magnetsinns lokalisiert im Schläfenlappen des Gehirns<br />

entstammt dem Heft ‚Bild der Wissenschaft‘ vom Juli 2005.<br />

Findus´ wirklicher Name ‚Far-Ur-Rit‘ ist ein runenbasierendes<br />

Wortspiel mit meinem eigenen Familiennamen. Die von<br />

Findus bei den Fischersleuten eingeführten Arbeitstechniken<br />

sind authentisch. Teils entstammen sie ‚Böse Hexen gibt es<br />

nicht‘ und teils eigenen Versuchen. Den Schilderungen des<br />

Outdoor-Lebens nebst Armbrustjagd, Räuchern,<br />

Fischfangmethoden usw. liegen meine eigenen Erfahrungen<br />

zu Grunde und das Vorbild für die Rigras-Stämme ist schlicht<br />

und einfach Bambus. Die im Roman genannten Kräuter gibt<br />

es wirklich; ihre Wirkungsmechanismen sind - abgesehen von<br />

einigen stilistisch erforderlichen Ausschmückungen - auch<br />

authentisch. Die gebräuchlichen Namen dieser Stoffe wurden<br />

lediglich durch ihre alten, überlieferten volksmedizinischen<br />

Bezeichnungen ersetzt. Auf Mengenangaben habe ich ganz<br />

bewusst verzichtet, denn ich will keine Anleitungen zum<br />

Missbrauch geben. Aus diesem Grunde sind alle Rezepturen<br />

240


auch nur sehr vage gehalten. Das von Snofork gebackene<br />

Fladenbrot trägt real die Bezeichnung ‚Damper‘. Es wurde<br />

- genau wie der Erdofen auf der Reise zur Bônday - bei den<br />

traditionellen Garmethoden der australischen Aborigines<br />

abgeschaut. Baldur´s Kontrollmaßnahme mit dem Paliwi<br />

entspricht der regulären (und meist illegalen) betrieblichen<br />

Arbeitnehmerüberwachung, wie sie bspw. immer dann<br />

möglich ist, wenn sich irgendwo ein vernetzter Rechner mit<br />

einem Headset daran befindet. Über das darin befindliche<br />

Mikrofon und ein Fernwartungsprogramm kann nämlich<br />

jederzeit abgehört werden - was leider auch tatsächlich<br />

geschieht, wie mir aus Erfahrung bekannt ist. Der Wilderfrio<br />

wird durch den Zusammenfluss zweier Quellflüsse gebildet.<br />

Das Vorbild dafür liefern Werra und Fulda, welche sich zur<br />

Weser vereinigen. Der Schilderung der Tiedsiepe-Wasserfälle<br />

liegen meine Erfahrungen mit den Niagara-Fällen zu Grunde,<br />

welche ich auf kanadischer Seite von unten bewundern durfte.<br />

Vorbild für die ‚namenlose Insel‘ ist in gewisser Weise der vor<br />

Ibiza gelegene, eindrucksvolle Felsen ‚Es Vedra‘. Helgenor<br />

entspricht in unserer Wirklichkeit der Blumeninsel Mainau im<br />

Bodensee und der Name des Naturheiligtums<br />

‚Achestorensten‘ ist nur ein alter Name für die Externsteine<br />

nahe Horn/ Bad Meinberg (dem ehemaligen<br />

Nationalheiligtum). Eine besondere Schwierigkeit bei der<br />

ganzen Story bestand darin, dass in einer vorwiegend<br />

mittelalterlich geprägten Welt praktisch keine normierten<br />

Maße und Zeiteinheiten verfügbar sind. Um dem Leser hier<br />

eine Vorstellung der Verhältnisse vermitteln zu können, griff<br />

ich auf Vergleiche und auf astronomische Faktoren zurück.<br />

Letzteres setze die Existenz eines Mondes voraus, woraus<br />

sich dann auch Ebbe und Flut sowie das Watt ergaben. Es ist<br />

unglaublich schwer, sich eine Welt ganz ohne Uhren<br />

vorzustellen und das dann bei der Beschreibung auch noch<br />

konsequent durchzuhalten!<br />

Kapitel 4: Die Bônday<br />

„Gewitter“ von Klaus Schulze (aus dem Album „Klaus Schulze<br />

2001“, 2001)<br />

Vielleicht nicht ganz leicht zu erklären. Meine<br />

synästhetische Wahrnehmung eines Gewitters und Klaus<br />

241


Schulze´s Musikstück sind zwar absolut nicht gleich, doch sie<br />

ähneln einander. Sehr sogar. Ich wollte dieses Kapitel mit<br />

einer lebendigen Schilderung der Wetterverhältnisse<br />

beginnen. Das Stück erinnerte mich an eines meiner<br />

unveröffentlichten Manuskripte mit meiner synästhetischen<br />

Darstellung eines Gewitters und das habe ich dann<br />

verwendet.<br />

„Written In The Stars“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />

„Fires At Midnight“, 2001)<br />

„Way To Mandalay“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost<br />

Of A Rose“, 2003)<br />

Eine Reise war von vornherein eingeplant. Aber wie und<br />

wohin? Diese beiden Tracks lieferten die Ideen.<br />

„Past Time With Good Company“ von Blackmore´s Night (aus dem<br />

Album „Under A Violet Moon“, 1999)<br />

„Under A Violet Moon“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />

„Under A Violet Moon“, 1999)<br />

Eine Reise ohne Zwischenfälle ist langweilig. Warum also<br />

nicht die Reisenden auf andere Leute treffen lassen? So wurde<br />

aus der ‚Good Company‘ das Zigeunerlager.<br />

„Ghost Love Score“ von Nightwish (aus dem Album „Once“, 2004)<br />

Und damit die Übernachtung im Zigeunerlager nicht zu<br />

einem Besäufnis verkommt, brauchte ich noch irgend etwas<br />

Unerwartetes. Dem geheimnisvollen Nightwish-Stück<br />

verdanke ich daher die uralte Zigeunerin.<br />

„Die Geister vom See“ von Achim Reichel (aus dem Album „Wilder<br />

Wassermann“, 2002)<br />

Ich hörte Achim´s Song und machte daraus Findus´<br />

Begegnung mit der Najade.<br />

„Der Sumpf“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />

Schwefel“, 2004)<br />

„Wintermoor“ von Aquarell (aus dem Album „Folk Fest“, 1979)<br />

Die <strong>Norgast</strong> zugrunde liegende Landkarte ist schon ein<br />

paar Jahrzehnte alt. Ich zeichnete sie vor Urzeiten nur mal so<br />

zum Spaß und hörte dabei das Stück von Aquarell. Irgendwie<br />

hat die Karte die Zeiten überdauert. Den dort<br />

eingezeichneten Sumpf hätte ich aber fast übersehen, wäre da<br />

nicht diese Musik gewesen.<br />

„Crystal Lake“ von Klaus Schulze (aus dem Album „Klaus Schulze<br />

2001“, 2001)<br />

242


„Graues Meer“ von Falckenstein (aus dem Album „Feuerstuhl“,<br />

1980)<br />

Ich habe lange Zeit meiner Kindheit an der Nordseeküste<br />

verbracht. Das Gleißen des in der Sonne oder unter Wolken<br />

liegenden Wassers und diese Stücke waren einander sehr<br />

ähnlich und als ich die Lieder hörte, war mir auch klar, was<br />

ich mit der Tiedsiepe machen würde...<br />

„Biikebrennen“ von Entrance (aus dem Album „Entrance“, 1985)<br />

...denn auch der Anblick des Watts ist mir sehr vertraut<br />

und es gibt kaum ein Musikstück, welches das Empfinden<br />

dabei besser wiedergeben kann. So etwas nennt sich<br />

metaphorische Synästhesie.<br />

„Avalon“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A Violet<br />

Moon“, 1999)<br />

„The Stones Of Avebury“ von Chris Evans und David Hanselmann<br />

(aus dem Album „Stonehenge“, 1980)<br />

Beides zusammen lieferte die Grundidee für die<br />

‚namenlose Insel‘.<br />

„Home Again“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Fires At<br />

Midnight“, 2001)<br />

Ende einer Reise ins Unbekannte. Wie beschreibt man so<br />

etwas? Indem man die Reisenden zurückkehren lässt...<br />

„All For One“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost Of A<br />

Rose“, 2003)<br />

Dieser Song lieferte den Entschluss, die Insel von drei<br />

Hexen bewohnen zu lassen...<br />

„Dein Anblick“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“,<br />

2002)<br />

...und die müssen ja nicht unbedingt uralt, hässlich und<br />

pickelig sein. Es gibt da ja auch genau das Gegenteil!<br />

Sonstiges:<br />

Für die Bônday und für Dayla haben zwei Neo-Hexen<br />

quasi Modell gestanden und Lyonora´s ‚Vorlage‘ ist die<br />

frühere Sängerin einer bekannten Gothic-Band. Für meine<br />

Beschreibung der Stimme der Bônday habe ich mir das<br />

synästhetische Aussehen der Stimme von Candice Night<br />

ausgeliehen. Die Augen der Bônday sind meine Reminiszenz<br />

an ein liebenswertes Raubtier, bei dem ich immer das Gefühl<br />

nicht loswerde, dass es sich Menschen zur Erbauung und<br />

Versorgung hält. Die geschilderten magischen Techniken<br />

243


durfte ich dem jeweiligen ‚Buch der Schatten‘ (BdS) der<br />

beiden Neo-Hexen entnehmen; ähnliches gilt auch für die<br />

Beschreibungen der Magie an sich. Die physikalischen<br />

Gegebenheiten der Tiedsiepe sind frei erfunden. Ihren<br />

Schilderungen liegen allerdings einerseits das seltsame<br />

Wasserspeicherverhalten des maltesischen Kalksteins und<br />

andererseits einige meiner früheren, nicht ungefährlichen<br />

Erlebnisse im Nordsee-Watt zu Grunde, so u. a. die Sache mit<br />

dem auflaufenden Wasser, dem mehrfach erlebten<br />

Geisternebel und die Geschichte mit dem Treibsand. Ferner<br />

werden wieder authentische Arbeitstechniken geschildert<br />

- teils europäischen Ursprungs, teils aber auch von den<br />

australischen Aborigines. Zusätzlich wird meine im Ausland<br />

gesammelte Erfahrung verarbeitet, dass die Gastfreundschaft<br />

und Hilfsbereitschaft im Grunde immer genau bei den<br />

Menschen am größten ist, die Otto Normalverbraucher<br />

gemeinhin vorurteilsbehaftet ablehnt.<br />

Kapitel 5: Drei Prüfungen<br />

„Der fliegende Holländer“ von Achim Reichel (aus dem Album<br />

„Klabautermann“, 1977)<br />

Das war die Vorlage für Baldur auf der Kaufleute-Bark.<br />

Dessen Aufenthalt dort war eine gute Gelegenheit, den Leser<br />

mit dem Hintergrund dieses Fieslings vertraut zu machen.<br />

„Der Kurier“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“,<br />

2002)<br />

Zu Baldur´s Hintergrund gehörten natürlich Mutter<br />

Gwylon und aus dem Kurier wurde Ravon, ihr Diener. Mit<br />

der Rolle dieser Figur hatte ich später im Hinblick auf Findus<br />

noch etwas vor.<br />

„Leb!“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und Schwefel“,<br />

2004)<br />

„Shadow Of the Moon“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />

„Shadow Of The Moon“, 1997)<br />

„Be Mine Tonight“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Shadow<br />

Of The Moon“, 1997)<br />

Alle diese Songs inspirierten mich bei der Beschreibung<br />

des Verhältnisses zwischen Findus und Hexe Dayla, welche in<br />

Wirklichkeit seine Geliebte ist.<br />

244


„Merseburger Zaubersprüche“ von In Extremo (aus dem Album<br />

„Verehrt und Angespien“, 1999)<br />

Findus´ Lernen der Zaubersprüche findet sich hier wieder.<br />

„Die drei Prüfungen“ von Schandmaul (aus dem Album<br />

„Narrenkönig“, 2002)<br />

Findus musste irgendwie wieder von der Insel runter,<br />

damit es nicht langweilig wurde. Aber wie? Laut dem<br />

Schandmaul-Song zum Lösen von Aufgaben, welche ihm<br />

zwecks Erlangung von Selbsterkenntnis gestellt worden sind.<br />

Sonstiges:<br />

Ich mischte die dem BdS der beiden Neo-Hexen<br />

entnommenen magischen Techniken mit der Runenkunde<br />

und mit eigenen Naturerfahrungen - einfach schon deswegen,<br />

weil es sehr naheliegend war. Schwieriger wurde es bei Baldur<br />

- obwohl ich schon mal mit Leuten zu tun hatte, die an einer<br />

‚dissozialen Persönlichkeitsstörung‘ litten, fiel und fällt es mir<br />

extrem schwer, mich in deren megaegoistische Denkweise<br />

hinein zu versetzen. Ich hoffe dennoch, dass mir das bei<br />

Baldur gelungen ist, zumal ich gerade in dem Fall auf das<br />

Mobbing-Tagebuch eines der Opfer von seinem Vorbild<br />

zurückgreifen konnte. Um es mal klar darzustellen<br />

- gegenüber so einem Ekel wie Baldur ist J. R. Ewing (aus der<br />

TV-Serie ‚Dallas‘) geradezu ein Heiliger.<br />

Kapitel 6: Der weiße Rabe<br />

„Frontiers-of-chaos“ von Software (aus dem Album „Chip-Meditation“,<br />

1985)<br />

„Mountain Music“ von Eberhard Schoener (aus dem Album „Sky<br />

Music/ Mountain Music“, 1984)<br />

„Window“ von Jon Lord und Eberhard Schoener (aus dem Album<br />

„Windows“, 1974)<br />

Schon seit jeher habe ich ein Faible für elektronische<br />

Musik und für bestimmte klassische Werke. Vielleicht<br />

deswegen, weil ich da als Synästhetiker die Töne noch am<br />

klarsten ‚erkennen‘ kann. Wie dem auch sei, über das Internet<br />

beklagte sich eine Neo-Hexe, dass sie zwar gerne Fantasy lese,<br />

dass es da aber praktisch nur solche ‚Hau-Drauf‘-Stories ohne<br />

‚echte‘ Magie gäbe. Ich rätselte dann herum, wie ich die<br />

entsprechenden Beschreibungen einbauen könnte und hörte<br />

dabei die o. a. Musikstücke. Die Titel beinhalten durchweg<br />

245


Elemente fraktaler Musik. Das erinnerte mich an meine viele<br />

Jahre zurückliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen im<br />

Bereich der Chaosmathematik und damit war dann eigentlich<br />

alles klar. Um zu erklären, wie die Magie in <strong>Norgast</strong><br />

funktioniert, brauchte ich nur die Gesetzmäßigkeiten der<br />

Chaosmathematik zu den magischen Grundlagen zu machen.<br />

Und Findus musste das dann lernen. Welche gedanklichen<br />

Verrenkungen einem so etwas abverlangt, das war mir ja aus<br />

der Erfahrung mit der Mathematik noch gut in Erinnerung.<br />

„Shelter From The Storm“ von Manfred Mann´s Earthband (aus dem<br />

Album „Soft Vengeance“, 1996)<br />

„Halfbreed“ in der Fassung von Shania Twain (aus dem Album „For<br />

The Love Of Him“, 1999)<br />

Diese beiden Songs inspirierten mich zu dem kleinen<br />

Intermezzo über Dayla´s Verhältnis zu Findus und über<br />

Dayla´s Kindheit. Wobei die Schilderung aus Dayla´s<br />

Kindheit den tatsächlichen Reaktionen der ‚lieben<br />

Mitmenschen‘ auf meine eigene synästhetische Wahrnehmung<br />

und auf mein früheres Buch ‚Vernetzte Sinne - Über<br />

Synästhesie und Verhalten‘ entspricht...<br />

„Ghost Story“ von Paice-Ashton-Lord (aus dem Album „Malice In<br />

Wonderland“, 1976)<br />

„Der Wilde Wassermann“ von Achim Reichel (aus dem Album<br />

„Wilder Wassermann“, 2002)<br />

Bei den Songs erinnerte ich mich an die norddeutschen<br />

Sagen aus meiner Kindheit. Sagen über den Nöck und über<br />

Nis Puck. Wenn man mal einen wirklichen Sturm an der<br />

Nordsee so richtig aus erster Hand und oben auf dem Deich<br />

miterlebt hat, dann versteht man auch diese Sagen. Hier<br />

passte das sehr gut, um Baldur das Leben schwer zu machen.<br />

„Unda“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003)<br />

„Die Sage“ von der Stern Combo Meissen (aus dem Album „Der<br />

Weite Weg“, 1979)<br />

Es gab ein Problem. Findus musste im Hinblick auf die<br />

unausweichliche, spätere Konfrontation mit Baldur perfekt<br />

mit einem Schwert umgehen können. Meine Gespräche mit<br />

Schwertkämpfern und Schmieden auf einigen<br />

Mittelaltermärkten (und auch eine erste Blutige-Anfänger-<br />

Grundlektion im Schwertkampf) brachten mich aber zu der<br />

Überzeugung, dass da verdammt viel Know How und Übung<br />

246


zugehört. Das geht nicht ‚mal eben so‘. Ich danke diesen<br />

Personen daher an dieser Stelle für ihre Mühen mit mir und<br />

für ihr Verständnis. Mögen sie es mir nachsehen, wenn ich<br />

etwas falsch wiedergegeben haben sollte. Im Roman musste<br />

die Schwertkampfausbildung schneller gehen - wesentlich<br />

schneller. Wie also schindet man Zeit raus, die man nicht hat?<br />

‚Unda‘ und ‚Die Sage‘ brachten mich auf die Nebelsenke, die<br />

dann einem veränderten Zeitablauf unterlag - beliebig viel<br />

Zeit für die Vervollkommnung von Findus´ Fähigkeiten.<br />

Einflüsse verschiedener Sagen (die nordische Mythologie<br />

– und hier insbesondere die Völuspá -, die Sage vom<br />

Hübichenstein bei Bad Grund im Harz, die Sage vom Zwerg<br />

aus den Schweckhäuser Bergen bei Göttingen u. a.) sind dabei<br />

nicht zu übersehen. Insbesondere die Saga der nordischen<br />

Götter hat es mir schon seit jeher angetan, zumal sich mein<br />

aus Skandinavien stammender Familienname wahrscheinlich<br />

auf die Wurzel ‚Frowe Urd‘ (eine der drei Nornen - die für die<br />

Vergangenheit Zuständige) zurückführen lässt. Und<br />

schließlich flossen in Findus´ Ausbildung zum<br />

Schwertkämpfer noch meine eigenen früheren Erfahrungen<br />

mit ostasiatischen Kampfkünsten mit ein.<br />

„3 Black Crows“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost Of<br />

A Rose“, 2003)<br />

„Walpurgisnacht“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“,<br />

2005)<br />

„The Raven“ von Alan Parsons Project (aus dem Album „Tales Of<br />

Mytery And Imagination By Edgar Allan Poe“, 1975)<br />

Die Tierverwandlung - eine durch Solanazeendrogen<br />

hervorgerufene Illusion - findet sich überall in den alten<br />

Märchen, Sagen und Überlieferungen. Sie bot meiner<br />

Romanfigur eine elegante Möglichkeit, um relativ schnell<br />

große Entfernungen zurücklegen zu können. Aber welches<br />

Tier? Zunächst dachte ich an die Krähe, aber das erschien mir<br />

zu platt - war das doch schon Baldur´s bevorzugte Gestalt.<br />

Schandmaul und Alan Parsons Project lieferten die Lösung<br />

des Rätsels: einen Raben. Und weiß musste der allein schon<br />

deshalb sein, weil diese Farbe eben im westlichen Kulturkreis<br />

mit guten Absichten und Reinheit assoziiert wird.<br />

247


Sonstiges:<br />

Auch hier werden wieder einige magische Techniken<br />

(Runen und magischer Kreis), wie sie heute in den<br />

einschlägigen Kreisen praktiziert werden, recht detailliert<br />

beschrieben. In diesem Kapitel gibt es ganz bewusst heftige<br />

Seitenhiebe gegen die ignorante Vorgehensweise und<br />

Realitätsferne heutiger Politiker und Wirtschaftsbosse. Macht<br />

man das in einem Sachbuch, dann ist man angreifbar. Macht<br />

man das aber in einem fiktiven Roman, dann ist das<br />

künstlerische Freiheit... Paradox, nicht wahr? Honny soit qui<br />

mal y pense! In das Verhältnis zwischen <strong>Norgast</strong>, der<br />

Nebelsenke und der von Findus erfahrenen Anderswelt ist in<br />

sehr freier Form die Everett-Hypothese (auch: ‚Viele-Welten‘oder<br />

‚Viele-Historien‘-Hypothese) aus der Quantenphysik mit<br />

eingeflossen. Die Ablehnung, die Dayla in ihrer Kindheit<br />

seitens ihrer Mitmenschen entgegen geschlagen ist, stützt sich<br />

neben persönlichen Erfahrungen nicht zuletzt auch auf<br />

gewisse unsachliche Kritiken an meinem Sachbuch ‚Vernetzte<br />

Sinne‘ - eben meine ganz eigene Art von Rache an den<br />

besserwisserischen Kritikern, die sich abfällig über etwas<br />

äußern, bei dem sie schon aus rein biologischen Gründen gar<br />

nicht mitreden können!<br />

Kapitel 7: Der Geist des Waldes<br />

„Salvation On Sand Hill“ von Sammy Hagar (aus dem Album<br />

„Marching To Mars“, 1997)<br />

Diesem Stück entnahm ich die Idee mit den Schlangen. Da<br />

Schlangen im allgemeinen mit negativen Gefühlen assoziiert<br />

werden (Warum eigentlich? Die fühlen sich an wie Leder und<br />

sind überhaupt nicht glitschig! - Wieder nur so ein paar<br />

verdammte Vorurteile!), ergab sich daraus ein wunderbares<br />

Stilmittel für eine düstere Stimmung.<br />

„Präludium und Fuge g-moll BWV 558“ von Werner Jacob (aus dem<br />

Album „J. S. Bach: Die Arnstädter Orgelchoräle“, 1985)<br />

Klassisch-sakrale Musik und ganz speziell dieses Stück<br />

brachten mich auf den Gedanken, die im Roman dargestellten<br />

Beschwörungen und Zaubersprüche durch Abwandlungen<br />

der Texte aus einem christlichen Gesangbuch zu realisieren.<br />

„Tagelied“ von Faun (aus dem Album „Renaissance“, 2005)<br />

„Iyansa“ von Faun (aus dem Album „Renaissance“, 2005)<br />

248


Das Bannen des Dämons im Myrkviör wird zwar<br />

unmittelbar von Findus durchgeführt, wäre aber ohne Dayla´s<br />

Macht im Hintergrund niemals glaubhaft darstellbar gewesen.<br />

Letztlich ist dies die große Stunde der Hexe - inspiriert durch<br />

zwei Liedtexte.<br />

„Regenbogenkinder“ von Godewind (aus dem Album<br />

„Regenbogenkinder“, 1989)<br />

Dieser Song gab mir die Hinweise zum ‚Wie‘, was das<br />

Bannen des Myrkviör-Dämons betraf.<br />

„Das Duell“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />

Schwefel“, 2004)<br />

„Born And Raised In Black And White“ von Highwaymen (aus dem<br />

Album „Highwayman 2“, 1990)<br />

„Der Albatros“ von Karat (aus dem Album „Albatros“, 1979)<br />

Die Anregungen für den Kampf zwischen Findus und<br />

Baldur entnahm ich diesen Stücken.<br />

„March The Heroes Home“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />

„Under A Violet Moon“, 1999)<br />

„Now And Then“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A<br />

Violet Moon“, 1999)<br />

Der Dämon im Myrkviör war die eine Sache - die Seelen<br />

der Toten eine andere. Durch die o. a. Songs bin ich<br />

überhaupt erst darauf gekommen, die Letzteren eine Rolle<br />

spielen zu lassen. Und zwar gleich eine in doppelter Hinsicht<br />

wichtige Rolle: Sind es doch die Toten, die den Kampf mit<br />

Baldur entscheidend beeinflussen und sind sie es doch auch,<br />

die eine Überleitung zu den seltsamen Orten und zur<br />

Befreiung Malweýn´s gestatten - womit die zweite Prüfung<br />

abgehakt ist.<br />

„Das Macht Doch Nichts Das Merkt Doch Keiner“ von Hans<br />

Scheibner (aus dem Album „Das Macht Doch Nichts Das Merkt<br />

Doch Keiner“, 1979)<br />

„Das Narrenschiff“ von Reinhard Mey (aus dem Album<br />

„Flaschenpost“, 1998)<br />

„<strong>Heim</strong>atlos“ von Reinhard Mey (aus dem Album „Einhandsegler“,<br />

2000)<br />

Als ich noch am Überlegen war, wie ich nun weiter mit<br />

Baldur zu verfahren hatte, da hörte ich diese drei durch und<br />

durch politischen und nach wie vor topaktuellen Lieder.<br />

Damit war dann alles klar, was Baldur´s weiteren Weg betraf.<br />

249


Ähnlichkeiten dieses Weges mit den Schnüffelpraktiken eines<br />

gewissen Innenministers, mit dem Vorgehen der Medien und<br />

mit den Allmachtsfantasien vom Präsidenten einer gewissen<br />

großen Industrienation sind - natürlich! - nur rein zufällig und<br />

keinesfalls beabsichtigt...<br />

„Reich der Träume“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />

Schwefel“, 2004)<br />

Weitab von Raum und Zeit spürst du die Macht, spürst du<br />

die Kraft der Ewigkeit - exakt dieser Refrain gab mir den<br />

Hinweis mit der Geomantie, mit den Ley-Linien bzw.<br />

Drachenlinien. Könnte doch eine sehr bequeme (und<br />

schnelle) Art des Reisens sein, wenn man sie zu nutzen<br />

versteht.<br />

„Dark Chest Of Wonders“ von Nightwish (aus dem Album „Once“,<br />

2004)<br />

„Isis“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003)<br />

Beide Stücke behandeln in gewisser Weise das gleiche<br />

Thema - nämlich magische Verwandlungen. Das führte zu<br />

dem Einfall, Malweýn gebannt in Form eines Baumes auf<br />

seine Befreiung warten zu lassen. Diese Idee kam mir schon<br />

in einem sehr frühen Stadium - lange bevor ich mit der<br />

eigentlichen Geschichte begann.<br />

Sonstiges:<br />

Das im Roman beschriebene orangefarbene Licht der<br />

Leylinien kommt nicht von ungefähr - ihm liegen<br />

physikalische und spirituelle Gegebenheiten zu Grunde. Ein<br />

Erdentag dauert exakt 23 Stunden und 56 Minuten (was<br />

letztlich die Notwendigkeit von Schaltjahren bedingt). Nimmt<br />

man den Kehrwert davon, so erhält man eine physikalische<br />

Schwingung. In den hörbaren Bereich hinein oktaviert<br />

entspricht sie dem Ton ‚g‘ - dem Ton, der insbesondere im<br />

buddhistischen Glaubensraum Gebete und Meditationen<br />

begleitet. Oktaviert man diesen ‚Erdenton‘ noch weiter, so<br />

erhält man die (Licht-) Frequenz von 700nm - ein leuchtendes<br />

Rotorange, wie es bspw. buddhistische Mönche bei ihren<br />

Roben bevorzugen. Daher stammt dann auch meine<br />

Farbgebung des Lichts der Drachenlinien. Kleine<br />

Randanmerkung: Oktaviert man das ‚g‘ noch höher, dann<br />

erhält man die Eigenresonanz menschlicher DNS - seltsam,<br />

nicht wahr? Die Formvorlage für den uralten Baum, in den<br />

250


Malweýn gebannt worden ist, lieferte wieder eine<br />

Süntelbuche. Sie wächst unter Naturschutz stehend in<br />

meinem Wohnort an sehr versteckter Stelle und widersetzt<br />

sich seit Jahren ausgesprochen erfolgreich jedem Versuch, auf<br />

einem Foto abgebildet zu werden. Auch hier gibt´s mal<br />

wieder Seitenhiebe satt. Die Vorlage für Baldur´s Benehmen<br />

lieferte das Verhalten eines gewissen Präsidenten einer<br />

gewissen großen Industrienation. Glaubhaften Gerüchten<br />

zufolge soll der gewisse Präsident ja primär auf seine Berater<br />

Jack Daniels und Johnny Walker hören. Baldur´s nach der<br />

Konfrontation mit Findus in Gang gesetzte Maßnahmen<br />

haben natürlich nur rein zufällig Ähnlichkeit mit den<br />

‚vorbeugenden Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung‘<br />

eines gewissen Innenministers. Auch das ‚Wie-funktioniertunsere-Wirtschaft‘<br />

bekommt sein Fett ab, weil es ja doch den<br />

einen oder anderen der Industrie mehr als dem Volk<br />

verbundenen Politiker geben soll - sei es durch<br />

Beraterverträge, Seilschaften, Aufsichtsratsposten,<br />

Polittourismus, Schmiergelder, Bordellaufenthalte oder wie<br />

auch immer. Findus´ Erfahrung beim Bannen des Dämons<br />

liegt meine eigene Erfahrung mit einem Nahtod-Erlebnis<br />

zugrunde. Allerdings habe ich in der Geschichte vieles aus<br />

dieser Erfahrung in sein Gegenteil verkehrt.<br />

Kapitel 8: Der Stein des Lebens<br />

„Cool Water“ von Marty Robbins (aus dem Album „Gunfighter<br />

Ballads And Trail Songs“, 1959)<br />

„El Paso“ von Marty Robbins (aus dem Album „Gunfighter Ballads<br />

And Trail Songs“, 1959)<br />

„A Horse With No Name“ von America (aus dem Album „A Horse<br />

With No Name And Other Hits“, 2004)<br />

Drei Songs, die in der Wüste spielen. Das brachte mich auf<br />

den Gedanken, meine eigenen Wüsten-Reiseerfahrungen<br />

zumindest rudimentär in die Geschichte mit einfließen zu<br />

lassen. Die Wüste - das ist eine Landschaft, die niemanden<br />

unberührt lässt. Karg und lebensfeindlich, aber von immer<br />

wieder wechselndem Aussehen. Entweder man will nie wieder<br />

hin oder aber die Sehnsucht danach verlässt einen nicht mehr.<br />

Bei mir Letzteres.<br />

251


„The Jouney“ von Rick Wakeman (aus dem Album „Journey To The<br />

Centre Of The Earth“, 1974)<br />

„Reise Zum Mittelpunkt Der Erde“ von den Puhdys (aus dem Album<br />

„Puhdys [1]“, 1974)<br />

Den beiden Vertonungen der gleichnamigen Jules-Verne-<br />

Geschichte entnahm ich die Idee mit der Höhle und mit den<br />

Kristallen. Ich habe ein Faible für Höhlen!<br />

„Frigga´s Web“ von Hagalaz´ Runedance (aus dem Album „Frigga´s<br />

Web“, 2002)<br />

Das Stück brachte mir den Einfall, Findus die Ley´s von<br />

oben ähnlich einem Spinnennetz sehen zu lassen. An dieser<br />

Stelle gilt mein ganz besonderer Dank einer Person, die sich<br />

die Bezeichnung ‚Hagia‘ wirklich ernsthaft verdient hat und<br />

die mich schon frühzeitig auf die Musik von Hagalaz´<br />

Runedance aufmerksam machte.<br />

„Open Source“ von den Magic Mushrooms (aus dem Album<br />

„OpenMusic-Sampler“, 2001)<br />

Hier war es zur Abwechslung mal nicht die Musik (obwohl<br />

die auch sehr gut ist!), sondern vielmehr der Name der Band,<br />

der mich Findus eine kräftigende und<br />

bewusstseinserweiternde Pilzmahlzeit servieren ließ.<br />

„Chant“ von White Water (aus dem Album „Celtic Abbey“, 1998)<br />

„Laguz - Within The Lake“ von Nebelhexe (aus dem Album „Laguz<br />

- Within The Lake“, 2004)<br />

Beide Titel führten zu dem Einfall, Findus einen<br />

Abstecher bei seinen alten Bekannten Bewok und Snofork<br />

machen zu lassen. Hinsichtlich der ‚Nebelhexe‘ gilt der o. e.<br />

Hagazussa wieder mein spezieller Dank.<br />

„Indian Reservation“ von Paul Revere & The Raiders (aus dem<br />

Sampler „Nur No. 1 Hits“, 1996)<br />

Dem Stück entnahm ich die Anregungen für die<br />

Schilderung der miesen Lebensverhältnisse in Torboog.<br />

„Exxon Valdez“ von Achim Reichel (aus dem Album „100%<br />

Leben“, 2004)<br />

Dieser Titel lieferte die Vorlage zur Beschreibung der<br />

Mannschaft auf der ‚Königin von Fucunor‘.<br />

„Das Narrenschiff“ von Karat (aus dem Album „Schwanenkönig“,<br />

1980)<br />

„Das Narrenschiff“ von Reinhard Mey (aus dem Album<br />

„Flaschenpost“, 1998)<br />

252


„Rat Race“ von Bob Marley & The Wailers (aus dem Album<br />

„Babylon By Bus“, 1978)<br />

Die beiden Narrenschiff-Stücke, die absolut gar nichts<br />

miteinander zu tun haben, und Bob Marley´s Ausführungen<br />

- das waren die Aufhänger zur Beschreibung des Systems der<br />

Kaufleute; ergänzt um das, was ich im Laufe meiner<br />

Berufstätigkeit so von verschiedenen deutschen<br />

Handelsketten mitbekommen habe (insbesondere vom<br />

Hochfinanzbereich) und was vom deutschen<br />

Gesundheitswesen bekannt ist.<br />

„Soltwind“ von Speelwark (aus dem Album „Freut Euch Des<br />

Nordens“, 1993)<br />

Musik zum Rekapitulieren synästhetischer Erfahrungen<br />

- hier flossen meine Empfindungen eines Spätwinters auf<br />

Norderney mit ein.<br />

„Hamborger Veermaster“ von Achim Reichel (aus dem Album „Dat<br />

Shanty Alb´m“, 1976)<br />

„Das Störtebekerlied“ von Achim Reichel (aus dem Album<br />

„Klabautermann“, 1977)<br />

„Herren der Winde“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“,<br />

2005)<br />

Das waren die ‚Aufhänger‘ für die Seereise und für das<br />

Zusammentreffen von Kaufleuten und Piraten.<br />

„Twischen Twee Meer´n“ von Godewind (aus dem Album<br />

„Schattenspiele“, 2001)<br />

Das Lied beeinflusste mich bei der Beschreibung der Insel<br />

Fucunor.<br />

„Drachenreiter“ von Furunkulus (aus dem Album „Furunkulus –<br />

Live“, 2005)<br />

„Flug auf dem Glücksdrachen“ von Klaus Doldinger (aus dem Album<br />

„Die unendliche Geschichte“, 1984)<br />

Zuerst wollte ich Findus so Nibelungen-Siegfried-mäßig<br />

den Drachen von Fucunor besiegen lassen, obwohl mir das<br />

ziemlich banal erschien. Beim Hören der beiden Titel fiel mir<br />

dann aber der Film ‚Dragonheart‘ ein - und warum eigentlich<br />

nicht? Lassen wir Findus doch einen Pakt mit dem Drachen<br />

schließen. Den Drachen würde ich bestimmt später noch<br />

irgendwo verwenden können.<br />

253


Sonstiges:<br />

Für die Darstellung der Wüste griff ich auf meine<br />

Reiseerfahrungen in der Sonora-Wüste im Süden Arizona´s<br />

zurück. Bei der Insel Fucunor gibt´s Anklänge an Island. Hier<br />

habe ich eigene Reiseerfahrungen vergangener Zeiten mit<br />

einfließen lassen. Einerseits hat die Wüste es mir angetan und<br />

andererseits muss ich selbst mindestens einmal im Jahr<br />

Schiffsplanken unter den Füßen haben. Wüste und See sind<br />

mir daher beide vertraut - und einander trotz aller Gegensätze<br />

in gewisser Hinsicht auch irgendwo ähnlich. Bei der<br />

unrühmlichen Rolle der Kaufleute habe ich mich an sehr<br />

realen Gegebenheiten - nämlich am Vorgehen großer<br />

deutscher Handelsketten und an der Struktur des deutschen<br />

Gesundheitssystems, gestützt durch die Tagespolitik<br />

- orientiert. Beides gemischt war es das perfekte und über<br />

allen Gesetzen stehende Syndikat, welches nur noch auf die<br />

<strong>Norgast</strong>-Gegebenheiten umgeschrieben werden musste. Das,<br />

was als ‚Stein des Lebens‘ bezeichnet wird, symbolisiert auf<br />

eine gewisse Weise die Everett´sche Many-Worlds-<br />

Hypothese, welche auch das von mir persönlich bevorzugte<br />

Weltbild darstellt. Die Folgerungen daraus sind die<br />

Informationen, die Findus bekommt.<br />

Kapitel 9: Forst der Entscheidung<br />

„In Perfect Harmony“ von Within Temptation (aus dem Album<br />

„Mother Earth“, 2003)<br />

Um Findus´ weiteren Weg nachvollziehbar zu machen,<br />

musste zuerst das Rätsel seiner Herkunft gelöst werden: ‚A<br />

little child was born and raised deep in the forest on a hidden<br />

place. Mother never saw his face.‘ Exakt das passte auf<br />

Findus.<br />

„Wat Jeht Uns Die Sintflut Ahn?“ von BAP (aus dem Album<br />

„Comics & Pin-Ups“, 1999)<br />

Es fehlte noch die Information, wie Baldur zu dem wurde,<br />

was er ist. Der Song von BAP lieferte die Begründung: Die<br />

Alles-Nur-Für-Uns-Einstellung der Baldur beeinflussenden<br />

Finanzmächte im Hintergrund.<br />

„Comandante Che Guevara“ von Wolf Biermann (nur als Vinyl-Single<br />

erschienen, 1973)<br />

254


Findus als Gegenpart von Baldur sollte gerechter als<br />

Baldur sein. Ein offener Kampf schied aber aus, um<br />

<strong>Norgast</strong>´s ohnehin schon arg gebeutelte Bevölkerung nicht<br />

noch mehr in Mitleidenschaft zu ziehen. Dennoch schwebte<br />

mir irgend so etwas Robin-Hood-Ähnliches vor. Die Vorlage<br />

zum Guerillakrieg lieferte schließlich der Song, der den von<br />

US-Amerikanern erschossenen Arzt Ernesto Guevara de la<br />

Serna, genannt ‚Che‘, zum Inhalt hat.<br />

„Vogelfrei“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“, 2002)<br />

„Die zwei Brüder“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“,<br />

2002)<br />

„Free The People“ von den Dubliners (aus dem Album „The Wild<br />

Rover“, 1998)<br />

Drei Songs inspirierten das, was daraufhin im Forst des<br />

Bomenhau ablaufen sollte. Nun sollte Findus allerdings nicht<br />

zur billigen Robin-Hood-Kopie verkommen. Als Vorbild für<br />

sein Handeln nahm ich deshalb die positiven Aspekte des<br />

Walisers Henry Morgan, eines ziemlich blutrünstigen,<br />

früheren Karibik-Piraten. Der war daneben aber auch ein<br />

genialer Stratege und in gewisser Weise seiner Zeit weit<br />

voraus: War er doch trotz aller Brutalität der Erste überhaupt,<br />

der für seine Leute so etwas wie ein allgemein gültiges<br />

Prämiensystem und eine Art von Sozialversicherung<br />

einführte.<br />

„Self Portrait“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A<br />

Violet Moon, 1999)<br />

Die düstere Stimmung des Songs bestimmte den doch<br />

recht traurigen Showdown im Bomenhau.<br />

Sonstiges:<br />

Für die Macht im Hintergrund standen der politische<br />

Lobbyismus und die Realitätsferne einiger heutiger<br />

Großindustrien Pate. Berufsverbote haben in Deutschland<br />

eine jahrzehntelange Tradition. Früher offen, heutzutage in<br />

verdeckter Form zugunsten der o. e. Großindustrien. Immer<br />

getreu dem Motto, dass drittklassige Vorgesetzte nur<br />

fünftklassige Untergebene einstellen und dass nur offizielle<br />

Papiere die Fähigkeiten eines Menschen beschreiben können<br />

– und völlig ignorant bezüglich etwaiger bisheriger Erfolge<br />

der Betroffenen. Der Versuch, so etwas zu installieren und die<br />

seltsamen Blüten hinsichtlich des sehr realen und lukrativen<br />

255


Handels mit gefälschten Dokumenten spiegeln sich hier<br />

wieder. Auch der typisch deutsche - oder sollte ich besser<br />

sagen eurokratische? - Verwaltungswahnsinn wird auf´s Korn<br />

genommen und liefert die Vorlage dafür, wie Baldur <strong>Norgast</strong><br />

‚totverwaltet‘. Das Kriminalisieren der Bevölkerung mit dem<br />

sich anschließenden ganz legalen ‚Abkassieren‘ ist bei den<br />

Praktiken einiger Stadtverwaltungen abgeschaut worden,<br />

welche zu wenig Parkraum in den Innenstädten schaffen und<br />

statt dessen lieber Gebühren über Strafmandate einziehen<br />

- weil das mehr Einnahmen bringt.<br />

Kapitel 10: Das magische Geflecht<br />

„Creek Mary´s Blood“ von Nightwish (aus dem Album „Once“,<br />

2004)<br />

Obgleich der Song mit dem ‚Trail Of Tears‘ ja eigentlich<br />

ein gern verschwiegenes und äußerst trauriges Stück<br />

amerikanischer Geschichte behandelt, vermittelt er am Ende<br />

doch Hoffnung: ‚Our spirit was here long before you. Long<br />

before us. And long will it be after your pride brings you to<br />

your end.‘ Dabei fiel mir der Ausspruch Winston Churchills<br />

ein, dass Politiker auf die nächste Wahl und Staatsmänner auf<br />

die nächste Generation schauen. Ich beschloss, Findus zum<br />

Staatsmann zu machen und <strong>Norgast</strong> umkrempeln zu lassen.<br />

„Jim Bridger“ von Johnny Horton (aus dem Album „Johnny Horton‘s<br />

Greatest Hits“, 1987)<br />

„Leb!“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech & Schwefel“,<br />

2004)<br />

Beide Lieder beschreiben, wie auch ‚kleine‘ Leute nur<br />

aufgrund ihrer Erfahrung und ohne besondere Qualifikation<br />

große Aufgaben zu meistern in der Lage sind. Findus sollte es<br />

genauso ergehen...<br />

„Die Freie Republik“ von Hannes Wader (aus dem Album<br />

„Volkssänger“, 1975)<br />

...aber er würde hart und mit anderen zusammen darum<br />

kämpfen müssen, denn von nichts kommt nichts.<br />

„Sally-Mary“ von Hans Hartz und Dan McCafferty (aus dem Album<br />

„Neuland Suite“, 1985)<br />

Das war der Aufhänger für das leicht abgekühlte<br />

Verhältnis zwischen Findus und der Bônday.<br />

256


„Home Again“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Fires At<br />

Midnight“, 2001)<br />

Bei dieser Musik kam ich auf den Gedanken, Findus durch<br />

Draconis nach Helgenor fliegen zu lassen.<br />

„Crowning Of The King“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />

„Fires At Midnight“, 2001)<br />

Eine formelle Krönung des Königs schwebte mir zwar<br />

nicht vor, aber um <strong>Norgast</strong> umzukrempeln, musste Findus<br />

schon der oberste Herrscher werden. Dazu bedurfte es der<br />

Anerkennung aller und die erlangte er, indem er das Attentat<br />

überlebte.<br />

„Mother Earth“ von Within Temptation (aus dem Album „Mother<br />

Earth“, 2003)<br />

Der Text dieses Songs veranlasste mich, Findus und die<br />

Bônday das magische Geflecht ‚reparieren‘ zu lassen – mit<br />

den entsprechenden Auswirkungen auf alle Anderswelten.<br />

„Sonne“ von Letzte Instanz (aus dem Album „Ins Licht“, 2005)<br />

Und diesem Stück entnahm ich die Anregungen für den<br />

Verlauf der ‚Reparatur’.<br />

Sonstiges:<br />

Zur Beschreibung von Helgeboog beschäftigte ich mich<br />

mit den überaus funktionellen Bauprinzipien mittelalterlicher<br />

Städte. Helgeboog wurde auf diese Weise zu einer Art<br />

‚Schnittmenge’ der Altstädte von Freiburg i. B., Frankfurt/M.,<br />

Nürnberg und Brügge. Fehlte noch der politische Teil. Was<br />

macht man mit einem Zwei-Klassen-Staat, in dem alle<br />

Besitztümer ungerecht verteilt sind? Für den Roman machte<br />

ich mir die Sache einfach. Ich blickte mal über Deutschland´s<br />

Grenzen hinaus. Und ich nahm mir ein paar Punkte aus den<br />

Wahlprogrammen der diversen Politiker – ungeachtet ihrer<br />

Parteizugehörigkeit. Und ich sah mir das kroatische<br />

Steuersystem an. Dann rechnete ich etwas mit den Zahlen, die<br />

das ‚Statistische Bundesamt‘ zur Verfügung stellt. Was soll ich<br />

groß sagen – es rechnete sich... Daraus wurde dann<br />

(vereinfacht) das <strong>Norgast</strong>-System. Natürlich gibt es bei einem<br />

solchen System Verlierer und Gewinner, nämlich Verlierer in<br />

der Oberschicht und Gewinner beim einfachen Volk. Und<br />

natürlich werden die Verlierer über ihre Rolle nicht gerade<br />

erbaut sein. Doch im Roman war ja jemand an der Regierung,<br />

der die Interessen des ‚kleinen Mannes von der Straße‘ vertrat.<br />

257


Gewissermaßen unterscheidet das unsere so genannte Realität<br />

von der Fiktion. Bleibt schließlich noch die ‚Reparatur’ des<br />

magischen Geflechts. Ihr liegen Schilderungen des Erlebens<br />

der metaphorischen Synästhesie zu Grunde.<br />

Kapitel 11: Anderswelt<br />

„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ von Franz Josef Degenhardt<br />

(aus dem Album „Liederbuch“, 1978)<br />

Das uralte Schmuddelkinder-Lied war der Aufhänger für<br />

die Kindheit des Jungen, der Baldur´s Geist in der Anderswelt<br />

beherbergen sollte – und auch der Rest des Songs war in<br />

gewisser Weise richtungsweisend.<br />

„Boss Man” von Gordon Lightfoot (aus dem Album „Did She<br />

Mention My Name“, 1968)<br />

Dieses Lied zeigt, wie Chefs Arbeitnehmer behandeln<br />

können. Ich verwendete es als Gedankenstütze, um das<br />

Bernd/Baldur-Regime zu verdeutlichen.<br />

„Leben so wie ich es mag“ von Volker Lechtenbrink (aus dem Album<br />

„Leben so wie ich es mag“, 1980)<br />

„Reasons To Quit” von Merle Haggard und Willie Nelson (aus dem<br />

Sampler „Country Trucker Songs“, 1993)<br />

Zwei Tracks, die das Aufbegehren von Otto<br />

Normalverbraucher symbolisieren. Im Roman erfolgte dieses<br />

Aufbegehren in der Anderswelt als Folge der Reparatur des<br />

magischen Geflechts und war der Anlass dafür, Bernd/Baldur<br />

aus der Arbeitswelt heraus zu nehmen.<br />

„We Are Going To Ibiza“ von Vengaboys (aus dem Sampler „Summer<br />

Dreams“, 2001)<br />

Normalerweise höre ich mir die Pop-Kommerz-<br />

Einheitsware gar nicht an. Über den Song bin ich daher auch<br />

eher zufällig ‚gestolpert’ und dabei kam mir die Idee,<br />

Bernd/Baldur seinen Lebensabend auf einer Sonneninsel<br />

verbringen zu lassen.<br />

„The System Of Doctor Tarr And Professor Feather” von Alan<br />

Parsons Project (aus dem Album „Tales Of Mystery And Imagination<br />

By Edgar Allan Poe”, 1975)<br />

Diesem Stück entnahm ich die Idee, Bernd/Baldur sein<br />

Leben mit zerrüttetem Geist beenden zu lassen – wobei aber<br />

absichtlich offen gelassen wird, ob er im Moment des Todes<br />

noch dem Shâgun zum Opfer fällt. Denn wer weiß<br />

258


– vielleicht wird ‚<strong>Norgast</strong>’ ja wider Erwarten zum Erfolg und<br />

dann brauche ich die Figur möglicherweise noch einmal...<br />

Sonstiges:<br />

Das Schlusskapitel ist in vielerlei Hinsicht authentisch. Da<br />

ist noch mal mein eigenes Nahtod-Erlebnis vom Juni 1988.<br />

Mit dem beschrieb ich Baldur´s Ende in <strong>Norgast</strong>. Die Art des<br />

Aufstiegs von Bernd/Baldur ist usus in der Arbeitswelt. Sehr<br />

viele Unternehmen – mir selbst sind auch einige bekannt –<br />

kultivieren geradezu ein Klima, in dem dissoziale<br />

Persönlichkeiten gefördert werden. Mit den Folgen, dass man<br />

verdiente Mitarbeiter wegekelt und dass drittklassige<br />

Vorgesetzte fünftklassige Untergebene neu einstellen:<br />

Hauptsache, der Untergebene kann mit seinem Wissen dem<br />

Chef nicht gefährlich werden. Die beschriebenen Mobbingund<br />

Bespitzelungs-Aktivitäten habe ich selbst erlebt<br />

– deutsches Antiarbeitnehmerrecht macht´s möglich. Zudem<br />

wurde mir das Mobbing-Tagebuch eines der Opfer von<br />

Bernd/Baldur´s realer Vorlage zur Verfügung gestellt:<br />

Material im Überfluss. Die Vorlagen für die Sonneninsel im<br />

blauen Meer waren Ibiza und Mallorca. Die Erwähnung des<br />

Déjà-vu´s ist wieder ein kleiner synästhetisch geprägter<br />

‚Seitenhieb’, denn Déjà-vu´s scheinen bei uns Synästhetikern<br />

überdurchschnittlich häufig aufzutreten. Schließlich bleibt<br />

noch die Tatsache zu erwähnen, dass viele Mobbing- und<br />

Bossing-Opfer in psychischer Behandlung enden. Hier kehrte<br />

ich das um, so dass es völlig realitätsfremd mal auf den<br />

Verursacher zurück fällt. Und zu allerletzt wird mit dem<br />

Auslöser des Ganzen – nämlich dem von Bernd/Baldur<br />

erblickten Buchtitel – noch der Kreis zu den<br />

Eingangsbemerkungen über Hugh Everett´s<br />

quantenmechanische Many-Worlds-Hypothese geschlossen.<br />

259


Anhang II: Kleine Runenkunde<br />

260<br />

Weißt du zu ritzen?<br />

Weißt du zu raten?<br />

Weißt du zu färben?<br />

Weißt du zu fragen?<br />

Weißt du zu wünschen?<br />

Weißt du zu weihen?<br />

Weißt du zu schicken?<br />

Weißt du zu schlachten?<br />

(Runenweissagung aus „Die Edda: Götterdichtung,<br />

Spruchweisheit und Heldengesänge der Gemanen“)<br />

Runen sind eines der zentralen Elemente in ‚<strong>Norgast</strong>’. Die im<br />

Roman dargestellte Magie wird durch Runen ausgeübt. Bei<br />

den im Text angeführten Zaubersprüchen steht der Name der<br />

Rune für ihre ‚normale’ Bedeutung, während die Bezeichnung<br />

rückwärts ausgesprochen die Bedeutung der umgekehrten<br />

Rune (der Sturz- oder Wenderune) symbolisieren soll. Um<br />

dem Leser diesbezüglich den Einstieg und das Verständnis<br />

der seitens der Romanfiguren eingesetzten Magie zu<br />

erleichtern, sei hier eine kleine, rudimentäre Runenkunde<br />

angeführt. Diese mag vielleicht nicht ganz exakt den<br />

historischen Tatsachen entsprechen (einige stilistische<br />

Ausschmückungen waren unumgänglich), doch habe ich mich<br />

bemüht, so authentisch wie irgend möglich zu bleiben. Runen<br />

müssen lt. der nordischen Überlieferungen vor ihrer<br />

Verwendung magisch aufgeladen werden, um wirksam zu<br />

sein. Dazu gibt es verschiedene Verfahren. Eine noch heute<br />

tatsächlich gebräuchliche Methode wurde im Kapitel ‚Der<br />

weiße Rabe’ von Dayla angewandt.<br />

Normalerweise werden Runen in das entsprechende Holz<br />

oder in den zugehörigen Stein, notfalls auch in einen<br />

Knochen, geritzt. Alternativ dazu ist aber auch überliefert,<br />

dass Runen bspw. mit (dem eigenen) Blut auf Leder gemalt<br />

worden sind. Runen wurden sowohl zur Divination<br />

(Weissagung) eingesetzt wie auch als Amulett oder als<br />

Talisman, u. a. im Rahmen von Ritualen, verwendet. Unter<br />

einem Amulett versteht man einen unmittelbar am Körper (z.


B. als Kette oder Schmuckstück direkt auf der Haut)<br />

getragenen Gegenstand. Talismane hingegen sind als<br />

Schmuckstücke an der Kleidung befestigt oder aber als<br />

Zierrat von Wohnräumen zu finden (wie bspw. das Hufeisen<br />

als Glücksbringer). Sie können allerdings auch auf der Haut<br />

getragen werden. Talismane verwendet der Träger meist, um<br />

etwas (z. B. Glück oder Schutz) anzuziehen, während<br />

Amulette häufig der Abwehr (bspw. von Schaden) dienen. Bei<br />

der Divination wurden bzw. werden mit Runen verzierte<br />

Gegenstände (Ritualstäbe, Knochen, Steine) geworfen.<br />

Beim Runenwurf können drei Zustände erreicht werden,<br />

nämlich die korrekt liegende Rune (Begriffsrune), die mit der<br />

Bildseite nach unten liegende oder lageunabhängig gleich<br />

aussehende Rune (Spiegelrune) und lageverkehrte Runen<br />

(Sturz- bzw. Wenderunen). Die Symbolik richtet sich dann<br />

nach der Lage. Spiegelrunen bleiben unbeachtet, wenn ihre<br />

Bildseite nicht zu sehen ist. Begriffsrunen entsprechen der<br />

ursprünglichen, ‚magischen’ Bedeutung (s. u.), während bei<br />

Lageabweichungen durch Sturz- und Wenderunen auch eine<br />

umgekehrte Symbolik auftreten kann. Auf diese Weise<br />

gestattet der Runenwurf einen recht breiten<br />

Interpretationsspielraum. Daneben gibt es noch die so<br />

genannten Binderunen, welche die Kräfte von zwei oder<br />

mehr Runen miteinander kombinieren sollen. Um eine<br />

Binderune zu erstellen, wird üblicherweise ein (ggf.<br />

mehrachsiges) Kreuz gezeichnet, dessen Achsen mit den<br />

einzelnen Runensymbolen zu versehen sind. Eine zu trauriger<br />

Berühmtheit gelangte Binderune war bspw. das Hakenkreuz<br />

der Nazis, welches zwei Sowelu-Runen in einer Binderune<br />

vereinte.<br />

Das Runenalphabet selbst wird – abgeleitet von seinen<br />

Anfangsbuchstaben - als Futhork oder Uthork bezeichnet.<br />

Überliefert sind verschiedene Runenalphabete, nämlich die<br />

bei einschließlich Gibor endenden und die etwas<br />

umfangreicheren Formen. Man differenziert heute<br />

herkunftsbedingt zwischen mindestens sieben (mitunter auch<br />

mehr) Futhorks. Die Futhorks unterteilen sich selbst wieder<br />

in die Runenfamilien, die Aettir, bei denen i. d. R. meist<br />

sieben bis neun Runen ähnlicher oder einander ergänzender<br />

Bedeutungen zusammen gefasst sind. Der Zahl Neun kommt<br />

261


dabei noch eine besondere Bedeutung seitens der<br />

germanischen Mythologie zu.<br />

Nachfolgend ist eine umfangreichere, historisch jedoch<br />

nicht gesicherte Form vom Runenalphabet dargestellt, ergänzt<br />

um die naturreligiösen bzw. ‚magischen’ Symboliken (soweit<br />

bekannt). Bei dem assoziierten Baum und der assoziierten<br />

Pflanze dürften die pharmakologischen Wirkungen dieser<br />

Naturstoffe bzw. die Tauglichkeit für Werkzeuge u. ä. eine<br />

entscheidende Rolle gespielt haben. Für die Symboliken und<br />

Bedeutungen gibt es verschiedene Interpretationen. Hier sind<br />

die wohl Gängigsten davon aufgeführt.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Far, Fehu, Feoh.<br />

Herkunft: Das Rind als Symbol des Wohlstands; nach einer<br />

anderen Deutung das Feuer als Symbol für Wärme.<br />

Geburtszeitraum: 22.12. – 12.1.<br />

Assoziierter Baum: Holunder (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Fieber eingesetzt) und Erle (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Entzündungen eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Brennessel (volksmedizinisch u. a.<br />

gegen Schwäche eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Moosachat (ayurvedisch zur Förderung<br />

der Aufnahmebereitschaft) und Feuergranat (ayurvedisch zur<br />

Stärkung der köpereigenen Abwehr).<br />

Assoziierte Farbe: Hellrot.<br />

Sprachliche Entsprechung: F<br />

Begriffsrune: Spiritueller Reichtum, Selbstlosigkeit, Weisheit,<br />

Nächstenliebe.<br />

Weitergehende Bedeutung: Alles ist im Fließen. Die Feuer-<br />

Rune neutralisiert die Furcht vor Veränderung. Sie bringt<br />

Gelassenheit und Mut zur Beständigkeit. Soll als Amulett vor<br />

Krankheit und Leid schützen und als Talisman zu<br />

finanziellem Erfolg verhelfen.<br />

Wenderune: Seelische Störungen und fehlende<br />

Ausgeglichenheit.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Ur, Uruz.<br />

262


Herkunft: Der Auerochse als Symbol freier, ungebundener<br />

Stärke.<br />

Geburtszeitraum: 13.1. – 3.2.<br />

Assoziierter Baum: Birke (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Entzündungen eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Sumpfmoos (volksmedizinisch u. a.<br />

zur Desinfektion und gegen Fäulnis eingesetzt) und<br />

Kapuzinerkresse (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Gelenkbeschwerden eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Karfunkel (keltogermanisch zur Stärkung<br />

von Körper und Geist) und Bergkristall (soll die Harmonie<br />

verstärken, Bedeutungsherkunft unbekannt).<br />

Assoziierte Farbe: Dunkelgrün.<br />

Sprachliche Entsprechung: U<br />

Begriffsrune: Ausgeglichene, gerechte Stärke in Kenntnis<br />

eigener Schwächen.<br />

Weitergehende Bedeutung: Erkenne Dich selbst. Die Rune<br />

stärkt die Selbsterkenntnis und schützt vor falschen<br />

Entscheidungen. Soll als Talisman die Intuition verbessern<br />

und als Amulett vor Fehlentscheidungen schützen.<br />

Wenderune: Unausgeglichenheit durch Unkenntnis der<br />

(eigenen) Schwächen.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Thorn, Thurisaz, Dorn, Turisaz.<br />

Herkunft: Der Dornbusch als Schutzsymbol. Nach einer<br />

anderen Deutung auf die Riesen (Thursen) aus der nordischen<br />

Mythologie zurück gehend.<br />

Geburtszeitraum: 4.2. – 25.2.<br />

Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für<br />

besonders widerstandsfähiges Holz).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Schwarzdorn, Weißdorn (beide<br />

volksmedizinisch u. a. gegen Verdauungsbeschwerden und<br />

zur innerlichen Desinfektion eingesetzt), Lauch bzw.<br />

Knoblauch (volksmedizinisch u. a. als Tonikum eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Saphir (ayurvedisch zur Nervenstärkung).<br />

Assoziierte Farbe: Hellrot.<br />

Sprachliche Entsprechung: Th<br />

263


Begriffsrune: Macht durch innere Kraft, Wahrheitssuche<br />

durch spirituelle Autorität.<br />

Weitergehende Bedeutung: Bleibe Dir treu. Die Rune weist<br />

den richtigen Weg, indem sie Willen und Tatkraft stärkt. Als<br />

Amulett dient sie dem Schutz vor Diebstahl und materiellen<br />

Verlusten. Als Talisman lässt sie gute Chancen sofort<br />

erkennen und steigert die Antriebskraft.<br />

Wenderune: Angst und Feigheit, naive Gutgläubig- und<br />

Obrigkeitshörigkeit.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Os, Othila, Othel, Othala, Opala, Opila.<br />

Herkunft: Die Verwaltung eines (Erb-) Besitzes.<br />

Geburtszeitraum: 26.2. – 20.3.<br />

Assoziierter Baum: Weißdorn (volksmedizinisch u. a. als<br />

Tonikum eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Klee (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Infektionen eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Rubin (ayurvedisch zur Stärkung von<br />

Körper und Geist).<br />

Assoziierte Farbe: Tiefgelb.<br />

Sprachliche Entsprechung: O<br />

Begriffsrune: Konzentration auf die Freiheit, ein Ziel zu<br />

erreichen.<br />

Weitergehende Bedeutung: Erkenntnisse durch geistige<br />

Kraft. Sollte daher bevorzugt bei wichtigen Besprechungen<br />

mit geführt werden. Dient darüber hinaus dem Schutz der<br />

Gesundheit vor Krankheit, insbesondere in Bezug auf die<br />

Atemwege. Dient als Amulett dem Schutz des Körpers und<br />

verhilft als Talisman zu überzeugenden Argumenten.<br />

Wenderune: Sinnloses (materielles) Streben; Fehler bei<br />

anderen suchen.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Rit, Raido, Rad.<br />

Herkunft: Das Wagenrad als Symbol für alles Zyklische im<br />

Leben.<br />

Geburtszeitraum: 21.3. – 12.4.<br />

Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für<br />

264


esonders widerstandsfähiges Holz) und Holunder<br />

(volksmedizinisch u. a. gegen Infektionen eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Beifuß bzw. Wermut<br />

(volksmedizinisch u. a. gegen Verdauungsbeschwerden<br />

eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Chrysopras (keltogermanisch zur Abwehr<br />

böser Träume und gegen Kummer) und Malachit (als Mittel<br />

gegen rheumatische Erkrankungen, Bedeutungsherkunft<br />

unbekannt).<br />

Assoziierte Farbe: Glänzendes Rot.<br />

Sprachliche Entsprechung: R<br />

Begriffsrune: Annehmen der Herausforderungen durch den<br />

Kreislauf des Lebens.<br />

Weitergehende Bedeutung: Vertraue Deinem Schicksal.<br />

Bewahrt vor Streitigkeiten und versöhnt durch offene<br />

Kommunikation. Soll heimtückische Angriffe bzw. Intrigen<br />

und Ränkespiele abwehren. Talisman und Amulett sollen vor<br />

Unrecht und Schicksalsschlägen schützen.<br />

Wenderune: Sinnlose und furchtsame Abwehr durch<br />

Uneinsichtigkeit; Angst vor Neuem und vor Veränderung<br />

(verbitterte Stagnation).<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Kaun, Keno, Ken, Kenaz, Kaunan.<br />

Herkunft: Die Fackel als Symbol des Lichtes und der<br />

Erleuchtung.<br />

Geburtszeitraum: 13.4. – 5.5.<br />

Assoziierter Baum: Kiefer (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Hauterkrankungen eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Schlüsselblume (volksmedizinisch u.<br />

a. gegen Erkältung eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Blutjaspis (keltogermanisch zur<br />

Kreislaufstärkung).<br />

Assoziierte Farbe: Hellrot.<br />

Sprachliche Entsprechung: K<br />

Begriffsrune: Verständnis durch neue Einsichten im Rahmen<br />

eines Lernprozesses; verantwortungsbewusste Macht durch<br />

Wissen.<br />

Weitergehende Bedeutung: Ausgleichende Gerechtigkeit.<br />

Fördert alle kreativen Fähigkeiten, verfeinert die Intuition und<br />

265


dient dadurch der Weiterentwicklung. Schützt als Amulett vor<br />

Geschäftsbetrug und dient als Talisman der Ideenfindung.<br />

Wenderune: Uneinsichtigkeit und Verantwortungslosigkeit.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Hagal, Hagalaz, Haegl, Hagla.<br />

Herkunft: Das Hagelkorn als Symbol einer Herausforderung.<br />

Geburtszeitraum: 6.5. – 28.5.<br />

Assoziierter Baum: Eibe oder Esche, je nach Quelle (Eibe in<br />

Vorzeiten als Pfeilgift und Esche volksmedizinisch u. a. als<br />

Wundheilmittel eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Maiglöckchen (volksmedizinisch u.<br />

a. bei Herzerkrankungen eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Onyx (keltogermanisch für ein klares<br />

Denken).<br />

Assoziierte Farbe: Hellblau.<br />

Sprachliche Entsprechung: H<br />

Begriffsrune: Herausforderungen annehmen und daraus<br />

lernen.<br />

Weitergehende Bedeutung: Das große Glück. Kraftvollstes<br />

Runenzeichen überhaupt, da es die Bedeutungen aller anderen<br />

Runen beinhaltet. Als Amulett oder Talisman öffnet es den<br />

Weg zu spiritueller Erkenntnis.<br />

Wenderune: Lernunfähigkeit und das Zurückweichen vor<br />

Herausforderungen.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Noth, Nauthiz, Nyd, Naudiz.<br />

Herkunft: Die Not und daraus resultierend das Bedürfnis,<br />

Geschehenes zu akzeptieren.<br />

Geburtszeitraum: 29.5. – 20.6.<br />

Assoziierter Baum: Buche (bekannt für besonders<br />

widerstandsfähiges Holz).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Wiesenknöterich (volksmedizinisch<br />

u. a. gegen Verdauungsbeschwerden eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Lapislazuli (ayurvedisch zum Erlangen<br />

von Inspiration und Weisheit).<br />

Assoziierte Farbe: Schwarz.<br />

Sprachliche Entsprechung: N<br />

266


Begriffsrune: Man bekommt nicht unbedingt das<br />

Erwünschte, sondern das, dessen man bedarf, um daraus zu<br />

lernen.<br />

Weitergehende Bedeutung: Die große Not. Fordert zur<br />

Überwindung des eigenen Schicksals auf. Da die Bedeutung<br />

dieser Rune überwiegend negativ ist, wird sie weder als<br />

Amulett noch als Talisman verwendet.<br />

Wenderune: Ablehnung durch Uneinsichtigkeit;<br />

eingeschränkte Sichtweise.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Is, Isa, Eisaz, Isaz.<br />

Herkunft: Eis, Symbol für Stillstand durch ein<br />

unüberwindliches Hindernis.<br />

Geburtszeitraum: 21.6. – 14.7.<br />

Assoziierter Baum: Erle (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Entzündungen eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Bilsen (volksmedizinisch u. a. als<br />

Schmerzmittel und als Halluzinogen eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Katzenauge (keltogermanisch gegen<br />

Erschöpfung).<br />

Assoziierte Farbe: Schwarz.<br />

Sprachliche Entsprechung: I<br />

Begriffsrune: Die Notwendigkeit, sich in Geduld zu üben,<br />

bis sich die äußeren Umstände verändern – aber auch ein<br />

Bollwerk gegen andere.<br />

Weitergehende Bedeutung: Gewinne Macht über Dich<br />

selbst. Dient einerseits der Besinnung, indem Vorhaben und<br />

Pläne zunächst ‚auf Eis’ (Is) gelegt werden, hilft andererseits<br />

aber auch beim Abschütteln von Passivität und Trägheit. Da<br />

die Rune den Stillstand symbolisiert, wird sie häufig als Rune<br />

von negativer Symbolik angesehen. Dennoch findet sie<br />

Verwendung als Amulett oder Talisman. Der Talisman<br />

verleiht großes Selbstbewusstsein und das Amulett schützt<br />

vor einem Schaden durch Stillstand.<br />

Wenderune: Spiegelrune. Eine um 90° verdrehte Lage<br />

vermittelt lediglich die abgeschwächte Symbolik.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Ar, Ansuz, Ansur, Ansuz.<br />

267


Herkunft: Durch einen Mund symbolisierte<br />

Kommunikation, möglicherweise dem Friedensschluss von<br />

Asen und Wanen entstammend.<br />

Geburtszeitraum: 15.7. – 7.8.<br />

Assoziierter Baum: Esche (volksmedizinisch u. a. als<br />

Wundheilmittel eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Fliegenpilz (volksmedizinisch u. a.<br />

als Tonikum und als Halluzinogen eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Smaragd (keltogermanisch<br />

gerechtigkeitsfördernd).<br />

Assoziierte Farbe: Dunkelblau.<br />

Sprachliche Entsprechung: A<br />

Begriffsrune: Erkennen der Wahrheit durch das Verstehen<br />

einer Botschaft.<br />

Weitergehende Bedeutung: Geduldiges Entwickeln. Der<br />

Einsatz für die Arbeit an sich selbst ohne die Hilfe anderer<br />

wird belohnt werden. Amulett sowie Talisman verleihen<br />

große Ausdauer und wandeln Disharmonie in Harmonie um.<br />

Wenderune: Keine Antworten durch falsche Fragen und<br />

Verblendung.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Sig, Sowelu, Sigel, Sowilo, Sowelo.<br />

Herkunft: Lebensspendender Sonnenstrahl, Dunkelheit und<br />

Eis vertreibend.<br />

Geburtszeitraum: 8.8. – 30.8.<br />

Assoziierter Baum: Wacholder (volksmedizinisch u. a. als<br />

Allheilmittel eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Mistel (volksmedizinisch u. a. als<br />

Allheilmittel eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Rubin (ayurvedisch zur Stärkung von<br />

Körper und Geist).<br />

Assoziierte Farbe: Silberweiß.<br />

Sprachliche Entsprechung: S<br />

Begriffsrune: Glück durch Erleuchtung und das<br />

Durchschauen von Täuschung.<br />

Weitergehende Bedeutung: Lebenskraft. Gegenpol zur Is-<br />

Rune. Sig verheißt Erfolge, Schöpfungskraft und das<br />

Erreichen von Zielen. Das Amulett hilft bei Überlegungen<br />

268


zur Lösung von Problemen, indem es einen klaren Kopf<br />

bewirkt. Der Talisman wirkt physisch wie psychisch stärkend.<br />

Wenderune: Schaden durch Täuschung.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Tyr, Teiwaz, Tir, Tiwaz.<br />

Herkunft: Der Kriegsgott, symbolisiert durch einen Speer.<br />

Geburtszeitraum: 31.8. – 22.9.<br />

Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für<br />

besonders widerstandsfähiges Holz).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Salbei (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Infektionen eingesetzt; einige Arten auch als Halluzinogen).<br />

Assoziierter Stein: Koralle (ayurvedisch zum Besänftigen<br />

negativer Gefühle).<br />

Assoziierte Farbe: Glänzendes Rot.<br />

Sprachliche Entsprechung: T<br />

Begriffsrune: Sieg durch Einsicht, überzeugtes Lernen und<br />

Wahrheit.<br />

Weitergehende Bedeutung: Wiedergeburt. Bedeutete bei<br />

den germanischen Kriegern ‚Fürchte nicht den Tod, er kann<br />

Dich nicht töten’. Verhilft demjenigen, der gute Absichten<br />

hegt, zu Wohlstand und guten Gaben. Dient als Amulett zur<br />

Abwehr von bösem Blick, schwarzer Magie und Kampfmagie.<br />

Als Talisman verschafft es auch unter schwierigsten<br />

Bedingungen Glück und Erfolg.<br />

Wenderune: Herausforderungen aus dem Weg gehender,<br />

verbohrter alter Narr.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Bar, Berkana, Beorc, Berkanan.<br />

Herkunft: Der Busen, Energie, Aktivität und Abenteuer<br />

symbolisierend; nach einer anderen Deutung ein Birkenreis.<br />

Geburtszeitraum: 23.9. – 15.10.<br />

Assoziierter Baum: Birke (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Entzündungen eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Wiesenfrauenmantel<br />

(volksmedizinisch u. a. als Mittel bei der Geburtsvor- und<br />

–nachsorge eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Mondstein (ayurvedisch beruhigend).<br />

269


Assoziierte Farbe: Dunkelgrün.<br />

Sprachliche Entsprechung: B<br />

Begriffsrune: Neubeginn durch Vertreibung des Alten und<br />

Bösen.<br />

Weitergehende Bedeutung: Sein und Vergehen. Die Rune<br />

symbolisiert das Entstehen von etwas Neuem, was aber noch<br />

nicht ausgereift ist – weshalb man lieber erst einmal alles<br />

Weitere abwarten sollte. Daraus können sich dann neue<br />

(bessere) Situationen oder neue Bewusstseinsebenen ergeben.<br />

Zunächst jedoch heißt es, das Schicksal anzunehmen. Um die<br />

positiven Aspekte der Bedeutung dieser Rune wirksam<br />

werden zu lassen, ist sie als Amulett oder Talisman immer mit<br />

Hagal zu kombinieren.<br />

Wenderune: Böse Gedanken; Stillstand durch das Festhalten<br />

an überkommenen Werten.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Laf, Laguz, Lagu, Laukaz.<br />

Herkunft: Welle für Wasser und Meer, Symbol für<br />

Harmonie, nach einer anderen Deutung der Lauch als<br />

Aphrodisiakum.<br />

Geburtszeitraum: 16.10. – 7.11.<br />

Assoziierter Baum: Weide (volksmedizinisch u. a. als<br />

Schmerzmittel eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Lauch (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Infektionen und als Tonikum eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Perle (ayurvedisch als Allheilmittel).<br />

Assoziierte Farbe: Tiefes Grün.<br />

Sprachliche Entsprechung: L<br />

Begriffsrune: Harmonie mit der Schöpfung durch seelische<br />

Ausgeglichenheit.<br />

Weitergehende Bedeutung: Das große Wasser. Laf<br />

symbolisiert den Lauf des Leben mit Höhen und Tiefen,<br />

wobei die Tiefpunkte als Prüfungen zu verstehen sind. Diese<br />

Prüfungen dienen der Reifung und zeigen, welcher Kurs im<br />

‚Meer des Lebens’ einzuschlagen ist, um das richtige Ziel zu<br />

erreichen. Wird aufgrund der potenziell negativen Bedeutung<br />

nicht als Amulett verwendet. Der Talisman soll Erfolg,<br />

glückliche Fügungen und Ansehen anziehen.<br />

270


Wenderune: Unausgeglichene Stagnation durch ignorante<br />

Inaktivität.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Man, Manaz, Mannaz.<br />

Herkunft: Das Verwobene als Schicksalssymbol bzw. die<br />

Stellung des Menschen in dem von den Nornen gewobenen<br />

Geflecht.<br />

Geburtszeitraum: 8.11. – 29.11.<br />

Assoziierter Baum: Stechpalme (volksmedizinisch u. a. als<br />

Stärkungsmittel bei Infektionen eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Krapp bzw. Färberröte<br />

(volksmedizinisch u. a. gegen Harnwegsleiden eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Granat (ayurvedisch zur Stärkung der<br />

köpereigenen Abwehr).<br />

Assoziierte Farbe: Blutrot.<br />

Sprachliche Entsprechung: M<br />

Begriffsrune: Die Entscheidung und das Recht, sein eigenes<br />

Schicksal optimistisch in die Hand zu nehmen.<br />

Weitergehende Bedeutung: Mehrung. Rücksicht auf andere<br />

führt zu Einsichten und Lösungen, welche niemandem<br />

schaden und dennoch das eigene Wohl fördern. Schützt als<br />

Amulett vor Feinden, Krankheit und negativen Einflüssen.<br />

Dient als Talisman der Bewältigung von beruflichen oder<br />

partnerschaftlichen Problemen.<br />

Wenderune: Verzagen bei Rückschlägen und kraftloser<br />

Pessimismus.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Yr, Algiz, Eolx.<br />

Herkunft: Elchgeweih, mit dem Elch als kraftvollschützendem<br />

Tier.<br />

Geburtszeitraum: 30.11. – 21.12.<br />

Assoziierter Baum: Eibe (in Vorzeiten u. a. als Pfeilgift<br />

verwendet).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Angelika (volksmedizinisch u. a. als<br />

Allheilmittel eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Amethyst (ayurvedisch<br />

gefühlsregulierend).<br />

Assoziierte Farbe: Gold.<br />

271


Sprachliche Entsprechung: Z<br />

Begriffsrune: Überstehen von Gefahren durch<br />

Selbstsicherheit.<br />

Weitergehende Bedeutung: Täuschung. Yr weist auf<br />

gefährliche Irrwege hin, welche sich nur umgehen lassen,<br />

wenn man sich seines Lebensweges voll und ganz bewusst ist.<br />

Aufgrund des großen Risikos einer eher negativen Bedeutung<br />

als Amulett oder Talisman ungeeignet.<br />

Wenderune: Fehleinschätzung, übereilte Hast und negative<br />

Einflüsse. Man sollte alle Wagnisse meiden.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Ehu, Ehwaz, Eh.<br />

Herkunft: Das Pferd als vielseitiger treuer Gefährte.<br />

Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />

Assoziierter Baum: Esche und Eiche (bekannt für<br />

besonders widerstandsfähiges Holz).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Jacobskraut (volksmedizinisch u. a.<br />

als Tonikum eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Doppelspat bzw. Eisspat<br />

(keltogermanisch zur Schmerzlinderung).<br />

Assoziierte Farbe: Weiß.<br />

Sprachliche Entsprechung: E<br />

Begriffsrune: Überwindung von Hindernissen durch<br />

Loyalität gegenüber anderen.<br />

Weitergehende Bedeutung: Große Weihe. Gemeinsamkeit<br />

macht stark und Positives wird durch Gemeinsamkeit (Ehe,<br />

Partnerschaft, Freundschaft) erreicht. Bewahrt als Amulett<br />

vor Irrtümern und stärkt Liebe sowie Freundschaft. Als<br />

Talisman lässt die Rune instinktiv die richtige Entscheidung<br />

treffen, indem Freunde und Feinde offensichtlich werden.<br />

Wenderune: Langfristig Erfolglosigkeit durch das Hören auf<br />

die falschen Freunde.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Gibor, Gebo, Gyfu.<br />

Herkunft: Gekreuzte Schnüre eines Geschenks.<br />

Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />

Assoziierter Baum: Ulme und Esche (volksmedizinisch u. a.<br />

gegen Hauterkrankungen eingesetzt).<br />

272


Assoziierte Pflanze(n): Stiefmütterchen (volksmedizinisch<br />

u. a. als Liebestrank eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Opal (ayurvedisch harmoniefördernd).<br />

Assoziierte Farbe: Tiefes Blau.<br />

Sprachliche Entsprechung: G<br />

Begriffsrune: Gegenseitigkeit auf der Grundlage von Geben<br />

und Nehmen, gerade auch in spiritueller Hinsicht – d. h.<br />

Mitgefühl, Verständnis und Liebe zeigen.<br />

Weitergehende Bedeutung: Erfüllung. Verhilft dem zu<br />

Glück, der selbstlos gibt und schließt dadurch den Kreis von<br />

Geben und Nehmen. Stärkt als Amulett die Widerstandskraft<br />

gegenüber falschen Freunden und bewahrt vor Ausnutzung.<br />

Als Talisman vertreibt die Rune Zweifel und Unsicherheit,<br />

indem sie das Selbstbewusstsein stärkt.<br />

Wenderune: Spiegelrune von immer gleichbleibender<br />

Bedeutung.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Dagaz, Daeg.<br />

Herkunft: Stilisiert Mittag und Sommermitte; Symbol für Tag<br />

und Licht.<br />

Geburtszeitraum: (Keine Zuordnung, wird aber mitunter für<br />

den Monat Oktober verwendet.)<br />

Assoziierter Baum: Fichte (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Infektionen eingesetzt) und Eiche (volksmedizinisch u. a.<br />

gegen Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt<br />

für besonders widerstandsfähiges Holz).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Muskatellersalbei (volksmedizinisch<br />

u. a. zur Beruhigung eingesetzt), Majoran (volksmedizinisch u.<br />

a. gegen rheumatische Beschwerden eingesetzt) und<br />

Wegwarte (volksmedizinisch u. a. gegen Erschöpfung<br />

eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Diamant (ayurvedisch verjüngend und<br />

öffnend), ersatzweise auch Chrysolit (steht für die Anregung<br />

des Immunsystems, Bedeutungsherkunft unbekannt) und<br />

Tigerauge (keltogermanisch gegen Erschöpfung).<br />

Assoziierte Farbe: Hellblau.<br />

Sprachliche Entsprechung: D<br />

Begriffsrune: Schutz, Erfolg und Weiterentwicklung durch<br />

die Macht des Lichtes.<br />

273


Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />

Wenderune: Spiegelrune. Eine um 90° verdrehte Lage<br />

vermittelt lediglich die abgeschwächte Symbolik.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Eiwaz, Eoh, Eihwaz, Iwaz, Ihwaz.<br />

Herkunft: Die Eibe als Symbol für Langlebigkeit bzw.<br />

Unsterblichkeit.<br />

Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />

Assoziierter Baum: Eibe (in Vorzeiten u. a. als Pfeilgift<br />

verwendet).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Alraune (volksmedizinisch u. a. als<br />

Schmerzmittel und als Halluzinogen eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Topas (ayurvedisch<br />

entspannungsfördernd).<br />

Assoziierte Farbe: Dunkelblau.<br />

Sprachliche Entsprechung: Y<br />

Begriffsrune: Veränderung durch Abwerfen von Ballast und<br />

Akzeptieren von Neuem.<br />

Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />

Wenderune: Realitätsferne Ignoranz sich selbst und anderen<br />

gegenüber.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Ingwaz, Ing, Inguz<br />

Herkunft: Die Vagina als Fruchtbarkeitssymbol.<br />

Geburtszeitraum: (Keine Zuordnung, aber mitunter für den<br />

Monat September verwendet.)<br />

Assoziierter Baum: Primär Apfelbaum (volksmedizinisch u.<br />

a. gegen Infektionen und als Potenzmittel eingesetzt), aber<br />

ersatzweise auch andere Obstbäume.<br />

Assoziierte Pflanze(n): Brunelle (volksmedizinisch u. a.<br />

gegen Infektionen eingesetzt) und Farnkraut<br />

(volksmedizinisch u. a. gegen Rheumatismus und<br />

Wurmerkrankungen eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Bernstein (keltogermanisch<br />

vertrauensfördernd), Granit (keltogermanisch als Symbol für<br />

Härte und Widerstand) und Jaspis (keltogermanisch zur<br />

Kreislaufstärkung).<br />

Assoziierte Farbe: Gelb.<br />

274


Sprachliche Entsprechung: Ng<br />

Begriffsrune: Zielgerichtete geistige Kraft durch Kreativität<br />

und Inspiration.<br />

Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />

Wenderune: Spiegelrune. Eine um 90° verdrehte Lage<br />

vermittelt lediglich die abgeschwächte Symbolik.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Jera, Jara, Jeran.<br />

Herkunft: Die Kornähre als Erntesymbol, ein gutes Jahr<br />

symbolisierend.<br />

Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />

Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen<br />

Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für<br />

besonders widerstandsfähiges Holz).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Rosmarin (volksmedizinisch u. a. als<br />

Mittel gegen Schwäche eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Karneol (ayurvedisch gegen Blutarmut<br />

und gegen Blutungen).<br />

Assoziierte Farbe: Helles Blau.<br />

Sprachliche Entsprechung: J<br />

Begriffsrune: Sammeln von Wissen und Weisheit als Lohn<br />

harter Arbeit – aber auch die Gewissheit, dass noch weitere<br />

Arbeit vor einem liegt.<br />

Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />

Wenderune: Das Pflegen von Vorurteilen.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Perth, Peord, Pertho, Perpo.<br />

Herkunft: Stilisierter Würfelbecher als Entscheidungssymbol.<br />

Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />

Assoziierter Baum: Buche (bekannt u. a. für besonders<br />

widerstandsfähiges Holz).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Eisenhut (in Vorzeiten u. a. als<br />

Pfeilgift eingesetzt).<br />

Assoziierter Stein: Aquamarin (keltogermanisch<br />

gesundheitsfördernd).<br />

Assoziierte Farbe: Schwarz.<br />

Sprachliche Entsprechung: P<br />

275


Begriffsrune: Von niemandem einzuschränkendes Recht auf<br />

freie Entscheidung über das eigene Schicksal.<br />

Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />

Wenderune: Kraftlosigkeit durch ein Sich-Fügen in das<br />

Schicksal, indem unkritisch einem Führer nachgelaufen wird.<br />

Runenzeichen:<br />

Bezeichnung(en): Wunjo, Wynn<br />

Herkunft: Wonnegefühl, steht für Glück und<br />

Ausgewogenheit.<br />

Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />

Assoziierter Baum: Esche (volksmedizinisch u. a. als<br />

Wundheilmittel eingesetzt).<br />

Assoziierte Pflanze(n): Flachs (in Vorzeiten Faserlieferant<br />

für Kleidung).<br />

Assoziierter Stein: Diamant (ayurvedisch verjüngend und<br />

öffnend).<br />

Assoziierte Farbe: Gelb.<br />

Sprachliche Entsprechung: W<br />

Begriffsrune: Glück und Harmonie durch Ausgewogenheit,<br />

indem man Probleme löst.<br />

Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />

Wenderune: Blindheit für das eigene Glück aufgrund von<br />

Vorurteilen oder eingeschränkter Denk- bzw. Sichtweise.<br />

Sowohl bei der Verwendung als Glücksbringer (Amulett,<br />

Talisman) wie auch bei den sichtbar daliegenden Runen nach<br />

einem Runenwurf kommt den Kombinationen der einzelnen<br />

Zeichen mitunter noch eine besondere Bedeutung zu. So hebt<br />

bspw. ein sichtbares Hagalaz immer die positiven Aspekte der<br />

anderen Runen hervor, während ein Noth oder Is die<br />

negativen Bedeutungen verstärkt. Negative Is-Einflüsse<br />

können durch ein gleichzeitig präsentes Sig wieder<br />

aufgehoben werden. Far steht in Kombination mit Ar für<br />

Erfolg, Glück und Gesundheit, in Kombination mit Yr für<br />

das Freisetzen mentaler Kraft und in Kombination mit Bar als<br />

Schutz vor Erschöpfung. Far zusammen mit Hagal soll<br />

glückliche Zufälle begünstigen. Überlieferungen zufolge sind<br />

Runen nur dann wirksam, wenn sie von keinem Fremden<br />

berührt und ausschließlich in einem Lederbeutel aufbewahrt<br />

werden. Als Amulett sollen sie nur an einem Lederband oder<br />

276


aber an einer Silberkette auf der nackten Haut getragen eine<br />

Wirkung zeigen.<br />

Die Runen an sich und die mit ihnen assoziierten Bäume<br />

und Pflanzen sind rein nordischen Ursprungs. Sie gehen auf<br />

die Bronzezeit zurück (etwa 1000 – 500 v. Chr.). Die<br />

assoziierten Steine sind überwiegend auf ayurvedische<br />

Einflüsse zurück zu führen, da durch die weitreichenden<br />

Handelsbeziehungen der Kelten und Germanen auch indische<br />

Glaubensrichtungen mit eingetragen worden sind. Bei den<br />

assoziierten Farben (und in Einzelfällen auch Metallen)<br />

kommt noch persisches, griechisches, ägyptisches u. a.<br />

Glaubensgut hinzu. Alle diese letztgenannten Assoziationen<br />

sind jüngeren Ursprungs.<br />

Jüngeren Ursprungs sind auch die Verbindungen<br />

zwischen Runen und Tarot. So gibt es heute zwischen Runen<br />

und Tarotkarten einige Entsprechungen, bspw. Uruz – die<br />

Hohepriesterin, Laguz – der Mond, Fehu – der Magier,<br />

Ingwaz – der Herrscher usw. Tarot tauchte in Mitteleuropa<br />

jedoch erstmals im Jahre 1377 auf und kann daher durchaus<br />

als eine Art von Nachfolger des Runenwurfs angesehen<br />

werden. Dafür spricht auch, dass die Interpretation eines<br />

Runenwurfs und das Tarot-Neunerspiel einander frappierend<br />

ähneln.<br />

277


278


<strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong>: Vernetzte Sinne - Über Synästhesie<br />

und Verhalten<br />

ISBN 3-8334-1474-X; Books on Demand GmbH<br />

Norderstedt<br />

Inhalt:<br />

- Vorwort<br />

- Grundsätzliches zur Synästhesie<br />

- Medizin und Synästhesieforschung<br />

- Berühmte Synästhetiker<br />

- Formen und Empfindungen synästhetischer Wahrnehmung<br />

- Vor- und Nachteile der Synästhesie<br />

- Synästhetische Verhaltensweisen<br />

- Synästhetiker im Berufsleben<br />

- Synästhetische Parallelen: Linkshändigkeit<br />

- Synästhetische Parallelen: Migräne<br />

- Synästhetische Parallelen: Hochbegabung<br />

- Synästhetische Parallelen: ASW<br />

- Synästhetisches Mitteilungsbedürfnis<br />

- Synästhetische Visualisierung<br />

- Schlusswort<br />

279


<strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong>: Böse Hexen gibt es nicht. Versuch<br />

einer interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens.<br />

ISBN 3-8334-3183-0; Books on Demand GmbH<br />

Norderstedt<br />

Inhalt:<br />

- Einleitung<br />

- Zeittafel: Früher und Heute<br />

- Die Aufgaben einer Hagazussa<br />

- Rituale, Zaubersprüche und der Placebo-Effekt<br />

- Verbreitete „Hexen“-Naturstoffe und ihre Wirkungen<br />

- Hexen heute<br />

- Hexenlaboratorium Küche?<br />

- Schlusswort<br />

- Danksagung<br />

- Verwendete Quellen<br />

280

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