Eckhard Freuwört Norgast - Heim
Eckhard Freuwört Norgast - Heim
Eckhard Freuwört Norgast - Heim
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<strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong><br />
<strong>Norgast</strong><br />
1
Bereits vom gleichen Autor erschienen sind die Sachbücher:<br />
Vernetzte Sinne. Über Synästhesie und Verhalten.<br />
(ISBN 3-8334-1474-X; Verlag BoD Norderstedt 2004)<br />
Böse Hexen gibt es nicht. Versuch einer interdisziplinären<br />
Betrachtung des Hexenwesens.<br />
(ISBN 3-8334-3183-0; Verlag BoD Norderstedt 2005)<br />
2
<strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong><br />
<strong>Norgast</strong><br />
Ein synästhetischer Fantasy-Roman<br />
3
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet<br />
über<br />
abrufbar.<br />
© 2005 <strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong><br />
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt<br />
ISBN<br />
Besuchen Sie auch meine Internetseite unter<br />
http://asmodis.heim.at<br />
4
Inhalt<br />
Vorwort 7<br />
Landkarte von <strong>Norgast</strong> 9<br />
Kleiner Reiseführer: <strong>Norgast</strong> für Neuankömmlinge 10<br />
Kapitel 1: Der Intrigant 18<br />
Kapitel 2: Der Findling 26<br />
Kapitel 3: Der Fischer 33<br />
Kapitel 4: Die Bônday 55<br />
Kapitel 5: Drei Prüfungen 79<br />
Kapitel 6: Der weiße Rabe 100<br />
Kapitel 7: Der Geist des Waldes 128<br />
Kapitel 8: Der Stein des Lebens 154<br />
Kapitel 9: Forst der Entscheidung 185<br />
Kapitel 10: Das magische Geflecht 207<br />
Kapitel 11: Anderswelt 226<br />
Anhang I: Making of 235<br />
Anhang II: Kleine Runenkunde 260<br />
5
Der US-amerikanische Physiker Hugh Everett III stellte im Jahre<br />
1957 eine quantenphysikalische Hypothese auf, nach der es unendlich<br />
viele Universen gibt, die sich vom Unseren nur minimal unterscheiden. Je<br />
weiter sie ‚entfernt‘ sind, desto größer sind auch die Unterschiede. Der<br />
Begriff ‚entfernt‘ ist dabei nicht räumlich gemeint. Diese Hypothese steht<br />
im Einklang mit allen heute bekannten quantenphysikalischen und<br />
kosmologischen Erkenntnissen. Sie wird als Many-Worlds-<br />
Interpretation, Viele-Welten-Hypothese oder Viele-Historien-Hypothese<br />
bezeichnet. Ihr zufolge spaltet sich das Universum mitsamt allen seinen<br />
Bewohnern beständig auf - in parallele Tochteruniversen, welche eine<br />
unabhängige Entwicklung durchlaufen. Das Aufspalten geschieht immer<br />
dann, wenn ein Bewohner eines Universums sich bei seinen Handlungen<br />
für eine von mehreren möglichen Alternativen entscheidet. Sehr ferne<br />
Paralleluniversen können sich auf Grund der anders verlaufenen<br />
Entwicklung in ihren Naturgesetzen drastisch von unserem Universum<br />
unterscheiden. Insofern kann jede hier bei uns erdachte Geschichte<br />
irgendwo Realität sein - vielleicht auch ‚<strong>Norgast</strong>‘?<br />
6
Vorwort<br />
Ich habe bislang zwei Sachbücher geschrieben. Das Erste,<br />
„Vernetzte Sinne - Über Synästhesie und Verhalten (ISBN 3-<br />
8334-1474-X)“, befasste sich mit einer zwar seltenen,<br />
nichtsdestotrotz aber sehr realen und auch völlig natürlichen<br />
Form von simultaner Wahrnehmung. Das Zweite, „Böse<br />
Hexen gibt es nicht - Versuch einer interdisziplinären<br />
Betrachtung des Hexenwesens (ISBN 3-8334-3183-0)“, hatte<br />
eine möglichst unvoreingenommene und wissenschaftliche<br />
Betrachtung des Hexenwesens zum Inhalt. Es zeigte, dass mit<br />
den richtigen Naturstoffen so manche Zauberei erklärbar ist.<br />
Die Wirksamkeit von Beschwörungen und Ritualen wurde auf<br />
den Placebo-Effekt zurück geführt. Magie war überflüssig.<br />
Aber es gab vereinzelte Berührungspunkte mit der<br />
Synästhesie.<br />
Doch gerade weil es im Sachbuch überflüssig war, reizte es<br />
mich ungemein, ein Was-Wäre-Wenn-Szenario zu entwerfen,<br />
in dem sowohl die Hexenkünste inklusive der Magie wie auch<br />
die Synästhesie eine tragende Rolle spielen. Das passende<br />
Genre dafür war die Fantasy und ‚<strong>Norgast</strong>‘ ist die betreffende<br />
Geschichte. Sie enthält zahlreiche Elemente aus den beiden<br />
Sachbüchern. Hinsichtlich der z. T. mythischen Gestalten<br />
habe ich mich überall bedient. Die in der Geschichte<br />
dargestellten Beschwörungen, Rituale und teils auch die<br />
magischen Techniken kommen von heute praktizierenden<br />
(und überwiegend ‚freifliegenden‘, d. h. keinem Coven<br />
angeschlossenen) Neo-Hexen. Die Ideen für die Handlung<br />
entstammen in erster Linie den Liedtexten der Gruppen<br />
Schandmaul, Faun und Blackmore´s Night. Mein ganz großer<br />
Dank gebührt daher den Musikern und den modernen Hagias<br />
für die unverzichtbare Inspiration. Ohne euch würde es dieses<br />
Buch nicht geben! Weitere Anregungen entnahm ich meinen<br />
früheren Erfahrungen mit Adventures, in die ich mal ganz<br />
vernarrt gewesen bin – D&D, DSA, S&D und wie sie alle<br />
heißen. Mein Dank gilt daher auch den damaligen<br />
Teilnehmern an den Spielen – wo immer sie sich heute<br />
aufhalten mögen.<br />
7
Bei den Beschreibungen einzelner Charaktere und<br />
Organisationsstrukturen sind Übereinstimmungen mit<br />
tatsächlichen Personen oder Hierarchien beabsichtigt und<br />
nicht rein zufällig. Ich habe mich diesbezüglich an meinen<br />
Erfahrungen in der Vergangenheit orientiert, so dass es<br />
durchaus möglich ist, dass dieser oder jener sich als<br />
Romanfigur wiedererkennt. Möge sich den Schuh anziehen<br />
wer will! Um die Gruppe Schandmaul zu zitieren: „Rache ist<br />
ein süßes Brot!“ Ich hoffe, dass der Leser mit dieser<br />
Geschichte ebensoviel Spaß hat wie ich mit dem Schreiben<br />
- zumal sich das alles völlig ohne Exposé so nach und nach<br />
entwickelte und wie von selbst ‚gewachsen‘ ist.<br />
<strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong> (Lauenau, Winter 2005/06.)<br />
8
Landkarte von <strong>Norgast</strong><br />
9
Kleiner Reiseführer: <strong>Norgast</strong> für<br />
Neuankömmlinge<br />
Baldur der Zweischneidige<br />
König von <strong>Norgast</strong> und aufgrund seiner magischen<br />
Fähigkeiten auch uneingeschränkter Herrscher, sogar über<br />
Piraten und Diebe. Inhaber eines miesen Charakters, an einer<br />
‚dissozialen Persönlichkeitsstörung‘ leidend. Ein Intrigant<br />
ohnegleichen. Der Volksmund kennt einen treffenden Begriff<br />
für so etwas – nämlich ‚Charakterschwein‘.<br />
Balum<br />
Eine winzige Ansiedlung am schäumenden Wilderfrio (einem<br />
der Quellflüsse des späteren Stromes Wilderfrio) fast genau<br />
östlich des auf dem Helgebarg-Gipfel befindlichen<br />
Opfersteins und am Hang des Helgebarg gelegen. Die Häuser<br />
verdienen ihren Namen kaum. Es gibt zusätzlich ein paar<br />
kleine Gehöfte von Bauern. Die Menschen dort sind ein<br />
eigener Schlag. Sie leben vom Bergbau und von der Köhlerei.<br />
Man sagt ihnen nach, dass sie manchmal Flüchtigen<br />
Unterschlupf gewähren.<br />
Bewok<br />
Ein Fischer, auf der Landzunge zwischen Tiedsiepe und<br />
Wilderfrio lebend.<br />
Bônday<br />
In <strong>Norgast</strong> eine sehr attraktive Hexe unbestimmbaren Alters,<br />
die auf der ‚namenlosen Insel‘ in der Tiedsiepe lebt. Man weiß<br />
kaum etwas über dieses geheimnisvolle Weib und dennoch<br />
werden ihr große magische Kräfte nachgesagt. Sie gehört<br />
einem Coven an, welcher über die ganze Welt verstreut ist<br />
und der sich nicht nur auf Menschen beschränkt.<br />
Dayla<br />
Eine Schülerin der Tiedsiepe-Bônday und die Geliebte von<br />
Findus.<br />
Diekenboog<br />
An der Nordküste von <strong>Norgast</strong> gelegener großer<br />
Handelsposten. Zwar größer als die Handelsstadt Torboog,<br />
10
jedoch weniger wichtig und recht unzivilisiert. Diekenboog<br />
erlangt nur dadurch einen gewissen Rang, als dass es der<br />
Seehafen ist, von dem aus die Steuern der Kaufleute nach<br />
Helgenor verschifft werden. Diekenboog ist weitestgehend<br />
von einem nahezu unpassierbaren Sumpf umgeben.<br />
Fahrende Händler<br />
Die fahrenden Händler arbeiten für sich allein. In gewisser<br />
Weise stehen sie in Konkurrenz zu den Kaufleuten und sind<br />
daher von den Letzteren nicht gerade gern gesehen. Doch das<br />
Syndikat duldet sie, denn die Händler bilden nicht nur die<br />
eigentliche Infrastruktur des Landes, sondern tragen darüber<br />
hinaus auch noch Nachrichten weiter. Außerdem haben sie<br />
sich auf die Ansiedlungen und Gehöfte spezialisiert, die für<br />
die Kaufleute wenig lukrativ sind. Meist sind die Händler mit<br />
einem Pferdewagen und mehreren Packtieren unterwegs.<br />
Findus<br />
Ein Mann ohne Gedächtnis.<br />
Fucunor<br />
Eine große Insel im Maar weit nördlich von <strong>Norgast</strong>.<br />
Fucunor gehört nicht zum <strong>Norgast</strong>-Königreich und ist eine<br />
Vulkaninsel, auf der eine Bônday lebt, welche nicht dem<br />
gleichen Volk wie die Bônday auf der ‚namenlosen Insel‘<br />
angehört.<br />
Haucain<br />
Ein dem schroffen, unwirtlichen und als unpassierbar<br />
geltenden Itcairn-Gebirge vorgelagertes Bergmassiv, welches<br />
das Reich <strong>Norgast</strong> im Osten begrenzt.<br />
Helgebarg<br />
Ein rauhes und hohes, in zwei Zinnen mündendes Gebirge<br />
westlich der Tiedsiepe. Auf dem südlichen, dem höheren<br />
Gipfel, befindet sich seit undenklichen Zeiten ein uralter<br />
Opferstein. Niemand weiß, wer wann was dort geopfert hat.<br />
Zwischen beiden Gipfeln des Helgebarg führt ein kaum<br />
passierbarer Pass, nur wenig mehr als ein überwucherter<br />
Trampelpfad, von der Tiedsiepe zur Ansiedlung Sandstedt.<br />
11
Helgeboog<br />
Die Stadt des Herrschers, auf der Insel Helgenor und am Fuß<br />
des Helgenor-Palastes gelegen.<br />
Helgenor<br />
Sammelname für den Palast des Herrschers, Namensgeber für<br />
die ‚Bucht von Helgenor‘ und Bezeichnung der gleichnamigen<br />
Insel. Die Insel Helgenor liegt etwa in der Buchtmitte.<br />
Aufgrund von warmen Strömungen und Seeklima herrschen<br />
dort praktisch das ganze Jahr über angenehme Temperaturen,<br />
so dass ständig viele farbenprächtige Blumen gedeihen. Im<br />
Westen begrenzt das Ithelge-Gebirge die Bucht, im Süden<br />
schließen sich Watt, Sumpf und Wüste an und im Osten steigt<br />
das Land zum Helgebarg hin an. Lediglich im Norden<br />
befindet sich ein freier Zugang zum offenen Meer, dem Maar.<br />
Obgleich es in der Bucht Handelsschifffahrt gibt, wird sie<br />
doch von den Piraten beherrscht.<br />
Kaufleute<br />
Die Kaufleute sind ein lockerer Zusammenschluss sehr<br />
mächtiger Händler, welche ein Syndikat leiten. Nach innen<br />
hin wird äußerste Disziplin verlangt und nach außen hin<br />
lassen sich dadurch Dienstleistungen und Waren<br />
monopolisieren. Dies bringt Geld, Schutz und Wohlstand für<br />
die Syndikatsmitglieder. Das System lässt jedoch keinerlei<br />
Kritik oder Querdenkertum zu; auch ist es durch seine<br />
Abgeschlossenheit gegen Kontrollen von außen geschützt.<br />
Die mächtigen Händler leben verstreut in allen größeren<br />
Städten. Sie unterhalten Handelsbeziehungen durch Seefahrt<br />
im Norden und mit Hilfe von Handelskarawanen auf dem<br />
Festland, wobei die Karawanen gleichzeitig Geleitschutz für<br />
zahlungskräftige Reisende sein können.<br />
Ithelge<br />
Westliche Grenze von <strong>Norgast</strong>. Wie der Itcain im Osten - nur<br />
höher.<br />
Ley<br />
Die Leys sind Erdströme - auch als Drachen-, Kraft- oder<br />
Sakrallinien bezeichnet - die das magische Geflecht<br />
ausmachen. An den Kreuzungspunkten dieser Energielinien<br />
finden sich häufig die ‚Seltsamen Orte‘.<br />
12
Lyonora<br />
Noch eine Schülerin der Tiedsiepe-Bônday.<br />
Magisches Geflecht<br />
Alle Magie in <strong>Norgast</strong> beruht auf der Nutzung einer alles<br />
durchdringenden, allgegenwärtigen Energieform, welche auch<br />
‚Magisches Geflecht‘ genannt wird. Durch Selbstorganisation<br />
bildet das magische Geflecht Linien und Knotenpunkte aus.<br />
Nur allzu oft ist die Anwendung von Magie an diesen Stellen<br />
besonders einfach oder besonders wirkungsvoll. Die meisten<br />
Hexen und Magier sind nahe der Knotenpunkte geboren<br />
worden.<br />
Malweýn<br />
Der mächtigste Zauberer in längst vergangenen Zeiten - heute<br />
zwar nicht tot, aber gebannt und dadurch zur Untätigkeit<br />
verdammt.<br />
<strong>Norgast</strong><br />
Das Königreich, in dem diese Geschichte spielt. Beherrscht<br />
wird es von einem ränkeschmiedenden Magier namens<br />
‚Baldur der Zweischneidige‘. Im Westen und Osten wird das<br />
Königreich von den Gebirgen Ithelge und Haucain begrenzt.<br />
Die nördliche Grenze bildet das Maar mit vielen<br />
vorgelagerten und zu <strong>Norgast</strong> zählenden Inseln, wo es im<br />
Winter bitterkalt ist. Der südliche Teil des Königreiches trägt<br />
inoffiziell den Namen Nordergast und gilt als eine große<br />
Provinz. Im Süden bilden das Gebirge des Suderhelge und die<br />
Wüste die natürlichen Grenzen. Mit dem südlich der<br />
Suderhelge gelegenen Land Sudergast gibt es bis auf wenige<br />
Handelskarawanen kaum Kontakte. In Ost-West- und in<br />
Nord-Süd-Richtung umfasst <strong>Norgast</strong> jeweils etwa fünfzig<br />
Tagesmärsche.<br />
Ostboog<br />
Westlichste und gleichzeitig eine der größten Städte in<br />
<strong>Norgast</strong>, an der Helgenor-Bucht gelegen. Der Stadtname<br />
reicht soweit zurück, dass sich niemand mehr daran erinnern<br />
kann, wie es dazu kam. Schriftgelehrte behaupten, dass es auf<br />
der anderen Seite des Ithelge noch ein Westboog gegeben<br />
haben müsse, sind den Beweis dafür aber bisher schuldig<br />
geblieben. Lästerer behaupten, der Name entstand, weil man<br />
13
Westboog ärgern wollte, so dass die Westbooger ihren Ort<br />
aus lauter Verzweiflung in Sandstedt umbenannten.<br />
Piraten<br />
Neben Baldur dem Zweischneidigen und den Kaufleuten die<br />
eigentliche Macht in der Bucht von Helgenor. Die Piraten<br />
teilen sich in zwei Gruppen auf, nämlich See- und<br />
Strandpiraten. Die Seepiraten überfallen die Schiffe auf dem<br />
Wasser, während die Strandpiraten mit gefälschten<br />
Leuchtfeuern Strandungen provozieren. Obgleich beide<br />
Gruppen zur gleichen Gilde zählen, sind sie uneins - vor<br />
allem auch deshalb, weil die Seepiraten abfällig auf ihre<br />
Konkurrenten an Land herabsehen. Baldur jedoch profitiert<br />
ob eines geheimen Paktes von beiden Gruppen.<br />
Runen<br />
Runen sind in <strong>Norgast</strong> weit verbreitet. Zwar sind sie kein<br />
Geheimwissen, aber trotzdem spricht man nur hinter<br />
vorgehaltener Hand über sie. Runen dienen der Nennung des<br />
wirklichen Namens eines Wesens oder eines Dinges. Die<br />
Kenntnis dieses Namens verleiht uneingeschränkte Macht<br />
über den Namensträger. Nur sehr wenige Menschen<br />
beherrschen daher die Runen. Runen bilden die Grundlage<br />
aller Zaubersprüche, da sie in der alten magischen Sprache<br />
abgefasst sind.<br />
Sandstedt<br />
Ein kleines Nest am Wattrand der Helgenor-Bucht, in dem<br />
die Leute offiziell vom Krabben- und vom Fischfang leben.<br />
Tatsächlich aber ist die Haupteinnahmequelle die<br />
Strandräuberei, welche von Baldur dem Zweischneidigen<br />
geduldet wird, da er mit den Piraten ein geheimes Abkommen<br />
getroffen hat.<br />
Schattenreich<br />
Sammelbegriff für alle die magiebegabten Völker, die aus dem<br />
Blickwinkel der Menschen verschwunden sind: Elfen,<br />
Einhörner, Dryaden, Kobolde, Irrlichter, Feen, Najaden,<br />
Trolle usw. Sie sind zwar nach wie vor in <strong>Norgast</strong> präsent,<br />
aber sie zeigen sich nur selten.<br />
14
Seltsamer Ort<br />
Eine Stelle, an der sich verschiedene Welten überlappen, so<br />
auch <strong>Norgast</strong> mit den Anderswelten. Man erlebt seltsame<br />
Orte als ein plötzliches, unerklärlich-irritierendes Gefühl,<br />
manchmal unheimlich oder gruselig. Man bleibt unwillkürlich<br />
stehen und muss tief durchatmen. An solchen Stellen ist der<br />
Übergang zu den Anderswelten möglich. <strong>Norgast</strong> weist<br />
mehrere seltsame Orte auf, welche aber nirgendwo<br />
verzeichnet sind. Man spricht nur hinter vorgehaltener Hand<br />
über sie.<br />
Shâgun<br />
Ein halb gestaltloser, bösartiger und nebeliger Dämon aus der<br />
Unterwelt, welcher vor der Erschaffung der Welt in dem<br />
Raum lebte, in dem sich heute <strong>Norgast</strong> befindet. Er ernährt<br />
sich von Seelen.<br />
Sirval<br />
Eine Stadt südlich des Waldes Bomenhau und etwas kleiner<br />
als Ostboog. Wichtiger Handelsposten, da hier die Karawanen<br />
von und nach Sudergast ihren Ausgangs- bzw. Endpunkt<br />
haben. Entsprechend reich ist Sirval dann auch – so reich,<br />
dass in regelmäßigen Abständen mit Gold, Silber und<br />
Edelsteinen beladene, schwer bewachte Kutschen nach<br />
Diekenboog fahren, um die Reichtümer als von dort aus auf<br />
dem Seeweg nach Helgenor zu bringen. Baldur erwartet sie<br />
dort als Steuern.<br />
Snofork<br />
Ehefrau des Tiedsiepe-Fischers Bewok. Ein Kräuterweib,<br />
welchem die eigentlichen, magischen Hexenkünste heute<br />
unbekannt sind. Doch das war nicht immer so.<br />
Tiedsiepe<br />
Eine zwischen Helgebarg und Wilderfrio gelegene, seltsame<br />
Senke mit sehr vielen Meilen im Durchmesser. Die Senke füllt<br />
sich je nach Stand des Mondes mit Wasser oder aber sie fällt<br />
trocken und kann dadurch zur tödlichen Falle für Reisende<br />
werden. In der Tiedsiepe befinden sich zwei Inseln ohne<br />
Namen. Auf der größeren Insel, vom Volksmund auch<br />
‚namenlose Insel‘ genannt, lebt die Bônday. Die etwas<br />
kleinere Insel bezeichnen die Anwohner der Senke inoffiziell<br />
15
als ‚Insel der Gestrandeten‘, denn für manch einen Wanderer<br />
ist sie die letzte Rettung, wenn der Boden der Tiedsiepe das in<br />
ihm gespeicherte Wasser plötzlich wieder freigibt. Zusätzlich<br />
speist ein Fluss die Tiedsiepe, was im Falle der Wasserfreigabe<br />
zum Überlaufen in den Wilderfrio führt.<br />
Torboog<br />
Nördlichste Stadt in der Helgenor-Bucht; wichtigster<br />
Seehafen.<br />
Traumtrank<br />
Ein dämonisches Gebräu aus Unterweltpflanzen. Dazu<br />
gedacht, Menschen in einen Körper und Geist trennenden<br />
Schlaf zu versetzen. Der Körper stirbt dabei auf lange Sicht<br />
ab und der Geist irrt herum, bis er an einem seltsamen Ort in<br />
eine Anderswelt überwechselt. Beim Übergang von Welt zu<br />
Welt aber lauern die Dämonen aus der Unterwelt - so auch<br />
der Shâgun - auf Nahrung. Die reisende Seele ist eben diese<br />
Nahrung...<br />
Wilderfrio<br />
Größter Strom von <strong>Norgast</strong>, wird in der Nähe von Balum<br />
durch den Zusammenfluß zweier Quellflüsse, nämlich des<br />
gelben Wilderfrio und des schäumenden Wilderfrio gebildet.<br />
Bis zur Tiedsiepe eher ein gewaltig rauschender und<br />
unberechenbarer Wildbach, wird er danach gespeist vom<br />
Wasser der Tiedsiepe zum mächtigen, eher träge<br />
dahinfließenden Strom. Er mündet in Form eines Flussdeltas<br />
in die offene See, Maar genannt.<br />
Wüste<br />
Die Wüste begrenzt den Süden des Reiches <strong>Norgast</strong> und der<br />
Provinz Nordergast. Diese Landschaft ist vielfältig.<br />
Sanddünen sind ebenso vertreten wie staubtrockene<br />
Geröllfelder oder Salzflächen. Von Zeit zu Zeit durchzieht<br />
ein schneidender, gefährlicher Wind – der Sufon, ein<br />
Staubsturm – die Gegend. Der Sufon trägt Sand und Staub<br />
mit sich, welcher die Haut abschmirgelt und Wanderer<br />
erstickt. Die Wüste ist nur sehr spärlich von Menschen<br />
bewohnt. In der Regel wird sie gemieden und nur selten von<br />
Handelskarawanen, welche in Sirval ihren Ausgangs- und<br />
Endpunkt haben, durchquert. Beherrscht hingegen wird die<br />
16
Landschaft von den zwar nicht intelligenten, doch riesigen<br />
und blutdürstigen Sandwürmern.<br />
17
Kapitel 1: Der Intrigant<br />
Man nannte ihn Baldur den Zweischneidigen und das war ein<br />
Wortspiel. Baldur – der Name galt als Sinnbild der<br />
Gerechtigkeit, als Inbegriff des Guten. Doch keine Münze hat<br />
nur eine Seite. Auch bei Baldur gab es eine zweite Seite, eine<br />
Dunkle. Doch von der wussten nur die wenigsten Menschen<br />
etwas. Baldur der Zweischneidige: Der Name wies einerseits<br />
auf seine unübertroffenen Künste im Schwertkampf hin.<br />
Andererseits aber machte er auch deutlich, dass es für den<br />
siegesverwöhnten Baldur Phasen gab, in denen ihm nichts<br />
- aber auch rein gar nichts - gelingen wollte.<br />
Letzteres war auf Malweýns Fluch zurück zu führen, aber<br />
das wusste niemand außer ihm selbst. Malweýn, der große<br />
Zauberer aus längst vergangenen Zeiten. Sein früherer<br />
Lehrmeister. Bis Baldur ihn in einem magischen Duell<br />
geschlagen hatte. Malweýn war zwar nicht tot - oh nein,<br />
soweit reichten Baldurs Kräfte denn doch nicht - aber er war<br />
gebannt worden. Dazu verurteilt, für immer und ewig sein<br />
Leben als knorriger alter Baum irgendwo im Haucain zu<br />
fristen, einem unwirtlichen Gebirge an der Ostgrenze des<br />
Königreiches <strong>Norgast</strong> - Baldurs Königreich! Das Letzte, was<br />
Malweýn ihm mit auf den Weg gegeben hatte, war der Fluch,<br />
dass Baldur in seinem Leben nichts mehr gelingen sollte. Es<br />
war Baldur damals gelungen, diese Kampfmagie fast<br />
abzuwehren. Nur eben nicht ganz.<br />
Baldur hatte viel von Malweýn gelernt, so auch die<br />
Fähigkeit der Gestaltverwandlung und die zum Beschwören<br />
von Dämonen erforderlichen Fertigkeiten. Und noch weitaus<br />
mehr. Primitive Künste wie Wetter- und Knotenmagie,<br />
Offenbarungszauber u. ä. beherrschte er ohnehin im Schlaf.<br />
Er war zwar seit jeher der Thronerbe gewesen, doch hatte er<br />
sich - um das Land kennen zu lernen – zeitweise auch als<br />
einfacher Lohnmagier verdingt. Bis seine Wege die von<br />
Malweýn kreuzten. Malweýn sollte sein Lehrer werden; Baldur<br />
bettelte den Alten förmlich darum an. Der wollte erst nicht,<br />
ließ sich schließlich aber doch erweichen und gab nach.<br />
18
Malweýn unterrichtete den Thronerben gut und gründlich.<br />
Dennoch waren die Kräfte des Schülers immer denen des<br />
Lehrers unterlegen gewesen. Bis zu jenem denkwürdigen<br />
Tage, als es ihm gelang, Malweýns Geist mit einem Gebräu<br />
aus Schlafkraut, Bockwurz und Venuskappe zu verwirren.<br />
Der ideale Zeitpunkt für ein magisches Duell. Eigentlich hatte<br />
er Malweýn vergiften wollen, doch der Zauberer war zu stark<br />
gewesen. Immerhin aber blieb der Trank nicht gänzlich ohne<br />
Wirkung. Denn Baldur war auch ein heimtückischer<br />
Ränkeschmied par excellence. Fairness war in seinen Augen<br />
etwas für Schwächlinge. Und nun war er der mächtigste<br />
Zauberer - wenn man vielleicht mal von der Bônday absah,<br />
aber die verließ ja sowieso niemals ihre ‚namenlose Insel’ in<br />
der Tiedsiepe.<br />
Baldur war sich seiner Macht bewusst. Nichts und<br />
niemand konnte ihm etwas anhaben. Und da er ein Meister<br />
des Ränkespiels war, wies seine vermeintlich weiße Weste<br />
auch nicht den kleinsten Fleck auf. Schön, er war vielleicht<br />
nicht gerade beliebt. Aber damit konnte er leben. Gut leben<br />
- und zwar auf Kosten anderer. Er war nicht zu bremsen,<br />
bis... Ja, bis seine Spione ihm von einem möglichen<br />
Konkurrenten berichteten. Einem unwissenden Vielleicht-<br />
Konkurrenten zwar und ohne machtpolitische Ambitionen.<br />
Aber auch der sollte mit großer magischer Kraft ausgestattet<br />
sein, auch wenn der die nicht anzuwenden wusste. Oder bloß<br />
noch nicht? So etwas konnte Baldur natürlich nicht hinnehmen.<br />
Der Konkurrent musste weg, musste verschwinden. Schnell<br />
und unauffällig. Ein bedauernswerter Unfall sozusagen...<br />
Deswegen war Baldur jetzt hier, hier auf der Südspitze des<br />
Helgebarg am alten Opferstein. Er zitterte. Aber nicht vor<br />
Kälte (obwohl es wirklich grausam kalt war), sondern vor<br />
Angst. Es war stockfinstere Nacht und dicke Wolken<br />
verdeckten den ohnehin schon unsichtbaren Neumond. Eis<br />
und Matschbrocken vom zuvor angetauten Schnee waren<br />
allgegenwärtig: Frühsommer auf dem Gipfel.<br />
Angesichts der Tatsache, dass ihm manchmal eben alles<br />
misslang, wollte er beim Ausschalten seines vermeintlichen,<br />
gleichfalls magiebegabten Konkurrenten auf Nummer Sicher<br />
gehen. Baldurs Plan sah vor, den Mord von einem Dämon<br />
ausführen zu lassen. Genau zu diesem Zweck hatte er den<br />
19
Shâgun beschworen - einen Dämon, der seit der Erschaffung<br />
der Welt in den Untergrund verdrängt worden war. Die<br />
Beschwörung hatte Erfolg gezeigt. Jetzt stand der Shâgun vor<br />
ihm. Eine nicht für Menschenaugen gemachte Gestalt aus<br />
einer unwirklichen Unterwelt. Bösartig. Gnadenlos. Kalt.<br />
Gierig. Mordbesessen. Und vor allem: Mächtig! Dennoch gab<br />
es eine gewisse Art von Geistesverwandtschaft zwischen<br />
ihnen; das spürten sie beide.<br />
Der Shâgun bestand aus einer Art von schmutzigbräunlich-grauem,<br />
halbmateriellem Nebel. Dieser Nebel<br />
veränderte beständig seine Form und seine<br />
Farbschattierungen, so dass es aussah, als würden sich dort<br />
menschliche Eingeweide wie Schlangen oder fette Würmer<br />
umeinander ringeln. Abstoßend! Er verströmte einen leicht<br />
bitter-süß-fauligen Geruch. Dort, wo das Gesicht hätte sein<br />
sollen, befand sich Schwärze. Und in dieser Schwärze bewegte<br />
sich etwas noch viel Schwärzeres auf unheimliche,<br />
grauenvolle Weise. „Du wagst es, mich zu stören! Was willst<br />
du?“ fauchte der Shâgun mit einer Stimme, die klang, als<br />
würden Fingernägel über Schiefer kratzen, die einem Zuhörer<br />
eine eiskalte Gänsehaut über den Rücken jagte.<br />
Baldur schluckte, drängte seine Angst zurück und<br />
antwortete „Ich brauche Deine Hilfe. Du sollst jemanden für<br />
mich beseitigen.“ Der Shâgun lachte keckernd, nicht<br />
unähnlich dem Ruf einer Elster, nur sehr viel unangenehmer.<br />
Er wusste längst, warum er gerufen worden war, hatte es aus<br />
Baldurs Gedanken entnommen. Dennoch gefiel es ihm, ein<br />
wenig mit diesem anmaßenden menschlichen Wurm zu<br />
spielen. „So, so, meine Hilfe... - was bietest du mir dafür?“<br />
„Den Geist des Opfers. Er gehört dann dir.“ „Und was sollte<br />
mich daran hindern, mir deinen Geist zu nehmen - und zwar<br />
jetzt und hier?“ „Meine Macht. Denn wenn ich dich<br />
beschworen habe, dann kannst du mir auch nichts anhaben.“<br />
Wieder dieses unangenehm-keckernde, grelle Lachen des<br />
Dämons. Diesmal schien es kein Ende nehmen zu wollen,<br />
hatte ein Echo. Baldur wurde schwindelig, die Welt begann<br />
sich um ihn zu drehen. Instinktiv griff er nach einem nicht<br />
vorhandenen Halt, strauchelte. Sein Schutzzauber schien zu<br />
versagen. „Menschlein, du hast in deinem Hochmut ja keine<br />
Ahnung. Aber deine Respektlosigkeit ist bemerkenswert.<br />
20
Trotz deiner anmaßenden Dummheit schlage ich dir einen<br />
Handel vor. Ich werde dir helfen, deinen Widersacher zu<br />
beseitigen. Die Ausführung der Tat liegt jedoch letztlich bei<br />
dir ganz allein. Bist du erfolgreich, dann nehme ich das Opfer<br />
an. Versagst du aber, dann kehre ich irgendwann zurück und<br />
werde mich an dir selbst schadlos halten. Falls du nicht auf<br />
meinen Vorschlag eingehen willst, dann nehme ich dich gleich<br />
mit.“<br />
Baldur hatte von der Stimme eine Gänsehaut bekommen.<br />
Seine Zähne klapperten und die Nackenhaare stellten sich auf.<br />
Er fühlte, dass er zu weit gegangen war. Er hätte den Dämon<br />
niemals beschwören dürfen; er besaß ganz einfach nicht die<br />
Kraft, um ihn kontrollieren zu können. Rufen und<br />
Kontrollieren waren zwei grundverschiedene Dinge. Eiskalte<br />
schwarze, tödliche Finger schienen nach seinem Geist zu<br />
greifen. Schnell willigte er in den Vorschlag des Shâgun ein<br />
- eine reine Verzweiflungstat.<br />
Der Shâgun fuhr eine schleimig-tentakelartige, knotige<br />
Hand aus und legte einen kleinen ledernen Beutel auf den<br />
Opferstein. „So höre denn, du Wurm. In diesem Beutel<br />
befindet sich ein Mittel, aus dem du einen Trank brauen wirst.<br />
Weiche die Kräuter in einem Humpen voll von frischem<br />
Quellwasser ein. Lass´ sie einen ganzen Tag dort drin. Dann<br />
seihe ab und koche das Wasser ein, bis du einen dicken,<br />
braunen Sud erhältst. Suche einen der seltsamen Orte auf und<br />
gebe diesen Sud dort deinem Opfer. Es wird daraufhin in<br />
einen tiefen todesähnlichen Schlaf fallen. Der Geist trennt<br />
sich vom Körper, wird mein.“ „Ist das der... der Traumtrank,<br />
von dem die alten Magier nur insgeheim und hinter<br />
vorgehaltener Hand gesprochen haben?“ „Ja. Er wirft den<br />
Geist des Opfers zuerst in eine andere Welt, in ein anderes<br />
Leben. Wenn dein Opfer dort stirbt, dann assimiliere ich<br />
seine Seele, weil ich die Geistreise selbst verfolgen kann. Die<br />
Seele ist mein Festmahl. Ich gebe dir zwei volle Monde Zeit.<br />
Wenn dein Opfer bis dahin noch keine Geistreise in die<br />
Anderswelt oder direkt zu mir gemacht hat, dann komme ich<br />
bei Bedarf auf dich zurück - wenn ich mal wieder hungrig<br />
bin...“<br />
Nochmal das grell-unangenehme Keckern, jetzt aber<br />
machtvoll verhallend wie in einem unendlichen Raum.<br />
21
Dämonisches Lachen. Ein sich von tief-blutrot nach<br />
unerträglich-violett färbender Blitz zuckte auf; eine plötzliche<br />
Windböe riss Baldur von den Beinen. Mit dem darauf<br />
folgenden Donnerschlag war der Shâgun verschwunden.<br />
Alles, was jetzt noch an seine Anwesenheit erinnerte, war der<br />
lederne Beutel auf dem Opferstein, der geborstene magische<br />
Beschwörungskreis und wie dem Windstoß zum Hohn der<br />
bitter-süß-faulige Geruch in der Luft.<br />
Genau sieben Tage später. Baldur befand sich in Sandstedt,<br />
einem kleinen Nest von Strandpiraten. Offiziell lebten hier<br />
Fischer und Krabbenfischer. Inoffiziell allerdings wurden<br />
immer wieder falsche Leuchtfeuer am Strand entfacht, um<br />
Handelsschiffe auf dem Wattsockel stranden zu lassen.<br />
Nachdem deren Besatzungen erschlagen worden waren,<br />
bediente man sich einfach aus den Schiffen. Das war<br />
wesentlich gewinnträchtiger als die mühsame Fischerei.<br />
Baldur wusste von diesem Treiben, doch er schritt nicht<br />
dagegen ein. Vielmehr billigte er es sogar - hatte er doch ein<br />
geheimes Abkommen mit der Piratengilde in der Bucht. Die<br />
Piraten waren es ja schließlich auch, welche die Bucht von<br />
Helgenor beherrschten. Helgenor - das war die große<br />
Felseninsel inmitten des Wassers, obenauf sein - Baldurs -<br />
<strong>Norgast</strong>palast, an dessen Fuß die Stadt Helgeboog lag.<br />
Ringsherum Wasser, im Süden und Osten ein bei Ebbe<br />
breiter Wattsockel und drei Ansiedlungen: Ostboog,<br />
Sandstedt und Torboog.<br />
Die Ansiedlungen allesamt inoffizielle Piratennester,<br />
Ostboog und Torboog jedoch offiziell auch bedeutende<br />
Handelsstädte. Nun ja, Handel konnte man eben so und so<br />
verstehen. Von jedem aufgebrachten Schiff erhielt er ein<br />
Drittel. Das war deutlich mehr, als er den Kaufleuten an<br />
Steuern abverlangen konnte und es ergänzte deren<br />
Steuerzahlungen obendrein noch, füllte daher seine Taschen<br />
ganz beträchtlich.<br />
Überhaupt, die Kaufleute: Ein Syndikat, welches seinen<br />
Mitgliedern einen gewissen Wohlstand ermöglichte, daher<br />
aber deren unkritische Mitarbeit und Verschwiegenheit<br />
22
voraussetzte. So war es Baldur unmöglich zu kontrollieren, ob<br />
die Steuerzahlungen auch tatsächlich ein Viertel des Gewinns<br />
ausmachten. Er bezweifelte das. Da hielt er es nur für recht<br />
und billig, sich anderweitig seinen Teil zu holen. Nach seiner<br />
eigenen Auffassung war das sogar noch sehr<br />
menschenfreundlich - denn es hatte schon schlimmere<br />
Herrscher als ihn gegeben.<br />
Hier in Sandstedt bewegte er sich inkognito. Er war ein<br />
Fremder, von dem niemand Notiz nahm. Jeder misstraute<br />
hier jedem - wie im gesamten Reich. Die Leute wussten von<br />
seiner Fähigkeit der Gestaltwandlung. Jeder hätte ‚er‘ sein<br />
können und ein falsches Wort... Man wusste von seinen<br />
Spionen. Es ging das - durchaus zutreffende - Gerücht um,<br />
dass Baldur sich jedes Wissen direkt aus dem Kopf anderer<br />
Menschen holen könne. So könnte jeder zu seinem Spion<br />
werden - gewollt oder ungewollt. Folglich hielt man sich<br />
bedeckt. Nichts sagen, nichts hören, nur nicht auffallen.<br />
Das war auch ganz gut so, wie Baldur fand. Ein<br />
akzeptabler status quo. Es hielt die Leute davon ab, sich<br />
gegen ihn zusammen zu schließen. Gegenseitiges,<br />
abgrundtiefes Misstrauen war das sicherste Mittel, um seine<br />
Regentschaft zu sichern. Angst überall. Auch fand er es ganz<br />
angenehm, auf diese Weise niemals Kritik an seinem<br />
Führungsstil hören zu müssen. Für ihn ein sehr gutes Klima.<br />
Gut, die Leute mochten vielleicht darunter leiden - doch war<br />
das nicht deren eigenes Problem? Ihn selbst hatte es jedenfalls<br />
noch nie gestört, dass in <strong>Norgast</strong> niemand lachte oder gar<br />
fröhlich war. Im Gegenteil - solchen Lärm hasste er.<br />
Womöglich hätten die sogar über ihn gelacht?<br />
Baldur hatte hier eine kleine Hütte bezogen und die Miete<br />
dafür im voraus entrichtet. Niemand störte ihn. Niemand<br />
würde es wagen, ihn zu stören. Er hatte das Gebräu exakt<br />
nach den Vorgaben des Dämons hergestellt und in eine<br />
winzige, gläserne Flasche gefüllt. Gut verkorkt und versiegelt.<br />
Die Flasche steckte gegen das Herausfallen gesichert in einem<br />
winzigen ledernen Futteral, welches kleine Schlaufen aufwies.<br />
Das Anlegen dieses Futterals erwies sich als der eigentlich<br />
schwierige Teil des ganzen Unternehmens. Baldur machte<br />
von seiner Fähigkeit zur Gestaltwandlung Gebrauch und<br />
verwandelte sich in eine Krähe.<br />
23
Eine Krähe, die ihre liebe Mühe damit hatte, sich die<br />
Schlaufen des Futterals über den Kopf zu streifen und das<br />
Gewicht mit den Krallen zu tragen. Das war nämlich die<br />
einzige Möglichkeit des Transportes über lange Strecken. So<br />
bepackt flog der Todesvogel los. Sein Ziel war Balum; selbst<br />
bei Luftlinie eine Reise von vielen Tagen. Nur einen halben<br />
Tagesmarsch unmittelbar südlich von Balum floss ein<br />
namenloser Gebirgsbach in den schäumenden Wilderfrio.<br />
Exakt an dieser Stelle begegneten sich vier grundverschiedene<br />
Landschaften: das Gebirge, der Wald, der Sumpf und die<br />
Wüste.<br />
Die Bäume, die dort wuchsen, wiesen eine seltsam<br />
verdrehte, korkenzieherartige Form auf. Vereinzelt bildeten<br />
sie Ringe in ihren Stämmen aus. Die Wurzeln waren bizarr.<br />
Sie erinnerten an hölzerne Schlangenköpfe, schlafende<br />
Kinder, ruhende Drachen, im Lauf erstarrte Wildschweine<br />
und mehr. Den Sagen zufolge war es ein Zauberwald und die<br />
Bäume sollten die Kinder, Wildschweine, Schlangen und<br />
Drachen gefressen haben. Es war ein seltsamer Ort. Er wurde<br />
von den Menschen gemieden. Wer hierher kam, den gruselte<br />
es. Oder er bekam fast schlagartig unmenschlich rasende<br />
Kopfschmerzen, sah gleichzeitig auch noch grell-zackige<br />
Lichtblitze, welche aber nur im Kopf existierten. Wer<br />
erschöpft hier ruhte und es tatsächlich trotz der surrealen<br />
hölzernen Gebilde schaffte einzuschlafen, den plagten<br />
wahnsinnige Alpträume von verrückten Welten und er fand<br />
sich nach dem Erwachen nur schwer wieder zurecht. Wenn er<br />
überhaupt wieder aufwachte... Der Ort machte irr und<br />
aggressiv. Es war kein Ort für Menschen, dieser seltsame Ort.<br />
Und genau hierher hatten Baldur´s Spione sein Opfer, seinen<br />
möglichen Konkurrenten gelockt - wobei Baldur sich als ein<br />
über wichtige Informationen verfügender, fahrender Händler<br />
ausgegeben hatte.<br />
Baldurs nichtsahnender Vielleicht-Konkurrent war schon<br />
da, als der Zweischneidige selbst eintraf, schwer bepackt mit<br />
einem prall gefüllten Leinenbeutel. Saß auf einer<br />
oberschenkeldicken Wurzel, die sich erst in Wellen am Boden<br />
entlang geschlängelt hatte, bevor sich daraus ein verdrehter<br />
Baum erhob. Saß wie die hilflose Fliege im Netz, die auf die<br />
sie fressende Spinne wartet. Ahnungslos. Baldur war die<br />
24
Freundlichkeit in Person. Das konnte er gut. Er bot seinem<br />
Opfer zu trinken an, denn auch der Frühsommer wartete<br />
schon mit beträchtlicher Wärme auf. Sein Opfer trank. Schon<br />
nach wenigen Minuten schlief es ein. Der Atem wurde<br />
langsamer. Und langsamer. Und noch langsamer... Es war<br />
schon fast zu einfach gewesen!<br />
Baldur blieb bei ihm. Sammelte zwischendurch trockenes<br />
Holz. Als es Nacht wurde, entfachte er damit ein Lagerfeuer.<br />
Dann verwandelte er sich in einen Wolf: Zeit für das<br />
Abendessen. Und verschwand im Unterholz. Erst im<br />
Morgengrauen kam er blutbesudelt zurück. Egal - es war nicht<br />
sein Blut. Und den Köhler würde so bald wohl auch keiner<br />
vermissen. Er wusch sich im Fluss, kontrollierte sein Opfer.<br />
Es schien tot zu sein. Vorsichtshalber wartete er noch eine<br />
Nacht und noch eine weitere Köhlermahlzeit ab.<br />
Am zweiten Tag war er davon überzeugt, dass der Fremde<br />
(dessen Namen er nicht einmal kannte!) tot sein musste.<br />
Baldur entnahm seinem Leinenbeutel einen mit Teer und<br />
Pech luftdicht versiegelten Leichensack. Hiefte sein Opfer<br />
dort hinein. Vernähte den Sack mit reißfesten Fola-Fasern<br />
und strich die Nähte grob mit dem mitgebrachtem Pech ein<br />
- nur die Fasern selbst nicht. Fola-Fasern waren der ideale<br />
Nahtstoff, solange sie nicht mit dem Wasser in Berührung<br />
kamen. Im Wasser lösten sie sich nach ein bis zwei Tagen<br />
restlos auf. Solange würde der Leichensack mit der darin<br />
eingeschlossenen Luft den Wilderfrio hinunter treiben. Dann<br />
würde er sein Innenleben freigeben und der Fluss den Toten<br />
irgendwo anspülen - oder sogar auf Nimmerwiedersehen<br />
verschlucken, was noch besser wäre. Niemand würde den<br />
Mord mit ihm in Verbindung bringen können. Seine Weste<br />
bliebe weiß. Es klatschte, als er den Sack mit seinem Opfer<br />
ins Wasser warf.<br />
Baldur lachte und grinste zufrieden. Während er hinterher<br />
schaute, dachte er daran, dass diese seine Tat doch wohl eher<br />
die Ausnahme war. Klar, wer ihm in die Quere kam, der hatte<br />
abzutreten. Normalerweise engagierte er dafür jedoch<br />
käufliche Mörder. Doch wenn die Gefahr bestand, dass Magie<br />
mit im Spiel sein könnte, dann legte er auch schon mal selbst<br />
Hand an. Man konnte ja nie wissen. Und man konnte niemals<br />
vorsichtig genug sein!<br />
25
Kapitel 2: Der Findling<br />
Langsames Erwachen, Halbschlaf. Schattenhafte Gesichter.<br />
Ein Erinnerungsfetzen: Wald. Er war in einem Wald gewesen.<br />
Ein Mann hatte mit ihm gesprochen. Sein Gesicht ein weißer<br />
Fleck in seiner Erinnerung. Dämmerzustand zwischen<br />
Wachen und Schlafen, wie im Traum. Nebelhafte Schemen.<br />
Vorsichtig bewegte er die Finger. „Er kommt zu sich“ sagte<br />
eine keifend-kratzige Frauenstimme. „Wurde auch Zeit“<br />
antwortete brummend ein Mann, leicht gereizt.<br />
Endlich öffnete er die Augen, erwachte vollends. Etwas<br />
stimmte nicht mit ihm. Er kramte in seinem Gedächtnis, fand<br />
dort aber nichts außer einem Namen - Findus. Seine<br />
Erinnerung war weg, ausgelöscht. Er wollte sich aufsetzen,<br />
umsehen, doch seufzend sank er sofort auf das harte Lager<br />
zurück. Schwindel übermannte ihn; der Raum drehte sich vor<br />
seinen Augen. Sofort war die Frau bei ihm, stützte ihn.<br />
„Langsam“ mahnte sie fürsorglich, was so gar nicht zu ihrer<br />
unangenehmen Stimme zu passen schien.<br />
Gedanken rasten urplötzlich durch seinen Kopf. Wirre<br />
Gedanken – seltsames Zeug. Sachen wie „Autos“,<br />
„Flugzeuge“, „Raumschiffe“, „Fernsehen“, „Computer“ und<br />
anderes Zeug, das er nicht einordnen konnte. Sinnlose<br />
Begriffe, denn die Bilder und Inhalte dazu fehlten ihm. Leere<br />
Worthülsen - wie aus einer verwirrenden, anderen Welt. Wie<br />
aus einem bösen Traum. Noch verwirrender erschien es ihm,<br />
dass sich - während die inhaltslosen Begriffe schon wieder<br />
vergessen wurden - eines in seiner Erinnerung festsetzte: Es<br />
schien eine Welt zu geben, in der die Sinne getrennt waren.<br />
Riechen war dort nur Riechen und der Geruch hatte keine<br />
Farbe. Hören war dort ausschließlich Hören und die<br />
Geräusche hatten keine Formen. Schmecken war dort einzig<br />
Schmecken und der Geschmack hatte keine Oberfläche.<br />
Sehen war dort bloßes Sehen und das Sehen hatte keine Töne.<br />
Und Fühlen - Fühlen gab´s fast gar nicht mehr, eine Art von<br />
mechanisierter Unmenschlichkeit herrschte statt dessen vor.<br />
Magie war unbekannt. Eine seltsam-verrückte Welt. Er schien<br />
dort gewesen zu sein, aber zum Glück war das vorbei.<br />
26
Endgültig. Ein schlechter Traum. Ein verdammt Schlechter!<br />
Findus blickte in den Raum, zum Fenster hin. Draußen<br />
herrschte stockfinstere Nacht. Er war hier.<br />
In der Anderswelt. „Exitus“ sagte der Arzt und betrachtete<br />
die gleichmäßige Linie auf dem Monitor. „Sie können die<br />
Geräte jetzt abschalten“ meinte er zu der Krankenschwester.<br />
Er seufzte. Es war immer das Gleiche, vor allem zum<br />
Wochenende hin. Die Autobahn war ein Schlachtfeld. Sie<br />
nannte sich bloß nicht so. Später rollte man die Leiche aus der<br />
Intensivstation heraus. Mit einem Namenszettel am Zeh.<br />
Im Palast von Helgenor. Baldur der Zweischneidige erwachte<br />
aus unruhigem Schlaf. Neben ihm im Prunkbett lag seine<br />
heutige Gespielin der Nacht und schlief fest, das ebenmäßige,<br />
makellose und doch leicht blasse Gesicht mit den blutroten<br />
Lippen vom langen, ebenholzschwarzen Haar umrahmt.<br />
Gesicht und Lippen bildeten einen erotisch-anregenden<br />
Kontrast. „Süß“ dachte er und an den Spaß, den sie<br />
miteinander gehabt hatten. Andererseits aber wurde er ihr<br />
auch allmählich überdrüssig. „Ob ich sie fortschicke?“ dachte<br />
Baldur.<br />
Plötzlich setzte er sich auf. Aus den Augenwinkeln heraus<br />
nahm er eine Bewegung wahr. „Ein Mörder?“ durchfuhr es<br />
ihn. Aufspringen und instinktiv eines der Schwerter, die<br />
scheinbar den Wandschmuck bildeten zu ergreifen, war eins.<br />
Ein grell-keckerndes Lachen kam als Antwort. Er kannte<br />
dieses Lachen genau, würde es nie in seinem Leben mehr<br />
vergessen. Aus dem Dunkel schälte sich langsam die neblige<br />
Gestalt des Shâgun, Nebel wie sich umeinander ringelnde,<br />
wurmartige Eingeweide.<br />
Sofort wusste Baldur, dass irgend etwas an seinem Plan<br />
schiefgelaufen war. Fürchterlich schiefgelaufen! „Mit dem<br />
Schwert kannst du mir nichts anhaben!“ lachte der Dämon<br />
und fuhr höhnisch fort: „Er ist nicht bei mir angekommen.<br />
Er ist auch nicht mehr in der Anderswelt. Er ist wieder hier.<br />
Dafür werde ich mich bei dir bedienen, wenn der Hunger<br />
27
kommt. Es sei denn, du versorgst mich schon rechtzeitig<br />
vorher mit Nahrung. Mit Seelen-Nahrung. Wir haben ein<br />
Abkommen...“ Hallend-grell-stahlblau-keckerndes Lachen<br />
und der Dämon war verschwunden. Ein leicht bitter-süßfauliger,<br />
blassrötlich-türkisfarbener Geruch blieb im<br />
Schlafgemach zurück. Baldur schlief in dieser Nacht nicht<br />
mehr. Er dachte verzweifelt nach. Er musste die verlorene<br />
Spur wiederfinden, wenn er sein eigenes Leben retten wollte.<br />
Unbedingt. Die Weichen für die Zukunft waren gestellt<br />
worden...<br />
Findus sah sich um, gestützt von der freundlichen Alten und<br />
ermuntert von ihrem Zahnlückenlächeln. Holz war der<br />
vorherrschende Werkstoff in diesem Raum, in dieser kleinen<br />
Hütte. Recht roh bearbeitet und mit den deutlichen<br />
Abnutzungsspuren aus ungezählten Jahren. Der Raum selbst<br />
war klein, wurde von einer Feuerstelle erhellt. Es roch leicht<br />
rehbraun nach Rauch und etwas grünsilbergelb nach Fisch.<br />
Es war ein einzelner, großer Raum, mit einer durch einen<br />
dichten Vorhang abgeteilten Ecke – dahinter vermutlich das<br />
Schlafgemach der beiden Alten. Der Rest war ein<br />
kombinierter Arbeits-, Koch-, Aufenthalts- und Wohnraum.<br />
Zwei Fenster - davon eines mit hölzernen Fensterläden<br />
verschlossen - an gegenüberliegenden Wänden und eine Tür<br />
nach draußen. Von der Decke hingen geräucherte Fische<br />
herunter. Daher wohl auch der Geruch. Ein altes, löcheriges<br />
Fischernetz spannte sich quer über die Decke und diente der<br />
Aufbewahrung ärmlicher Habseligkeiten. Die Feuerstelle war<br />
kaminartig, obwohl Kamin wohl zuviel gesagt war, denn ein<br />
Teil des Rauchs wurde immer in die Hütte selbst abgegeben.<br />
Alles in allem vermittelte der Raum den Eindruck, als ob hier<br />
ein hart arbeitendes Ehepaar schon seit Jahren mehr schlecht<br />
als recht sein Dasein fristete. Daher wandte Findus seine<br />
Aufmerksamkeit nun den Gastgebern zu.<br />
„Wo bin ich?“ fragte er und setzte gleich noch hinzu „Wie<br />
lange bin ich schon hier?“ Die Alte antwortete. „Herr, ihr<br />
sprecht. Das ist gut. Dann geht es euch wieder besser und ihr<br />
werdet sicher wieder gesund. Ihr seid beim Tiedsiepe-Fischer,<br />
28
am Wilderfrio. Mein Mann fand euch vor vier Tagen im Fluss<br />
und Ihr wart mehr tot als lebendig.“ Der Mann: „Ich<br />
kontrollierte meine Reusen, als ich euch im Wasser treiben<br />
sah. Ich zog euch raus. Ihr wart beinahe ertrunken und<br />
bewusstlos. Mit dem Boot brachte ich euch zu meiner Hütte.<br />
Ihr schliefet einen höchst seltsamen Schlaf. Wir dachten<br />
schon, ihr würdet nie mehr aufwachen. Bis jetzt. Wie ist euer<br />
Name und woher kommt Ihr?“<br />
„Findus - mein Name ist Findus. Glaube ich wenigstens...“<br />
setzte der Findling zweifelnd hinzu. „Ihr glaubt?“ bemerkte<br />
die Alte, die Augenbrauen fragend erhoben. „Ja, ich... Mein<br />
Gedächtnis. Es ist weg. Ich weiß nichts mehr. Was ist<br />
Wilderfrio? Was ist Tiedsiepe?“ „Aber mit dem Wort Fischer<br />
könnt ihr etwas anfangen?“ setzte der Mann die Befragung<br />
fort. „Ja. Ihr fangt die im Wasser lebenden Tiere und lebt<br />
davon.“ „Dann kann euer Gedächtnis nicht gänzlich verloren<br />
sein“ folgerte der Mann und bedeutete seiner Frau ihm zu<br />
folgen. Sie verschwanden hinter dem Vorhang. So sehr<br />
Findus auch die Ohren spitzte, er konnte nun nur noch<br />
Bruchstücke von ihrer leise und drängend geführten<br />
Unterhaltung vernehmen. Der schwere Stoff verschluckte die<br />
meisten Geräusche.<br />
„... kaum zu glauben...“ „...vielleicht Recht, bei einem<br />
Schlag auf den Kopf...“ „...man nicht heilen, muss von selbst<br />
zurück...“ „...bei uns bleiben...“ „...aber nur wenn...“<br />
„...notfalls die Bônday...“ Dann, laut und deutlich: „Weib, was<br />
verlangst du noch alles von mir?“ Sichtlich verärgert wurde<br />
der Vorhang zurück geschlagen und der Mann tauchte wieder<br />
auf. Er sah Findus an. „Wer immer ihr seid - ihr bleibt vorerst<br />
bei uns und kuriert euch aus. Vielleicht kehrt euer Gedächtnis<br />
ja von allein zurück. Wenn ihr wieder gesund seid, dann dürft<br />
ihr bleiben, sofern ihr euch nützlich macht. Andernfalls geht.<br />
Versteht das bitte nicht falsch - aber wir haben zuwenig, um<br />
noch einen Esser durchzufüttern. Vielleicht vermag meine<br />
Frau euch zu helfen. Sie ist recht bewandert in der<br />
Kräuterkunde. Jetzt schlaft. Morgen bekommt ihr zu essen<br />
und dann sehen wir weiter.“ Der Fischer verschwand wieder<br />
hinter dem Vorhang und ließ Findus allein zurück. Findus<br />
legte sich zurück auf das harte Lager. Er dachte nach. Was<br />
hätte er sonst auch tun sollen?<br />
29
Baldur fand in dieser Nacht keine Ruhe mehr. Zu tief steckte<br />
ihm der Schrecken noch in den Knochen. Er überlegte hin<br />
und her, was er tun könnte. Als der Morgen graute, hatte er<br />
eine Entscheidung getroffen. Er würde mehrere Wege<br />
gleichzeitig beschreiten - oder treffender, sogar beschreiten<br />
müssen. Denn der Shâgun konnte jederzeit zurück kehren.<br />
Die Zeit brannte Baldur daher unter den Nägeln. Er würde<br />
sehr schnell und hart handeln müssen, schneller und härter als<br />
ihm lieb war. Denn durch die Schnelligkeit bestand die<br />
Gefahr, dass er Fehler machte, dass er etwas übersah. Und<br />
durch die Härte würde er sich sehr unbeliebt machen. Seine<br />
weiße Weste würde Flecke bekommen. Doch Alternativen<br />
gab es nicht. Er weckte seine Gespielin der Nacht und<br />
scheuchte sie grob mit barschen Worten fort. Dann begab er<br />
sich in seinen Arbeitsraum und ließ nach Neville, seinem<br />
besten Spion, schicken.<br />
„Neville, dein neuer Auftrag hat Vorrang vor allen<br />
anderen. Ihr - und damit ist die ganze Gilde der Spione<br />
gemeint - habt notfalls uneingeschränkte Mittel zur<br />
Verfügung. Findet einen Mann, dessen Aussehen ich nicht<br />
kenne. Ich weiß nur soviel: Er ist allein und niemand kennt<br />
ihn. Er hat keine Herkunft. Er ist - wo immer er sich auch<br />
befinden mag - ein Fremder. Sucht ihn, findet ihn und vor<br />
allem: Tötet ihn! Dieser Mann ist sehr gefährlich. Für uns alle.<br />
Es kann durchaus sein, dass er über große magische Kraft<br />
verfügt. Daher überlasse ich die Wahl der Todesart euch.<br />
Passt sie den Umständen an. Geht kein Risiko ein. Er muss<br />
sterben! Unbedingt und so schnell wie möglich! Durchsucht<br />
das ganze Reich. Nehmt keine Rücksicht auf Unschuldige.<br />
Die ganze Gilde hat bis auf Widerruf nur noch diese eine<br />
Aufgabe. Und nun geht. Fangt mit der Suche an. Sofort!“<br />
Damit war einerseits Neville entlassen und andererseits<br />
begannen die größte Fahndung und der größte Massenmord<br />
in der Geschichte <strong>Norgast</strong>s.<br />
Doch daran störte Baldur sich nicht im Mindesten. Er<br />
kannte keine Skrupel. Als nächstes rief er einen seiner Diener<br />
und ließ nach Mijneer Vankampen schicken. Mijneer<br />
30
Vankampen war in Helgenor der Vorsitzende des Syndikats<br />
der Kaufleute. Und er war ein Schleimer, wie er im Buche<br />
steht. Nach oben hin buckelnd und nach unten hin tretend<br />
betrat der Kaufherr schon kurz darauf unterwürfig Baldurs<br />
Arbeitsraum. Baldur ließ sich von der falschen Freundlichkeit<br />
des Kaufmannes nicht täuschen. Er informierte ihn<br />
dahingehend, dass die Kaufleute die Augen nach einem<br />
Fremden ohne Herkunft und ohne soziale Kontakte<br />
aufzuhalten hätten. Wenn sie den Gesuchten fänden, so<br />
sollten sie den Herrscher davon umgehend in Kenntnis setzen<br />
und auch gleichzeitig die Gilde der Spione informieren.<br />
Nachdem Mijneer Vankampen entlassen worden war,<br />
empfing Baldur die Obersten aus der Zunft der Piraten und<br />
aus der Zunft der Diebe. „Gesindel“ dachte er, doch es war<br />
gut, wenn man auch zu diesem Gesindel seine Beziehungen<br />
hatte. Er trug ihnen die gleichen Befehle auf wie zuvor schon<br />
Mijneer Vankampen und schickte sie fort.<br />
Jetzt blieben ihm nur noch zwei Sachen zu erledigen. Er<br />
wusste, dass sein Opfer mit magischer Kraft ausgestattet war.<br />
Normalerweise hätte Baldur sich jetzt zurückziehen und<br />
meditierend in die Gedanken seiner Untertanen einschalten<br />
können, um auf diese Weise den Gesuchten zu finden. Doch<br />
wenn der Letztere sich seiner Magie bewusst war, dann würde<br />
er sich gegen diese Art der Überwachung zur Wehr setzen.<br />
Baldur suchte dann vergeblich. Blieb noch der Paliwi. Dabei<br />
handelte es sich um eine kristallene Kugel; eine<br />
Hinterlassenschaft der großen Zauberer aus grauen Vorzeiten.<br />
Der Paliwi zeigte dem, der ihn zu beherrschen vermochte,<br />
jeden echten Magier und jede echte Hexe an. Sollte Baldurs<br />
Opfer sich nun aber keiner Magie bedienen, ja sich ihrer nicht<br />
einmal bewusst sein, dann würde er dem Paliwi verborgen<br />
bleiben. Baldur hielt das für äußerst unwahrscheinlich. Mit<br />
dem Paliwi würde er sein Opfer finden. Er holte einen<br />
versteckten und mehrfach gesicherten Schlüssel und begab<br />
sich in einen geheimen Kellerraum, welcher mitten unter dem<br />
Palast lag. Hier flossen viele magische Erdströme zusammen.<br />
Ideale Bedingungen. So suchte bald das ganze Reich <strong>Norgast</strong><br />
nach dem Mann ohne Aussehen, ohne Namen, ohne<br />
Herkunft - und auch ohne Gedächtnis, weshalb er<br />
31
unauffindbar blieb. Vorerst war das Findus´ Rettung, denn<br />
Baldur dachte dabei nicht an Malweýn´s Fluch...<br />
32
Kapitel 3: Der Fischer<br />
Wie durch ein Fenster hindurch gesehen erschienen die<br />
Bilder im Paliwi. Baldur saß konzentriert vor der Kristallkugel<br />
und betrachtete die sich abwechselnden, vorbeifliegenden<br />
Landschaften darin. Es waren immer Landschaften mit<br />
Menschen - Menschen mit magischen Fähigkeiten. Zauberer<br />
und Hexen. Die Anzahl der Magier hielt sich in Grenzen.<br />
Den einen oder anderen von ihnen kannte Baldur sogar<br />
persönlich. Hier ein Lohnmagier, da ein Wettermagier. Viele<br />
nur gering mit Magie begabte Personen, gerade mal zu einem<br />
mantrischen Sigillenzauber, spiegelmagischer Evokationen<br />
oder der Knotenmagie fähig und kaum mal alles zusammen.<br />
Dann aber waren da noch die Hexen. Und ihrer waren es<br />
viele - sehr viel mehr, als Baldur in seinen kühnsten Träumen<br />
erwartet hätte. Da würde er irgendwann etwas gegen<br />
unternehmen müssen. Gut, die Hexen waren nicht<br />
organisiert, standen in Konkurrenz zueinander und lebten<br />
auch räumlich getrennt. Die Freifliegenden und die in den<br />
verschiedenen Coven Organisierten hielten sich in etwa die<br />
Waage. Doch schon die schiere Anzahl dieser Personen<br />
verursachte ihm Bauchschmerzen. Sie bildeten ein lockeres<br />
Netzwerk. Er sah darin eine vage Bedrohung seiner eigenen<br />
Macht. Wenn die sich irgendwann einmal gegen ihn<br />
verbünden sollten - viele Hunde waren des Hasen Tod. Und<br />
Entfernungen würden im Ernstfall wohl kaum ein Hindernis<br />
darstellen.<br />
Als ob die reine Menge der Hexen noch nicht ausreichen<br />
würde, hatten die obendrein auch noch recht ansehnliche<br />
magische Kraft. Richtige Macht. Kaum eine, die nicht der<br />
Elementarmagie fähig war. Meist zwar nur in Teilen - also die<br />
Beherrschung von Wasser oder Erde oder Luft, Wind, Feuer<br />
- aber einige konnten alle Elemente beeinflussen und<br />
obendrein noch Naturgeister anrufen. Andere beschäftigten<br />
sich mit Drachenmagie. Gefährlich. Vor allem für ihn. Noch<br />
ein Problem. Und das ausgerechnet jetzt!<br />
Der Paliwi zeigte Baldur weiterhin die Bilder von<br />
Personen. Doch urplötzlich stoppte die Bildfolge. Zwei<br />
33
ernsteinfarbene Katzenaugen sahen ihn aus dem Kristall<br />
heraus an. Augen in einem schwarzhäutigen und von<br />
weißblondem Haar umrahmten Gesicht. Das Gesicht einer<br />
begehrenswerten Frau. Einer Hexe. Die Augen glühten<br />
goldfarben auf, zogen ihn in ihren Bann. Baldur keuchte.<br />
Nein - das konnte nicht sein! Seine Kugel konnte ihre Kraft<br />
nicht gegen ihn selbst richten! Ein magischer Zweikampf<br />
entbrannte.<br />
Mit einem Male jedoch erkannte Baldur erschrocken, dass<br />
der Angriff gar nicht ihm galt. Jedenfalls nicht ihm persönlich.<br />
Die Augen richteten sich von innen her auf den Paliwi. Dieser<br />
wurde schmutzig-trüb, grau, matt und glanzlos. Ein<br />
unheilvolles Knirschen kündigte das Ende des magischen<br />
Gegenstandes an. Sprünge durchzogen die Kristallkugel.<br />
Mit einem Wutschrei sprang Baldur auf, versetzte dem<br />
Tisch mit dem Paliwi einen Tritt. Der Tisch kippte um; der<br />
Paliwi fiel auf den steinernen Boden - und zersprang in<br />
tausend Teile! Ein Werkzeug von kaum fassbarer magischer<br />
Kraft - einfach vernichtet! Durch jemanden in seinem eigenen<br />
Reich; jemanden, den er nicht einmal kannte! Baldur tobte.<br />
Erste Anzeichen des Wahnsinns flackerten in seinen Augen.<br />
Wutschnaubend und grenzenlos in seinem Zorn auf alles und<br />
jeden verließ er den Keller, stürmte in sein Arbeitszimmer.<br />
Jeder, der ihn sah, fürchtete seinen Groll und versteckte sich<br />
schnell. Im Arbeitszimmer angekommen hatte Baldur sich<br />
etwas beruhigt. Aber nur etwas. Blieb noch die zweite Option.<br />
Die mentale Kontrolle der Bewohner seines Reiches. Eine<br />
Sisyphusarbeit. Aber direkt vor Ort einfacher zu erledigen.<br />
Baldur trat zum Fenster. Verärgert verwandelte sich in eine<br />
Krähe und flog davon, in Richtung Torboog.<br />
Findus erwachte vom köstlich-orangefarbenen Duft frischen<br />
Fladenbrots. Die Alte hatte die restliche Glut aus der<br />
Feuerstelle genutzt, um das Brot zu backen. Ein einfaches<br />
Brot zwar, nur ein mit Wasser angerührter dicker Teig aus<br />
Pflanzensamen und in der glühenden Holzkohle für kurze<br />
Zeit gegart, aber dennoch lecker riechend. „Frühstück“<br />
grinste sie und hielt ihm ein Stück des Brotes hin. „Einen<br />
34
Moment“ erwiderte er. Findus fand Kleidung neben seinem<br />
Lager. Er stand auf und kleidete sich rasch an. Dann ergriff er<br />
das ihm noch immer einladend entgegen gehaltene Brot. Er<br />
war sehr hungrig. „Wie nennt ihr euch eigentlich?“ fragte er<br />
kauend. „Snofork“ entgegnete die Alte und fügte noch hinzu:<br />
„Wenn wir jetzt schon unsere Rufnamen kennen, dann<br />
können wir uns auch Duzen. Das vereinfacht die Sache.“ Das<br />
war so üblich und Findus nickte. Gedanklich war er allerdings<br />
schon ganz woanders.<br />
Der Begriff „Rufname“ hatte etwas in seinem Kopf in<br />
Bewegung gesetzt. „Rufname, Rufname...“ dachte er.<br />
Plötzlich war ein Wissen da. Ein Wissen um die Bedeutung<br />
von Namen. Jedes Lebewesen, ja sogar jeder Gegenstand in<br />
<strong>Norgast</strong> hatte zwei Namen. Einen Rufnamen und einen<br />
echten Namen. Der echte Name war und blieb immer das<br />
Geheimnis des Namensträgers. Dieser Name kennzeichnete<br />
für den Betreffenden nämlich die Quintessenz der<br />
Wahrhaftigkeit seines ureigensten Seins an sich. Der echte<br />
Name konnte kaum ausgesprochen, sondern bestenfalls von<br />
den dazu befähigten Leuten gedanklich erfasst werden. Er<br />
war nur in Form von Runen aufzuschreiben.<br />
„Findus - Findus Far-Ur-Rit, Findus Fehu-Uruz-<br />
Raido in der alten magischen Sprache“ dachte er. „Far-Ur-Rit:<br />
Alles ist im Fließen bis du dich selbst erkennst und deinem<br />
Schicksal vertraust.“ Das war sein ‚echter‘ Name. Die<br />
Kenntnis des echten Namens verlieh unbeschränkte Macht<br />
über den Namensträger. Er hätte den echten Namen von<br />
Snofork wahrscheinlich problemlos erraten können, doch er<br />
schreckte davor zurück. Es schickte sich nicht. Vor allem<br />
deswegen, weil viele Personen ihren eigenen, echten Namen<br />
nicht einmal kannten. Viele Leute suchten meditativ nach<br />
ihrem wahren Namen – indem sie sich über einen Stein<br />
Gedanken machend in sich selbst versenkten und dann die<br />
Welt in einem Staubkorn erfuhren. Ob sie damit erfolgreich<br />
waren? Findus wusste es nicht. Er wusste auch nicht, wie<br />
dieses Wissen in seinen Kopf gelangt war. War das Magie?<br />
Findus saß noch kauend und in Gedanken versunken am<br />
Tisch, als die Tür sich öffnete. Schweren Schrittes stapfte der<br />
alte Fischer herein, sah Findus an. „Du kannst mich Bewok<br />
nennen. Hast du dir inzwischen überlegt, ob du bleiben oder<br />
35
gehen willst?“ Findus blickte auf und entgegnete: „Ich bleibe,<br />
wenn ich darf. Vorerst wenigstens.“ Bei sich dachte er dabei:<br />
„Wo soll ich auch hin?“ „Gut, komm´ erst einmal wieder zu<br />
Kräften. Heute hast du deinen freien Tag. Ab morgen wird<br />
mitgearbeitet.“ Polterte der Fischer und fuhr sogleich fort:<br />
„Wenn du gegessen hast, dann zeige ich dir die Umgebung.<br />
Damit du Dich nicht verläufst. Ist dein Gedächtnis<br />
inzwischen zurück gekommen?“ Verlegen schüttelte Findus<br />
den Kopf. Aufmunternd grinste Snofork ihn an. „Das wird<br />
schon“ meinte sie. Der Fischer stellte einen Krug mit<br />
frischem Quellwasser auf den Tisch und sie beendeten<br />
schweigend ihre Mahlzeit. Dann gingen Findus und Bewok<br />
nach draußen.<br />
Als Findus vor die Tür trat, musste er einen Moment lang<br />
unwillkürlich stehen bleiben. Zu vielfältig waren die auf ihn<br />
einstürzenden Eindrücke. Ein Sommertag, die Sonne war<br />
bereits aufgegangen und es würde warm werden. Strahlend<br />
blauer Himmel mit wenigen weißen Tupfern darauf. Zahllose<br />
Vögel pfiffen, keckerten, sangen, zwitscherten, tschilpten.<br />
Geräusche, die in seiner Wahrnehmung wie pfeilähnliche,<br />
weiß-silberne Formen vorbeiflogen oder die kreisend auf ihn<br />
zukamen. Dazwischen regenbogenfarbene Ringstrukturen,<br />
goldgelb-silbrige Linien, satt-grünliche Schlangengebilde,<br />
rosa-strukturierte kristalline Formen. Jede Vogelstimme ein<br />
anderes Bild vor dem inneren Auge. Ein Universum aus<br />
psychedelischen Formen und Farben, aus perfekter<br />
Harmonie. Echte Natur im Ursprung des Seins. Etwas von<br />
dem er - woher? - wusste, dass er es für sehr lange Zeit hatte<br />
missen müssen. Er blendete die synästhetische Wahrnehmung<br />
aus und betrachtete die Landschaft. Unmittelbar vor ihm<br />
führte ein ausgetretener Pfad zu einem Steg, welcher in einen<br />
breiten und träge dahinströmenden Fluss ragte. Am Steg war<br />
ein kleines Boot verträut und tanzte sacht auf den leise<br />
glucksenden Wellen. Rechts von ihm schien eine Landzunge<br />
zu sein, denn weiter in der Ferne spiegelte sich hinter dem<br />
Land eine große Wasserfläche.<br />
Bewok ließ ihm die Zeit, die er brauchte, bevor der Fischer<br />
erläuterte: „Vor dir, das ist der Wilderfrio. Dort oben“ - er<br />
wies nach rechts – „trifft der Wilderfrio als Wildbach auf den<br />
‚Schlafenden Arm‘ der Tiedsiepe. Beide vereinigen sich zu<br />
36
diesem Strom.“ „Was ist der ‚Schlafende Arm‘ der<br />
Tiedsiepe?“ „Wenn ich Dir das genau erklären könnte... Es ist<br />
so: Oberhalb des ‚Schlafenden Arms‘ befindet sich ein riesiger<br />
See, die Tiedsiepe. Eigentlich schon eher ein Binnenmeer. Die<br />
Tiedsiepe ist ein sehr gefährliches Pflaster. Einmal täglich fällt<br />
sie vollkommen trocken und man kann auf dem Grund<br />
entlang gehen. Und einmal am Tag füllt sie sich mit Wasser.<br />
Aber frage mich nicht, wo das herkommt. Jedenfalls ist es<br />
soviel, dass die Tiedsiepe jedes Mal überläuft. Ein Wasserfall<br />
speist dann den ‚Schlafenden Arm‘ und er wird reißend. Zu<br />
dieser Zeit ein absolut tödliches Gewässer wegen der vielen<br />
Strudel und Strömungen. Zur Tiedsiepe-Trockenzeit gut für<br />
den Fischfang mit Netzen. Ich habe dort oben noch ein<br />
Boot.“ Für den eher wortkargen Fischer war das eine<br />
ziemliche lange Rede gewesen. Er verstummte und sah<br />
Findus an. Findus nickte zustimmend. Er hatte verstanden.<br />
Plötzlich stieg ihm ein vertrauter, dunkelgrau-ausgefranster<br />
Geruch in die Nase. „Habt ihr...?“ Der Fischer nickte. „Nur<br />
vom Fisch kann man nicht leben. Komm´ mit.“ Bewok bog<br />
um die Ecke der Hütte. Findus folgte ihm und fand einen<br />
kleinen Pferch vor. Ein Schwein, vier Hühner. Daher der<br />
Geruch. Der Stall für die Tiere war im Gegensatz zur Hütte<br />
gänzlich aus Schilf gefertigt worden. Bei der Hütte des<br />
Fischerpaares bestand nur das Dach aus Schilf und der Rest<br />
aus Holz. Doch das Rohr schien der bevorzugte Baustoff zu<br />
sein. Bewok bemerkte Findus´ interessierten Blick und<br />
erläuterte: „Wir haben hier zwar keine Reichtümer, aber Schilf<br />
gibt es im Überfluss. Es wäre eine sinnlose Verschwendung,<br />
nicht darauf zurück zu greifen.“ Findus nickte wieder.<br />
Logisch - man verwendete, was da war. „Komm´ weiter“<br />
sagte der Fischer und sie umrundeten die ärmliche Hütte,<br />
standen jetzt auf der flussabgewandten Seite. Vor Findus´<br />
Augen stieg das Gelände recht steil zu einem dicht<br />
bewaldeten Abhang an.<br />
„Der Wald liefert uns Brennholz. Auch Holz und Kräuter<br />
für das Räuchern der Fische. Hin und wieder kommt mal ein<br />
fahrender Händler vorbei und kauft uns ein paar geräucherte<br />
Fische ab. Das Geld und das Tauschgut verwenden wir dann<br />
für die notwendigen Reparaturen, für Salz, Öl, Honig und<br />
sowas. Holz haben wir eigentlich nie genug. Deine erste<br />
37
Aufgabe morgen wird daher darin bestehen, trockenes Holz<br />
zu sammeln. So, jetzt mach´ Dich selbst mit der Gegend<br />
vertraut. Ich habe zu tun.“ Sprach´s und ging von dannen.<br />
Findus sah dem Fischer nach. Blickte danach zum Wald<br />
hinauf. Warum eigentlich keinen Waldspaziergang<br />
unternehmen?<br />
Es musste am frühen Morgen geregnet haben, denn der<br />
Boden war nass. Die ersten Schritte. Eine andere Welt. Das<br />
hellbraun-weiße Quatschen von Morast unter den Füßen. Er<br />
mochte dieses Geräusch, das in ihm ein Gefühl behaglicher<br />
Geborgenheit hervorrief. Er genoss die Ruhe. Schräg rechts<br />
über ihm waren auf einmal diese Formen zu sehen, die wie<br />
versetzt übereinander gestapelte Schubladen aussahen. Sie<br />
verblassten und wurden durch einen rotgolden<br />
schimmernden, schräg waagerecht verlaufenden,<br />
rotweißgoldenen Zapfen ersetzt: Eine Blaumeise. Erst hatte<br />
sie auf den Regen geschimpft und dann mit einem Träller ihr<br />
Lied angestimmt.<br />
Die Blätter an den Bäumen waren noch immer schwer<br />
vom Regen. Überall tropfte es. Plitsch-plitsch-platsch. Jedes<br />
Tropfengeräusch für sich sah aus wie ein gefaltetes, hellgraues<br />
Stück Pergament. Ganze Pergamentberge, die von den<br />
Bäumen rieselten. Schön. Und die Gerüche. Eben noch<br />
durchdringend rot-süß, so dass alles wie durch einen roten<br />
Schleier hindurch aussah. Die Ursache dieses Geruchs<br />
vermochte er nicht zu ermitteln. Hinter der nächsten Kurve<br />
veränderte sich der Geruch, sah aus wie die Borsten eines<br />
Tierfells, braun mit grauen Spitzen, war zimtig. Der Geruch<br />
ließ eine Art von kribbelndem Gefühl seinen Rücken hinunter<br />
laufen. Es lag ein leichter Nebel über Pfad und Wald, ließ alles<br />
unwirklich erscheinen. Er war mutterseelenallein hier, hatte<br />
seine Ruhe. Ruhe zum Nachdenken. Doch so sehr Findus<br />
sich auch anstrengte - sein Gedächtnis blieb leer. Links von<br />
ihm schwarze Flecken; es waren Schritte im nassen Laub des<br />
Unterholzes. Irgendwas Schweres, Vierbeiniges. Könnte ein<br />
großes Reh sein. Vielleicht aber auch ein Hirsch, wenngleich<br />
unwahrscheinlich. Eher ein Wildschwein. Mit denen war nicht<br />
zu spaßen, wie er aus Erfahrung wusste. Welcher Erfahrung?<br />
Er machte, dass er weiterkam.<br />
38
Er ging in Gedanken versunken vor sich hin. Plötzlich ein<br />
lauter Perlenvorhang. Der Schrei eines Hähers. Ohne es zu<br />
bemerken - da er sich nahezu lautlos bewegt hatte - war er bis<br />
auf ein paar Meter an das Tier herangekommen, hatte es<br />
aufgescheucht. Der Ruf des Vogels löste ein wahres Echo<br />
weiterer Häherschreie aus. Dadurch regnete es synästhetische<br />
Perlen. Überall. Silbrig. Aber nicht alle waren rund und nicht<br />
alle waren exakt silberfarben. Je nach Tier mal etwas in Länge<br />
gezogen, mal mehr ins Gelbliche hinein gehend. Individuell<br />
verschieden. Stimmenfingerabdrücke. Die Bäume wurden<br />
lichter, ließen den Blick auf einzelne kleine<br />
Schönwetterwolken zu. Weiß-blaue Federfetzen spiegelten<br />
sich in großen, ockerfarbenen Pfützen, was in ihm eine Art<br />
von innerer Stille hervorrief. Darauf fallende<br />
Pergamentfaltungen von den Bäumen verursachten<br />
Ringmuster, die wie ein helles „Pling-Plong“ klangen.<br />
Wieder ein anderer synästhetisch wahrgenommener<br />
Geruch, türkis mit tiefblauen Punkten. Von Pilzen, also erdigmuddig.<br />
Inzwischen war er schon weit gewandert. Einzelne,<br />
verirrte Strahlen der Sonne kämpften sich durch die<br />
Baumkronen. Eine wohlige Müdigkeit machte sich in ihm<br />
bemerkbar, konnte vom Wandern, vielleicht aber auch von<br />
der Orgie verschiedenster synästhetischer Empfindungen<br />
kommen. Zeit, allmählich den Rückweg anzutreten. Dazu<br />
wählte Findus eine andere Route, orientierte sich am Stand<br />
der Sonne. Ging weiter. Schloss die Augen immer wieder für<br />
ein paar Schritte beim Laufen, orientierte sich nur nach den<br />
Ohren, Gerüchen und den geisterhaften Lichterscheinungen<br />
vor seinem inneren Auge. Und haptisch, denn die Sohlen<br />
waren ziemlich dünn, so dass er die Steine spüren konnte.<br />
Herrlich, denn das hatte was vom Barfußlaufen. Irgendwann<br />
fühlte er sich heiter-erschöpft. Musste Kraft tanken.<br />
Er legte die Hand an einen Baum, eine Buche, und<br />
verharrte. Schloss die Augen und lauschte dem, was der Baum<br />
ihm zu sagen hatte. Sah vor seinem inneren Auge den Baum.<br />
Wie im Zeitraffer lief jetzt die Zeit rückwärts. Sah in<br />
Gedanken, wie der Baum heranwuchs. Wie er Blätter verlor<br />
und bildete. Wie er Wind und Wetter, Schnee und Sturm,<br />
Regen und Hitze trotzte. Wie er kleiner wurde. Wie sich sein<br />
Keim aus der Laubschicht bohrte. Wie sein Keim in der Erde<br />
39
lag. Wie die Buchecker auf die Erde fiel. Wie sie sich an einem<br />
anderen Baum aus Mineralstoffen und Flüssigkeiten geformt<br />
hatte. Findus öffnete die Augen, nahm die Hand vom Stamm.<br />
Sie hinterließ einen dunklen Abdruck auf der Rinde und war<br />
schmutzig, aber er fühlte sich mehr als erfrischt, fröhlich,<br />
vollkommen locker. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und<br />
hätte unmöglich sagen können, wie lange diese meditativbesinnliche<br />
Phase, dieses Die-Natur-Erfahren wohl angedauert<br />
hatte.<br />
Gegenlicht. Die Sonne verwandelte die Wasserflächen der<br />
gigantischen Pfützen in ein gleißendes Gold; fast wie ein<br />
Schrei hörte es sich an. Silbrige, metallisch-nasse<br />
Vogelstimmen-Ringe ringsum in allen Farbvarianten,<br />
aufgelockert durch Ellipsen und vereinzelte, abgeschrägte<br />
Polygone. Eine Biegung des Weges, ein neuer Geruch, sattgün.<br />
Er vermutete, dass der von dem hier allgegenwärtigen<br />
Wurmfarn hervorgerufen wurde, obgleich der Farn selbst<br />
noch die hellbraun-gelbliche Farbe vom letzten Herbst<br />
aufwies. Über ihm ein Gewirr von dunkelrotgrauen<br />
Hohlkugelabschnitten: Das Flattern eines Schwarms von<br />
Wildtauben, welchen er unabsichtlich aufgescheucht hatte. In<br />
der Ferne der dunkle, rötliche, Hohlnadel-ähnliche Ruf eines<br />
Bussards. Wiederholte sich mehrmals. Der bisher nur leichte<br />
Nebel wurde dicht, immer dichter, dämpfte die Vogelrufe fast<br />
bis zur Unhörbarkeit. Eine reale Traumwelt, ganz für ihn<br />
allein - wobei diese Begriffswahl ihm weder als Koan noch als<br />
Paradoxon erschien. Eine reale Traumwelt, wo die Natur<br />
einen Wert in sich selbst hatte. Dann verließ er den Wald und<br />
stand wieder vor der Hütte des Fischers. Ihm war klar, dass er<br />
einmal dem Tode entronnen sein musste. Irgend etwas war<br />
dabei mit ihm geschehen, hatte sein Denken dauerhaft<br />
verändert. Findus betrachtete die Natur jetzt mit anderen<br />
Augen, sah das Leben nicht mehr so verbissen. Wozu hinter<br />
Reichtümern herlaufen? Es gab wichtigere Werte! Und der<br />
Tod hatte für ihn viel von seinem Schrecken verloren... Es<br />
war bereits Nachmittag geworden. Auch der Rest des Tages<br />
verging sehr schnell.<br />
40
Am gleichen Tag in der Stadt Helgeboog. Neville rief die<br />
Gilde der Spione zusammen. Gilde war eigentlich ein sehr<br />
hochtrabender Begriff für die dreißig Personen umfassende<br />
Todestruppe, von denen zwei fehlten, weil sie im Reich<br />
unterwegs waren. Trotzdem - jeder aus dieser Gruppe war<br />
handverlesen, fürchtete weder Tod noch Teufel und war<br />
Neville bis hin zur Selbstaufgabe bedingungslos ergeben. Er<br />
war dafür bekannt, dass Gnade ein ihm unbekanntes Wort<br />
war. Und er ging immer taktisch klug, heimtückisch, eiskalt,<br />
skrupellos und mit äußerster Härte vor. Deswegen war er als<br />
Baldur´s blutigster Handlanger bekannt und gefürchtet. Das<br />
kam natürlich nicht von ungefähr. Neville zählte zu den<br />
Menschen, die ihren eigenen ‚echten‘ Namen kannten. Vor<br />
sehr langer Zeit einmal war er sturzbetrunken gewesen und<br />
vertraute diesen Namen Baldur an. Neville - „Neville<br />
Man-Ehu“ oder „Neville Manaz-Ehwaz“, wie die Magier und<br />
Hexen sagen würden: „Fördere das eigene Wohl durch starke<br />
Gemeinsamkeit.“ Und wer hatte ihn damals wohl so<br />
betrunken gemacht und übte heute Macht über ihn aus? Und<br />
mit wem bestand wohl die Gemeinsamkeit?<br />
Neville instruierte seine Mannschaft. So sagte er im Zuge<br />
seiner Ansprache: „Wir haben uneingeschränkte Mittel zur<br />
Verfügung. Das erlaubt es uns, Denunzianten zu belohnen.<br />
Versprecht den Leuten eine Belohnung! Geht jedem<br />
einzelnen Hinweis nach. Wer auch nur im Verdacht steht,<br />
dem Gesuchten geholfen oder gar Unterschlupf gewährt zu<br />
haben, der wird verhört. Folter ist zulässig. Vergesst auch die<br />
Verwendung der Hungertürme nicht.“<br />
Die Hungertürme waren ein beliebtes Mittel früherer<br />
Tyrannen gewesen, um unliebsame Mitmenschen vom<br />
Angesicht der Welt verschwinden zu lassen. Diese steinernen<br />
Türme waren uralt, rund, mit etwa fünf bis zehn Schritten im<br />
Durchmesser und zu hoch, um herausklettern zu können. Sie<br />
waren einzeln stehend über das ganze Reich verteilt. Nach<br />
oben hin verjüngten sie sich etwas und ein Dach besaßen sie<br />
nicht. Nur eine einzige halb mannshohe Tür aus dickem<br />
Eichenholz, mit Eisen beschlagen. Keine Fenster. Die<br />
Verurteilten wurden in diese Türme gesperrt. Wasser<br />
bekamen sie vom Regen. Nahrung nicht. Sie verhungerten<br />
elendig oder sie verfaulten bei lebendigem Leib. Wer großes<br />
41
Glück hatte, der erfror im Winter schon nach kurzer Zeit.<br />
Neville wusste um die abschreckende Wirkung dieser Türme<br />
auf die Bevölkerung. Er gedachte, sie erneut zu gebrauchen.<br />
Derweil war Baldur selbst in einem ganz anderen Teil von<br />
<strong>Norgast</strong> aktiv und durchmusterte die Gedanken seiner<br />
Untertanen. Mit Wohlwollen sah er die brutale Tätigkeit<br />
seiner Spione. Gut – sehr gut sogar. Viele Tote. Viele Seelen.<br />
Das würde den Dämon erst einmal beschäftigen und ihm<br />
selbst Zeit verschaffen. Die unsichtbare Schlinge um den Hals<br />
des Mannes ohne Gedächtnis zog sich langsam aber sicher zu,<br />
ohne dass der Letztere etwas davon bemerkt hätte!<br />
Der nächste Tag. Nach einem zwar kärglichen, doch<br />
gleichzeitig auch sättigenden Frühstück, nahm der Fischer<br />
Findus mit nach draußen. „Sammle am Vormittag Brennholz<br />
soviel du finden kannst“ befahl Bewok. Er reichte Findus<br />
einen langen und recht schweren messerähnlichen<br />
Gegenstand, welcher unschwer als früheres Kurzschwert<br />
erkennbar war. Es musste uralt sein. Früher bestimmt einmal<br />
sehr wertvoll, hatte es endlose Zeiten und viele Besitzer<br />
überdauert. Eine Seite der Klinge war scharf geschliffen und<br />
leicht gebogen. Sie glänzte. In die andere Seite waren dicht an<br />
dicht grobe Zacken eingearbeitet worden - nachträglich, wie<br />
leicht zu sehen war. Bewok erläuterte: „Dein Werkzeug. Die<br />
glatte Seite dient als Axt. Mit der gezackten Seite kannst du<br />
das Holz sägen. Gleichzeitig dient das Ding zu deiner<br />
Verteidigung, falls das nötig sein sollte. Wir haben hier Wölfe,<br />
Bären und Luchse. Und Kreuzottern. Das sind Giftschlangen.<br />
Aber die bekommst du sowieso nur dann zu Gesicht, wenn<br />
du dich leichtfüßig wie ein junges Mädchen bewegst.<br />
Normalerweise spüren sie deinen Schritt und flüchten lange<br />
bevor du sie siehst. Den Bären gehst du besser aus dem Weg.<br />
Das gilt auch für die Wölfe und für Wildschweine.“ Er sah<br />
Findus scharf an. „Ich werde vorsichtig sein“ versprach<br />
Findus und Bewok machte sich auf den Weg zu seinem Boot.<br />
Findus umrundete die Hütte und ging auf dem ihm bereits<br />
vom Vortag bekannten Weg in den Wald. Ihm waren gestern<br />
schon ein paar etwa armstarke, grau-braune Totholzstämme<br />
42
aufgefallen. Er fand sie rasch wieder; fällte sie. Zerkleinerte<br />
das Holz auf tragbare Größe und schleppte es zur Hütte, wo<br />
er es unter einem Schilfunterstand aufschichtete, so dass es<br />
vor dem Regen geschützt war. Armvoll um Armvoll, Fuder<br />
um Fuder. Rasch wuchs der Stapel. Unterwegs fiel ihm eine<br />
zottig-behaarte hüfthohe Pflanze von abstoßendem Geruch<br />
und mit gelblich-weißen, geäderten Blüten auf.<br />
„Hundspisswurzel“ stand da plötzlich ein Begriff in seinem<br />
Kopf. Diese Pflanze - sie war hochgiftig. Und dennoch...<br />
Irgendeinen Zweck hatte sie, das war im klar.<br />
Ohne sagen zu können warum, bat er Snofork um zwei<br />
alte Tücher und um eine Flasche mit etwas Öl. „Öl?“ fragte<br />
sie und „Haben wir nicht.“ Sie überlegte einen Moment, dann<br />
„Warte mal. Bewok hat mal versucht, Fischöl herzustellen.<br />
Furchtbares Zeug. Stinkt widerlich. Zu nichts zu gebrauchen.<br />
Reicht Dir das?“ „Ja, das ist schon in Ordnung“ antwortete<br />
Findus. „Willst du mir nicht sagen, wozu du es brauchst?“<br />
„Vielleicht erinnere ich mich an etwas. Wenn´s funktioniert,<br />
dann erfährst du das sowieso. Lass´ mir doch mal ein kleines<br />
Geheimnis.“ Kopfschüttelnd und unverständliches Zeug vor<br />
sich hinbrummelnd gab sie ihm das Gewünschte und Findus<br />
zog von dannen.<br />
Wieder im Wald sammelte er einen flachen und einen<br />
runden Stein. Mit dem Kurzschwert-Werkzeug schnitt er von<br />
einem umgestürzten Nadelbaum ein Stück Rinde ab.<br />
Nadelbäume lieferten dickere Rinde als Laubbäume, eine gute<br />
Unterlage. Dann umwickelte er seine Hände mit den Tüchern<br />
und schnitt einige Teile der widerlich riechenden Pflanze ab.<br />
Mischte viele der violett geäderten Blütenkelche unter das<br />
Pflanzenmaterial. Stück für Stück zerdrückte er es zwischen<br />
den beiden Steinen und praktizierte die schmierige Masse in<br />
die Ölflasche, welche danach gut verkorkt wurde. Trotzdem<br />
er so gut es eben ging die Luft angehalten und sich zum<br />
Atemschöpfen immer ein gehöriges Stück zur Seite bewegt<br />
hatte, spürte er, wie es ihm schwindlig-leicht im Kopf wurde.<br />
Er hatte zuviel von dem Geruch eingeatmet. Aber er war jetzt<br />
ja auch fertig. Nur noch die Flasche außen abwaschen. Die<br />
Tücher würde er nachher im Fluss reinigen können.<br />
Findus reinigte das Äußere der Flasche gerade in einer<br />
Pfütze, als er das Gefühl bekam, beobachtet zu werden.<br />
43
Alarmiert blickte er auf. Doch Gefahr bestand nicht. Ein<br />
Fuchs war aus dem Unterholz gekommen und kaum zwei<br />
Schritte von Findus entfernt stehen geblieben. Er sah Findus<br />
an. Findus sah ihn an. Eine ganze Weile betrachteten die<br />
beiden einander. In Findus´ Geist regte sich etwas. Er schien<br />
die Welt plötzlich irgendwie aus der Fuchsperspektive zu<br />
betrachten. Die Gerüche hatten sich auch verändert. Sie<br />
waren intensiver und vielfältiger geworden. Eine ganze<br />
Geruchswelt. Und Vorsicht war das vorherrschende Gefühl.<br />
Daneben aber auch noch ängstliche Neugier. „Willst du denn<br />
gar nicht flüchten?“ fragte Findus den Fuchs. Der gab als<br />
Antwort eine Art von Maunzen, fast wie bei einer Katze, von<br />
sich. Blieb aber wo er war. Findus hatte plötzlich das Gefühl,<br />
als wollte Fell durch seine Haut sprießen. Erschrocken stand<br />
auf. „Verschwinde“ sagte er unwirsch zu dem Fuchs. Der gab<br />
einen wachsgelb-bellenden Laut von sich und verzog sich<br />
wieder ins Unterholz. Ein verrücktes Erlebnis!<br />
Findus nahm die Flasche und ging zurück; deponierte das<br />
Gefäß an einen sicheren Ort außerhalb der Hütte. Dann<br />
reinigte er die Tücher im Fluss. Flussabwärts begannen ein<br />
paar Forellen zu springen. „Springende Fische...“ dachte er<br />
„...ich habe Recht gehabt.“ Er breitete die Tücher nahe der<br />
Hütte zum Trocknen aus und informierte Snofork. Danach<br />
machte er sich wieder an das Sammeln von Holz. Zu Mittag<br />
aßen sie alle drei zusammen. Dann ging die Arbeit weiter.<br />
Bewok war am Morgen nicht ganz erfolglos geblieben und<br />
hatte ein paar Fische mitgebracht. Nicht gerade viele, aber es<br />
würde reichen. Er zeigte Findus, wie die Fische haltbar zu<br />
machen waren. Die Tiere wurden ausgenommen, gut<br />
gewaschen und für geraume Zeit an die Luft und in die pralle<br />
Sonne gehängt, so dass sie gut abtrocknen konnten. Es folgte<br />
ein reichliches Salzen. Daraufhin maß der Fischer eine ganz<br />
bestimmte Menge von älterem und daher schon richtig<br />
durchgetrocknetem Feuerholz ab. Bewok bedeutete Findus,<br />
das Holz zu tragen und ihm zu folgen. Sie gingen zu einer<br />
nahegelegenen Stelle am Waldrand. Dort befand sich eine<br />
steinerne Umfassung mit einer Eisenplatte darüber. Auf der<br />
Eisenplatte stand ein kleiner Turm aus Lehm, darüber ein<br />
hölzerner Deckel mit innenliegenden Haken.<br />
44
Bewok setzte den Korb mit den darin befindlichen<br />
Fischen sowie eine geheimnisvolle Holzkiste ab. Der Fischer<br />
öffnete die Kiste und Findus warf einen Blick hinein. Was<br />
immer er auch erwartete - er wurde enttäuscht. Bewok<br />
bemerkte Findus´ Gesichtsausdruck und lachte. „Meine<br />
Räucherkiste“ sagte er. „Das hier“ - er wies auf eine Mischung<br />
aus getrockneten Schilfblüten, zerkleinerten Schilfstängeln,<br />
Holzspänen und kleinen Holzkohlestücken – „ist der Zunder<br />
zum Entzünden des Feuers. Das hier“ - nun wies er auf eine<br />
andere Kammer in der kleinen Kiste – „ist Holzmehl aus<br />
Buche, Eiche und Esche. Pack´ das Feuerholz schon mal<br />
unten rein.“ Bewok wies auf die Steineinfassung und half<br />
Findus, das seltsame Gebilde zu zerlegen. Findus befolgte<br />
neugierig alle Anweisungen. Der Fischer schichtete das<br />
Feuerholz etwas um und legte dann einen Zunderrand um<br />
und in die Mitte des Holzes. Nun deponierte er die<br />
Eisenplatte darüber und stellte den Lehmturm oben auf. Er<br />
gab die Holzmehlmischung hinein und verteilte sie<br />
gleichmäßig auf dem Boden der eisernen Platte.<br />
Dann griff er nach einem Lederbeutel am Gürtel. Er<br />
entnahm dem Beutel eine Handfläche voll von krümeligem<br />
Material. „Das ist für mich beinahe der wertvollste Rohstoff“<br />
erläuterte Bewok und setzte hinzu: „Eine Mischung von<br />
getrocknetem Heidekraut und Treibholz vom fernen Maar.<br />
Die geben dem Fisch ein unvergleichliches Aroma.“ Er fügte<br />
die Gewürze dem Holzmehl hinzu. Jetzt wurden die Fische in<br />
ein Weidengeflecht gegeben und in den Turm eingehängt.<br />
Bewok legte den Deckel auf. Ein paar Hände voll nasser Erde<br />
dichteten Holz und Lehmröhre gegen die Außenluft ab. „Die<br />
Sonne steht gut“ sagte der Fischer und entnahm einem<br />
zweiten Lederbeutel ein geschliffenes Glas. Er hielt es derart<br />
dicht beim Zunder, dass sich ein grellweißer Lichtfleck<br />
bildete. Nicht lange und Rauch kräuselte nach oben.<br />
Vorsichtig pustete Bewok, um aus der Glut Flammen zu<br />
machen. Bald darauf brannte auch das Feuerholz.<br />
„Der Vorgang nennt sich Räuchern“ erklärte er dem ratlos<br />
dreinblickenden Findus. „Das Feuerholz verbrennt mit heißer<br />
Flamme und heizt die Eisenplatte auf. Die gibt die Hitze an<br />
das Holzmehl und an die Gewürze weiter. Die verschwelen<br />
und der Rauch konserviert den Fisch für viele Tage. Wenn<br />
45
man ihn danach nochmal an der Luft trocknet, dann kann<br />
man ihn sehr lange aufbewahren.“ „Und wie weißt du, wann<br />
der Fisch fertig ist? Nimmst du den Deckel ab und siehst<br />
nach?“ fragte Findus. „Bloß nicht“ antwortete der Fischer<br />
abwinkend „das ist das Schlimmste, was man überhaupt tun<br />
kann. Dann entweicht der Rauch. Das Abnehmen des<br />
Deckels unterbricht den Räuchervorgang. Macht man das zu<br />
früh, dann ist der Fisch unwiederbringlich verdorben.“<br />
Bewok machte eine kurze Pause, bevor er weiter sprach.<br />
„Es ist viel einfacher. Ich messe die Menge an Feuerholz ab,<br />
die gebraucht wird. Wenn das Holz runtergebrannt ist, dann<br />
war der Fisch lange genug in der Tonne.“ Findus nickte. Das<br />
klang alles ganz logisch und war leicht nachvollziehbar. Aber<br />
etwas anderes ging ihm noch durch den Kopf und ließ seinen<br />
Respekt vor Bewoks Fähigkeiten steigen. „Du brauchst die<br />
Sonne, um das Feuer zu entzünden?“ fragte Findus den<br />
Fischer. Bewok nickte. „Dann musst du aber auch alles<br />
andere berücksichtigen. Wie das Wetter wird, bevor du zum<br />
Fischen gehst. Rechtzeitig Feuerholz und Kräuter beschaffen.<br />
Die Gewürze beim fahrenden Händler eintauschen und mehr<br />
noch.“ Bewok nickte wieder. „Das erfordert ein sehr<br />
weitsichtiges Vorausschauen - woher weißt Du, was du wann<br />
tun musst?“ „Erfahrung“ brummte Bewok nur, setzte leise<br />
ein „und Hunger“ hinzu. „Manchmal bringe ich auch<br />
glühende Holzkohle mit“ ergänzte er noch, murmelte etwas<br />
Unverständliches über ‚unnütze Fragerei‘ und schwieg<br />
danach.<br />
Das Räuchern zog sich bis zum frühen Abend hin. Bewok<br />
löschte die restliche Glut mit etwas Wasser und klaubte die<br />
noch brauchbaren Holzkohlestücken heraus – ein wertvolles<br />
Gut, denn was übrig blieb, dass würde er später nicht beim<br />
fahrenden Händler eintauschen müssen. Zum Schluss<br />
bedeckten sie die Feuerstelle mit Erde. Mit dem frisch<br />
geräucherten Fisch traten beide den <strong>Heim</strong>weg an. Dabei wies<br />
Bewok gen Himmel und sprach: „Halbmond. Zunehmend.<br />
Der fahrende Händler kommt immer um den Vollmond<br />
herum. Mit etwas Glück haben wir dieses Mal genug zum<br />
Tauschen. Lass´ uns die nächsten Tage versuchen, soviele<br />
Fische wie möglich an Land zu bringen und zu räuchern.“<br />
Auf einmal blieb Bewok stehen und sah Findus direkt ins<br />
46
Gesicht. „Was macht dein Gedächtnis?“ fragte er. Findus<br />
zuckte mit den Schultern: „Keine Veränderung. Da ist einfach<br />
nichts.“ „Ich habe mit Snofork gesprochen. Sie kennt sich mit<br />
Kräutern aus und kann Dir vielleicht helfen. Eine Hexe ist sie<br />
nicht, denn sie verfügt praktisch über keine magische Kraft.<br />
Aber sie kann die Magie anderer Menschen spüren. Und sie<br />
sagte, dass deine sehr groß sein wird, wenn du dein<br />
Gedächtnis zurück bekommst. Jedenfalls war sie heute<br />
unterwegs, um Kräuter für dich zu sammeln. Versuch´s<br />
einfach; vertrau´ ihr. Es schadet dir nicht.“ Findus hatte<br />
aufmerksam zugehört. Ein zustimmendes Nicken seinerseits<br />
bestätigte sein Einverständnis. Sie waren inzwischen an der<br />
Hütte angekommen und gingen jetzt hinein.<br />
Snofork erwartete sie bereits, doch Essen gab es noch<br />
nicht. Jedenfalls nicht für Findus. Sein Magen musste leer<br />
sein. Die Fischersfrau hatte tagsüber Kräuter gesammelt und<br />
daraus einen Trank gebraut, der Findus´ Erinnerung<br />
wiederbringen sollte: Bittersilchesaat, Besenkraut, Plan und<br />
Zauberpilze. Alle drei setzten sich an den Tisch, in dessen<br />
Mitte eine Kerze wohliges Licht spendete. Für das<br />
Fischerpaar gab es das übliche Fladenbrot, ergänzt um Fisch,<br />
Eier und Wildkräuter. Für Findus hingegen den Kräutertrank.<br />
Snofork erläuterte: „Der Trank soll deine Erinnerung<br />
zurück bringen. Ich weiß nicht, ob er funktioniert, aber den<br />
Versuch ist es wert. Er wirkt am Besten, wenn du ihn auf<br />
nüchternen Magen trinkst. Essen kannst du hinterher, denn<br />
der Sud macht hungrig. Was der Trank zutage bringt, das<br />
weiß keiner. Der Geschmack ist jedenfalls einfach grässlich.<br />
Trotzdem... Ich habe viel Honig hinein gegeben. Es sollte<br />
schon gehen. Und nun trink.“ Und Findus trank. Die Alte<br />
hatte nicht übertrieben. Der Geschmack war wirklich<br />
furchtbar. Nicht lange und eine wohlig-euphorische<br />
Müdigkeit erfüllte Findus. Farbige Lichterscheinungen<br />
entführten ihn in eine andere Wirklichkeit...<br />
...eine Wirklichkeit, in der er vor dem Naturheiligtum<br />
‚Achestorensten‘ stand. Eine aus dreizehn Felsen bestehende<br />
Steingruppe, höher als die höchste Tanne und jeder Felsen<br />
einzeln stehend, wie die Perlen auf einer Kette. Es war ein<br />
heller, sonniger Tag. Da waren Menschen. Viele Menschen.<br />
Fremdartig-bunt gekleidet und lärmend. Findus selbst trug<br />
47
auch so eine fremdartige, nicht natürliche Kleidung aus dem<br />
seltsamen Material. Viele Kinder, die herumtollten. Nicht<br />
andächtig, nicht nachdenklich, nicht konzentriert. Es gab<br />
keine Magie mehr. Beängstigend und erschreckend. Als er das<br />
Heiligtum ersteigen wollte, musste er Eintritt bezahlen.<br />
Verrückt - an einem Ort des Glaubens und der Andacht!<br />
Er spürte die Kraft der Erde, die in seinem Geist ein<br />
gelbes Feuer mit blauem Rand entfachte. Ein Feuer, welches<br />
immer größer wurde, je näher er den Felsen kam. Eine<br />
Treppe war in den Stein gehauen worden, führte einen<br />
turmartigen Felsen empor. Er erklomm sie. Die Sonne<br />
strahlte ihm direkt ins Gesicht, hier in diesem Treppen-Fels-<br />
Tunnel. Sie schien ihn in eine andere Welt ziehen zu wollen.<br />
Eine Art von Feuerröhre drehte sich vor seinen Augen. Es<br />
war ein seltsamer Ort, ein Übergang zwischen den Welten.<br />
Das Gefühl für die Erdströme veränderte sich, je höher er<br />
stieg. Oben war das innere Feuer blau-weiß, drohte ihn zu<br />
verzehren. Ihn schwindelte. Er wurde mit magischen<br />
Energien förmlich überladen. Nur schien er der Einzige zu<br />
sein, dem es so ging. Alle anderen spürten das entweder nicht<br />
oder waren zu abgestumpft, zu ‚rational‘. Spirituelle<br />
Erfahrung wurde von denen auf eine Art von Magnetsinn im<br />
Kopf und auf davon erfasste Magnetfeldanomalien<br />
zurückgeführt. Das Naturheiligtum war zur<br />
Touristenattraktion verkommen...<br />
...und Findus fand sich in der Fischerhütte wieder,<br />
nachdem die Wirkung des Tranks abgeklungen war, verspürte<br />
Heißhunger. „An was hast du Dich erinnert?“ fragte Snofork.<br />
Findus erzählte ihnen von dem entwürdigten Naturheiligtum.<br />
Betreten sahen sich Bewok und seine Frau an. Schließlich<br />
sagte Snofork: „Der Trank hat gewirkt, nur nicht so, wie ich<br />
es erwartet hätte. Deine Erinnerung ist zweifellos richtig.<br />
Aber sie betrifft leider die falsche Welt. Vielleicht eine Welt,<br />
die der Unseren ähnlich ist, vielleicht auch erst in ferner<br />
Zukunft. Hier nützt dir diese Erinnerung gar nichts. Da kann<br />
ich dir leider nicht helfen. Andererseits hast du hier so<br />
gearbeitet, als wenn du von dieser Welt wärest. Das passt<br />
nicht zusammen. Also - wer bist du?“ Findus wusste keine<br />
Antwort. Grüblerisch schweigend blickten sie sich an. „Dich<br />
umgibt ein größeres Geheimnis als wir dachten“ drückte<br />
48
Bewok ihrer aller Gedanken aus und schob Findus einen<br />
Teller zu. „Iss, und dann gehen wir alle Schlafen. Morgen<br />
wartet viel Arbeit auf uns.“<br />
Am nächsten Tag waren Findus und Bewok schon früh<br />
draußen. Bewok hatte vor, seine Reusen zu kontrollieren. Der<br />
Fischer zeigte Findus deren Standort, indem er auf eine Reihe<br />
von auf dem Wasser tanzenden Korkstücken stromaufwärts<br />
wies. „Bevor wir fahren, muss ich noch ein paar Kleinigkeiten<br />
erledigen. Halte dich aber bereit, es dauert nicht lange“ meinte<br />
Bewok und ließ Findus stehen. Findus blickte zum Strom und<br />
erinnerte sich an das Kurzschwert. Er holte es und lief zum<br />
Waldrand. Schnitt einen gut mannslangen Stock ab und ging<br />
damit zum Wasser. Dann schlug er mit dem Holz in Ufernähe<br />
immer wieder ins Wasser, während er langsam flussaufwärts<br />
ging. „Was treibst du da eigentlich?“ fragte eine Stimme hinter<br />
ihm. Findus wandte sich um. Es war Bewok und der guckte<br />
ziemlich grimmig, weil er in Findus´ Tätigkeit keinen Sinn<br />
sah. „Sieh“ bemerkte Findus „die Fische schwimmen gegen<br />
die Strömung und immer in der Nähe des Ufers. Indem ich<br />
hier ins Wasser schlage, treibe ich sie in deine Reusen. Hoffe<br />
ich wenigstens“ setzte er noch hinzu. „Wollen sehen, ob du<br />
Recht hast“ brummte der Fischer, jetzt schon versöhnlicher<br />
ob des guten Willens. Sie fuhren mit dem Boot hinaus. Die<br />
Reusen waren prall gefüllt. Findus´ Taktik hatte sich als<br />
richtig erwiesen. Am Nachmittag wurden wieder Fische<br />
geräuchert. Sehr viele. So verging Tag um Tag.<br />
Später - der Mond war schon fast voll - eröffnete Bewok<br />
dem Findling, dass sie schon nachts würden aufstehen<br />
müssen. „Wir dürfen den Strom nicht überfischen, denn er<br />
ernährt uns. Aber im ‚Schlafenden Arm‘ der Tiedsiepe<br />
müssten noch genügend Fische sein. Es ist ein weiter Weg<br />
dorthin. Wir müssen deswegen früh los. Und Netze und<br />
Körbe mitnehmen.“ Findus nahm noch etwas anderes mit<br />
- nämlich die Flasche mit der Pflanzenbrei-Fischöl-Mischung.<br />
Im Verlauf des Vormittags erreichten sie den ‚Schlafenden<br />
Arm‘. Im Norden begrenzte ihn eine mehr als doppelt<br />
baumhohe Felswand. „Momentan ist das Wasser ruhig“<br />
meinte der Fischer „aber ich weiß nicht so richtig, wieviel Zeit<br />
wir haben. Beobachte immer die Felswand ganz genau. Unser<br />
Leben hängt davon ab. Sobald sie anfängt, irgendeine Form<br />
49
von Feuchtigkeit zu zeigen, müssen wir schnellstens vom<br />
Wasser verschwinden. Dann wird nämlich die Tiedsiepe<br />
geflutet und läuft über. Ein gigantischer Wasserfall donnert<br />
herunter und verwandelt diese trügerische Idylle in ein tödlich<br />
kochendes Wasser mit unberechenbaren Strudeln und<br />
Strömungen.“ Noch während er sprach befreite der Fischer<br />
ein in einem Weidenhag verstecktes Boot von dem zur<br />
Tarnung darüber geschichteten Strauchwerk. „Such´ mal ein<br />
paar große Steine zum Zermahlen von Holzkohle“ forderte<br />
der Fischer Findus auf. Findus tat wie ihm geheißen und<br />
Bewok rührte einen Brei aus Wasser und Kohlenstaub an.<br />
„Damit reiben wir uns ein“ befahl der Fischer „denn das<br />
schützt gegen den Sonnenbrand.“<br />
So geschützt ruderten sie auf das trügerische Gewässer<br />
hinaus. Bewok wollte eben das Netz auswerfen, als Findus ihn<br />
am Arm fasste: „Warte einen Augenblick. Ich möchte etwas<br />
ausprobieren.“ Sprach´s und verteilte den Inhalt der Fischöl-<br />
Flasche in hohem Bogen im Wasser. Der Fischer hatte im<br />
Verlauf der vergangenen Tage schon festgestellt, dass Findus<br />
zwar kein Gedächtnis mehr hatte, aber dennoch nicht auf den<br />
Kopf gefallen war. Er ließ den jungen Mann gewähren. Schon<br />
bald begannen die Fische aus dem Wasser zu springen. Kurz<br />
darauf schwammen sie bauchoben an der Oberfläche. „Sie<br />
sind nur betäubt“ sagte Findus und fügte - unnötigerweise -<br />
hinzu „Wir müssen sie einsammeln, bevor sie wieder<br />
aufwachen.“ Jetzt erst warf Bewok das Netz. Der Fang<br />
übertraf alle Erwartungen. Das Boot lag schwer im Wasser,<br />
bog sich beinahe unter der Last des Fangs. „Die Felsen“ sagte<br />
Findus nur, der seine Aufmerksamkeit nie von der Felswand<br />
abgewandt hatte. Die Felswand war dunkel verfärbt. Feucht.<br />
„Wir müssen schnellstens zurück!“ ächzte Bewok und sie<br />
ruderten wie der Teufel dem Ufer zu. Sie erreichten das Ufer<br />
gerade, als aus der Feuchtigkeit mehrere kleine Wasserfälle<br />
geworden waren. Nachdem sie das Boot an Land geschafft<br />
und entladen hatten, war ein donnernder, tosender Wasserfall<br />
entstanden. Der ‚Schlafende Arm‘ der Tiedsiepe hatte sich in<br />
ein tödliches Geschäume und Gebrodel verwandelt!<br />
Sie füllten zwei Körbe mit den Fischen und jeder von<br />
ihnen trug einen Korb als Kiepe auf dem Rücken. Dennoch<br />
blieben viele weitere Fische übrig. Findus zog sein Hemd aus<br />
50
und schnitt mit Hilfe seines modifizierten Kurzschwertes<br />
zwei lange Baumstangen ab. Er sammelte ein paar Steine. Die<br />
Steine legte er in den Saum des Hemdes und umwickelte<br />
jeden Stoff-ummantelten Stein mit etwas mitgebrachter<br />
Schnur, so dass sich eine Art von Klumpen bildete. Eine<br />
Holzstange führte er durch die Hemdsärmel; die andere<br />
wurde mit den Stoff-ummantelten Stein-Klumpen verknotet.<br />
Auf diese Weise ergab sich eine Trage, mit welcher sie die<br />
überzähligen Fische zurück transportieren konnten.<br />
Bewok fragte: „Was war das, das du ins Wasser geschüttet<br />
hast?“ Findus versuchte es ihm zu erklären, aber der Fischer<br />
kannte die Pflanze nicht, schüttelte den Kopf. „Wenn wir<br />
zurück sind, dann sprich´ mit Snofork. Sie wird die Pflanze<br />
kennen.“ Irgendwann in der Nacht - es war schon spät und<br />
der Mond stand hoch am Himmel - erreichten sie die Hütte.<br />
Bewok erzählte Snofork, was sich zugetragen hatte. Sie ließ<br />
sich von Findus das Aussehen der Pflanze schildern. Dann<br />
nickte sie. „Kenne ich. Wir nennen das Tollkraut. Es ist sehr<br />
giftig. Woher hast du das Rezept?“ „Es fiel mir so ein“<br />
erwiderte Findus. Snofork sah ihn nachdenklich an: „Das ist<br />
ganz zweifellos eine Erinnerung an diese Welt.“ Danach<br />
schwieg sie.<br />
Vor dem Einschlafen machte Findus sich seine Gedanken.<br />
Diese beiden Alten - auf ihre eigene Weise waren sie frei.<br />
Sicher, ihr Leben wurde von Sachzwängen diktiert,<br />
beispielsweise von dem Sachzwang, für den eigenen<br />
Lebensunterhalt sorgen zu müssen. Doch bei wem war das<br />
nicht der Fall? Sie hatten ein einfaches, hartes Leben in der<br />
Einsamkeit gewählt. Ein Leben, welches er – Findus – zu<br />
schätzen gelernt hatte. Und darüber hinaus? Sie besaßen<br />
praktisch nichts und hatten daher auch nichts zu verlieren. Sie<br />
wussten um ihre Vergangenheit und wenn sie sich<br />
entschlossen hätten, alles stehen und liegen zu lassen, dann<br />
wäre das von heute auf morgen zu verwirklichen gewesen. Sie<br />
konnten anderswo von vorn anfangen. Jederzeit. Auch eine<br />
Art von Freiheit. Ob alle Menschen in <strong>Norgast</strong> so frei waren?<br />
Was ihn selbst allerdings von dem Fischerspaar unterschied,<br />
war sein Nichtwissen. Woher kam er, wer war er eigentlich<br />
und wohin sollte er sich wenden, wenn er diesen Hort der<br />
Friedfertigkeit einmal verlassen würde? Was hatte es mit der<br />
51
anderen Welt auf sich? Was meinte Snofork damit, dass er<br />
über große magische Kraft verfügte? Viele unbeantwortete<br />
Fragen...<br />
Am Tag nach dem Vollmond erspähte Bewok in der Ferne<br />
einen Pferdewagen. „Der fahrende Händler kommt“<br />
brummte er und an Findus gewandt: „Er kennt dich nicht.<br />
Wer weiß, welches Geheimnis dich umgibt. Ich habe ein ganz<br />
schlechtes Gefühl deswegen. Am besten ist es, wenn du dich<br />
nicht sehen lässt; wenn es dich gar nicht gibt. Also<br />
verschwinde für heute und komm´ erst morgen gegen Abend<br />
zurück, denn der Händler nächtigt meistens auch hier. Dann<br />
wird er von dir nichts bemerken und kann auch nichts<br />
ausplaudern.“ Findus war mit dieser Entscheidung Bewok´s<br />
zwar nicht einverstanden, doch er fügte sich. Der alte Fischer<br />
wusste eigentlich immer ziemlich genau, was er tat. Und er<br />
war immer vorsichtig. Vielleicht hatte er ja Recht; vielleicht<br />
lebte Bewok nur auf Grund dieser seiner Vorsicht noch.<br />
Obwohl es Findus brennend interessierte, etwas über das<br />
<strong>Norgast</strong> außerhalb der Fischerhütte zu erfahren, bekämpfte er<br />
seine Neugierde und ging in den Wald.<br />
Es gab ein großes Wiedersehens-Hallo, als Bewok und der<br />
Händler einander begrüßten. Sie kannten sich ja schon von<br />
früher her. Vieles wurde eingetauscht, denn Bewok hatte<br />
diesmal viele konservierte Fische zu bieten. „Es war eine<br />
vorzügliche Saison“ erklärte er und verschwieg wohlweislich,<br />
dass Findus kräftig mitgeholfen hatte, ja dass der<br />
Letztgenannte überhaupt existierte. Der Händler gab dem<br />
Fischer dafür Öl, Honig, Wachs, Salz, Holzkohle, Tücher,<br />
Gewürze und was der Dinge des täglichen Bedarfs mehr<br />
waren. Der Tauschhandel und das Feilschen zogen sich bis<br />
zum Abend hin. Schließlich waren beide mit dem Geschäft<br />
zufrieden. Dann schichteten Bewok und der Händler ein<br />
großes Lagerfeuer auf. Setzen es nach Anbruch der<br />
Dunkelheit in Brand. Zeit für Nachrichten; Zeit zum<br />
Erzählen. „Was gibt es Neues im Reich?“ fragte Bewok.<br />
„Schlechte Nachrichten“ antwortete der Händler „sehr<br />
Schlechte.“ Nachdenklich fuhr er fort: „Ihr bekommt hier<br />
draußen nichts davon mit. Seid froh darüber. Das Reich ist in<br />
Aufruhr. Der Herrscher sucht irgend jemanden, den keiner<br />
kennt. Baldur hat seine Häscher überall. Jeder hat Angst.“<br />
52
Der Händler machte eine Pause und stocherte mit einem<br />
Stock bedrückt in den Flammen herum.<br />
Seufzend fuhr er fort: „Das Leben ist nicht mehr gut.<br />
Nicht mehr das, was es mal war. Die Schergen suchen überall.<br />
Die Straßen in den Städten hallen vom Geschrei der<br />
Gequälten, Gepeitschten und Gefolterten wider.<br />
Denunziation wird belohnt. Die Denunziation blüht. Baldurs<br />
erbarmungslose Handlanger benutzen die Hungertürme<br />
wieder. An Straßensperren finden Kontrollen statt. Es heißt,<br />
dass Baldur selbst verkleidet unter den Menschen wandelt.<br />
Wer auch nur im leisesten Verdacht steht, irgend etwas mit<br />
dem Gesuchten zu tun zu haben, der wird gnadenlos verfolgt<br />
und getötet. Ihr kanntet Bauer Mallok?“ Der Händler blickte<br />
Bewok an. Der Fischer nickte. Bauer Mallok - ein Ehepaar<br />
mit zwei Kindern, ein Junge und ein Mädchen. Sie besaßen<br />
ein kleines Gehöft weit stromabwärts auf dieser Seite des<br />
Wilderfrio, dort, wo der Strom in das Mündungsdelta<br />
überging. Fernab von jeder Ansiedlung. „Nun“ fuhr der<br />
Händler fort „den Bauern gibt es nicht mehr. Das hier ist<br />
seine Geschichte...“<br />
Ein ärmliches Gehöft irgendwo im Nirgendwo. Hütte, Stall<br />
und Pferche für die Tiere. Eine kleine Scheune. Alles aus<br />
uraltem, schon grau-rissigem Holz erbaut. Bauer Mallok lebte<br />
hier mit seiner Frau und seinen Kindern. Die Tochter war<br />
acht Sommer alt; sein Sohn zählte fünfzehn Sommer. Es wäre<br />
noch ein Kind dazwischen gewesen, doch das hatte seine Frau<br />
verloren. Irgend jemand - vielleicht jemand, der nur seine<br />
eigene Haut retten wollte - hatte behauptet, dass Mallok dem<br />
Gesuchten Unterschlupf gewähre. Jetzt waren sechs von<br />
Baldurs Häschern hier. Sie hatten vier große, zottige schwarze<br />
Hunde mitgebracht. Ängstlich stand die Bauersfamilie in der<br />
Scheune, umzingelt von Baldurs Handlangern. „Gesindel!<br />
Gib´ endlich zu, dass der Gesuchte hier war!“ donnerte einer<br />
der Schergen. „Aber wir wissen doch von nichts!“ beteuerte<br />
Mallok verzweifelt. Er erblickte blanke Mordlust in den<br />
Gesichtern der Fremden. Ein übler Schlag gegen den Kopf<br />
schickte ihn zu Boden. Seine Tochter rief „Vater!“ und wollte<br />
53
zu ihm hin stürzen. Ein Schwerthieb tötete sie. Die Frau des<br />
Bauern schrie auf und bewegte sich auf das blutüberströmte<br />
Kind zu. Einer der Hunde sprang auf und zerriss ihr die<br />
Kehle. Mallok war inzwischen wieder auf die Beine<br />
gekommen und betrachtete geschockt das Gemetzel. Jetzt<br />
war ohnehin alles egal. Sein Sohn warf ihm eine Mistgabel zu<br />
und wurde dafür gleichfalls sofort von einem Schwerthieb<br />
niedergestreckt. Mallok fing die Forke auf, durchbohrte einen<br />
der Schergen mit den Zinken und rammte beim Zurückziehen<br />
den Stiel einem anderen in den Bauch. Der ging pfeifend zu<br />
Boden. Noch ein Streich mit der Forke und ein weiterer<br />
Häscher starb. Danach flüchtete Mallok.<br />
Er rannte. Rannte um sein Leben. Quer durch einen<br />
Hainbuchenwald, die Verfolger und ihre Hunde hinter ihm.<br />
Nicht lange und die Hunde stellten ihn, sprangen ihn an,<br />
bissen ihn, rissen ihn zu Boden, fügten ihm böse und elendig<br />
schmerzende Wunden zu. Dann waren die Schergen heran.<br />
Sie rissen den Bauern hoch, fesselten ihn und schleiften ihn<br />
ein Stück des Weges hinter ihren Pferden her. Dieser Weg<br />
führte zu einem einzeln auf dem Kamm eines Hügels<br />
stehenden Hungerturm. „Verrecke dadrin, elendes<br />
Geschmeiß!“ Sie warfen ihn hinein und die Tür zu.<br />
Er fiel. Hörte vor lauter Schmerzen nur noch von Ferne<br />
das Zuschnappen des Riegels. Er lag auf einem muffigen<br />
Tuch. Es knackte, als er sich bewegte. Unter dem Tuch ein<br />
Skelett. Das Knacken kam von alten, zerbrechenden<br />
menschlichen Knochen. Mallok stöhnte schmerzvoll, blickte<br />
gequält auf. Ganz oben ein runder Lichtkreis. Der Turm war<br />
offen. Der Regen hatte die Wände feucht gemacht. Er würde<br />
nicht verdursten. Aber verhungern. Seinen Martyrium dauerte<br />
fast einen ganzen Mond lang...<br />
54
Kapitel 4: Die Bônday<br />
Der fahrende Händler war längst Vergangenheit. Fisch war<br />
auf Grund der von Findus verbesserten Fangmethoden<br />
genügend da, doch die Hütte musste ausgebessert werden.<br />
Zeit, das am Strom wachsende Rohr zu schneiden.<br />
„Bewok, schaffen wir das noch?“ rief Findus. „Weiß ich<br />
nicht, wir müssen´s versuchen“ kam die gehetzte Antwort.<br />
Wie Blei lag die Hitze über dem golden wogenden Schilf. Die<br />
Luft flirrte und machte das Atmen schwer. Der Schweiß rann<br />
Findus in Bächen am Körper hinab. Aus den ehemals weißen<br />
Wetterköpfen war eine bedrohliche Gewitterfront entstanden,<br />
ein schmutzig-stahlblaugraues, wetterleuchtendes, drohendes<br />
Monstrum am Himmel. Und die Ernte musste unbedingt<br />
noch eingebracht werden!<br />
Sie arbeiteten mit voller Kraft, schnitten das Rohr, banden<br />
es zu Garben. Immer sechzehn Garbenbunde wurden zu<br />
einem runden Hocken ausgerichtet. Nur so konnte das Rohr<br />
auch dem stärksten Gewittersturm widerstehen - und nur so<br />
wäre die Ernte nicht verloren. Verbissen machte Findus<br />
weiter. Er hasste diese Arbeit. Das Berühren der Halme löste<br />
in seinem Mund immer einen scharfen Geschmack aus, wie<br />
nach Pfeffer. Doch die Arbeit musste getan werden.<br />
„Autsch!“ Nur ein kurzer Moment der Gedankenlosigkeit.<br />
Die Halme konnten messerscharf sein. Den Schmerz nahm er<br />
als eine violett-zersplitternde Farbfläche mit golden<br />
leuchtenden Kanten wahr. Blut tropfte. Doch zum Glück war<br />
es nur ein kleiner Schnitt im Finger. Ärgerlich machte er<br />
weiter, so schnell wie möglich.<br />
Findus war klar, dass er irgendwie ‚anders‘ war. Wie<br />
anders, dass hätte er allerdings nicht konkret sagen können.<br />
Er behielt seine Wahrnehmungen für sich. Die Zeiten waren<br />
schlecht und wer weiß, wie die Fischersleute in ansehen<br />
würden, wenn er offen darüber spräche, dass manche<br />
Stimmen ihm wie lichte blaue, dreidimensionale Punkte mit<br />
so einem blau transparenten Hauch erschienen oder dass<br />
Musik für ihn eine feuerwerksähnliche Farblawine war.<br />
Bestimmt erklärte man ihn dann für verrückt! Nein, lieber den<br />
55
Mund halten, tun, als ob nichts wäre und sich nichts<br />
anmerken lassen. Schon früh war ihm auf unangenehme<br />
Weise deutlich gemacht worden, dass andere Menschen nur<br />
sehr selten so intensiv wie er selbst empfanden; irgendwie<br />
wusste Findus das, auch ohne Gedächtnis. Die letzten Halme,<br />
die letzten Garben, die letzten Hocken. Ein blendend-weißvioletter<br />
Blitz zerriss die Hitze.<br />
Als der Gewitterregen prasselte, standen Bewok und<br />
Findus an der Hüttenwand unter einem kleinen Unterstand.<br />
Bewok sah Findus seltsam an und meinte: „Der fahrende<br />
Händler sprach davon, dass es in <strong>Norgast</strong> drunter und drüber<br />
geht. Der Herrscher sucht jemanden. Er schreckt dabei auch<br />
vor den allerschlimmsten Mitteln nicht zurück. Folter und<br />
Mord. Ich bin ziemlich sicher, dass du der Gesuchte bist. Du<br />
kannst daher nicht ewig hierbleiben, denn das bringt uns in<br />
Gefahr.“ Findus überlegte noch, was er darauf erwidern<br />
sollte, als von drinnen Snoforks Stimme erklang „Das habe<br />
ich gehört!“ Scheu blickte Bewok zur Hüttenwand.<br />
„Manchmal hat die Alte Ohren wie ein Luchs“ kommentierte<br />
er vorsichtig die Bemerkung. „Und das habe ich auch gehört!“<br />
erklang noch einmal die keifende Stimme. „Lass´ uns<br />
reingehen und dann reden wir“ schlug Findus breit grinsend<br />
vor. „Der Junge hat mehr Grips in seinem leeren Kopf als ein<br />
alter Fischer in seinem ganzen Leben an Fisch ranschaffen<br />
kann!“ kam es von drinnen. Findus´ Grinsen wurde noch<br />
breiter. Irgendwie mochte er Snofork und die Art, wie sie sich<br />
gab. Bewok seufzte schwer und beide gingen in die Hütte, wo<br />
Snofork sie schon erwartete.<br />
Nun saßen alle drei an dem kleinen Tisch. Snofork<br />
eröffnete das Gespräch mit den Worten „Bewok hat Recht.<br />
Du kannst hier nicht ewig bleiben. Aber einfach so<br />
fortschicken will ich dich auch nicht. Du bist dem Tode<br />
einmal entronnen und wer weiß, ob dir das ein zweites Mal<br />
gelingen wird. Aber es gibt jemanden, der dir sicherlich helfen<br />
kann.“ Bewok stöhnte, er wusste, worauf seine Frau<br />
hinauswollte. „Weib...“ warf er ein. „Schweig´ still!“ fuhr die<br />
Alte ihm in die Parade und funkelte ihn scharf an. Auf einmal<br />
sah sie viel jünger und obendrein auch noch kraftvoll aus.<br />
Findus wurde schlagartig klar, dass es eigentlich Snofork war,<br />
die hier das Sagen hatte. Zu Findus gewandt fuhr die Alte<br />
56
fort: „Wenn dir jemand helfen kann, dann nur die Bônday.<br />
Bewok wird dich zu ihr bringen. Ihr reist morgen ab.“ Und zu<br />
ihrem Mann gewandt sagte sie: „Und ich will keine<br />
Widerworte hören!“ Brummelnd fügte sich der alte Fischer.<br />
„Es wird eine lange Reise“ wandte sich Bewok an Findus<br />
und setzte hinzu „Lass´ uns packen.“ Der Fischer organisierte<br />
eine aus Weidenholz geflochtene Kiepe, ein großes Tuch mit<br />
Schnüren daran und einen Beutel aus undefinierbarem Stoff.<br />
„Du trägst die Kiepe auf dem Rücken und ich nehme den<br />
Beutel“ wies er Findus an. Weiter: „In die Kiepe kommt<br />
Proviant und sowas rein. Auf dem Rückweg ist sie dann leer.<br />
Das Tuch ist wasserdicht. Du trägst es zwischen Rücken und<br />
Kiepe, damit es bequemer ist. Es ist gleichzeitig unsere<br />
Zeltplane. Vergiss´ dein Schwertwerkzeug nicht. Ich werde<br />
ein gutes Messer mitnehmen. Und eine kleine Armbrust, denn<br />
wir müssen auch jagen. Wasser finden wir unterwegs. Dann<br />
brauchen wir noch eine Feuerbüchse.“ Bewok verschwand<br />
einen Moment lang nach draußen und kam kurz darauf mit<br />
einer metallenen Dose, welche über Luftlöcher, einen Deckel<br />
und einen Henkel verfügte, zurück. „Da kommt glühende<br />
Kohle rein; das vereinfacht uns das Entzünden von<br />
Lagerfeuern.“ Weitere Ausrüstungsgegenstände für die beiden<br />
waren Angelhaken, mehrere Seile von verschiedener Länge,<br />
zwei kleine Tücher, ein Beutel mit Zunder, Nähzeug und was<br />
der Reiseutensilien mehr sein sollten.<br />
Findus kam sich inzwischen ziemlich überrumpelt vor.<br />
Tausend Fragen lagen ihm auf der Zunge. Er konnte seine<br />
Neugier nicht mehr bezähmen und bestürmte den Fischer:<br />
„Wohin gehen wir eigentlich? Wie lange werden wir<br />
unterwegs sein? Wo führt der Weg uns lang? Zu wem wollen<br />
wir eigentlich? Kennst du den Weg?“ „Zu viele Fragen auf<br />
einmal“ brummelte der Fischer und fuhr fort: „Ja, ich kenne<br />
den Weg. Wir gehen zur Bônday. Das ist eine sehr mächtige<br />
Hexe, die auf der ‚namenlosen Insel‘ inmitten der Tiedsiepe<br />
lebt. Wahrscheinlich die machtvollste Hexe überhaupt. Wenn<br />
dir jemand helfen kann, dann sie. Das Problem ist nur, dass<br />
sie sich nicht im Geringsten für unsere profanen weltlichen<br />
Belange interessiert. In der Tiedsiepe gibt es zwei Inseln. Die<br />
‚namenlose Insel‘ der Bônday und vorgelagert die ‚Insel der<br />
Gestrandeten‘. Die Insel der Bônday kann nur über die<br />
57
vorgelagerte Insel erreicht werden. Wir müssen zuerst im<br />
Wald nahe dem Ufer der Tiedsiepe entlang und ein ganzes<br />
Stück nach Norden, so ungefähr sechs bis sieben Tage lang.<br />
Erst dann haben wir den Punkt erreicht, von dem aus wir die<br />
‚Insel der Gestrandeten‘ halbwegs sicher erreichen können.<br />
Vielleicht finden wir ein Boot; da oben gibt´s eigentlich<br />
immer welche. Falls nicht, dann bauen wir uns eben ein<br />
Floß.“<br />
Er setzte hinzu: „Ich war schon mal da. Einmal, vor vielen<br />
Jahren. Es ist eine anstrengende und gefährliche Reise. Von<br />
der ‚Insel der Gestrandeten‘ aus müssen wir dann zu Fuß<br />
weiter, was aber nur geht, wenn die Tiedsiepe trocken gefallen<br />
ist. Und wir müssen die ‚namenlose Insel‘ binnen einer<br />
einzigen Trockenzeit erreichen, sonst ersaufen wir wie die<br />
Ratten.“ „Warum warst du schon mal da?“ wollte Findus<br />
wissen, doch der Fischer schüttelte nur unwillig mit dem<br />
Kopf. Bewok zog es vor, auf diese Frage keine Antwort zu<br />
geben. Ging eben niemanden etwas an. Schließlich hatte er<br />
auch seine kleinen Geheimnisse. „Wir brauchen noch ein<br />
kleines Bündel etwa unterarmlanges und nicht von Knoten<br />
unterbrochenes Schilfrohr. Besorg´ es“ wies er Findus an.<br />
Findus verschwand, kehrte aber schon bald darauf mit dem<br />
Gewünschten zurück. Bewok würde ihm schon mitteilen,<br />
wozu das Rohr gut sein sollte. Sie packten weiter, bis es<br />
Abend war. Schliefen. Nach einem Frühstück am nächsten<br />
Morgen verabschiedeten sie sich von Snofork und brachen<br />
schon sehr früh auf. Im letzten Moment drückte Snofork<br />
ihrem Mann noch eine Flasche in die Hand. „Für den Notfall<br />
oder den Weg zu den Inseln. Es ist ein Trank aus<br />
Mondpflanze und Harmalkraut. Sei vorsichtig damit.“ Bewok<br />
nickte; er wusste um die Gefahren dieses Gebräus.<br />
Der erste Tag ihrer Reise verging rasch und sie kamen gut<br />
voran. Jetzt wurde Findus auch der Sinn des von ihm<br />
beschafften Schilfrohres klar: Man tauchte es einfach in das<br />
Wasser, welches innerhalb von Wurzelhöhlen oder ähnlichem<br />
stand und konnte dann damit trinken. An der Oberfläche<br />
oder am Boden befindlicher Schmutz störten auf diese Weise<br />
58
nicht mehr. Genächtigt wurde unter einem rasch errichteten<br />
Zelt, dessen Boden sie dick mit dem allgegenwärtigen Farn<br />
polsterten. In hinreichendem Abstand legten sie brüchiges,<br />
trockenes Holz und Laub ringsherum. Das würde rascheln<br />
und knacken, falls sich nachts ein Tier oder ein Fremder<br />
näherte. Es war warm und weil sie auf ihren Proviant<br />
zurückgriffen, konnten sie auf ein Lagerfeuer verzichten.<br />
Lediglich die Feuerbüchse brauchte neue Nahrung. Insgesamt<br />
verlief die Nacht sehr ruhig. Auch am nächsten Tag schafften<br />
sie ein großes Stück des Weges. Sie wanderten in einem<br />
vergleichsweise schmalen Waldstreifen, der links und rechts<br />
von sumpfigem Gelände begrenzt wurde. Erreichten das Ufer<br />
der Tiedsiepe und bewegten sich weiter gen Norden.<br />
Irgendwann in der Mittagszeit legten sie eine Rast ein.<br />
Bewok saß unter einem Baum und erholte sich, während<br />
Findus zum Ufer der Tiedsiepe hinunter ging. Er setzte sich<br />
auf einen der hier verstreut herumliegenden Felsbrocken.<br />
Müdigkeit durchzog seine Glieder. Schier endlos dehnte sich<br />
die weite Wasserfläche vor ihm aus. Sie sah so harmlos aus.<br />
Unmöglich zu sagen, ob es steigendes oder fallendes Wasser<br />
war. Weit, ganz weit in der Ferne glaubte Findus im Dunst<br />
zwei Gipfel in der endlosen Wasserwüste ausmachen zu<br />
können. Es war so unirdisch ruhig an diesem Ort...<br />
Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine Bewegung<br />
wahr. Langsam und vorsichtig drehte er den Kopf in die<br />
Richtung. Dort stand ein Wesen - nein, eine Frau, sehr<br />
wohlgeformt und nackt dazu - welches ihm nur etwa bis zur<br />
Schulter reichte. Ihre Haut war blaugrün und in gewisser<br />
Weise irgendwie durchscheinend. Das Wesen verfügte über<br />
goldenes Haar und über auffallend große, meergrüne Augen.<br />
Sie war eine Najade, ein Wassergeist. Ihre Blicke trafen sich.<br />
„Mein Volk kennt dich“ sagte die Najade. „Es hat dir<br />
schon einmal geholfen, indem es dich dem Fischer zuspielte.<br />
Und es wird dir wieder helfen, wenn Ihr die Tiedsiepe<br />
durchquert. Denn du bist unsere Hoffnung.“ Sprach´s<br />
zwitschernd mit metallisch-bläulicher Stimmfärbung und<br />
verschwand. „War das jetzt Einbildung, eine Reaktion meines<br />
überreizten Körpers, oder hat diese Begegnung tatsächlich<br />
stattgefunden?“ fragte Findus sich. Beides wäre möglich<br />
59
gewesen. Er beschloss, Bewok nichts davon zu erzählen.<br />
Womöglich hielte der ihn sogar noch für verrückt.<br />
Kurze Zeit später waren sie wieder unterwegs. Nur Findus<br />
schien noch nachdenklicher als sonst zu sein. Es dämmerte<br />
bereits, als sie auf der Suche nach einem geeigneten<br />
Lagerplatz für die Nacht waren. Da plötzlich sahen sie im<br />
Wald einen Feuerschein. „Bleib´ ganz still“ flüsterte Bewok.<br />
„Ein Lager. Man weiß nie, auf wen man in dieser verlassenen<br />
Gegend trifft. Es könnten Vogelfreie sein. Oder Flüchtlinge.<br />
Oder Soldaten, Baldur´s Häscher. Manchmal auch Zigeuner.<br />
Bei denen gibt´s solche und solche. Das Feuer liegt direkt auf<br />
unserem Weg. Wegen des Sumpfes können wir das Lager<br />
nicht umgehen.“<br />
Es waren Zigeuner - fahrendes Volk - wie sie feststellten,<br />
als sie sich unhörbar an das Lager heranschlichen. Ein Clan<br />
von vielleicht einem Dutzend Personen, lärmend und<br />
fröhlich, mit Zelten rings um das Feuer. „Von fröhlichen<br />
Menschen hat man nichts zu befürchten“ meinte Bewok und<br />
wies Findus an, es ihm gleich zu tun. Bewok richtete seine<br />
Handflächen nach außen, so dass sofort erkennbar wurde,<br />
dass er unbewaffnet war, stimmte ein Lied an und trat aus<br />
dem Schatten des Waldes heraus in den Schein des Feuers.<br />
Findus tat es ihm nach. Einen Moment lang war Stille, dann<br />
wurden die beiden Wanderer freundlich und mit großem<br />
Hallo begrüsst.<br />
„Wer seid ihr?“ „Woher kommt ihr?“ „Wo wollt ihr hin?“<br />
Tausend Fragen. Man drängte ihnen förmlich Nahrung und<br />
Wasser auf, nötigte sie, im Lager zu nächtigen. Zusammen<br />
mit dem fahrenden Volk saßen sie um das Feuer herum.<br />
Gastfreundschaft wurde sehr groß geschrieben. Doch<br />
plötzlich trat Stille ein. Ein alte Frau war aus einem der Zelte<br />
gekommen. Uralt, mit einem zahnlosen Lächeln. Sie trug<br />
vielfach geflickte, bunte Kleidung. Eigentlich eher eine Art<br />
von Umhang aus immer wieder übereinander genähten<br />
Lumpen. Ihre Autorität jedoch war spürbar. Von ihr strahlte<br />
eine Macht aus, eine Aura, der sich niemand entziehen<br />
konnte. Wortlos bedeutete sie Findus, ihr in das Zelt zu<br />
folgen. Findus blickte Bewok an, doch der hob nur fragend<br />
die Schultern, was soviel wie „Geh´ ruhig“ bedeutete. Findus<br />
erhob sich und folgte der Alten. Als er im Zelt verschwunden<br />
60
war, setzte draußen ein leises, heimliches Getuschel hinter<br />
vorgehaltener Hand ein. Hin und wieder blickte der eine oder<br />
andere verstohlen zu dem Zelt hin, wandte sich aber schnell<br />
wieder ab.<br />
Im Zelt. Die Alte war ganz unzweifelhaft die Hagia dieses<br />
Clans, ja mehr noch, sie führte ihn sogar. Mit einer<br />
Handbewegung bedeutete sie Findus, sich zu setzen. Sie<br />
selbst setzte sich ihm gegenüber. Flackerndes Kerzenlicht<br />
erhellte das Zelt mehr schlecht als recht. Die Alte streckte<br />
ihre Hand aus und berührte damit Findus´ Wange. Schloss<br />
einen Moment lang die Augen und begann zu sprechen: „Ich<br />
sehe dich. In deinem Geist fehlt etwas. Du bist nicht<br />
vollständig. Ein Wanderer zwischen den Welten. Du wirst die<br />
fehlenden Teile wiederfinden, doch bis dahin ist es noch ein<br />
sehr langer und steiniger Weg. Ein Weg, der wichtiger als das<br />
Ziel selbst ist. Auf Deinem Weg wirst du Hilfe erhalten<br />
- immer dort, wo du sie am wenigsten erwartest. Nimm´ diese<br />
Hilfe an. Dir wohnt eine große Macht inne. Dein Weg wird<br />
dir helfen, diese Macht zu entfalten. Hör´ auf die richtigen<br />
Ratgeber, auf die Leute, die dir helfen werden. Sie gestatten es<br />
dir, die Kraft anwenden zu lernen, zu kanalisieren für unser<br />
aller Wohl. Wenn du das nicht schaffst, dann wird <strong>Norgast</strong><br />
auf lange Sicht wohl dem Untergang geweiht sein. Denn du<br />
bist unsere Hoffnung.“ „Wieder dieser Satz - genau das hat<br />
die Najade auch gesagt“ durchfuhr es Findus.<br />
„Deine letzten Worte - ich habe sie heute schon einmal<br />
vernommen“ erwiderte Findus. Die Zigeunerin setzte hinzu:<br />
„Das wundert mich nicht. Deine Macht ist wie ein loderndes<br />
Feuer. Noch ungezähmt und weithin sichtbar für alle Wesen,<br />
die der Magie befähigt sind - ganz gleich ob Hexen, Dryaden,<br />
Fluss- und Höhlentrolle, der Nöck, Harpyien, Einhörner,<br />
Drachen, Najaden und was weiß ich nicht noch alles. Auch<br />
die Magier können die dir innewohnende Macht spüren; ganz<br />
besonders einer, der dich sucht. Doch vor dem wirst du von<br />
allen Magiebegabten abgeschirmt. Noch, denn du weißt deine<br />
Kraft nicht anzuwenden. Ein unbedachtes Spielen damit<br />
würde dich selbst verbrennen. Das ist bereits einmal<br />
geschehen und dadurch wurdest du zum Wanderer zwischen<br />
den Welten.“ „Ihr kennt meine Vergangenheit?“ keuchte<br />
Findus. „Nein - aber trotz meines doch schon recht hohen<br />
61
Alters kann ich glücklicherweise noch klar denken. Zum<br />
Wanderer zwischen den Welten konntest du nur deshalb<br />
werden, weil Körper und Geist getrennt waren. Das ist nur<br />
mit dem Traumtrank möglich. Den wiederum gibt es nur in<br />
der Unterwelt und nur ein Dämon kann ihn auf unsere<br />
Weltenebene gebracht haben. Irgend jemand hat daher einen<br />
Dämon beschworen. Dazu bedarf es sehr großer magischer<br />
Kraft.“ Die Alte schwieg und Findus dachte nach. Da war er<br />
wieder, dieser Erinnerungsfetzen - der Wald mit den seltsambizarr<br />
verdrehten Bäumen und der Mann, dessen Gesicht ein<br />
weißer Fleck war.<br />
Dann geschah etwas, mit dem Findus niemals gerechnet<br />
hatte. „Die Bônday wird dir helfen, Findus Fehu-Uruz-Raido“<br />
sagte die alte Zigeunerin. In dem Moment, in dem sie seinen<br />
‚echten‘ Namen aussprach und gedanklich fasste, überrollte<br />
ihn eine gewaltige magische Woge und er kam sich winzig<br />
und hilflos vor. Sein einziger Strohhalm in diesem tobenden<br />
Meer aus unbändig-gewaltiger, mörderisch-überschäumender<br />
Zauberkraft war die Alte, an die er sich geistig klammerte.<br />
Draußen zuckten die Mitglieder des Clans sichtlich zusammen<br />
und Bewok wurde es mit einem Mal übel. Mit Schrecken<br />
erkannte Findus, dass nur die Alte diese Klammer jemals<br />
wieder würde lösen können. Die Hagia lachte. „Ja“ sagte sie<br />
„und hüte dich vor allem vor falschen Freunden und vor<br />
falschen Ratgebern. Das ist meine ganz persönliche Warnung<br />
an dich. Ich bedarf deiner nicht und gebe dich daher wieder<br />
frei“ - die magisch-geistige Klammer löste sich sofort und<br />
Findus konnte wieder klar denken – „aber du musst dich<br />
selbst erkennen und deinem Schicksal vertrauen. Tu was du<br />
willst, aber schade niemandem. Dein Weg ist vorgezeichnet<br />
und am Ende dieses Weges musst du dich entscheiden, auf<br />
wessen Seite du stehen willst. Geh´ jetzt raus zu den anderen,<br />
feiere, singe, denn wer weiß, wann du die nächste Gelegenheit<br />
dazu haben wirst.“ Noch ganz benommen erhob sich Findus<br />
und trat vor das Zelt.<br />
Bewok sah ihn fragend an, doch Findus schüttelte nur<br />
schweigend den Kopf. Ihm war nicht nach Reden. Auch nicht<br />
nach Feiern. Er setzte sich an das Feuer und sah starr in die<br />
Flammen. Zu aufgewühlt war er. Er schlief schlecht in dieser<br />
Nacht, denn da waren tausend Bilder in seinem Kopf - gerade<br />
62
so, als ob eine Tür aufgestoßen worden war. Als sie am<br />
Morgen aufbrechen wollten, füllten die Mitglieder des Clans<br />
ihnen die Vorräte wieder auf. Findus sah die alte Zigeunerin<br />
nie mehr wieder.<br />
Bewok und Findus marschierten los. Gegen Mittag<br />
schienen zwei wilde Pferde auf sie zu warten. Als die beiden<br />
Wanderer sich ihnen näherten, stellten sie zu ihrem Erstaunen<br />
fest, dass es sich nicht um Pferde, sondern vielmehr um<br />
Einhörner handelte. Beide Wesen flüchteten nicht, sondern<br />
setzten sich sogar hin. Sie stellten sich den Wanderern<br />
freiwillig als Transportmittel zur Verfügung. Ein rasender<br />
Ritt, beinahe schon wie ein Flug, welcher bis in die<br />
hereinbrechende Dämmerung andauerte, schloss sich an. Am<br />
Abend verschwanden die Einhörner wieder - so lautlos, wie<br />
sie aufgetaucht waren. Findus und Bewok hatten ein<br />
Wegstück zurück gelegt, für das sie normalerweise gut und<br />
gerne zwei Tage benötigt hätten. Bewok betrachtete Findus<br />
befremdet, sagte aber nichts, als sie ihr Nachtlager errichteten.<br />
Der nächste Morgen und noch sehr früh. Bewok erklärte:<br />
„Ich kenne diese Gegend. Die Einhörner haben uns wirklich<br />
sehr weit gebracht. Aber obwohl wir noch Proviant haben,<br />
werden wir hier trotzdem jagen müssen. Denn der Wald<br />
endet jetzt bald und dann kommt mindestens einen Tag lang<br />
nur noch Sumpf. So lange reichen unsere Vorräte nicht.“ Der<br />
Tau lastete schwer auf den Wiesenblumen und bog sie, die<br />
Blüten noch geschlossen. Von der Tiedsiepe her hörte man<br />
das Quaken der Frösche, der Tiere der Erdmutter. Noch war<br />
die Sonne nicht aufgegangen; der Wald wirkte gespenstisch im<br />
nebligen Dunst. Findus lächelte. Dies war seine Welt und es<br />
würde wieder so ein Tag der tausend Wunder werden. Er<br />
erbat sich von Bewok die Armbrust. Heute würde er auf Wild<br />
treffen und das gäbe ein hervorragendes Festmahl ab! Er<br />
spürte es instinktiv. Der blanke Mond leuchtete nur noch<br />
matt-blass, wollte sich zur Ruhe begeben und ein erster,<br />
verirrter Sonnenstrahl zitterte über eine Pfütze, verwandelte<br />
sie in reines Silber.<br />
Nachts hatte es gewittert. Jetzt war die Luft klar und rein,<br />
erfüllt vom unnachahmlichen Duft des Waldes. Es war<br />
wirklich sehr schön hier und dieser rechteckige<br />
Glücksmoment hätte ewig anhalten können. Lautlos ging<br />
63
Findus weiter über den moosigen Boden, setzte Fuß vor Fuß<br />
und immer darauf bedacht, diese vollkommene Welt nicht<br />
durch ein unbedachtes Geräusch zu entweihen. Er sah das<br />
leise Warnen eines Rotkehlchens - verschlungene, grüngoldene<br />
Bogenformen vor dem inneren Auge mit einem<br />
Geruch nach frischgemähtem Gras. Eine Art von<br />
ganzheitlichem Erfassen hatte sich seiner bemächtigt und sie<br />
bewirkte, dass er Verbindungen sah, welche rein logisch nicht<br />
da waren. Er wusste genau, wo sich sein Festmahl in spe<br />
aufhielt. Er fühlte es, ohne das Tier sehen zu müssen.<br />
Diese Fähigkeit, dieses Erfassen, diese Formen - all das<br />
war sein ganz persönliches Geheimnis. Geräusche hatten für<br />
ihn schon immer Farben und Formen gehabt, die<br />
Oberflächen fein strukturiert, nuanciert und meist nassmetallisch<br />
schimmernd, in beständiger Bewegung befindliche<br />
Gebilde mit transparent verwehenden ‚Schwuppsen‘. Die<br />
Gegenwart anderer Lebewesen fühlte er immer lange bevor er<br />
die sehen konnte. Doch das behielt der Jäger vorsichtshalber<br />
für sich. Lautlos schlich er weiter, passierte die mit greisen<br />
Flechten überwachsenen Kiefernstangen. Sah einen<br />
graublauen Schatten kurz auftauchen, wieder verschwinden<br />
und lächelte. Vorsichtig nahm er die Armbrust von der<br />
Schulter, spannte und entsicherte sie. Zwei Erpel stiegen<br />
schnatternd auf, ihre Stimmen räumliche Wabereien, der<br />
Auerhahn hatte sie gestört. Findus blieb ganz ruhig sitzen,<br />
wartete. Der Hahn wog sich in Sicherheit, gab dieses<br />
urtümliche und in einem Zischeln mündende Gackern mit<br />
dem Aussehen von auf dem Rand stehenden grauweißen<br />
Tassen, welche in Strukturen mit dem Bild von dunkelgelben<br />
Federn mündeten, von sich. Dann zeigte er sich. Der Schuss<br />
war unhörbar, nur dieses nasse, gedämpfte „Plock!“, als der<br />
Bolzen in das feste Fleisch des Tieres einschlug: Getroffen,<br />
das Essen war gesichert. Ein Moment der Stille, danach<br />
sangen die Vögel wieder schillernde Seifenblasen. Das<br />
tonbraune Brummen einer Hummel begrüßte den neuen Tag.<br />
Findus brachte den großen Vogel zu Bewok, welcher in<br />
der Zwischenzeit für Brennholz gesorgt hatte. Gemeinsam<br />
entfernten sie Federn und Innereien, zerlegten das Tier,<br />
vergruben die unbrauchbaren Reste um die Fliegen fern zu<br />
halten. Bewok entschied, das Fleisch in einem Erdofen zu<br />
64
garen. Er hob unter Zuhilfenahme von Findus Kurzschwert-<br />
Werkzeug eine hinreichend große Grube aus und schickte<br />
Findus mit dem Auftrag, große Steine zu sammeln, los.<br />
Nachdem Findus zurück war, wurde ein Feuer am<br />
Grubenboden entzündet. Als es hell-auflodernd brannte,<br />
verschlossen die beiden Wanderer die Grube mit hölzernen<br />
Stöcken und darüber gelegten Rinden, oben auf die Steine<br />
geschichtet. Irgendwann gab das schwelende Deckelholz nach<br />
und die inzwischen schon glühenden Steine fielen in die<br />
Grube. Sofort gab Bewok ein paar dünne Rinden über die<br />
Steine, fügte den zerlegten Vogel hinzu, überschichtete ihn<br />
schnell mit Rinde und Erde und dann warteten sie bis zum<br />
Mittag. Als sie die Grube öffneten, war das Fleisch gar und<br />
hatte ein köstliches Aroma. Nun erst setzten sie ihre Reise<br />
fort.<br />
„Wir sammeln am besten ab sofort Fackelholz, denn<br />
morgen erreichen wir den Sumpf und dort brauchen wir<br />
Feuer.“ Bewok´s Rede duldete keinen Widerspruch. „Frag´<br />
jetzt nicht, ich erkläre es Dir später. Was wir brauchen, ist<br />
grünes Holz mit einem dicken und einem dünnen Ende. Für<br />
jeden ungefähr vier Fackeln. Heute Abend spalten wir die<br />
dicken Enden auf und bringen da trockenes Holz und<br />
Kohlestücke ein. Dann tränken wir das mit Öl. Öl habe ich<br />
mitgenommen.“ Bewok schwieg wieder und sie gingen weiter.<br />
Hielten Ausschau, sammelten das Holz. Gegen Abend<br />
erreichten sie das Ende des Waldes. „Hier bleiben wir<br />
während der Nacht. Wir entzünden ein großes Feuer. Das<br />
hält die Sumpfbewohner fern.“ „Was weißt du vom Sumpf<br />
und von seinen Bewohnern?“ fragte Findus den Fischer.<br />
„Nicht genug“ antwortete der und fuhr fort - während sie<br />
sich beide um das Nachtlager kümmerten – „es gibt<br />
verschiedene Pfade da durch. Aber mir ist nur einer bekannt.<br />
Wir haben also keine Wahl. Und der Sumpf ist gefährlich.<br />
Verdammt gefährlich!“<br />
Später saßen sie vor dem Zelt und bereiteten die Fackeln<br />
vor. Bewok erläuterte Findus die Situation. „Es ist so. Der<br />
Sumpf hat viele Bewohner. Die meisten von denen - nein,<br />
eigentlich sogar alle - hassen uns Menschen. Da sind erstmal<br />
die Wolfsratten. Groß wie ein kleiner Hund und sie greifen<br />
immer im Rudel an. Sie lieben Menschenfleisch. Wenn sie<br />
65
dich gewittert haben, dann hast du kaum noch eine Chance.<br />
Dann gibt es die Morfus. Schleimige Kreaturen, die nicht<br />
sehen und nicht hören können. Sie können weder richtig<br />
schwimmen noch richtig laufen. Sie kriechen wie ein<br />
schmieriger Film über Land und Wasser. Sie sind giftig. Wenn<br />
sie Dich erwischen, dann unterkriechen sie Deine Kleidung,<br />
bis sie die Haut finden. Sie fangen sofort an, Dich zu<br />
verdauen. Du bemerkst das erst, wenn es längst zu spät ist,<br />
denn ihr Gift verhindert, dass du durch Schmerzen gewarnt<br />
wirst. Durch die Erschütterungen deines Schrittes machst du<br />
sie auf dich aufmerksam. Dann sind da noch die Kobolde.<br />
Klein wie ein Eichhörnchen und von ungefähr menschlicher<br />
Gestalt. Aber sie gefallen sich darin, den Menschen<br />
Schabernack zu spielen. Schabernack, der nur allzu oft tödlich<br />
endet. Nicht zu vergessen die Irrlichter. Das sind die<br />
ruhelosen Seelen derer, die im Sumpf ihr Leben gelassen<br />
haben. Des Nachts sind es wandernde Lichter, die dich vom<br />
richtigen Weg abbringen. Tagsüber Nebelstreifen, die dir den<br />
Blick auf den richtigen Weg verschleiern. Manchmal geben sie<br />
menschliche Klagelaute von sich, um dich zum Verlassen des<br />
Weges zu bringen. Daneben soll der Sumpf noch andere<br />
Kreaturen beherbergen, aber über die weiß ich nichts. Reicht<br />
mir auch so. Aber alle haben eines gemeinsam: Sie fürchten<br />
das Feuer. Daher die Fackeln. Die brauchen wir auch<br />
tagsüber, zur Verteidigung und zur Abschreckung. Kein Ort<br />
für Menschen. Deswegen will ich da morgen auch in nur<br />
einem Tagesmarsch durch. Eine Übernachtung dort würden<br />
wir nicht überleben. Wir müssen früh aufbrechen. Aber trotz<br />
allem: Der Sumpf ist faszinierend. Er wird dich nicht mehr<br />
loslassen.“ Bewok schwieg und Findus sah nachdenklich in<br />
die Flammen.<br />
Frühmorgens, noch lange vor Sonnenaufgang. Findus<br />
wurde von Bewok geweckt. „Junge, wir müssen los, sonst<br />
schaffen wir den Weg heute nicht. Zünde eine Fackel an und<br />
halte die anderen griffbereit. Was immer auch geschehen mag<br />
- wir müssen unbedingt dicht beisammen bleiben. Jeder für<br />
sich allein hat keine Chance. Und noch was - ich weiß ja<br />
nicht, was die alte Zigeunerin mit dir angestellt hat. Aber<br />
irgendwas war; das haben alle gespürt. Wenn da auch nur ein<br />
Funken von irgendeiner Magie in dir sein sollte, dann zögere<br />
66
heute nicht, das einzusetzen.“ „Ich werde es versuchen“<br />
versprach Findus, obwohl ihm bei diesen Worten nicht ganz<br />
wohl war.<br />
Er dachte an die Worte der alten Hagia; an das, was sie<br />
über das unbedachte Spielen mit Magie und über das<br />
Verbrennen gesagt hatte. Sie brachen ihr Lager ab und<br />
verließen den Wald. Hinter einem schmalen Schilfstreifen<br />
wechselten sich grüne Grasinseln - fester Boden! - mit<br />
schmutzig-ölig schimmernden Wasserflächen ab. Das Wasser<br />
erschien eklig schwärzlich-trüb. Hin und wieder durchbrach<br />
eine Sumpfgas-Blase die Oberfläche und verbreitete einen<br />
höllischen, fauligen Geruch. Die Pflanzen am Rande der<br />
Grasinseln sahen kränklich gelb aus und erweckten den<br />
Eindruck, als wollten sie sich halbtot mit allerletzter,<br />
schwindender Kraft gegen irgend etwas unbeschreiblich<br />
Böses zur Wehr setzen.<br />
„Und da wollen wir durch?“ ächzte Findus geschockt.<br />
„Nicht wollen, sondern müssen“ korrigierte ihn der Fischer<br />
und verfluchte in Gedanken seine Frau. Er kniff die Augen<br />
zusammen und betrachtete den Sumpf. „Es ist deutlich<br />
schlechter geworden seit damals, aber halb so schlimm, wenn<br />
man die Augen richtig aufmacht. Betrachte mal die<br />
Grasinseln. Fällt Dir da nichts auf?“<br />
Und richtig - wenn man genau hinsah: Da war ein<br />
schlammig-matschig-morastiger Pfad, welcher die Grasinseln<br />
untereinander verband. Der Pfad lag auf ungefähr gleicher<br />
Höhe mit der Wasseroberfläche oder nur knapp darüber und<br />
war deshalb leicht zu übersehen. „Gehen wir“ sagte Bewok<br />
mit einem flauen Gefühl im Magen und sie machten sich auf<br />
den Weg. „Die Sumpfbewohner können sich übrigens<br />
untereinander nicht ausstehen. Vielleicht gereicht uns das zum<br />
Vorteil“ bemerkte der Fischer. Für eine Weile kamen sie recht<br />
gut voran, obgleich der Schlamm an ihren Stiefeln klebte und<br />
zog und so jeden Schritt zum Kraftakt machte. Doch<br />
plötzlich verspürte Findus instinktiv eine gewaltige, fremde<br />
Präsenz in seinen Gedanken. Dann erkannte er es. Er ergriff<br />
den vor ihm gehenden Bewok und riss ihn im letzten<br />
Moment zurück. „Sieh!“ sagte er atemlos und deutete auf den<br />
Boden vor ihnen.<br />
67
Da war ein etwa zwei Schritte breiter, kaum sichtbarer<br />
Schleim über dem Pfad. Rechts von ihnen setzte sich diese<br />
leicht zu übersehende Schmiere auf einer großen Fläche im<br />
Wasser fort. „Ein Morfu!“ schimpfte Bewok, und: „Den habe<br />
ich glatt übersehen!“ Er senkte seine eigene Fackel auf den<br />
Schleim. Es zischte, als die Flamme die amorphe Masse<br />
berührte und ein unangenehmer, grau-braun zum Würgen<br />
reizender Geruch wie nach verbranntem Horn lag plötzlich in<br />
der Luft. Wie Wellen kräuselte es den schmierigen Teppich,<br />
als sich der Schleim vom Pfad zurück zog und ihnen den Weg<br />
freigab. Gleichzeitig war ein tiefes Vibrieren im Boden zu<br />
spüren. Wenn die Sumpfbewohner bislang noch nichts von<br />
ihrer Anwesenheit gewusst hatten - jetzt waren sie informiert!<br />
Findus und Bewok setzten ihren Weg schleunigst fort.<br />
Nicht lange und ein leises Wasserplätschern ließ sie<br />
aufhorchen und sich suchend umsehen. Da waren sie,<br />
wenigstens zwanzig Tiere. Wolfsratten! Sie kamen durch das<br />
Wasser, schwammen, erreichten eben den Pfad. Die beiden<br />
Wanderer flüchteten sich auf die nächste baumbestandene,<br />
etwas größere Grasinsel und erwarteten den Kampf mit dem<br />
Rudel. Doch es kam anders.<br />
Plötzlich tauchten da am Rand der Grasinsel kleine<br />
Gestalten auf, bunt bekleidet und mit erdbraunen, runzligen<br />
Gesichtern. Erst nur wenige, dann immer mehr, bis es ihrer<br />
Hunderte waren. Sie sangen kaum hörbar und sehr fremdartig<br />
in einer unbekannten Sprache. Ihr Gesang schien den Verlauf<br />
des Pfades zu beeinflussen. Der Pfad bog sich von der<br />
Grasinsel weg, mündete ins Wasser. Und je mehr sie sangen,<br />
desto mehr näherte sich das Ende des Pfades auch dem<br />
Morfu. Die Wolfsratten folgten dem Pfad. Bis zum Morfu.<br />
Bis in ihren eigenen Tod. Nicht eine kam davon. Der Pfad<br />
kehrte - als ob nichts gewesen wäre - in seine ursprüngliche<br />
Lage zurück und so schnell, wie sie gekommen waren,<br />
verschwanden auch die Kobolde wieder. Nur einer von ihnen<br />
winkte Findus zum Abschied noch zu. „Du hast schon<br />
eigenartige Freunde“ bemerkte Bewok trocken. Findus<br />
erwiderte nichts darauf.<br />
Für lange Zeit geschah dann nichts mehr und sie konnten<br />
ihre Reise ungehindert fortsetzen. Erst am späten Nachmittag<br />
bildete sich eine Art von Dunst. Bewok war sofort alarmiert.<br />
68
„Irrlichter!“ warnte er. Er entnahm dem mitgeführten Beutel<br />
ein Seil, welches er erst sich selbst und dann Findus um den<br />
Leib schlang, so dass sie nun verbunden waren. „Jeder passt<br />
auf den anderen auf!“ kommandierte der Alte. Er erklärte:<br />
„Der Dunst wird immer dichter werden, zu einem Nebel, bei<br />
dem man im wahrsten Sinn des Wortes die Hand nicht mehr<br />
vor den Augen sieht. Den Pfad natürlich auch nicht. Ich<br />
werde ihn mit den Füßen ertasten müssen. Ich gehe voran.<br />
Falls ich ins Wasser gerate, dann zieh´ mich sofort raus.“ So<br />
machten sie es dann auch.<br />
Das Irrlicht erzeugte einen immer dichter werdenden<br />
Nebel, in dessen Inneren es hin und wieder verlockend<br />
aufblinkte. Dazu kamen menschliche Klagelaute, deren<br />
Ausstrahlung sich die beiden Wanderer nur schwerlich<br />
entziehen konnten. Doch plötzlich kam ein kräftiger Wind<br />
auf und zerfaserte das Irrlicht. Es gab widerstandslos auf.<br />
Über der Wasserfläche schwebte eine kleine blauhäutige Elfe<br />
und lächelte Findus zu. War sie das gewesen? Unbeschadet<br />
erreichten beide am späten Abend das Ende des Sumpfes und<br />
schlugen ihr Nachtlager auf.<br />
Der nächste Morgen brachte eine Überraschung. Am Ufer<br />
der Tiedsiepe lag wie angespült ein Boot. Alt und defekt, aber<br />
zu reparieren. Das Seltsame daran: Sogar zwei eigentlich nicht<br />
zum Boot passende Paddel waren noch da, worüber Bewok<br />
sich gebührend wunderte und seine Verwunderung auch<br />
deutlich zum Ausdruck brachte. Findus sagte nichts dazu; er<br />
dachte an das Volk der Wassergeister. Es gab da so einen<br />
Verdacht im seinen Gedanken...<br />
Bewok und Findus arbeiteten den ganzen Tag über am<br />
Ufer. Gleichzeitig hatten sie Angeln ausgelegt, um ihren<br />
schwindenden Proviant durch Fische zu ergänzen. Sie<br />
dichteten das Boot ab und versahen es sicherheitshalber mit<br />
zwei Auslegern. Letztere entstammten den in der Nähe<br />
wachsenden Rigras-Stämmen. Dabei handelte es sich um eine<br />
Grasart, welche sehr schnell wuchs und die mehrere<br />
Mannslängen erreichen konnte. Die Halme waren dann fast<br />
so breit, wie Findus´ Unterarm lang war, dabei aber dennoch<br />
relativ dünnwandig und somit auch federleicht. In<br />
bestimmten Abständen stabilisierten innere Knoten aus<br />
69
Pflanzenmaterial diese seltsamen Halme, so dass natürliche<br />
Luftkammern - natürliche Auftriebskörper - entstanden.<br />
Bewok sagte: „Das wäre eigentlich das ideale Baumaterial<br />
für ein jedes Wasserfahrzeug. Unsinkbar, wenn sich das<br />
Material nicht von selbst mit Wasser vollsaugen würde. Aber<br />
ein paar Tage hält es durch und so lange werden wir es gar<br />
nicht brauchen.“ Sie befestigten die Ausleger mit Hilfe von<br />
Querstangen und Seilen an dem Boot. Sollte es trotz der<br />
Reparatur zu einem Leck kommen, dann würden die Ausleger<br />
das Boot über Wasser halten. Außerdem boten sie einen<br />
guten Schutz vor dem Kentern.<br />
Abends saßen sie wieder vor ihrem Zelt. Ein Lagerfeuer<br />
brannte. Trotz der tagsüber gefangenen Fische rationierten sie<br />
die Lebensmittel jetzt: Langsam wurde es eng. „Ich habe die<br />
Augen den ganzen Tag lang nicht von der Tiedsiepe<br />
genommen“ begann Bewok das Gespräch und fuhr fort<br />
„morgen können wir jedenfalls ausschlafen. Erst geraume<br />
Zeit nach Sonnenaufgang wird das Wasser zu steigen<br />
beginnen. Sobald genug Wasser da ist, um das Boot<br />
aufschwimmen zu lassen, gehen wir los. Im Wasser. Einer<br />
schiebt das Boot, der andere zieht es. Wenn das Wasser hoch<br />
genug steht, dann steigen wir in das Boot und paddeln, soweit<br />
wir kommen. Irgendwann wird das Wasser wieder fallen,<br />
nämlich am Nachmittag und dann lassen wir das Boot liegen,<br />
wo es ist. Wir gehen dann zu Fuß weiter. Bis zur ‚Insel der<br />
Gestrandeten‘. Dort wachsen auch viele essbare Früchte, so<br />
dass der Proviant nicht unbedingt ein Problem darstellen<br />
sollte.“ Findus stimmte zu. Insgeheim fragte er sich allerdings,<br />
woher der alte Fischer das mit den Früchten wusste. Welches<br />
Geheimnis verbarg er vor ihm? Auch war ihm aufgefallen,<br />
dass etwas Bewok zunehmend bedrückte. Nun, er würde<br />
wohl von sich aus sprechen, wenn die Zeit dafür gekommen<br />
war.<br />
Am Vormittag des Folgetages warteten sie, bis das Wasser<br />
knapp kniehoch gestiegen war. Bewok nahm einen kleinen<br />
Schluck des Trankes, den Snofork ihm zuletzt noch<br />
mitgegeben hatte, zu sich. Er reichte die Flasche an Findus<br />
weiter. „Trink´ davon, aber nur einen kleinen Schluck – der<br />
Trank gibt Dir Kraft. Zuviel macht süchtig und noch mehr<br />
tötet“ sagte der Fischer.<br />
70
Sie luden ihre Habseligkeiten in das Boot und machten<br />
sich auf den Weg zur ‚Insel der Gestrandeten‘, deren Gipfel<br />
schon überdeutlich zu sehen war. Die Insel schien zwar zum<br />
Greifen nahe zu sein, doch auf der Wasserfläche täuschten die<br />
Entfernungen gewaltig. Ziehend und schiebend kämpften<br />
sich beide durch das stetig steigende, gurgelnde und<br />
glucksende Wasser vorwärts. Als das Wasser ihnen bis zur<br />
Hüfte reichte und jede Bewegung kleine, scharfe Wellen an<br />
ihnen hochspritzen ließ, beschlossen sie, das Boot zu<br />
besteigen und zu paddeln. Jetzt kamen sie sehr schnell voran.<br />
Findus fragte sich, woher wohl das Tempo rührte, bis er<br />
vereinzelte kleine grüne Arme und Hände an den Auslegern<br />
entdeckte. Er grinste. Ihm wurde schlagartig einiges klar.<br />
Langsam, ganz langsam, kamen Fischer und Findling der<br />
Insel näher. Dann sank das Wasser wieder. Ebenso langsam<br />
und stetig, wie es gestiegen war. Sie machten nun nur noch<br />
wenig Fahrt. Die kleinen Hände an den Auslegern waren<br />
verschwunden. Findus und Bewok blieben so lange im Boot,<br />
bis es Grundberührung hatte. Dann stiegen sie aus, ergriffen<br />
ihre wenigen Habseligkeiten und gingen zu Fuß weiter.<br />
Zunächst noch durch das Wasser. Die Insel war wieder näher<br />
gerückt - aber noch nicht nahe genug. Ein weiter Fußmarsch<br />
stand bevor.<br />
Irgendwann war die Tiedsiepe völlig trocken gefallen und<br />
der Tag begann, sich deutlich seinem Ende zu zu neigen.<br />
Findus konnte erstmals den grob-porösen, kalkig-hellen<br />
Boden dieses Binnenmeeres aus nächster Nähe betrachten.<br />
Das Gestein war wie von Millionen feiner und feinster Kanäle<br />
durchzogen, wobei diese Kanäle durchweg in die Tiefe<br />
führten. Dazwischen hier und dort ein Fluttümpel mit Tieren<br />
darin. Hier und da auch eine Sandfläche. Der Boden war nicht<br />
immer horizontal, es gab auch kleine Falten und<br />
Verwerfungen, aber im Großen und Ganzen doch ziemlich<br />
eben. Wohin war das Wasser wohl verschwunden? „Es<br />
scheint einfach im Boden versickert zu sein“ dachte Findus<br />
bei sich. Vielleicht würde es bei der nächsten Flut auch<br />
einfach wieder aus dem Boden hervor kommen, doch bis<br />
dahin war noch lange Zeit. Hingegen würde es nicht mehr<br />
lange dauern, bis die Dunkelheit hereinbräche. Wenn sie<br />
71
Glück hatten, dann konnten sie just zu dem Zeitpunkt die<br />
Insel erreicht haben.<br />
Als Findus zufällig zur Seite blickte, sah er eine relativ<br />
scharf umgrenzte, weiße Nebelsäule. „Bewok, gibt es hier<br />
auch Irrlichter?“ fragte er. „Nein - warum fragst du?“ Findus<br />
wies wortlos auf die Nebelsäule. „Verdammt“ stieß Bewok<br />
hervor „das ist Geisternebel. Der entsteht durch<br />
Luftströmungen zwischen heiß und kalt. Du kannst in so eine<br />
Nebelsäule treten und siehst nicht mal mehr Deine eigenen<br />
Füße. Verlierst jede Orientierung, obwohl nur zwei Schritte<br />
daneben schönster Sonnenschein herrscht. Wir binden uns<br />
wieder zusammen, wie im Sumpf und einer achtet auf den<br />
anderen. Die Säulen driften nämlich über den Untergrund.“<br />
Gesagt, getan. Nachdem sie eine Seilschaft bildeten, setzten<br />
sie die Reise fort. Der auf völlig natürliche Weise über dem<br />
Wattboden entstandene Geisternebel konnte ihnen nichts<br />
mehr anhaben, konnte sie nicht mehr irritieren.<br />
Es wurde dämmrig und die ‚Insel der Gestrandeten‘ war<br />
schon beinahe erreicht, als Findus eine kaum auszumachende<br />
Verfärbung des Bodens auffiel. Der Nebel war längst wieder<br />
verschwunden und auch die Seile hatten sie wieder abgelegt.<br />
In der letzten Zeit liefen sie über Sand, der jetzt plötzlich<br />
seine winzige Farbveränderung erfuhr. Findus rechnete<br />
instinktiv mit Gefahr. „Warte, keinen Schritt weiter“ rief er<br />
dem vor ihm gehenden Bewok zu. „Warum?“ drehte der sich<br />
erstaunt um. „Ich weiß auch nicht, da ist was, ich habe ein<br />
schlechtes Gefühl...“ „So ein Unsinn“ brummte der Fischer<br />
unwirsch und stapfte weiter auf die Insel zu. Er kam nicht<br />
weit. Eines seiner Beine sank plötzlich bis über´s Knie im<br />
Boden ein. Erschrocken ruderte Bewok mit den Armen,<br />
versuchte sein Gleichgewicht wieder zu finden. Doch da war<br />
Findus schon heran, ergriff ihn unter den Achseln und zog<br />
ihn raus. „So eine verdammte... Das ist Treibsand. Du hast<br />
gute Augen, Junge.“ „Wir müssen den Treibsand umgehen“<br />
antwortete Findus. Bewok nickte. Es wurde kein allzu großer<br />
Umweg, aber als sie endlich die ‚Insel der Gestrandeten‘<br />
erreichten, da war es schon stockfinstere Nacht. Die Gefahr,<br />
in der Dunkelheit einfach an der Insel vorbeizulaufen, war<br />
groß gewesen. Weil es warm und trocken war, verzichteten sie<br />
72
auf das Aufschlagen des Zeltes. Nach einem knappen<br />
Abendmahl schliefen beide sofort müde und erschöpft ein.<br />
Am Vormittag des Folgetages saßen sie am Strand,<br />
warteten darauf, dass das erneut aufgelaufene Wasser zurück<br />
ging. Sie sahen zur ‚namenlosen Insel‘ hinüber. Bewok wirkte<br />
irgendwie gequält, noch in sich gekehrter als während der<br />
letzten Tage. „Wie ist sie?“ fragte Findus. „Wer?“ entgegnete<br />
Bewok geistesabwesend. „Die Bônday.“ „Wahrscheinlich auf<br />
jeden Fall anderes, als du sie dir vorstellst. Egal, du wirst sie<br />
kennenlernen.“ Bewok schwieg wieder. „Wie weit ist es dort<br />
hinüber?“ setzte Findus das Gespräch fort. Bewok seufzte:<br />
„Wenn man nicht trödelt, dann ist es in einer Trockenzeit gut<br />
zu schaffen. Mit ablaufendem Wasser rausgehen und mit<br />
auflaufendem Wasser erreichst du ihre Insel. Sag´, willst du<br />
nicht lieber allein dort hinüber? Den Weg schaffst du mit<br />
links. Ich in meinem Alter bin dir da doch nur hinderlich.<br />
Außerdem sind wir quitt. Ich habe dich gerettet und du hast<br />
mich gerettet.“ Findus sah ihn nur an, wartete. Bewok wirkte<br />
noch gequälter, presste die Lippen aufeinander. „Was würde<br />
Deine Frau Snofork dazu sagen?“ fragte Findus. Ein<br />
trockenes Schluchzen schüttelte Bewok´s Körper. Findus<br />
legte ihm die Hand auf den Arm. „Was...“ „Schon gut, du<br />
hast gewonnen“ erwiderte der Fischer kehlig und sprach<br />
weiter: „Doch es gibt da etwas, das du vielleicht wissen<br />
solltest.“<br />
Bewok suchte einen Moment lang nach Worten und fuhr<br />
dann fort: „Ich bin dort drüben absolut nicht willkommen.<br />
Ich weiß nicht, was mich erwartet. Es könnte mein Tod sein.<br />
Davor habe ich Angst. Die Bônday hat mich auf immer und<br />
ewig von ihrer Insel verbannt. Das ist jetzt schon viele, viele<br />
Sommer her. Damals war ich jung und unerfahren. Ich<br />
glaubte, die Welt aus den Angeln heben zu können. Zu der<br />
Zeit lernte ich eine wunderschöne Frau kennen, eine reine<br />
Augenweide. Sie war eine Hexe. Eine mächtige Hagia. Wir<br />
verliebten uns unsterblich ineinander. Doch ich wollte keine<br />
Hexe zur Frau, sondern eine ganz normale Frau, die mir ein<br />
treues Eheweib sein würde - ohne weitere Verpflichtungen.<br />
Daher bat ich sie, der Hexerei zu entsagen. Doch das ging<br />
nicht, denn zur Hexe wird man geboren. Man bekommt die<br />
magische Kraft mit in die Wiege gelegt. Die Macht einer Hexe<br />
73
kann nur geschwächt werden. Durch eine noch mächtigere<br />
Hexe. Je größer deren Macht ist, desto stärker ist auch die<br />
Schwächung. Snofork war damit einverstanden, ihre Kraft<br />
aufzugeben. Also ging ich zur mächtigsten Hexe, die es gab<br />
- zur Bônday. Ich benutzte den Weg, den wir auch<br />
genommen haben. Daher meine Ortskenntnis. Na ja, damals<br />
war ich jünger, da ging´s schneller. Diesmal hatten wir<br />
Helfer.“ Er sah Findus scharf an. „Helfer aus dem magischen<br />
Schattenreich; ich habe es wohl bemerkt.“<br />
Als Findus darauf jedoch nicht reagierte, sprach der alte<br />
Fischer weiter: „Ich bat die Bônday. Sie wollte nicht. Ich<br />
bettelte, flehte sie an. Ihr ‚Nein‘ konnte ich nicht akzeptieren.<br />
Letztlich griff ich sie sogar an, wollte sie durch physische<br />
Gewalt zwingen. Es war Wahnsinn und ich war verblendet.<br />
Aber ihr imponierte damals meine Entschlossenheit.<br />
Entschlossenheit auf der Grundlage meiner grenzenlosen<br />
Liebe zu Snofork. Schließlich erfüllte sie mir meinen Wunsch,<br />
verwies mich aber ihrer Insel und warnte mich davor, das<br />
Eiland jemals wieder zu betreten. Seither ist Snofork nur noch<br />
eine reine Kräuterhexe. Ihre einzigen magischen Fähigkeiten<br />
bestehen darin, instinktiv die richtigen Kräuter zu finden und<br />
Magie bei anderen Personen zu erspüren. So wie bei dir. Wir<br />
haben den Verlust ihrer Fähigkeiten beide niemals bereut.<br />
Nur manchmal - sehr, sehr selten - strahlt noch für kurze<br />
Augenblicke die alte Kraft aus ihr. So wie an dem Tag, als sie<br />
unsere Abreise beschloss. Ich befürchte, dass die Bônday<br />
mich töten wird...“ Bewok verstummte zitternd. Findus<br />
überlegte kurz und fragte dann: „Würde Snofork dich in den<br />
Tod schicken?“ „Nein, niemals. Junge, du hast Recht. Ich<br />
werde dich begleiten. Komme was da wolle.“ Der Fischer<br />
stand auf. „Das Wasser ist weit genug gefallen. Lass´ uns<br />
gehen.“ Entschlossen durchquerten sie die trocken gefallene<br />
Meerenge zwischen den Inseln.<br />
Viele Stunden später erreichten beide die ‚namenlose Insel‘.<br />
Natürlich blieb die Ankunft von Findus und Bewok nicht<br />
unbemerkt. Zwei offensichtlich noch junge Frauen kamen auf<br />
sie zu, als die Wanderer eben an Land gingen. „Unser<br />
74
Empfangskomitee“ brummte Bewok und „ab jetzt wird´s<br />
lustig...“. Die beiden Frauen näherten sich den Reisenden.<br />
Eine der beiden verfügte über ein beinahe albinotisch blasses<br />
und schmales, aber dennoch sehr wohlproportioniertes<br />
Gesicht, umrahmt von langen dunkelroten, ja beinahe<br />
schwarzen gelockten und sehr gepflegten Haaren. Dies stand<br />
in eigenartigem Kontrast zu ihrer blassen Haut und verlieh ihr<br />
einen unwiderstehlichen und leicht exotischen Touch. Die<br />
andere war im Gegensatz dazu braungebrannt. Sie verfügte<br />
über langes goldblondes und glattes Haar. Auch ihre Haut<br />
war makellos und sie sah atemberaubend begehrenswert aus.<br />
Beide Frauen trugen nur halbdurchsichtige leichte und lange<br />
weiße Röcke, unter welchen die beiden Männer die langen,<br />
wohlgeformten Beine eher erahnen denn sehen konnten und<br />
oben herum gar nichts, so dass ihre vollen Brüste zu sehen<br />
waren. Falsche Scham schien ihnen fremd zu sein. Die Frauen<br />
trugen als einzigen Schmuck Armbänder, welche aus<br />
verschiedenen Edelsteinen bestanden. Mit „Ich bin Lyonora“<br />
wurden die Ankömmlinge von der Rothaarigen begrüsst.<br />
„Und ich bin Dayla“ fügte die Blonde hinzu.<br />
Letztere wandte sich Findus zu. „Schön, dass du hier bist.<br />
Die Bônday erwartet dich bereits sehnsüchtig.“ Sie schwieg<br />
und blickte zu Lyonora. Lyonora sah den Alten an:<br />
„Tiedsiepe-Fischer Bewok, dir muss von Anfang an klar<br />
gewesen sein, dass du hier sehr unerwünscht bist.“ Bewok<br />
nickte bekümmert – „Jetzt kommt´s“ dachte er. Doch<br />
Lyonora fuhr fort: „Die Bônday verweigert dir daher den<br />
Zutritt. Das war nach eurem Zerwürfnis auch nicht anders zu<br />
erwarten. Du kannst dir sicherlich denken, warum sie euch<br />
nicht persönlich empfängt.“ Bewok nickte verstehend.<br />
„Dennoch lässt die Bônday dir danken. Du hast nichts zu<br />
befürchten, denn du hast ungeachtet eventueller persönlicher<br />
Nachteile eine lange, gefahrvolle und entbehrungsreiche Reise<br />
auf dich genommen - um Findus zu uns zu bringen. Die<br />
Bônday wird daher für deinen Rücktransport sorgen.“ Mit<br />
einer spielerisch anmutenden Handbewegung drehte Lyonora<br />
ihr Armband, woraufhin sich ein Lichtstrahl in einem der<br />
dortigen Steine fing. In einem Mondstein. Der reflektierte das<br />
Licht in einen Topas und letzterer Stein warf den Strahl auf<br />
das inzwischen schon wieder steigende Wasser der Tiedsiepe.<br />
75
Urplötzlich lag dort ein kleines, weißes Boot: Mondstein und<br />
Topas – die Symbole für Neubeginn und Transformation:<br />
Zauberkraft!<br />
Lyonora fuhr fort: „Das magische Boot ist für dich. Es<br />
benötigt nur etwas Feuchtigkeit unter dem Kiel, um<br />
schwimmen zu können. Und es ist sehr schnell. Das Boot<br />
wird dich am Ufer der Tiedsiepe absetzen. Am Ufer des<br />
Waldes, der unmittelbar hinter deiner Hütte liegt. Danach<br />
verschwindet das Boot wieder. Binnen weniger Stunden bist<br />
du dann zu Hause. An Bord findest du Verpflegung für einen<br />
Tag. Das ist mehr als ausreichend. Als kleines Dankeschön<br />
für Deine Bemühungen ist dort auch noch ein ledernes<br />
Päckchen. Das ist für dich und für deine Frau bestimmt, doch<br />
nur Snofork wird damit umzugehen wissen. In dem Päckchen<br />
sind sehr wertvolle Heilkräuter; nur im schlimmsten Notfall<br />
anzuwenden. Daher achte darauf, dass das Päckchen nicht<br />
nass wird. Richte auch Snofork unsere Grüsse und unseren<br />
innigsten Dank aus. Du kannst jetzt gehen.“ Eiskalt abserviert<br />
- ein klassischer Rausschmiss. Doch es hätte für Bewok auch<br />
viel schlimmer kommen können.<br />
Traurig blickte der Fischer zu Findus hinüber, welcher mit<br />
den Achseln zuckte. Was hätte der auch schon machen<br />
können? Beide gingen aufeinander zu und umarmten sich.<br />
Ihnen war klar, dass es durchaus ein Abschied für immer sein<br />
mochte. „Pass´ auf dich auf, Junge“ sagte der alte Fischer und<br />
fügte hinzu: „Was immer du tust - schade niemandem.“<br />
Findus sah ihn verblüfft an. Hatte sich nicht die Zigeunerin<br />
so ähnlich geäußert? Bewok unterdrückte ein Schluchzen und<br />
gab seinem Findling noch mit auf den Weg: „Und vergiss´<br />
niemals, welche Anforderungen das einfache Leben an<br />
einfache Leute stellt. Sei und bleibe mitfühlend und<br />
verständig.“ „Warte“ meinte Findus „da ist noch etwas, was<br />
dir gehört.“ Er begann, an dem Kurzschwert herum zu<br />
nesteln. „Nein“ sagte Bewok „behalte es. Denke an Snofork<br />
und an mich, wenn du es benutzt.“ Er klopfte Findus<br />
aufmunternd auf die Schulter, nahm ihr verbliebenes<br />
Reisegepäck auf und stapfte zum Boot. Der Fischer kletterte<br />
hinein. Sofort setzte sich das magische Gefährt in Bewegung<br />
und entschwand schnell über die endlose, spiegelnde<br />
Wasserfläche. Findus sah dem Boot so lange nach, bis es<br />
76
seinen Blicken englitten war. Dann erst drehte er sich zu den<br />
beiden hinter ihm stehenden Hexen um.<br />
„Gehen wir zur Bônday. Sie wartet auf dich“ sagte Dayla<br />
mit golden-melodischer, verführerischer Stimme. Die beiden<br />
führten Findus auf einem gut ausgebauten Weg über die Insel.<br />
Die ‚namenlose Insel‘ war ein Paradies, schien nicht von<br />
dieser Welt zu sein. Findus spürte, wie sich hier unglaublich<br />
mächtige Erdströme vereinigten. Vögel sangen und<br />
zwitscherten; ihre Laute malten kupferne Spiralen, metallischnass-regenbogenfarbene<br />
Ringe und grüngolden-gestreifte<br />
Bögen in die Luft. Es gab viele Bäume mit einer ihnen<br />
innewohnenden magischen Symbolik: Weißdorn<br />
– Konzentration und Freiheit, Kiefer - Erleuchtung,<br />
Wacholder - Glück, Birke - Neubeginn, Weide – Harmonie<br />
mit der Schöpfung, Eibe - Schutz und Fichte - Licht.<br />
Allgegenwärtig waren blühende und gleichzeitig Früchte<br />
tragende Apfelbäume – inneres Feuer. Und noch etwas fiel<br />
Findus auf: Es gab Eichen, auf denen Misteln wuchsen.<br />
Extrem ungewöhnlich. Die Insel war ein magischer Ort und<br />
die Magie war allgegenwärtig. Stärke und spirituelle Autorität,<br />
Freiheit und Erleuchtung, Glück und Harmonie, Licht und<br />
Transformation - das alles wurde zu einem inneren Feuer,<br />
welches das Rad des Lebens bewegte. Hier und von hier aus<br />
in ganz <strong>Norgast</strong>.<br />
Sie erreichten das Zuhause der Bônday. Wenn Findus<br />
einen Palast erwartet hatte, dann wurde er enttäuscht. Das<br />
<strong>Heim</strong> der Bônday bestand nur aus einer Ansammlung von<br />
Hütten. Allerdings verfügten diese sich perfekt in die<br />
Umgebung einfügenden Hütten über eine Ausstrahlung, die<br />
jeden Palast in den Schatten stellte. Eine Frau war in einem<br />
Kräutergarten beschäftigt. Eine reife, schöne Frau von<br />
vielleicht höchstens vierzig Sommern – also etwa doppelt so<br />
alt wie Dayla oder Lyonora. Als die drei auf sie zukamen,<br />
richtete sie sich auf. Sie war genauso spärlich bekleidet wie die<br />
beiden Hexen des Empfangskomitees, sah gleichzeitig aber<br />
völlig anders aus: Eine dunkelhäutige Frau mit sehr<br />
ebenmäßigen Gesichtszügen, makellos weißen Zähnen und<br />
wasserstoffblond gefärbten langen Lockenhaaren, was einen<br />
begehrenswerten Kontrast zu ihrer Hautfarbe ausmachte. Ihre<br />
Augen waren bernsteinfarbene Katzenaugen - die Bônday.<br />
77
Findus fühlte ihre mächtige Ausstrahlung. War sie ein<br />
Mensch? „Willkommen Findus“ sagte sie und fügte hinzu<br />
„schön, dass du wieder zurück bist.“<br />
Ein Schock! Die Worte trafen Findus wie ein unerwarteter<br />
Schlag in die Magengrube; er strauchelte. Dayla und Lyonora<br />
stützten ihn. „...dass du wieder zurück bist... - ...dass du wieder<br />
zurück bist...“ Die Worte hallten in seinem Kopf nach.<br />
Wieder und immer wieder. Er hatte kein Gedächtnis mehr,<br />
aber die Bônday kannte ihn. Ja, mehr noch, er war schon<br />
einmal hier gewesen. Hier auf dieser Insel; hier in dieser durch<br />
und durch magischen Welt. „Was weißt du über mich?<br />
Kennst du meine Vergangenheit? Wer bin ich?“<br />
Die Bônday sah ihn abschätzend an. „Ich weiß fast alles<br />
über dich - wer du bist und ich kenne deine Vergangenheit.<br />
Jedenfalls in großen Teilen.“ „Dann sag´ es mir doch!“<br />
bettelte Findus. „Nein!“ Das Wort kam glashart und ließ<br />
keinerlei Widerspruch zu. Nachdenklich trat die Bônday an<br />
ihn heran, legte eine Hand auf seine Schulter und blickte ihm<br />
tief in die Augen. Sie sprach: „Du bist für dieses Wissen noch<br />
nicht reif genug. Das Wissen würde deinen Geist ruinieren<br />
und deinem Handeln die falsche Richtung weisen. Ich habe<br />
einmal den Fehler begangen und dir zu früh zuviel verraten.<br />
Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen! Du erfährst aber<br />
alles, wenn die Zeit dafür reif ist. Doch das ist sie noch lange<br />
nicht.“<br />
78
Kapitel 5: Drei Prüfungen<br />
Die Bônday war von Findus ausführlich über den Verlauf der<br />
Reise und über seine vorherigen Erlebnisse mit dem<br />
Tiedsiepe-Fischer informiert worden; insbesondere auch über<br />
das abhanden gekommene Gedächtnis des Findlings. Auch<br />
Dayla - welche Findus vom ersten Moment an sehr anziehend<br />
fand - und Lyonora waren bei dem Bericht zugegen. Ein paar<br />
Schalen mit Lebensmitteln, frisches Quellwasser,<br />
verschiedene Tees und ein leichter Wein sorgten für das<br />
leibliche Wohl. Inzwischen brach die Dunkelheit herein.<br />
„Gut“ beendete die Bônday schließlich das Gespräch, denn es<br />
war spät geworden. „Dayla wird dir deine Unterkunft zeigen.<br />
Mir ist bekannt, dass ihr beiden Euch früher sehr gemocht<br />
habt. Es spricht nichts gegen ihren Besuch bei dir, wenn sie<br />
deiner bedarf. Umgekehrt hast du jedoch keinen Zutritt zu<br />
den Wohn- und Schlafgemächern von uns Frauen. Geht jetzt<br />
alle schlafen. Findus, morgen müssen wir uns unter vier<br />
Augen unterhalten. Es geht um deine Zukunft.“ Mit einem<br />
Wink waren sie alle entlassen.<br />
Dayla führte Findus in eine der Hütten. Er fand dort alles<br />
vor, was er benötigte. Nachdem der Findling sich gereinigt<br />
hatte ging er schlafen. Wollte er jedenfalls. Doch zuviel war<br />
tagsüber auf ihn eingestürmt. Grübelnd lag er in der<br />
Dunkelheit noch wach im Bett, als es klopfte. „Ja“ sagte er<br />
und Dayla schlüpfte lächelnd herein. Sie trat zu seinem Lager,<br />
entkleidete sich – ein sehr verführerischer Körper! - und<br />
kroch zu ihm unter die Decke. „Ich habe dich schon lange<br />
vermisst“ gestand sie. „Auch du kennst mich von früher?“<br />
„Natürlich.“ Kein weiterer Kommentar ihrerseits. Sie<br />
kuschelte sich an ihn und das Verlangen erwachte. Es dauerte<br />
nicht lange und sie liebten sich heiß, ekstatisch und<br />
phantasievoll. Danach lagen sie wach nebeneinander.<br />
„Was denkst du?“ fragte Dayla. „Die Bônday...“<br />
antwortete Findus. „Sie macht einen so weisen Eindruck.<br />
Dabei ist sie doch noch so jung, höchstens vierzig Sommer<br />
alt.“ Dayla fing an, lauthals und schallend zu lachen. Sie<br />
konnte gar nicht mehr aufhören, bis Findus langsam ärgerlich<br />
79
wurde: „Was ist daran so lustig, verdammt noch mal?“ Dayla<br />
kicherte schon wieder. Sie blickte ihn an; der Schalk blitzte<br />
aus ihren Augen: „Sag´ mal, für wie alt hältst du mich<br />
eigentlich?“ „Na ja, vielleicht so zwanzig Sommer.“ Sie lachte<br />
erneut. Noch lauter und herzhafter als zuvor. Findus sah sie<br />
frustriert an: „Sehr komisch, ja?“ „Entschuldige“ kicherte<br />
Dayla „aber das war eben zu lustig. Dein Gedächtnis ist<br />
demnach wirklich völlig weg. Du kannst es also gar nicht<br />
wissen. Trotzdem...“ Wieder so ein blöder Lachanfall! Doch<br />
Dayla wurde wieder ernst: „Ich könnte gut und gerne deine<br />
Ur-Ur-Ur-Großmutter und vielleicht noch mehr sein. Die<br />
Bônday ist mehr als doppelt so alt wie ich.“<br />
Ernst blickte sie ihn an; in der Dunkelheit sah Findus<br />
jedoch nur die Silhouette ihres Gesichts. „Es ist eine Frage<br />
der Magie“ sagte Dayla mit rauchiger Stimme. „Natürlich sind<br />
wir nicht unsterblich. Aber wenn die Magie in uns stark genug<br />
ist - und wenn wir damit umzugehen wissen - dann<br />
verlangsamt sich der natürliche Alterungsprozess. Etwa um<br />
den Faktor zehn.“ In Findus´ Kopf schwirrte es. Dann wäre<br />
Dayla ja zweihundert und die Bônday sogar vierhundert<br />
Sommer alt... „Ich will und darf aber der Bônday nicht<br />
vorgreifen. Sie wird dir einiges erklären. Morgen. Lass´ uns<br />
jetzt schlafen.“ Sie kuschelte sich wieder an ihn. Findus<br />
genoss erneut die Berührung durch ihren vollkommenen<br />
Körper...<br />
Knarrende Planken. Dichter Nebel. Die Bark des Kaufleute-<br />
Syndikats lag regungslos auf hoher See, irgendwo zwischen<br />
Torboog und den <strong>Norgast</strong> vorgelagerten Inseln. Kein<br />
Lüftchen regte sich. Jeder Atemzug schmeckte nach Seesalz.<br />
Jedes verfügbare Stück Tuch war gesetzt worden, doch<br />
vergebens. Schwer von der aufgesogenen Feuchtigkeit hingen<br />
Segel und Takelage lustlos von Mast und Rah. An Bord döste<br />
alles vor sich hin, wartete auf das Ende dieser seltsamen<br />
Flaute. Im Logis brannte Licht. Es kam aus einer<br />
Luxuskabine. Die Kabine beherbergte nur einen einzigen<br />
Passagier: Baldur. Doch der Reihe nach.<br />
80
Nach der Zerstörung des Paliwi war Baldur in<br />
Krähengestalt wütend abgereist. Er wusste nicht, wohin er<br />
sich wenden sollte. Kreiste ziellos, flog mal hierhin, mal<br />
dorthin. Dann fiel ihm der Ort seiner Geburt ein - das Gehöft<br />
Nedrheg, etwa auf halber Strecke zwischen Sandstedt und<br />
Torboog gelegen. Er wählte Nedrheg zum vorläufigen Ziel.<br />
Mit diesem Ort hatte es eine besondere Bewandtnis. Sein<br />
Vater Mykyllin, der frühere König und ein großer Zauberer,<br />
und seine Mutter Gwylon - eine machtvolle Hexe - befanden<br />
sich seinerzeit auf einer Reise durch <strong>Norgast</strong>, nur begleitet<br />
von ihrem Lakaien Ravon. Gwylon war bereits im<br />
fortgeschrittenen Stadium schwanger, als sie aufbrachen. Aus<br />
unerfindlichen Gründen kam es zu unerwarteten<br />
Verzögerungen. Irgendwann war Gwylon hochschwanger und<br />
brach in Absprache mit Mykyllin die Reise ab. Machte sich<br />
zusammen mit Ravon auf den Rückweg, denn der<br />
Thronfolger sollte im Palast von Helgenor geboren werden.<br />
Doch so sehr sie sich auch eilten und auf dem kürzesten<br />
Weg reisten - sie nahmen sogar den unwegsamen Pass<br />
zwischen den beiden Helgebarg-Gipfeln in Kauf - es sollte<br />
nicht reichen. Gwylon entband auf einem Bauernhof, nämlich<br />
Nedrheg. Und sie überlebte die Geburt nicht. Ravon brachte<br />
die tote Mutter und das lebende Kind dann zum Palast. „Sie<br />
wollte, dass er den Namen ‚Baldur‘ erhält“ teilte Ravon dem<br />
Verwalter Merkyllum mit. Letzterer suchte eine Amme und<br />
fand sie schnell. Baldur würde leben.<br />
Nun war das Verhältnis zwischen Ravon und Merkyllum<br />
nicht eben das Beste. Und als Ravon erneut aufbrach, um die<br />
traurige Nachricht vom Tode der Mutter dem König zu<br />
überbringen, da wurde sein Schiff von Piraten aufgebracht<br />
und er selbst erschlagen. Mykyllin erfuhr daher weder vom<br />
Tode seiner Frau noch von der Geburt seines Sohnes. Ja,<br />
mehr noch: Er erlitt zufälligerweise einen schrecklichen<br />
Jagdunfall, als ihn ein irregeleiteter Speer von hinten<br />
durchbohrte. Da es sich um eine Wolfsjagd handelte, war der<br />
Speer vergiftet gewesen - wie es bei Wolfsjagden eben so<br />
üblich ist. Mykyllin überlebte die Verwundung nicht. Traurig,<br />
traurig, traurig...<br />
Merkyllum wurde zum Truchsess. Er verwaltete das Reich<br />
für Baldur. Und er nahm Baldur´s Erziehung in die Hand.<br />
81
Formte den Jungen nach seinen ganz persönlichen<br />
Vorstellungen. Er lehrte ihn, persönliche und später intime<br />
Beziehungen zu einflussreichen Personen aufzubauen - um<br />
besagte Personen dadurch kontrollieren zu können. Er<br />
brachte Baldur bei, immer Freundlichkeit und Charisma<br />
raushängen zu lassen - dadurch ließen sie sich alle täuschen.<br />
Jede Lüge und jede Hochstapelei wurde anstandslos<br />
geschluckt, wenn sie nur charismatisch genug ausgesprochen<br />
wurde. Merkyllum machte Baldur klar, wie nützlich es war,<br />
andere durch gezielte Fehlinformationen oder durch das<br />
Vorenthalten von Information zu diskreditieren – oder zu<br />
Fehlern zu verleiten. Wie man Personen gegeneinander<br />
ausspielt und wie solche Intrigen garantiert unerkannt bleiben,<br />
wenn man die beteiligten Leute nur in rascher Folge<br />
austauschte... So funktionierte eben Politik!<br />
Baldur wuchs ohne Elternliebe auf. Nur umso<br />
bereitwilliger sog er die fragwürdigen Weisheiten seines<br />
Lehrers Merkyllum auf, ja, er verinnerlichte dessen Regeln<br />
geradezu. Gefühle, Skrupel, Gnade, Mitleid, Vertrauen,<br />
Mitgefühl, Schuldbewusstsein - alles Worte, welche ihm seit<br />
jeher fremd geblieben waren. Begriffe für Weicheier. Es hatte<br />
für ihn nie eine persönliche Belastung dargestellt, den Sinn<br />
dieser Worte nicht zu kennen. Er war der Macher, setzte sich<br />
durch, orientierte sich nur an seinem eigenen Wertesystem.<br />
Baldur allein hatte die Fähigkeit, Macht auszuüben. Nur das<br />
war Führungsstärke! Das bekam irgendwann auch Merkyllum<br />
selbst zu spüren. Ein Streit zwischen Truchsess und<br />
Thronfolger ging voraus. Rein zufällig stürzte Merkyllum<br />
dann vom höchsten Turm des Palastes. Wie tragisch...<br />
Baldur krönte sich selbst zum König. Engagierte Magier,<br />
um sich in der Magie ausbilden zu lassen. Das Wort Liebe<br />
assoziierte er nur mit rein physischer, geschlechtlicher Lust.<br />
Er hatte viele Frauen. Einige überlebten die Nacht mit ihm,<br />
andere nicht. Egal – Menschenmaterial eben. Die Menschen<br />
lebten ihm zum Vorteil, denn er war der absolute Herrscher.<br />
Baldur fand, dass es sogar ein ausgesprochen sozialer Zug<br />
von ihm war, wenn er diese minderwertigen Kreaturen am<br />
Leben ließ. Wie viele Bastarde er zeugte, dass wusste er nicht.<br />
Es interessierte ihn auch nicht, selbst dann nicht, wenn er<br />
seinen Bettgespielinnen die Position einer Königin an seiner<br />
82
Seite in Aussicht gestellt hatte. Was interessierte ihn sein<br />
Geschwätz von gestern? Geschmeiß, Abschaum,<br />
Minderwertige: unfähig, fordernd und frech... - konnte man<br />
so etwas überhaupt als Menschen bezeichnen? War doch<br />
deren Problem, wenn sie dahinvegetierten und es nicht<br />
schafften, sich Reichtümer zuzulegen! Er war doch nicht für<br />
die verantwortlich! Er stand ganz eindeutig über denen!<br />
Baldur wurde schnell klar, dass er neben seiner<br />
Herrscherinsel Helgenor auch noch einige Stützpunkte auf<br />
dem Festland brauchte. Stützpunkte mit jeweils nur wenigen<br />
und ihm treu ergebenen Bediensteten. Das Gehöft Nedrheg<br />
schien wie geschaffen dafür zu sein. Er kaufte den Besitzern<br />
den Bauernhof ab; entlohnte sie reichlich mit Gold und<br />
Edelsteinen. Die Bauersleute wollten sich davon in Torboog<br />
ein kleines Haus kaufen, um in der Stadt einen ruhigen<br />
Lebensabend zu verbringen. Sie reisten ab. Auf dem Weg<br />
nach Torboog erfolgte ein Überfall durch Diebe. Später fand<br />
man die Leichen der Bauersleute. Brauchte ja niemand zu<br />
erfahren, dass Gold und Edelsteine auf verschlungenen<br />
Wegen wieder in Baldur´s Schatztruhen landeten... Das ging ja<br />
auch niemanden etwas an!<br />
Also Nedrheg. Die Krähe flog dort hin, verwandelte sich<br />
wieder in die Gestalt Baldur´s. Fernab von anderen Menschen<br />
begann er die Sisyphusarbeit der Bewusstseinskontrolle seiner<br />
Untertanen. Doch was für Abgründe taten sich da auf! An<br />
allererster Stelle standen die Kaufleute. Wer immer Handel<br />
treiben wollte, der hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder als<br />
fahrender Händler oder als Mitglied im Syndikat der<br />
Kaufleute. Alles andere duldeten die Kaufleute nicht. Notfalls<br />
wurden Abweichler mit Gewalt und Intrigen auf die richtige<br />
Linie zurück gebracht.<br />
Die Kaufleute waren in ihrem Handel frei und nur den<br />
Handelsherren gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet.<br />
Nicht ihm, dem Herrscher, gegenüber! Das Syndikat<br />
verhinderte das! Wenn er einen Kaufmann über dessen<br />
Gewinne befragt hätte, dann wäre von dem eine falsche<br />
Auskunft gekommen. Nur ein anderer Kaufmann wäre<br />
befähigt gewesen, den Schwindel aufzudecken - doch die<br />
Gilde verbot es, gegen einen anderen Syndikatsangehörigen<br />
auszusagen. Eine sich selbst erhaltende, zementierte Struktur.<br />
83
Ein Staat im Staate! Baldur bedauerte es nicht, ganz spezielle<br />
und die Kaufleute betreffende Abkommen mit Piraten und<br />
Dieben getroffen zu haben. Im Gegenteil - sein Regiment<br />
würde noch strenger werden müssen!<br />
Dieser Mijneer Vankampen beispielsweise - bisher war<br />
Baldur immer der Ansicht gewesen, der Kriecher würde ihm<br />
treu ergeben sein. Doch der Kerl war einer der Schlimmsten.<br />
Er wirtschaftete ganz massiv in die eigene Tasche und baute<br />
sich insgeheim eine private Machtposition auf. „Mal sehen“<br />
dachte Baldur „den säge ich ab. Warte nur, Kerl...“ Er würde<br />
ihn kritisieren um der reinen Kritik willen. Ihm schwammige<br />
Weisungen erteilen und Gesprächen ausweichen. Die<br />
Resultate ließen sich dann so oder so auslegen. Ein<br />
unterstelltes Fehlverhalten hier, ein untergeschobener Fehler<br />
da, vielleicht noch gewürzt mit ein paar abwertenden<br />
Bemerkungen seinerseits... Jedenfalls würde Mijneer<br />
Vankampen bald nichts mehr zu melden haben; wenigstens<br />
das war schon mal garantiert! Und wenn der sich beschwerte,<br />
dann würde der ehemalige Kaufherr in spe einfach ignoriert<br />
werden. Es gab genug anderes Menschenmaterial, auf das<br />
Baldur getrost zurückgreifen konnte.<br />
Der Rest seiner Untertanen war allerdings auch nicht viel<br />
besser. Die stöhnten ob der Steuerlast und wegen der<br />
schlechten Lebensbedingungen. In deren unwissenden Augen<br />
waren es gerade Neville´s Häscher, die ihnen das Leben<br />
schwer machten. Undankbares Volk! Im Grunde mussten sie<br />
ihm sogar dankbar sein, wenn er sie durch Neville von ihrem<br />
unwürdigen Dasein erlösen ließ! Es war ein Fehler - sein<br />
Fehler! - gewesen, sie nicht von vornherein hart an die<br />
Kandare zu nehmen. Das erkannte Baldur jetzt ganz klar.<br />
Nicht, dass er ein Messen mit zweierlei Maß im Sinne hatte.<br />
Doch er als Herrscher war es allein, der entschied, wer wie<br />
leben durfte. Und wenn die Untertanen murrten, dann ging es<br />
ihnen eindeutig viel zu gut!<br />
Das würde sich ändern! Außerdem war es im Grunde gar<br />
nicht mal sein Fehler gewesen; er hatte eben nur unfähige<br />
Ratgeber. Die gehörten ersetzt, und zwar umgehend. Oh ja, er<br />
würde aufräumen müssen. Richtig aufräumen. Und dann<br />
wehte in <strong>Norgast</strong> ein anderer Wind! Er war viel zu gutmütig<br />
und ließ viel zuviel durchgehen. Fehler machten sowieso<br />
84
immer die anderen und er konnte es dann ausbügeln. Das<br />
brachte es mit sich, dass er alles ständig selbst machen<br />
musste. War das etwa die Aufgabe eines Königs? Baldur, der<br />
Herrscher <strong>Norgast</strong>´s - von Unfähigkeit umzingelt! Er würde<br />
geheime Kontrollen einführen und den Leuten Fallen stellen,<br />
schon in allernächster Zeit. Immerhin befriedigte es ihn<br />
etwas, dass die Hungertürme sich füllten und dass die Angst<br />
einem Aufruhr vorbeugte. „Neville´s Todesschwadron ist<br />
dafür zu klein. Die muss unbedingt aufgestockt werden“<br />
dachte Baldur bei sich. Doch soviele Personen er auch mental<br />
kontrollierte - den Gesuchten fand er auf diese Weise nicht.<br />
Bis sich vor einigen Tagen etwas sehr Unerwartetes<br />
ereignete. Eine Erschütterung im Geflecht der Magie, welches<br />
die ganze Welt durchzog. Wie die an ein Ufer plätschernden<br />
Wellen in einem Teich, nachdem jemand einen Stein<br />
hineingeworfen hatte. So etwas passierte nicht von selbst. Da<br />
musste es einen Auslöser gegeben haben. War das etwa die<br />
Spur, nach der er so verzweifelt suchte? Falls ja, dann war es<br />
mit absoluter Sicherheit irgendwo im Land auf der anderen<br />
Seite des Helgebarg geschehen.<br />
Baldur verwandelte sich umgehend in Krähengestalt und<br />
flog sofort nach Torboog. Keine allzu gute Entscheidung:<br />
Zuviele Menschen, zuviele Gedanken. Für seine Suche<br />
brauchte er Ruhe und Abgeschiedenheit. Da kam ihm die<br />
Bark der Kaufleute mit dem Zielhafen Westboog gerade<br />
recht. Er schiffte sich ein. Auf dem Meer hätte er die<br />
erforderliche Ruhe. Und genau deswegen dümpelte das Schiff<br />
jetzt auch ohne Fahrt zu machen vor sich hin. Ein Wort<br />
Baldur´s - ein primitiver Wetterzauber - und es wäre sofort<br />
weitergegangen. Doch er wollte nicht. Baldur suchte.<br />
Gedanklich. Suchte intensiv und fand - nichts! Das er seinem<br />
Opfer schon deutlich näher gekommen war, blieb dem<br />
Herrscher dank der Fähigkeiten der Bônday verborgen<br />
- noch...!<br />
Am Morgen und in Dayla´s Begleitung ging Findus zur<br />
Bônday. Sie fanden die Letztere in einem der vielen kleinen<br />
Kräutergärten. Die Bônday nickte Dayla dankend zu,<br />
85
woraufhin Findus´ neue alte Freundin sich wissend lächelnd<br />
entfernte. „Gut geschlafen?“ fragte die Bônday mit einem<br />
leicht ironischen Unterton in der Stimme. „Ja, danke, sehr<br />
gut“ entgegnete Findus und betrachtete die faszinierende<br />
Frau. „Lass´ uns über die Insel gehen. Du wirst Fragen haben.<br />
Wenn ich sie dir beantworten kann, dann werde ich das tun.<br />
Also frage - aber nicht nach deiner Vergangenheit!“<br />
„Bônday, wer bist du? Gibt es nur eine Bônday? Bist du<br />
ein Mensch?“ „Ich war einmal ein Mensch, aber das ist lange<br />
her. Ich bin ich. Die Bônday. Es gibt über die ganze Welt<br />
verteilt nur ein paar Bôndays. Wir gehören einem Coven<br />
- einem Hexenzirkel - an, der in den verschiedenen Ländern<br />
die jeweils wohl kraftvollsten Hexen stellt. Man wird mit viel<br />
magischer Kraft in sich geboren. Man wächst auf und lernt,<br />
diese Kraft zu entwickeln, zu nutzen und zu kanalisieren. In<br />
ganz seltenen Fällen wird man zur Auszubildenden - zur<br />
Novizin - bei einer Bônday. Wenn die irgendwann einmal<br />
stirbt, dann geht ihre Kraft auf einen selbst über.<br />
Vorausgesetzt, dass man bei der sterbenden Bônday ist. Die<br />
eigene Magie potenziert sich dabei. Und der Körper verändert<br />
sich. Die Grundform bleibt erhalten. Wer ein Mensch war,<br />
der behält seinen menschlichen Körper. Die Bônday von<br />
Fucunor war früher eine Harpyie. Auch sie hat ihren Körper<br />
halb Mensch und halb Adler behalten. Aber die Haut verfärbt<br />
sich schwarz. Die Haare werden silber- und die Augen<br />
bernsteinfarben. Immer.“<br />
Sie lachte. „Beantwortet das deine Frage?“ „Hmmm“<br />
meinte Findus. „Dayla und Lyonora - sie sind deine<br />
Novizinnen?“ „Natürlich!“ „Warum zwei?“ „Weil immer die<br />
Möglichkeit besteht, dass einer Person etwas passieren kann.<br />
Eine von beiden wird mit Sicherheit zur nächsten Bônday<br />
werden. Eine kann ich auf Reisen schicken; die andere bleibt<br />
bei mir. So wird meine Magie auch dann weiterleben, wenn<br />
einer meiner Auszubildenden etwas zustößt.“ Findus nickte<br />
verstehend - das war zwar vorausschauend gedacht, aber...<br />
„Aber Ihr verlasst die ‚namenlose Insel‘ doch nie. Und was<br />
kann einem denn hier schon zustoßen?“<br />
„Das wir ständig hier bleiben, sagen die Leute. Glaub´<br />
nicht alles, was du hörst. Besser noch: Stelle grundsätzlich<br />
immer alles infrage! Meine Novizinnen sind häufiger auf<br />
86
Reisen. Das ist auch unbedingt notwendig. Sie müssen ihr<br />
zukünftiges Land kennenlernen, ihre Fähigkeiten<br />
weiterentwickeln und perfektionieren. Eine Hexe zu sein,<br />
bedeutet beständiges Lernen. Lebenslang. Das Lernen endet<br />
nie. Aber sie sind niemals gleichzeitig unterwegs.“ „Können<br />
eigentlich beide zur Bônday werden oder nur eine?“ „Wenn<br />
bei meinem Tode beide zugegen sind, dann prinzipiell auch<br />
beide. Doch so etwas geschieht fast nie. Normalerweise<br />
springt die Magie nur auf eine, auf die Stärkere, über. Wer das<br />
ist, dass weiß ich vorher auch nicht. Ich treffe also keine<br />
Wahl, kann niemanden bevorzugen oder zurücksetzen. Das<br />
ist auch gut so. Die Magie selbst ist es, die wählt.“<br />
Schweigend gingen sie weiter. Findus dachte nach. „Und<br />
was ist mit den Magiern, den Zauberern? Welche Rolle<br />
spielen sie? Können sie so stark wie eine Hexe werden?“<br />
fragte er. „Um das zu beantworten, muss ich dir etwas über<br />
das Wesen der Magie selbst beibringen. Betrachte es getrost<br />
als erste Lektion. Es gab einmal eine graue Vorzeit, die so<br />
lange zurück liegt, dass sich heute niemand mehr so richtig<br />
daran erinnert. Zu der Zeit waren Hexen und Magier ein und<br />
das gleiche, nämlich Zauberleute. Geschlechterunabhängig.<br />
Dann kam es zu einem Zerwürfnis. Der Grund war eine<br />
Meinungsverschiedenheit über das Wesen der Magie an sich.<br />
Die eine Gruppierung glaubte, die Magie sei als Kraft in der<br />
Natur vorhanden und man könne sich ihrer beliebig<br />
bedienen, denn sie wäre unveränderlich. Egal was man tut,<br />
egal, ob man die Magie für niedere Zwecke missbraucht - die<br />
Natur wird´s schon richten. Aus dieser Glaubenrichtung<br />
wurden die Magier. Die Stärke ihrer Magie stagnierte<br />
irgendwann. Ein Magier erreicht sein Machtmaximum und<br />
eine Weiterentwicklung ist nicht mehr möglich. Ein Magier<br />
kann seine Kraft nicht an einen anderen weitergeben.<br />
Normalerweise jedenfalls nicht. Aber es gibt ganz seltene<br />
Ausnahmen.“<br />
Die Bônday überlegte kurz und fuhr dann fort: „Die<br />
andere Auffassung war die, dass Magie eben nicht ‚immer da<br />
ist‘ und nur darauf wartet, genutzt zu werden. Die Magie<br />
durchzieht die Welt wie ein Geflecht. Alles und jeden. Sie ist<br />
nicht von gleichbleibender Stärke. Sie bildet Inseln höherer<br />
Konzentration aus. Mal an einem bestimmten Ort, mal in<br />
87
einem Lebewesen oder in einem Gegenstand. Solche<br />
Konzentrationen gilt es zu erhalten und nach Möglichkeit<br />
weiter zu reichen. Um die Konzentration an magischer Kraft<br />
zu bewahren, ist es aber eben nicht egal, wie die Magie<br />
genutzt wird. Eine falsche Nutzung kann die Macht der Magie<br />
durchaus schwächen. Eine richtige Nutzung hingegen stärken.<br />
Aus dieser Anschauung heraus entstanden die Hexen.<br />
Während die Magier sich auf das Geschlecht der Männer<br />
beschränken, können sowohl Frauen wie auch Männer Hexen<br />
sein. Verstehst du das?“<br />
Findus nickte und stellte die nächste Frage: „Wenn die<br />
Magie ein Geflecht ist und wenn sich das an einem Punkt<br />
konzentriert, gibt es dann nicht an anderer Stelle eine<br />
Schwächung?“ „Klug gedacht“ sagte die Bônday<br />
anerkennend. „So ist es tatsächlich. Vor Urzeiten sollen alle<br />
Lebewesen einmal in etwa gleiche magische Begabungen<br />
gehabt haben. Heute sind es bei uns Menschen nur noch die<br />
Magier und wir Hexen. Die meisten Menschen beispielsweise<br />
sind der Magie nicht mehr fähig. Sie verloren sie in dem<br />
Maße, in dem wir dazugewonnen haben. Bei anderen Völkern<br />
ist das nicht so. Du hast die Kobolde, die Irrlichter, das<br />
Wasservolk, Elfen und die Einhörner schon kennen gelernt.<br />
Dort hat sich das nicht so entwickelt. Die magische Kraft der<br />
Menschen muss in grauer Vorzeit einmal so ähnlich<br />
ausgesehen haben wie bei diesen Völkern. Mittlerweile aber<br />
sind die meisten Menschen so schwach begabt, dass sie die<br />
magischen Völker nicht einmal mehr wahrnehmen können<br />
und für Sagengestalten halten.“ Findus verstand und wollte<br />
mehr wissen:<br />
„Du sprachest von dem magischen Geflecht, welches die<br />
Welt durchzieht. Wirkt sich nicht die Anwendung von Magie<br />
auf das gesamte Geflecht aus? Wenn irgendwo starke Magie<br />
zum Einsatz kommt, kann das nicht jedes magiebegabte<br />
Wesen spüren?“ „Es ist tatsächlich so und deshalb gerade für<br />
dich mit sehr großer Gefahr verbunden. Die Zigeunerin<br />
sprach deinen wahren Namen aus und verursachte dadurch<br />
ein Beben des Geflechts. Obwohl ich mich nach Kräften<br />
bemüht habe, dieses Beben zu unterdrücken, dürfte es<br />
deinem Feind wohl kaum entgangen sein, dass ein<br />
einschneidendes magisches Ereignis stattgefunden hat.“<br />
88
„Wer ist denn nun eigentlich mein Feind?“ stellte Findus<br />
eine rein rethorische Frage, doch er brauchte die Bestätigung.<br />
„Weißt du das denn immer noch nicht?“ kam die Gegenfrage<br />
der Bônday. Findus antwortete: „Baldur, der Herrscher“ und<br />
die Bônday nickte bestätigend. „Aber warum?“ „Es muss mit<br />
deiner Vergangenheit zusammen hängen“ antwortete die<br />
Bônday ausweichend. Findus blieb stehen und blickte der<br />
Bônday fest in ihre bernsteinfarbenen Katzenaugen. Er sagte<br />
nichts. Nur sein Blick war flehentlich-zwingend.<br />
Die Bônday seufzte: „Beim letzten Mal lief das so ähnlich<br />
ab und da hättest du es fast nicht überlebt. Daher heute nur<br />
soviel: Du bist von einer Kräuterhexe aufgezogen worden, bis<br />
du etwa zehn Sommer alt warst. Sie war aber nicht deine<br />
Mutter. Dann brachte die Hagia dich zu mir und vertraute mir<br />
die Geschichte deiner Herkunft an. Jedenfalls soweit sie selbst<br />
sie kannte. Viel war das aber nicht; uns ist nur bekannt, dass<br />
du von hoher Herkunft sein musst. Ich - nein, wir drei -<br />
zogen dich weiter auf. Du wurdest zum Problem, denn unser<br />
Grundsatz lautet ‚tu was du willst aber schade keinem<br />
anderen‘. Allein schon deine bloße Existenz zwang uns aber<br />
zum Handeln. Zu einem Handeln, bei dem wir unsere<br />
Neutralität aufgeben mussten.“ Sie schwieg. Eine Blaumeise<br />
flatterte auf und landete auf Findus´ Kopf.<br />
Die Bônday sah das und lachte melodiös-glockenhell.<br />
„Das ist auch wieder so ein typischer Fall, du lebendes<br />
Problem. Du verfügst über eine gewaltige magische Kraft,<br />
weißt sie aber nicht anzuwenden. Die Tiere spüren deine<br />
Magie; du ziehst sie an. Du wirst lernen, damit umzugehen.<br />
Spürst du die Erdströme hier auf der Insel?“ Er nickte.<br />
„Diese Insel ist das Herz von <strong>Norgast</strong>. Hier läuft alle Kraft<br />
zusammen. Hier wirst du lernen. Anfangs zumindest. Wir<br />
werden dir helfen, vor allem Dayla. Und das beantwortet auch<br />
deine Frage, wer mächtiger ist. Es gibt bei Magiern wie auch<br />
bei Hexen machtvolle und machtlose. Es gab einmal einen<br />
Magier, der befähigt gewesen wäre, Zauberer und Hagias<br />
wieder zusammen zu führen: Malweýn. Baldur hat ihn mit<br />
heimtückischen Mitteln ausgeschaltet. Das magische Geflecht<br />
bebte damals sehr stark. Aber doch nicht stark genug, um<br />
vom Tode eines so Mächtigen zu künden. Wer weiß, was<br />
damals mit Malweýn geschehen ist...“ Nachdenklich sah die<br />
89
Bônday auf die Tiedsiepe hinaus. „Irgendwo da draußen lebt<br />
er noch in irgendeiner Form.“ Dann schaute sie Findus an:<br />
„Lass´ uns zurück gehen. Du hast für heute genug erfahren.<br />
Denke erst mal über das alles nach. Und zwar gründlich.“<br />
Nachmittags und unterhalb der Hütten. Sie saßen am Strand:<br />
Dayla, Findus und Lyonora. Findus´ Blick schweifte über die<br />
weite Wasserfläche. Er dachte nach, wandte sich an Dayla:<br />
„Was habt Ihr eigentlich mit mir vor?“ Ein breites Grinsen<br />
erschien auf Dayla´s Gesicht und an ihrer Stelle antwortete<br />
Lyonora: „Dich in Magie auszubilden natürlich.“ „Aber“ kam<br />
Widerspruch von Findus „wenn die Anwendung von Magie<br />
das magische Geflecht der Welt zum Schwingen bringt, dann<br />
wird das doch Baldur auf mich aufmerksam machen.“ „Nicht,<br />
wenn es hier geschieht“ meinte Dayla und fügte hinzu „Du<br />
vergisst die Erdströme. Sie sind hier so stark, dass alles andere<br />
überdeckt wird. Aufgrund ihrer Stärke sind sie hier aber auch<br />
kaum beherrschbar.“<br />
„Was sind eigentlich die Erdströme und wo kommen die<br />
her?“ Lyonora: „Die Erdströme sind die Kraftlinien, die in<br />
ihrer Gesamtheit das magische Geflecht ausmachen. Es gibt<br />
‚seltsame Orte‘ in <strong>Norgast</strong> - und natürlich auch auf der<br />
ganzen Welt. An diesen Orten sind die Kräfte besonders<br />
stark. Man nennt diese Orte daher auch ‚Kraftplätze‘. Sie<br />
ermöglichen Astralreisenden den Übergang von einer zur<br />
anderen Welt. Wenn du Dir mal eine Landkarte nimmst und<br />
alle Orte einzeichnest, an denen Dich so ein unwirklichseltsam-fremdes<br />
Gefühl überkommt, dann ergeben sich<br />
Muster. Der Mittelpunkt aller dieser Muster liegt hier auf<br />
dieser Insel. Hier im Herzen <strong>Norgast</strong>s.“ Lyonora schwieg<br />
wieder.<br />
Findus: „Und wie funktioniert Magie nun?“ Dayla<br />
schüttelte den Kopf und entgegnete leicht tadelnd „Nicht ‚wie<br />
funktioniert Magie‘. Diese Frage kann dir wahrscheinlich<br />
niemand beantworten. Höchstens ‚wie kann ich Magie<br />
anwenden‘ - das ist dann schon wirklich einfacher.“ „Na gut,<br />
also wie kann ich Magie anwenden?“ Lyonora: „Du musst<br />
90
lernen, loszulassen. Lernen, auf deine innersten Gefühle zu<br />
hören. Sie sind der Schlüssel zu allem.“<br />
Dayla: „Was nimmst du wahr, wenn du einen Vogel singen<br />
hörst?“ Findus überlegte einen Moment lang und sagte dann<br />
etwas unsicher: „Das ist schwer zu beschreiben. Dafür gibt´s<br />
nicht die richtigen Worte.“ Ein vager Erinnerungsfetzen in<br />
seinem Kopf: Synästhesie. Erinnerung aus einer Anderswelt.<br />
Geistesabwesend fuhr er fort: „Da sind Farben. Formen.<br />
Strukturen und Muster. Sie bewegen sich. Je nach Ton mal<br />
langsam, mal schnell. Und je nach Lautstärke mal groß und<br />
mal klein.“ „Sind das nur farbige Formen oder verspürst du<br />
dabei auch Gefühle? Gefühle, die vielleicht nicht aus dir selbst<br />
kommen?“ wollte Dayla wissen. „Gefühle“ dachte Findus.<br />
Wieder ein Erinnerungsfetzen: metaphorische Synästhesie.<br />
„Ääh... ich weiß nicht... darüber habe ich noch nie<br />
nachgedacht...“ Findus war jetzt sehr verunsichert. Dayla<br />
empfahl ihm: „Mach´ deinen Kopf frei. Vergiss´ alle Ängste,<br />
Sorgen, Erwartungen und Wünsche. Lasse deinen Geist<br />
treiben. Hör´ in dich hinein. Lass´ einfach alles Weltliche los.<br />
Dann konzentriere dich auf deine Wahrnehmungen.“ Findus<br />
versuchte es. Die Welt versank um ihn her. Er sah das Wasser<br />
der Tiedsiepe und sah es gleichzeitig auch nicht mehr. Er<br />
hörte Geräusche und hörte sie trotzdem nicht. Doch die<br />
Geräusche malten farbige Muster vor seinem inneren Auge.<br />
Jedes Geräusch ein ganz individuelles, anderes, typisches<br />
Muster.<br />
Eine Schwalbe schimpfte. Laut. Große goldgelbe,<br />
ineinander flegende Ellipsen mit metallisch-blauen Rändern<br />
und grünlicher Oberflächentextur. Die Gebilde riefen ein<br />
Gefühl in Findus hervor. Das Gefühl von Ärger und Protest.<br />
Es war ein Gefühl, welches nicht aus ihm selbst kam.<br />
Nestförmige Ellipsen. Ärger wegen eines Nestes.<br />
Protestierendes Schimpfen. Findus atmete tief durch, sagte:<br />
„Die Schwalbe eben. Sie schimpfte, weil sie das aufgelassene<br />
Nest eines Spatzen haben wollte. Aber der Spatz kam zurück.<br />
Sie muss sich ein neues Nest suchen oder selbst eins bauen.<br />
Kann das sein oder bilde ich mir das nur ein?“<br />
Lyonora sah ihn aus großen Augen an. Dann stand sie auf,<br />
meinte aufgeregt „Ich sage es der Bônday“ und eilte<br />
aufgewühlt fort. Dayla und Findus blieben allein zurück.<br />
91
Dayla betrachtete Findus sehr nachdenklich. Sie meinte: „Du<br />
bist wirklich sehr begabt. Was du sagst, ist völlig richtig.<br />
Andere brauchen Tage oder viele Monde, um das so zu<br />
erfahren und auch noch richtig zu interpretieren. Dir dagegen<br />
gelingt es auf Anhieb.“ Beide sahen sich an, schwiegen.<br />
Machten sich ihre eigenen Gedanken.<br />
„Ist das die Sprache der Tiere, die ich verstehe?“ wollte<br />
Findus wissen. Dayla: „Nicht gerade eine richtige Sprache,<br />
aber doch, so ungefähr stimmt es schon.“ Schritte näherten<br />
sich. Lyonora kam mit der Bônday zurück. Die Bônday sah<br />
Dayla an. Dayla nickte. Nonverbale Kommunikation. Wissen<br />
ohne die Notwendigkeit, Worte wechseln zu müssen.<br />
Gedanklicher Gleichklang. An Findus gewandt sprach die<br />
Bônday: „Lyonora hat mir mitgeteilt, was für unglaubliche<br />
Fortschritte du binnen kürzester Zeit machst. Und Dayla hat<br />
es mir bestätigt. Übe jetzt allein, drei Tage lang. Dann habe<br />
ich eine neue Aufgabe für dich - du sollst versuchen, deine<br />
Gefühle auf die Tiere zu übertragen.“ Erschrocken blickte<br />
Lyonora die Bônday an und Dayla sog scharf die Luft ein.<br />
Das bedeutete, die Tiere zu beeinflussen, vielleicht sogar zu<br />
beherrschen. Eine sehr seltene Gabe, die nur den<br />
allerwenigsten Menschen vorbehalten war. Und wenn, dann<br />
erst nach vielen Sommern des intensiven Trainings. Und<br />
Findus sollte das jetzt schon machen? Einfach so?<br />
Drei Tage lang versuchte Findus, über seine synästhetische<br />
Erfahrung die Inhalte des Wahrgenommenen zu erkennen. Es<br />
funktionierte immer besser, am Ende sogar schon rein<br />
instinktiv und ohne darüber nachdenken zu müssen.<br />
Zunächst beschränkte er sich auf Vögel. Bald aber stellte er<br />
fest, dass es auf der Insel auch ein paar Katzen gab. Da war es<br />
schon schwieriger - vor allem auch deshalb, weil Katzen doch<br />
sehr eigenwillige Raubtiere sind. Sie suchten nur die Nähe der<br />
Menschen, weil sie ihren eigenen Vorteil darin sahen.<br />
Ansonsten akzeptierten sie außer sich selbst niemanden. Sie<br />
waren völlig eigenständig. Sie hatten Charakter. Findus<br />
erkannte und respektierte das. Auch ihre Wahrnehmung war<br />
gänzlich anders. Mehr Geräusche, mehr Gerüche, mehr<br />
Berührung. Bessere Augen als beim Menschen. Die Katzen<br />
verfügten über ein irgendwie ‚schärferes‘ Weltbild.<br />
92
Ganz langsam, geradezu unmerklich, versuchte Findus am<br />
dritten Tag, seine eigenen Gefühle auf eine der Katzen zu<br />
projizieren - indem er seine eigene synästhetische<br />
Wahrnehmung zu manipulieren trachtete. Es gelang ihm zum<br />
Teil. Die Katzen waren nämlich wildlebend. Diejenige, die er<br />
sich ausgesucht hatte, befand sich auf einer Mäusejagd. Sie<br />
unterbrach ihre Jagd. Sehr ungewöhnlich. Setzte sich und<br />
drehte den Kopf zu Findus. Blickte zu ihm hinüber. Dann<br />
erhob sie sich und glitt geschmeidig auf ihn zu. In einer<br />
Entfernung von etwa zwei Mannslängen setzte sie sich<br />
wieder. Blickte Findus nochmal an, miaute. Danach sprang sie<br />
auf und jagte in großen Sätzen und quer durch eine herrlich<br />
bunte Blumenwiese hinter der Maus her - gerade so, als ob sie<br />
vergessen hätte, etwas sehr Wichtiges dringend zu erledigen.<br />
Ohne dass Findus es bemerkte, war er beobachtet worden.<br />
Aus einiger Entfernung hatte die Bônday zugeschaut. Nun<br />
trat sie auf ihn zu.<br />
„Es ist wirklich erstaunlich, was für unglaubliche<br />
Fähigkeiten du an den Tag legst. Nicht nur, dass du es gelernt<br />
hast, binnen allerkürzester Zeit die Gedankensprache der<br />
Tiere zu erkennen. Du schaffst es bereits, Tiere in deinem<br />
Sinne zu beeinflussen. Das können nur die Wenigsten. Und<br />
du übst ausgerechnet mit einem Tier, dass als unbeeinflussbar<br />
gilt: Mit einer Katze. Respekt. Aus dir könnte glatt eine<br />
Bônday werden.“ Die Bônday schmunzelte. Dann fuhr sie<br />
fort: „Übe das weiter. Beides. Das Verstehen und das<br />
Beeinflussen. Denn was dir dabei noch fehlt, dass ist<br />
Erfahrung. Und die musst du dir selbst aneignen. Erfahrung<br />
kann dich niemand lehren. Aber lehren können wir dich noch<br />
etwas anderes. Das wird Dayla tun. Ab Morgen. Einige<br />
magische Techniken. Wenn jemand über magische Kraft<br />
verfügt - so wie du - dann bedarf es nur der geeigneten<br />
Techniken, um diese Macht auch einzusetzen. Die Techniken<br />
funktionieren wie ein Hebel, mit dem du etwas in Gang<br />
setzen kannst. Ohne die magische Kraft des Ausführenden<br />
sind sie wirkungslos. Mit magischer Kraft sind sie wie ein<br />
Focus. Mit magischer Kraft und genügend Erfahrung bedarf<br />
es dann sogar irgendwann dieses Focus´ auch nicht mehr.<br />
Dann machst du das einfach so.“ Sie schnippte mit den<br />
Fingern und ein Regenbogen blitzte am Himmel auf.<br />
93
„Was sind das für Techniken?“ wollte Findus neugierig<br />
wissen. „Oh, zum Anfang einfache Grundtechniken:<br />
Sigillenmagie, Knotenmagie. Danach dann fortgeschrittenere<br />
Verfahren. Spiegelmagie und Runenkunde beispielsweise.<br />
Schließlich das Wichtigste von allem, die Elementarmagie.<br />
Auch wirst du in diesem Zusammenhang die alte Sprache der<br />
Magie erlernen müssen, denn anders kannst du keine<br />
wirksamen Zaubersprüche formulieren. Viel Spaß dabei!“ Sie<br />
wollte sich umdrehen und gehen, doch Findus´ Wissensdurst<br />
war noch nicht gestillt: „Wird er mich dabei nicht entdecken<br />
können?“ Schon im Weggehen begriffen drehte die Bônday<br />
ihm noch einmal den Kopf zu. Mit einer Stimme, die er<br />
wahrnahm wie golden-reifes Korn, welches kurz vor der<br />
Ernte nass geworden ist und von unwirklichen<br />
Nebelschwaden durchzogen wird, sagte sie: „Nein, denn<br />
Lyonora und ich schirmen deine Übungen ab. Du bist hier in<br />
Sicherheit.“ Damit ließ sie ihn stehen. „Das verspricht<br />
interessant zu werden“ dachte Findus bei sich.<br />
Was er nicht wusste und absolut nicht ahnte war die Tatsache,<br />
dass es so unendlich Vieles zu lernen gab. Anfangs nur die<br />
Sigillenmagie: Findus lernte es, einen Wunsch auf eine<br />
Kernaussage von nur zwei oder drei Worten einzuschränken<br />
und diese wenigen Worte in Runenform darzustellen. Unter<br />
Daylas Anleitung schrieb er die Runen auf den Sandstrand<br />
und strich alle doppelt vorkommenden Zeichen aus. Dann<br />
nahm er ein Pergament und malte aus den verbliebenen<br />
Zeichen ein mantrisches Bild, womit er seinen Wunsch der<br />
Sigille einprägte. Im Anschluss machte Findus seine<br />
Gedanken frei - so frei, wie er es getan hatte, als er begann,<br />
die Stimmen der Tiere zu verstehen. Das diente dazu, seinen<br />
ursprünglichen Wunsch gänzlich aus dem Gedächtnis zu<br />
verbannen. Wenn er aus seinem schamanischen<br />
Geisteszustand wieder zurück kehrte und sich beim<br />
Betrachten des Bildes an seinen Wunsch erinnerte, dann war<br />
etwas schiefgelaufen. Wenn der Wunsch weg, aus seinem<br />
Gedächtnis gestrichen war, dann war auch alles in Ordnung.<br />
Im letzteren Fall wurde das Pergament dann verbrannt... Es<br />
94
dauerte recht lange, bis Findus den richtigen Bogen raus<br />
hatte. Das mit Abstand Wichtigste dabei war das Erreichen<br />
des richtigen Geisteszustandes. Danach allerdings hätte er die<br />
Sigillenmagie in jeder Situation anwenden können - und<br />
notfalls auch ohne den Focus des Pergaments zu benötigen.<br />
Übung macht den Meister.<br />
An einem schönen Tag saß Findus am Strand. Er blickte<br />
auf die trockene Tiedsiepe hinaus. Irgendwann begann der<br />
Boden, sich zu verfärben. Erst nur fleckweise und schleichend<br />
langsam. Es war später Nachmittag und der Mond stand<br />
bereits weiß und blass am Himmel; parallel dazu versank die<br />
Sonne hinter den beiden Helgebarg-Gipfeln. Je höher der<br />
Mond stieg, desto mehr Wasser gab auch der Boden der<br />
Tiedsiepe frei. Es musste da einen Zusammenhang geben.<br />
Findus fragte die Bônday danach. „Es ist wohl so“<br />
antwortete ihm die weise Frau. „Der Mond übt eine seltsame<br />
Anziehungskraft aus. Jetzt liegt es aber an dir selbst zu<br />
erkennen, warum die sich hier so äußert.“ Wissend lächelnd<br />
überließ die Bônday ihn seinen Grübeleien. Findus dachte:<br />
„Wenn der Mond eine Anziehungskraft ausübt und ich die<br />
nicht spüren kann, dann muss die sehr schwach sein. Wieso<br />
aber kann dann eine so gewaltige Wassermenge scheinbar<br />
durch nichts bewegt werden...?“<br />
Plötzlich hatte er es. Er sprang auf und rannte zur Bônday.<br />
„Die Gegenkraft fehlt“ keuchte Findus, noch atemlos von<br />
seinem Lauf. „Winzige Kräfte summieren sich auf und<br />
können nur deshalb wirksam werden, weil keine Gegenkraft<br />
da ist. Deswegen steigt das Wasser.“ „Du hast Recht“<br />
entgegnete die Bônday und fügte hinzu „und was glaubst du,<br />
welchen Einfluß das auf die Magie hat?“ So lernte Findus, wie<br />
wichtig es bei den magischen Techniken war, die<br />
astronomischen Konstellationen zu berücksichtigen. Warum<br />
ein und der gleiche Zauber einmal alle Erwartungen übertraf<br />
und ein andernmal nur wenig Wirkung zeigte. Die<br />
aufsummierten winzigen Kräfte konnten mit der Magie oder<br />
aber dagegen arbeiten, denn auch die Magie selbst bestand aus<br />
winzigen aufsummierten Kräften, zu denen es keinen<br />
Gegenpart gab. Es lag an den Himmelskörpern, die es zu<br />
berücksichtigen galt.<br />
95
In besonderem Maße galt das für die Knotenmagie. Den<br />
Focus bildete dabei einfach nur eine hinreichend dicke<br />
Schnur, in die unter dem Rezitieren eines Zauberspruches ein<br />
Knoten gebunden wurde. Anschließend war die Schnur zu<br />
vergraben. Eigentlich ganz einfach... ...eigentlich, wären da<br />
nicht die Zaubersprüche gewesen. Um die erfolgreich<br />
einsetzen zu können, musste Findus die Bedeutung des<br />
Futhorks erlernen, sich die Kenntnis der Runen aneignen.<br />
Das ging einher mit dem Erlernen der alten magischen<br />
Sprache. Fehu oder Far: Der spirituelle Reichtum. In seiner<br />
Umkehrung jedoch die geistige Unausgewogenheit, eine Form<br />
der Schwäche. Ur oder Uruz: Die Stärke, aber die Schwäche<br />
in der Umkehrung. Thurisaz: Die spirituelle Autorität. Othila<br />
oder Os: Konzentration und Freiheit. Verlust in der negierten<br />
Form. Raido oder Rit: Diese Rune symbolisierte den ewigen<br />
Kreislauf des Lebens. Stagnation, Stillstand und Verhärtung,<br />
wenn man sich dagegen sträubte. Kenaz oder Kaun: Die<br />
Erleuchtung - Wissen und Macht, gepaart mit Verantwortung.<br />
Hagalaz oder Haegl: Die Herausforderung. Nauthiz, Noth,<br />
Nyd: Das Bedürfnis und die Notwendigkeit, die eigene dunkle<br />
Seite zu erkennen. Es waren so viele Runen, so viele Dialekte.<br />
Findus schwindelte der Kopf davon. Doch verbissen kämpfte<br />
er sich weiter durch seine Lektionen.<br />
Isa oder Is: Der Stillstand. Allerdings positiver Stillstand<br />
im Sinne von Geduld - etwas, was Findus immer schwerer<br />
fiel. Gegenteilig gesehen konnte der Stillstand aber auch<br />
Rückschritt bedeuten. Eine Rune mit durchaus negativen<br />
Aspekten. Ar, Ansuz oder Ansur: Das Verstehen einer<br />
Botschaft. Umgekehrt Unwissen und Voreingenommenheit.<br />
Sigel oder Sowelo: Glück, Wahrheit und die Dunkelheit<br />
vertreibendes Licht. Die Umkehrung brachte Lug, Trug und<br />
Dunkelheit. Tyr oder Teiwaz: Initiation durch neue Einsicht.<br />
Schwäche durch Starrköpfigkeit in ihrer negativen Form. Bar,<br />
Berkana, Beorc: Neubeginn und neue Abenteuer. Laf oder<br />
Laguz oder Lagu: Leben in Harmonie mit der Schöpfung.<br />
Gegenteilig Inaktivität und Stagnation. Man oder Mannaz:<br />
Akzeptanz des eigenen Schicksals. Gewandelt Pessimismus,<br />
Kraftlosigkeit und Entscheidungsschwäche. Yr, Algiz oder<br />
Eolx: Innerer Schutz durch Selbstvertrauen. Umgedreht<br />
zerstörerische Hast und der Drang, den falschen Ratgebern<br />
96
zu folgen. Ehu - Ehwaz - Eh: Fortschritt durch Loyalität.<br />
Negiert Ausnutzung durch Parasiten. Die Anzahl der Runen<br />
schien kein Ende nehmen zu wollen. Meist waren sie auch<br />
noch durchaus zweideutig, besaßen eine offenkundige und<br />
eine verborgene Bedeutung. Zusätzlich noch symbolisierten<br />
bestimmte Edelsteine, Pflanzen und Bäume eine Rune.<br />
Findus stöhnte.<br />
Beispielsweise könnte er mit dem Spruch „Zuru-Uhef-Tir“<br />
- der Umkehrung von Uruz-Fehu-Rit - einen Feind verwirren<br />
und zurückweisen. Doch wäre der Spruch mächtiger als jedes<br />
Schwert, wenn er dabei mit einem Eichenknüppel drohend<br />
unter einer Birke stehen könnte und einen Moosachat in der<br />
Tasche hätte. Denn die Eiche stand für Rit, die Birke für Uruz<br />
und der Moosachat für Fehu. Wenn dann noch eine günstige<br />
Sternkonstellation hinzu käme...<br />
Jetzt erst verstand Findus auch den Sinn der Armbänder<br />
von Dayla und Lyonora. Das war mehr als nur Schmuck - das<br />
waren sehr machtvolle magische Gegenstände! Nachdem ihm<br />
das zu Bewusstsein gekommen war, machte er mit neuem<br />
Eifer weiter. Gibor, Gebo, Gyfu: Ein spirituelles Geschenk,<br />
welches auf einer Art von Tausch beruhte. Fand nur ein<br />
Geben und Nehmen ohne Gegenleistung statt, dann stand<br />
der Beschenkte in der Schuld des Gebers. Dagaz oder Daeg:<br />
Das Gute im Leben - Glück durch Wahrheit und Erfolg<br />
durch die Macht des Lichts. Eoh oder Eihwaz: Wandlung und<br />
Transformation durch Reifung.<br />
Jetzt verstand Findus auch, wie Lyonora das magische<br />
Boot für Bewok erschaffen hatte. Der Lichtstrahl war in einen<br />
Mondstein, welcher für die Rune Beorc stand, gelangt. Das<br />
entsprach einem Neubeginn. Der Mondstein hatte den Strahl<br />
in einen Topas, der Eihwaz symbolisierte, reflektiert:<br />
Transformation. Damit war aus dem gewandelten Licht etwas<br />
Neues entstanden, nämlich Bewok´s Boot. So langsam<br />
verstand Findus die Grundlagen der Zauberei.<br />
Ingwaz, Ing, Inguz: Das vorantreibende innere Feuer der<br />
Inspiration; der persönliche Weg, den man einfach gehen<br />
muss! Sein Weg? Gewandelt die reine Führbarkeit - das<br />
schiere Mitläufertum ohne Kreativität, ohne Eigeninitiative.<br />
Jera und Jara: Die Ernte, der Lohn harter Arbeit. Aber auch<br />
die Stärkung von Wissen und Weisheit für die noch<br />
97
kommenden Herausforderungen. Perth, Peord, Pertho: Die<br />
zur Entscheidung führende freie Wahl. Das Sich-in-das-<br />
Schicksal-Ergeben, die Fremdbestimmung, in umgekehrter<br />
Form. Wunjo oder Wynn: Glück durch Ausgewogenheit und<br />
Harmonie im Leben. Negiert die Blindheit für das eigene<br />
Glück, die ständige Gier nach mehr, nach Neuem.<br />
„Harmonie im Leben“ dachte Findus „das ist auch<br />
Harmonie mit der Natur. Das Verstehen der Natur und ihrer<br />
Kräfte.“ Irgendwie machte es ‚Klick‘ in seinem Kopf, als er<br />
das verstand. Er begriff den wohl wichtigsten Grundsatz:<br />
„Magie und Natur sind untrennbar miteinander verbunden.<br />
Magie ist Natur und Natur ist Magie.“<br />
Dennoch wurde es ein sehr mühsames Lernen, bis er alle<br />
Runen in allen magischen Dialekten, ihre pflanzlichen<br />
Entsprechungen, ihre Baumentsprechungen und die sie<br />
repräsentierenden Steine im Schlaf kannte. Es dauerte sehr,<br />
sehr lange. Doch danach beherrschte er die Sprache der<br />
Magie und konnte erstmals Magie ganz gezielt anwenden.<br />
Dennoch blieb sein ‚echter‘ Name ihm zunächst noch ein<br />
Rätsel - Findus Far-Ur-Rit: Alles ist im Fließen bis du Dich<br />
selbst erkennst und Deinem Schicksal vertraust. Aber was war<br />
sein Schicksal? Und wer war er wirklich?<br />
Findus traf die Bônday in Begleitung ihrer beiden<br />
Novizinnen an. Er fragte die Bônday. Sie betrachtete ihn<br />
lange und nachdenklich. „Du bist jetzt schon vier volle<br />
Monde hier und du hast viel gelernt. Sehr viel. Genug, um<br />
dich selbst als Lohnmagier durchschlagen zu können. Wenn<br />
du deine Kräfte vorsichtig genug einsetzt, dann wird Baldur<br />
das gar nicht einmal bemerken. Doch du musst auch noch<br />
mehr lernen. Hier auf der Insel geht das nicht. Die überaus<br />
starken Erdströme machen das unmöglich. Deswegen reise<br />
ab. Übermorgen, auch wenn der Sommer schon beinahe zu<br />
Ende ist. Dayla wird dich begleiten. Ihr reist als Paar; du als<br />
einfacher Lohnmagier und sie als dein kräuterkundiges<br />
Eheweib. Das ist Tarnung genug. Und ihr seid zu zweit.<br />
Baldur sucht nur nach einem. Niemand wird euch<br />
verdächtigen. Deine Reise wird die Ausbildung<br />
vervollständigen, besonders hinsichtlich der Magie der<br />
Elementare.“<br />
98
Die Bônday sah ihm direkt in die Augen und ihr Blick<br />
vermittelte Kraft. „Dayla kann dir das beibringen. Doch sei<br />
vorsichtig mit dem magischen Geflecht. Du bist dann nicht<br />
mehr abgeschirmt. Deine Kräfte sind groß; setze sie daher nur<br />
sehr sparsam ein.“ Das war nun wirklich nicht die Antwort,<br />
die Findus eigentlich erwartet hatte und so begehrte er auf:<br />
„Aber - was ist mein Schicksal? Und was ist mit meiner<br />
Vergangenheit?“ „Beides hängt sehr eng miteinander<br />
zusammen. Ein Rätsel, welches du selbst lösen musst. Ich<br />
werde dir bei der Lösung helfen, wenn du drei Prüfungen<br />
bestehst.“ „Welche drei Prüfungen?“ fragte Findus. Die<br />
Bônday, Oberste aller Hexen in <strong>Norgast</strong>, sagte nur drei Sätze:<br />
„Bring´ mir den weißen Raben.“<br />
„Bring´ mir den Geist des Waldes.“<br />
„Bring´ mir den Stein des Lebens.“<br />
Dann wandte sie sich ab. Hilflos sah Findus zu Dayla und<br />
Lyonora hinüber, die ihn ausdruckslos betrachteten. Nur um<br />
Daylas Mundwinkel spielte ein feines, wissendes Lächeln...<br />
99
Kapitel 6: Der weiße Rabe<br />
Findus hatte kapiert, dass erneut eine Reise bevorstand.<br />
Doch zuvor fehlten noch einige Vorbereitungen, welche<br />
insbesondere seitens Dayla zu treffen waren. So ging sie mit<br />
sehr aufmerksamen Augen über die Insel und sammelte hier<br />
ein Stück Holz, da einen Stein. Birke für Uruz, Eiche für<br />
Thorn, einen Mondstein für Beorc, eine Perle für Laguz,<br />
einen Bernstein für Ingwaz und so weiter - bis sie die<br />
Grundstoffe für alle vierundzwanzig Buchstaben des<br />
Futhorks beisammen hatte. In der ersten Stunde des nächsten<br />
Tages fertigte sie aus diesen Materialien Runen für die Reise<br />
an - machtvolle, magische Verbündete.<br />
Der Zeitpunkt der Herstellung war von ihr ganz bewusst<br />
gewählt worden, denn er lud die Runen mit magischer<br />
Energie auf. Sie streute etwas Meersalz an das Ufer der<br />
Tiedsiepe, sprach ein kurzes Gebet an die Erdgöttin Erce,<br />
schloss auch die Idisi mit ein, bestreute die Runen ebenfalls<br />
und tauchte jede kurz ins Wasser, um sie spirituell zu reinigen.<br />
Es schloss sich eine Räucherung an. Dayla ging sehr sorgfältig<br />
vor. Sie füllte eine flache, irdene Schale mit Sand und legte ein<br />
Stück glühender Holzkohle darauf. Letzteres bestreute sie mit<br />
etwas Harz vom Wicbaum und hielt die Runen dann zum<br />
Trocknen und zwecks Räucherung in den aufsteigenden<br />
Rauch. Danach führte sie jede der Runen kurz durch eine<br />
Kerzenflamme, um ihnen die Energie des Feuers zu<br />
schenken. Schließlich breitete sie ihr Werk noch für längere<br />
Zeit auf nackter Erde in der Mittagssonne aus, was für eine<br />
einzigartige, weitere Aufladung sorgte. Die Runen waren<br />
damit den vier Elementaren Wasser, Erde, Luft und Feuer<br />
geweiht worden.<br />
In der Zwischenzeit war Findus mit Lyonora unterwegs,<br />
um Kräuter zu sammeln. Magische Kräuter wie Schwarzdorn,<br />
Klee, Brennessel oder Beifuß ebenso wie möglicherweise<br />
benötigte Heilkräuter: das Licht der Erde als Anregungsmittel,<br />
Alfblut zum Finden der inneren Ruhe, Plan als Schmerzmittel<br />
und vieles mehr. Selbst Propolis als Universalheilmittel aus<br />
einem Stock von Wildbienen nahmen sie mit – ein nicht ganz<br />
100
ungefährliches Unterfangen, doch sie beruhigten die Tiere auf<br />
magische Weise. Ergänzt wurden die Kräuter um zwei<br />
kräftige Wanderstöcke aus Eibenholz, dem Symbol für Kraft<br />
und Sicherheit. Findus lernte dabei viel über die<br />
Kräutermagie. Sie brachten die frischen Kräuter zur Bônday,<br />
welche die Substanzen gegen getrocknetes und daher<br />
haltbares Material austauschte. Alle Utensilien - Kräuter wie<br />
auch die Runen - wanderten in zwei lederne Hirschfellranzen,<br />
welche bequem auf dem Rücken getragen werden konnten.<br />
Zuletzt wurde noch zweckmäßige Reisebekleidung<br />
benötigt. Dayla entschied sich für ein Bilou-ähnliches, seitlich<br />
geschnürtes und nicht ganz knöchellanges Kleid, welches ihr<br />
genügend Bewegungsfreiheit beim Laufen gestattete. Die<br />
Farbe dieses Kleides war ein Fahlblau. Es entsprach damit der<br />
Bedeutung der Rune Dagaz und sollte der Trägerin Schutz,<br />
Erfolg und Weiterentwicklung durch die Macht des Lichts<br />
bescheren. Ein wildledernes Wams für den Oberkörper und<br />
ein Umhang mit Kapuze - gegen die Unbilden des Wetters -<br />
rundeten Daylas Kleidung ab. Findus hingegen trug eine<br />
knöchellange Hose aus derben Leinenstoff, dazu einen<br />
Gambeson und ebenfalls den Umhang. Seine Farben waren<br />
das Schwarz der Rune Pertho und das fahle Gelb der Rune<br />
Wunjo. Sie symbolisierten die freie Entscheidung über das<br />
eigene Schicksal sowie Glück und Harmonie durch<br />
Ausgewogenheit. Neben der magischen Symbolik hatte die<br />
Kleidung der Beiden aber auch noch einen ganz profanen<br />
Nebeneffekt. Die Farben tarnten nämlich im Wald! Festes<br />
Schuhwerk ergänzte ihrer beider Wanderausrüstung. Daylas<br />
Waffen waren ihre Runen. Findus hatte noch nicht genug<br />
Vertrauen in die Magie. Er nahm zusätzlich das Kurzschwert<br />
mit - sein Geschenk von Bewok. Am nächsten Tag, als das<br />
Wasser der Tiedsiepe gerade weit genug zum Laufen<br />
gesunken war, brachen Dayla und Findus zur ‚Insel der<br />
Gestrandeten‘ auf.<br />
Sie gingen schon eine ganze Weile. Dayla schritt zügig aus<br />
und Findus stapfte in Gedanken brütend hinter ihr her. Er<br />
überdachte sein Verhältnis zu Dayla. Einerseits liebte er sie<br />
101
von ganzem Herzen, sehnte sich mit jeder Faser seines<br />
Körpers nach ihr. Andererseits aber sprach sie immer so<br />
weise, so abgeklärt und das missfiel ihm. Es vermittelte ihm<br />
das Gefühl, ein kleiner, unwissender Junge zu sein. Das<br />
Gefühl, gegängelt zu werden. Doch er würde es wohl<br />
akzeptieren müssen, denn schließlich hatte ja jeder Mensch<br />
seine Eigenheiten. Vielleicht änderte sich das irgendwann,<br />
vielleicht würde die Weisheit auch ihn einmal besuchen. Das<br />
brachte Findus auf eine Frage. Mit raschem Schritt war er<br />
neben Dayla. „Sag´“, begann er noch immer etwas missmutig<br />
„wo soll ich einen weißen Raben finden?“ Dayla sah ihn an<br />
und schüttelte ungläubig den Kopf - hatte er es denn immer<br />
noch nicht begriffen?<br />
„Wie klingt das Klatschen mit einer Hand?“ lautete ihre<br />
Gegenfrage. Findus sah seine Geliebte nur verständnislos an.<br />
„Schau´ mal“ fuhr Dayla fort „kann es sein, dass du die<br />
falsche Frage gestellt hast? Nicht ‚wo‘ sondern ‚wie‘?<br />
Manchmal ist nämlich der Weg an sich wichtiger als das Ziel.<br />
Manchmal kannst du nur dann eine Erkenntnis haben, wenn<br />
du aufhörst, über das Problem nachzudenken. Deswegen<br />
benutzen wir auch kein magisches Boot oder sowas. Du<br />
kannst ein Land und seine Bewohner nur dann wirklich<br />
begreifen, wenn du es von unten her kennenlernst, wenn du<br />
es selbst erfährst. Nur dann wirst du auch dich selbst, wirst du<br />
Antworten auf deine Fragen finden. Alles andere ist<br />
realitätsfern. Und nur so kann es geschehen, dass der weiße<br />
Rabe dich findet...“ Sie schwieg und sie wanderten weiter. Die<br />
‚Insel der Gestrandeten‘ kam langsam näher. „Und warum zur<br />
‚Insel der Gestrandeten‘?“ wollte Findus wissen.<br />
Dayla antwortete: „Auf der ‚Insel der Gestrandeten‘ sind<br />
die Erdströme nicht annähernd so stark wie auf der<br />
‚namenlosen Insel‘. Obwohl beide Inseln unmittelbar<br />
benachbart sind. Das ist eben das Wesen der Magie. Hier sehr<br />
stark, unmittelbar daneben aber nur ganz schwach. Wie der<br />
Pfad durch den Sumpf. Hier fest, doch nur einen Schritt zur<br />
Seite bereits bodenlos. Andererseits ist die ‚Insel der<br />
Gestrandeten‘ eben noch der Bônday nahe genug, um uns<br />
Schutz zu gewähren, falls etwas Unvorhergesehenes<br />
geschehen sollte. Ich werde dich auf der Insel mit der Magie<br />
als der allumfassenden, wertfreien Urkraft der Welt vertraut<br />
102
machen. Diese Urkraft ist chaotisch und das magische<br />
Geflecht bildet sich durch Selbstorganisation aus eben dem<br />
Chaos heraus. Aufgrund der Selbstorganisation kann eine<br />
verschwindend kleine Ursache zu gigantischen Wirkungen<br />
führen.“<br />
„Das verstehe ich nicht. Wie meinst du das?“ „Hast du<br />
schon einmal Wäsche mit Seife gewaschen?“ fragte Dayla.<br />
„Natürlich“ entgegnete Findus. „Was hast du dabei gesehen?“<br />
wollte die Hagia wissen. „Schaum, eine bunte Mischung vieler<br />
winziger Luftblasen“ war Findus´ Antwort. „Nicht schlecht,<br />
aber geht´s vielleicht etwas genauer? Welche Form hatten die<br />
Luftblasen?“ „Rund?“ erwiderte Findus fragend, weil er sich<br />
an die runde Form großer Seifenblasen erinnerte. „Falsch“<br />
sagte Dayla und fügte erläuternd hinzu: „Eine einzige, große<br />
Seifenblase ist natürlich rund. Kommen aber mehrere<br />
zusammen, dann kleben sie mit den größtmöglichen Flächen<br />
aneinander. Dabei geht die runde Form verloren. Es bilden<br />
sich von allein Sechsecke, Waben. Die Seifenblasen<br />
organisieren sich selbst zu Waben. Wie in einem Bienenstock.<br />
Es ist eine Form, die einerseits der Kugel noch am nächsten<br />
kommt und die andererseits die größtmögliche<br />
Packungsdichte gewährleistet. Ohne Lücken zwischen den<br />
ursprünglichen Kugeln. Die Natur macht es uns vor. Lerne zu<br />
beobachten, wirf´ allen Ballast über Bord und dann erkennst<br />
du es. Die Magie funktioniert ganz genau so, denn es ist eine<br />
natürliche Kraft. Es ist die Kraft der Natur. Beeinflusst du<br />
- mit welcher Technik auch immer - nur eine einzige, winzige<br />
Strömung des magischen Geflechts, dann beeinflusst du<br />
automatisch auch immer das Ganze.“<br />
Findus dachte über das Gehörte nach. Nach einiger Zeit<br />
bemerkte er: „Aber - wenn ich grundsätzlich immer alles<br />
beeinflusse, dann kann das doch sowohl positiv wie auch<br />
negativ, weiße wie schwarze Magie sein. Wie soll ich wissen,<br />
welche Auswirkungen mein Handeln hat?“ „Dieses Wissen ist<br />
Verantwortungsbereitschaft. Sie macht einen guten Magier<br />
aus. Tu was du willst, aber schade niemandem. Das ist der<br />
magische Grundsatz. Ohne Verantwortungsbereitschaft<br />
kannst du dem nicht genügen.“ Dayla schwieg kurz und fuhr<br />
dann fort „Die Richtung der Magie ist lenkbar. Die<br />
Auswirkungen eines Tuns zu steuern, verlangt allerdings sehr<br />
103
viel Übung und Können. Verlangt Vorausschauen und<br />
Folgenabschätzung. Deswegen setzen die mächtigsten Magier<br />
und Hexen ihre Magie auch immer nur äußerst sparsam ein.<br />
Sie wissen um die damit verbundenen Gefahren.“<br />
Findus´ Neugier war aber noch nicht befriedigt. „Hmm...“<br />
begann er „...wie passt das mit den Machtkonzentrationen bei<br />
der Bônday oder bei Baldur zusammen? Widerspricht sich das<br />
nicht, wenn einerseits magische Kraft angehäuft wird und<br />
andererseits die Anwendung selbst kleinster Magie zu<br />
unabsehbaren Folgen führen kann?“ Dayla blieb kurz stehen<br />
und sah ihm in die Augen. „Erstaunlich...“ war ihr<br />
Kommentar und „Malweýn hatte vor vielen Jahren ähnliche<br />
Gedanken. Aber du hast Recht, ja. Das ist wirklich ein<br />
Dilemma. Doch um das aufzulösen, müsste es eine wirklich<br />
mächtigste Bônday geben und einen wirklich mächtigsten<br />
Magier. Nur beide zusammen könnten einen Teil ihrer Kraft<br />
auf das magische Geflecht zurück übertragen. Sie müssten<br />
dann aber bereit sein, sich möglicherweise freiwillig von ihrer<br />
Macht zu trennen. Die dem Geflecht zurück gegebenen<br />
Kräfte kämen allen Menschen zu Gute. Vielleicht würden die<br />
dann wieder Elfen, Trolle und Kobolde wahrnehmen<br />
können...“ Jetzt war es an Dayla, nachdenklich zu<br />
verstummen. Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Gegen<br />
Abend erreichten sie die ‚Insel der Gestrandeten‘.<br />
Es war schon spät, als sie ihr Nachtlager aufschlugen. Sie<br />
aßen von den mitgebrachten Vorräten. Das Wetter war gut<br />
und deswegen verzichteten sie auf ein Lagerfeuer und auf den<br />
Zeltaufbau. Lediglich ein bläuliches Flirren huschte vorbei<br />
- das Geräusch von Blättern, die durch einen Windstoß<br />
raschelten. Mit den Umhängen als Unterlage nächtigten beide<br />
eng aneinander gekuschelt im weichem Moos. Irgendwie hatte<br />
sich eine Feder zwischen sie verirrt. Findus nahm lächelnd die<br />
Feder und reizte damit spielerisch Daylas vollkommenen<br />
Körper. Er verstand es, ihre innere Glut zu entfachen. Ihr<br />
wurde heiß; sie presste ihre katzenhafte Weiblichkeit an ihn.<br />
Findus´ Arme schlossen sich um sie. Sie liebten sich heiß und<br />
104
innig, wobei Dayla´s Finger Kratzspuren auf Findus´ Rücken<br />
hinterließen.<br />
Nachdem er eingeschlafen war, lag sie noch lange wach.<br />
Betrachtete sein Profil im Mondlicht. Machte sich Gedanken<br />
über ihr Verhältnis zueinander. Ungeachtet ihres jugendlichen<br />
Körpers war Dayla alt, erfahren und abgeklärt. Der Endpunkt<br />
ihrer magischen Fähigkeiten war schon vor geraumer Zeit<br />
erreicht worden. Die nächste Stufe könnte nur noch darin<br />
bestehen, selbst zu einer Bônday zu werden. Anders bei<br />
Findus. Er war für sie wie ein junger Baum. Noch zart und<br />
zerbrechlich, doch auch noch weit vom Höhepunkt seiner<br />
Macht entfernt. Sehr weit. Und seine magische Kraft war -<br />
ohne dass er sich dessen bewusst sein konnte - der ihren jetzt<br />
schon fast ebenbürtig. Ein Baum, den es zu hegen und zu<br />
pflegen galt, damit er irgendwann einmal seine volle Größe<br />
erreichen und sein volles Potenzial ausspielen könnte.<br />
Aber war eine derartige Anhäufung von magischer Kraft<br />
überhaupt sinnvoll? Waren die von den Magiern und von den<br />
Bôndays eingeschlagenen Wege der Machtkonzentration<br />
richtig? Dayla zweifelte daran. Jede Konzentration von Magie<br />
schwächte das alles umfassende magische Geflecht. Das blieb<br />
nicht ohne Auswirkungen. Die magischen Völker, die im<br />
Geflecht eine regulierende Funktion innehatten, wurden<br />
immer kleiner. Die Menschen wurden immer blinder für die<br />
Wahrnehmung der Natur. Zwerge, Kobolde, Dryaden,<br />
Najaden, Zentauren, Feen, Wichtel, Elfen, Harpyen - all die<br />
wurden von ihnen schon jetzt kaum mehr erkannt. Andere<br />
magische Wesen schrumpften. Irgendwann würden sie<br />
unsichtbar klein sein und dann im Verborgenen Schaden<br />
anrichten. Findus war - ohne es zu wissen - in der Anderswelt<br />
bereits mit den entsprechenden Erfahrungen konfrontiert<br />
worden. Dort riefen die geschrumpften Wesen Krankheiten<br />
hervor.<br />
Nur die Geburt von vielen - von sehr vielen! - Menschen<br />
könnte das magische Geflecht wieder stärken. Doch diese<br />
Energie wäre ohne die regulierende Funktion ungerichtet. Die<br />
Folge: Übervölkerung und Chaos! Dayla hatte eine schwache<br />
Ahnung davon bekommen, als sie heimlich in Findus´<br />
Gedanken nach dessen Vergangenheit suchte und seine<br />
Erlebnisse in der Anderswelt fand. Vor ein paar Tagen. Ihr<br />
105
war eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen. Und genau<br />
hier lag das Dilemma: Einzig Findus´ voll entwickelte<br />
Fähigkeiten würden dem Herrscher und dem Irrweg der<br />
Magier Einhalt gebieten können. Das aber bedeutete<br />
Machtkonzentration, bedeutete dauerhafte Schwächung des<br />
magischen Geflechts. Ein Teufelskreis. Wer würde ihnen da<br />
heraushelfen können? Die Menschen sicherlich nicht.<br />
Überhaupt, die Menschen...<br />
In dem zeitlosen, unwirklichen Dämmerzustand zwischen<br />
Wachen und Schlafen tauchten Bilder vor Dayla´s innerem<br />
Auge auf. Bilder aus ihrer eigenen Vergangenheit. Bilder von<br />
der eisigen Ablehnung, die ihr als Kind ob ihrer Hexenkünste<br />
und Seherfähigkeiten immer entgegen geschlagen war. Wie<br />
man sie ausgrenzte, nachdem das, was sie vorausgesehen<br />
hatte, auch eintrat. Wie man sie ausgrenzte, weil sie den<br />
anderen unheimlich erschien! Wie man von ihr erteilte,<br />
wertneutrale Auskünfte als selbstbemitleidend und als<br />
selbstbeweihräuchernd herabsetzte. Wie man sie<br />
Kassandraruferin schimpfte, wenn sie vor den Folgen von<br />
Fehlentscheidungen warnte – die dann natürlich auch<br />
eintrafen. Wofür man ihr die Schuld gab! Wie sie gezwungen<br />
wurde, wider besseres Wissen falschen Anweisungen zu<br />
folgen und Fehler zu begehen – die man dann prompt ihr<br />
selbst anlastete. Wie man sie zwingen wollte, das, was sie<br />
wahrnahm, zu ignorieren. Wie Menschen, denen die<br />
ganzheitliche Sicht der Welt abhanden gekommen war, sie<br />
aufgrund ihrer umfassenden Wahrnehmung schlichtweg für<br />
verrückt erklärten. Wie sie lernen musste, sich zurück zu<br />
halten, immer im Hintergrund zu bleiben. Nur nicht auffallen,<br />
um keinen Preis der Welt, denn sonst... Wie man sie für<br />
dumm hielt, gerade weil sie sich nur selten äußerte - obwohl<br />
ihr vieles klarer als ihren Mitmenschen war und obwohl sie<br />
sehr viel schneller begriff und vorausschauender dachte als<br />
die!<br />
Unheimlich, verrückt, dumm und obendrein auch noch<br />
von niederer Herkunft - Hexe, Hexe! Einsperren, nur weg mit<br />
der! So entstanden Vorurteile. So handelten Menschen<br />
– Menschen, die alles besser wussten. Menschen, die von<br />
anderer Stelle manipuliert wurden. Damals war der Verdacht<br />
in ihr aufgekeimt, vielleicht gar nicht dieser Rasse<br />
106
anzugehören. Bevor es zum Äußersten kam, gelang ihr eines<br />
Nachts die Flucht. Lange war sie unterwegs, bis sie auf ein<br />
Kräuterweib stieß. Das erkannte sofort, was mit Dayla<br />
wirklich los war, was in ihr steckte. Und bildete sie zur echten<br />
Hexe aus. Schickte sie irgendwann zur ‚namenlosen Insel’ der<br />
Bônday. Seit damals wusste Dayla, was es mit dem lockeren<br />
Netzwerk der über ganz <strong>Norgast</strong> verstreuten Hexen auf sich<br />
hatte. Es war - zumindest teilweise - gerade auch ein<br />
Anlaufpunkt für die von der menschlichen Gesellschaft<br />
Ausgestoßenen. Für die aufgrund ihrer besonderen<br />
Fähigkeiten Ausgestoßenen. Für Querdenker. Für Kritische.<br />
Für Naturverbundene. Für zukünftige Hexen... Was die<br />
Menschen unsicher oder gar verrückt vor Angst machte, war<br />
die unbestimmte Ahnung, wie illusionär die Wirklichkeit<br />
tatsächlich war - nicht viele konnten das ertragen. Sie lehnten<br />
solche Gedankengänge ab. Und sie lehnten gerade auch die<br />
Mitmenschen ab, die solche Gedankengänge hatten. Mit<br />
diesen Überlegungen schlief sie endgültig ein. Morgen würde<br />
sie sich weiter um Findus Ausbildung bemühen. Doch es<br />
sollte anders kommen. Ganz anders.<br />
Es war finstere Nacht - der Mond längst untergegangen - als<br />
Dayla durch einen halblaut-erstickten Schrei geweckt wurde.<br />
Findus wälzte sich neben ihr unruhig hin und her. Ein<br />
Alptraum hielt ihn gefangen! Vorsichtig, um ihm zu helfen,<br />
versuchte Dayla in seine Traumgedanken einzudringen. Was<br />
sie dort fand, erschreckte sie zutiefst. Der violettockerfarbene<br />
Geruch von verbranntem Menschenfleisch war<br />
plötzlich in ihrem Kopf. Blut, zerstückelte Körper, zerrissene<br />
Gliedmaßen, tote Kinder, Feuer und Zerstörung - Mord,<br />
namenlose Grausamkeit und Massaker, wohin sie auch sah.<br />
Es war unaussprechlich furchtbar!<br />
Findus hatte einen divinatorischen Traum. Den Alptraum<br />
einer durchaus realen Zeit, vielleicht gar nicht einmal so weit<br />
entfernt – denn Baldur´s Häscher waren gnadenlos!<br />
Wahrscheinlich sogar sehr nahe. Mit diesem Traum mischten<br />
sich quälende Bilder aus der Anderswelt. Verhungernde<br />
Kinder hier, maßloser Überfluss da. Verlogene und<br />
107
selbstherrliche Herrschende, die den Menschen etwas<br />
versprachen und das genaue Gegenteil taten, jeder nur auf<br />
seinen eigenen Vorteil bedacht. Die jeden Kontakt zu ihrer<br />
Realität verloren hatten. Zuviele Menschen, die die Welt<br />
zerstörten. Die keine eigene Spiritualität mehr kannten.<br />
Schmutz, brennende Wälder, Abfallberge, verseuchte<br />
Gewässer. Hektik. Arbeitsbedingungen, welche die Menschen<br />
krank machten.<br />
Die Menschen gaben den gutsherrenartig Herrschenden<br />
nicht mehr den zehnten Teil ab, sondern sogar schon die<br />
Hälfte oder noch mehr. Jedenfalls die, die ohnehin schon<br />
wenig hatten. Die Wohlhabenden deutlich weniger.<br />
Menschen, die ganz offensichtlich manipuliert wurden.<br />
Einzelne, die das erkannten – und angreifbar wurden, sobald<br />
sie es wagten, etwas zu sagen. Dabei berief man sich auf<br />
Gesetze – von den Herrschenden gemacht! Eine Welt, in der<br />
die Natur keinen Wert mehr in sich selbst hatte – weil sie kein<br />
Geld war. Wo man nur einem vermeintlich sicheren,<br />
materiellen Reichtum hinterher lief. Ein Irrweg! Und die<br />
Menschen verschlossen die Augen davor, ignorierten die<br />
Tatsache, dass man Geld nicht essen kann...<br />
Dayla sah es als ihre Pflicht an, Findus aus diesem<br />
furchtbaren Traum heraus zu helfen. Sie beugte sich über ihn,<br />
versuchte seine Arme festzuhalten, ihn zu wecken. Es ging<br />
nicht; er schüttelte sie ab. Doch sie gab nicht auf, besann sich<br />
ihrer eigenen magischen Kraft und setzte die ein. Dayla<br />
zeichnete die Schutzrune Thorn über Findus in die Luft.<br />
Thorn glühte hellrot auf - flackerte dann aber nur kurz und<br />
verblasste. Sie versuchte es mit einem hellblau glimmenden<br />
Kenaz, gefolgt von Nauthiz, schwärzer noch als die Nacht<br />
und murmelte dabei beruhigende Worte. Findus wurde<br />
ruhiger. Dayla schickte noch eine silberweiß leuchtende<br />
Sowilu-Rune als Dunkelheit vertreibenden Sonnenstrahl<br />
hinterher, legte die von ihr vorbereitete Rune auf Findus´<br />
Körper und glaubte, das Schlimmste sei überstanden, als sie<br />
ein mächtiger mentaler Schlag traf.<br />
Sie taumelte, brach neben Findus zusammen und rollte<br />
sich - am ganzen Körper zitternd - schluchzend zur Seite.<br />
Röchelte. Etwas Feuchtes. Ihre Nase blutete. Heftig. Sie ließ<br />
das Blut laufen. Dayla war zutiefst verwirrt. Ihr war<br />
108
schwindlig. Eine Folge des geistigen Schlages. Findus war um<br />
soviel stärker als sie! Eine Vervielfachung seiner magischen<br />
Kräfte durch den Traum. Er hatte ihre Bemühungen so<br />
einfach und beiläufig abgeschüttelt, wie man eine lästige<br />
Fliege verscheucht. Dennoch - gänzlich erfolglos war sie nicht<br />
geblieben. Der Nachtmahr ließ Findus los. Er erwachte. Sah<br />
Dayla bluten und war sofort bei ihr.<br />
„Bist du verletzt? Was ist geschehen?“ Findus war vor<br />
Sorge völlig außer sich, aufgeregt, hockte - den üblen Traum<br />
schon wieder vergessend - besorgt vor ihr. Dayla schüttelte<br />
den Kopf, unfähig zum Sprechen. „Ich...“ begann sie, doch<br />
die Stimme versagte ihr. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie<br />
war völlig durcheinander. Hätte Findus´ nur ein klein wenig<br />
mehr Kraft in seinen magischen Schlag gelegt, dann wäre sie<br />
jetzt tot. „Du...“ begann sie, schluckte und fuhr fort „...du<br />
wolltest das nicht. Es geht schon wieder. Du hattest einen<br />
Alptraum. Ein Nachtmahr war über dich gekommen. Und als<br />
ich dir zu Hilfe geeilt bin, da traf mich deine Magie. Ich war<br />
völlig unvorbereitet...“ Sie verstummte und sah ihn an.<br />
„Ich war das?“ Findus grauste es vor sich selbst. Solche<br />
Macht konnte er nicht haben, wollte er gar nicht haben! Und<br />
doch: In Dayla´s Augen erkannte er, dass sie die Wahrheit<br />
sprach. „Ich wollte das nicht“ sagte er mit erstickter Stimme.<br />
„Das weiß ich doch“ verzieh ihm Dayla und setzte hinzu:<br />
„Aber das wirft alles über den Haufen. Ich kann dich nicht in<br />
der Magie der Elementare unterweisen. Noch nicht. Dazu bist<br />
du zu unausgeglichen.“ Sie verstummte, senkte den Blick,<br />
murmelte: „Du musst zuerst ins Nebeltal, zur Nebelsenke.<br />
Morgen. Das ist gefährlich. Ich werde dich hinführen, aber<br />
nicht dort hinein begleiten können.“ Jetzt sah sie ihn aus<br />
traurigen, klaren Augen an. „Um ganz ehrlich zu sein: Es ist<br />
durchaus möglich, dass dies unsere letzte gemeinsame Nacht<br />
ist. Du könntest dort sterben. Aber nur dort - und sonst<br />
nirgends - kann dir geholfen werden. Ohne die Hilfe würde<br />
die Magie dich in einen zweiten Baldur verwandeln und<br />
deswegen kann und darf ich dich nicht unterweisen.“ „Ich<br />
vertraue dir – und ich liebe dich“ entgegnete Findus und legte<br />
seine Wange an die ihre. „Ich werde das Nebeltal überstehen.<br />
Danach sehen wir weiter.“ Er küsste sie und eng<br />
109
umschlungen legten sie sich erneut schlafen. Die restliche<br />
Nacht verlief ereignislos.<br />
In dem Moment, in dem Dayla den magischen Schlag<br />
empfing, hob Baldur den Kopf. Wie ein Beute witternder<br />
Jagdhund. Er sah hinauf zur Kabinendecke. Wie ein kurzer,<br />
aber umso heftigerer Blitz im Geflecht der Magie hatte das<br />
ausgesehen. Das war die Spur, nach der er suchte! Ungefähr<br />
südlich von hier. Mit einem einfachen Wetterzauber beseitigte<br />
er die Flaute. Rauschender Wind füllte knatternd die Segel<br />
und die Bark der Kaufleute nahm Fahrt auf. Rasche Fahrt.<br />
Der Kapitän konnte den Kurs nach Westboog nicht halten.<br />
Zu ungestüm war der Wind. Stattdessen bewegte sich das<br />
Schiff jetzt zwischen Untiefen und Inseln hindurch auf<br />
Norstedt zu. Norstedt würde als Nothafen dienen müssen.<br />
Aber nicht für Baldur. Der hatte jetzt seine Spur! Er würde<br />
dort nur das Transportmittel wechseln.<br />
Doch es gab noch jemanden, dem die Erschütterung des<br />
Geflechts nicht entgangen war. Jemand, der unter Baldur´s<br />
Machtkonzentration jetzt schon zu leiden hatte. Jemand, der<br />
einem magischen Volk angehörte und der sich direkt unter<br />
der Bark befand - verborgen von graugrünen, salzigen Fluten.<br />
Es war der Wassermann, auch Nöck genannt. Während die<br />
Najaden das Wasser nur bewohnten, beherrschte der Nöck<br />
dieses Element an sich. Er warnte die Najaden, die daraufhin<br />
panisch seine Gegenwart flohen. Dann setzte der Nöck alles<br />
daran, Baldur aufzuhalten. Das Meer gehorchte dem<br />
Wassermann...<br />
Unglaublich schnell rauschte das Wasser, wurden die<br />
Wogen haushoch. Tiefhängende Wolken rasten auf das Schiff<br />
zu; der Wind – ohnehin schon bösartig und ohrenbetäubend<br />
– wurde zum wüsten Sturm. Zischend wie Schlangen gischten<br />
weiß-schäumende giftgrüne Grundseen hoch, wirbelten das<br />
Schiff nach Backbord. Ein furchtbarer, harter Grundstoß und<br />
„Wasser im Schiff!“ gellte ein im Tosen des Sturmes<br />
untergehender Schrei. Der Schiffsboden war eingedrückt<br />
worden und die Bark saß auf dem Sand fest. Brecher auf<br />
Brecher rissen das Schiff aus dem Sandbett und ließen es<br />
110
immer wieder hart aufschlagen, gerade so, als wollten sie den<br />
Segler zermahlen. Brechendes Holz und Eisenstücke hagelten<br />
auf das Deck, erschlugen die Mannschaft und rissen Löcher.<br />
Längst war der Mast gebrochen. Eindringendes Wasser,<br />
ruckartige Bewegungen: Das Schiff legte sich auf die Seite!<br />
Baldur fluchte unentwegt und auf ordinärste Weise. Das<br />
hier war kein normaler Sturm mehr! Da hetzte jemand das<br />
Meer gegen ihn auf! Na warte, er würde das nicht vergessen!<br />
Das hob er sich für später auf. Jetzt galt es, erst einmal das<br />
eigene Leben zu retten. Baldur war es egal, was mit der<br />
Besatzung geschah. Waren ohnehin nur Leute minderen<br />
Standes. Untere Chargen! Er wechselte seine Gestalt, wurde<br />
zur Möwe, zum Sturmvogel. Schraubte sich in dem Inferno<br />
aus Sturm, Salz, Gischt und Wellen höher und höher, bis auf<br />
den Gipfel der Sturmfront. Wich dabei Blitzen aus, was ihn<br />
sehr viel Kraft kostete.<br />
Es kostete ihn dann nochmal viel Kraft, die wild tosende<br />
Wolke unter seinen Füßen soweit zu verfestigen, dass er sich<br />
darauf niederlassen konnte. Dann würde es eben eine<br />
Wolkenreise werden! Doch so rasch, wie der Sturm begonnen<br />
hatte, ebbte er auch wieder ab. Die Wolke fiel in sich<br />
zusammen. Baldur fiel auch - aber noch immer in<br />
Möwengestalt. Missmutig schlug er mit den Schwingen. Mit<br />
dem Licht der aufgehenden Sonne erreichte er Norstedt.<br />
Seine Stimmung war auf dem Tiefpunkt und er selbst völlig<br />
erschöpft. Rückverwandlung. Mit magischer Kraft rief er<br />
seine Häscher und ließ sich einen ganzen Gasthof reservieren.<br />
Dessen protestierende Besitzer wurden kurzerhand von den<br />
Soldaten erschlagen. Doch die nur so kurz aufgeblitzte Spur<br />
war wieder weg. Jetzt hieß es erneut warten. „Ich hasse das!“<br />
dachte Baldur übellaunig. Doch er war sich sicher, dass etwas<br />
geschehen würde. Sehr bald sogar. Und dann wollte er<br />
vorsichtshalber nicht allein stehen. Daher ließ Baldur nach<br />
Neville und seinen Männern schicken.<br />
Am nächsten Morgen gab Dayla sich sehr wortkarg.<br />
Nacheinander wuschen sich Dayla und Findus an einer nahe<br />
gelegenen Quelle. Als Findus aufsah, erblickte er einen<br />
111
Baumgeist - eine Dryade von geradezu ätherischer Schönheit.<br />
„Hab´ keine Angst vor der Nebelsenke“ sagte sie und „trage<br />
das hier auf deiner Haut.“ Sie reichte ihm ein ledernes Band<br />
mit einem Anhänger daran: Ein in Alraunenform<br />
geschnitztes, dunkelblau eingefärbtes Stück Eibenholz, in<br />
welches ein Topas vom Aussehen der Rune Eihwaz<br />
eingelassen worden war. Das Symbol für Langlebigkeit. „Der<br />
Stein wird dich beschützen. Du kannst diese Prüfung<br />
bestehen, wenn du an dich glaubst. Denn du bist unsere<br />
Hoffnung. Unsere einzige Hoffnung...“ setzte sie noch traurig<br />
flüsternd hinzu und verschwand wie ein Nebelhauch im<br />
Wind. Findus hängte sich den Stein um, verbarg ihn unter<br />
seinem Wams.<br />
Dann begab er sich zu Dayla. „Sag´ - was hat es mit der<br />
Nebelsenke auf sich? Warum ist sie so gefährlich, dass du<br />
nicht mitkommen willst?“ Forschend betrachtete Dayla ihn.<br />
„Willst du das wirklich wissen?“ „Ja!“ „Die Nebelsenke ist ein<br />
seltsamer Ort. Vielleicht der Seltsamste überhaupt in ganz<br />
<strong>Norgast</strong>. Er ist zwar hier, aber eigentlich befindet er sich nicht<br />
in dieser Welt, sondern irgendwo anders. Das Nebeltal - und<br />
die umliegenden Berge - werden vom alten Volk bewohnt.<br />
Von den Zwergen. Die mögen uns Menschen nicht gerade,<br />
weil sie in der Vergangenheit ausgesprochen schlechte<br />
Erfahrungen mit uns gemacht haben.“ Dayla hielt inne,<br />
überlegte, suchte nach den passenden Worten.<br />
„Die Zwerge verfügen über eine sehr starke Magie, die<br />
sich nicht aus unserem magischen Geflecht nährt, sondern<br />
aus den viel älteren Urkräften der Welt selbst. Aus der Urkraft<br />
der Erde, die geordnet und fokussiert dem Leben die<br />
Grundlage liefert. Aus der Urkraft des Meeres, die<br />
unfokussiert und chaotisch Leben gebärt. Es waren die<br />
Zwerge selbst, die die Nebelsenke erschaffen haben - damit<br />
sie dort in Ruhe gelassen werden. Normale Sterbliche können<br />
die Nebelsenke nicht einmal wahrnehmen. Sie durchwandern<br />
lediglich einen Wald wie jeden anderen. Nur magisch begabte<br />
Personen erkennen sie als das, was sie wirklich ist. Und die<br />
Zwerge mögen keine Besucher. Wer dorthin geht, der tut es<br />
nur einmal in seinem Leben. Und ich war schon einmal<br />
dort...“ Sie schwieg und blickte Findus vielsagend an.<br />
112
Verstehend nickte er. Was immer dort auch auf ihn<br />
wartete - mehr oder umfangreichere Auskünfte erhielte er von<br />
Dayla wohl nicht. Wahrscheinlich konnte sie selbst nicht<br />
einmal abschätzen, was ihm bevorstand. Die Nebelsenke<br />
schien individuell unterschiedlich zu wirken. Wortlos wies<br />
Dayla den Weg. Sie gingen los, in Richtung auf das Zentrum<br />
der ‚Insel der Gestrandeten‘ zu. Es gab keinen Pfad, ging nur<br />
bergauf und sie mussten sich ihren Weg selbst suchen<br />
- weshalb ihre Wanderung auch recht beschwerlich wurde.<br />
Morgens gingen sie los und erst im Verlauf des<br />
fortgeschrittenen Vormittags erreichten sie eine Anhöhe, von<br />
welcher aus sich ein Tal unter ihnen ausbreitete.<br />
Zuerst sah es nur wie ein ganz gewöhnliches,<br />
walddurchwachsenes Tal aus. Doch bei genauerem Hinsehen<br />
schien die Luft darüber seltsam zu flirren und geradezu<br />
unmerklich wandelte sich das Bild. Was blieb, waren bläulichsilbrige<br />
Nebel, aus denen dunkle Tannenspitzen ragten:<br />
geisterhaft, verzaubert, spukhaft und unwirklich. Irgendwie<br />
strahlte der Ort eine feierliche Stimmung aus. Beide, sowohl<br />
Dayla wie auch Findus, verspürten eine Art von innerem<br />
Feuer. Ein magisches Ziehen ließ Flammen vor dem inneren<br />
Auge aufsteigen. Flammen, die sich in der Mitte vereinigten,<br />
grell-gelb und an den Rändern silberweiß. Und je näher sie<br />
dem Tal kamen, desto mehr näherte sich die Farbe dieser<br />
virtuellen Flammen einem heißen Blau. Auf einmal blieb<br />
Dayla stehen. „Ich kann nicht mehr weiter“ sagte sie<br />
keuchend und „geh´ jetzt allein. Bis zur Talmitte. Da findest<br />
du eine Lichtung mit einem blutroten Stein drauf. Was dann<br />
passiert kann ich nicht sagen.“ Mit tränenfeuchten Augen<br />
blickte sie ihn an: „Geh jetzt - viel Glück!“ „Ich schaffe das<br />
schon“ meinte Findus selbstbewusst, küsste seine Geliebte<br />
und ging.<br />
Dayla blickte ihm aus traurigen Augen nach. Was ihn wohl<br />
erwartete? Mit jedem Schritt, den Findus in Richtung<br />
Nebelsenke tat, wurde er selbst unwirklicher.<br />
Durchscheinender, wie Nebel. Wie eine Welle, die ihn<br />
erreichte und als Teil ihrer selbst entführte, von dieser Welt<br />
fortzog. Nicht lange und er war Dayla´s Augen entschwunden<br />
- in die andere Welt eingegangen. Die Welt des alten Volkes,<br />
der Zwerge. Dayla seufzte. Sie würde auf Findus warten. Und<br />
113
wenn es ihr ganzes Leben dauerte! Doch plötzlich sah sie, wie<br />
er zurück kam. Erst nur klein und halbtransparent, wurde<br />
seine Gestalt mit jedem Schritt auf sie zu fester und größer.<br />
Doch Findus schien sich verändert zu haben, denn er wirkte<br />
irgendwie anders. Reifer. Stärker. Erfahrener. Abgeklärter. War<br />
das noch der Findus, den sie gekannt hatte? Was war passiert?<br />
Für Findus stellte sich die Situation gänzlich anders dar. Noch<br />
lange sah er Dayla dort oben auf der Anhöhe stehen, wenn er<br />
den Kopf umwandte. Mehrmals winkte er ihr zu, doch sie<br />
schien ihn nicht wahrzunehmen - oder nicht mehr? Er setzte<br />
den Weg fort, ging in den Wald hinein. Es war ein überaus<br />
seltsamer Wald. Die Bäume schienen ein geheimnisvolles<br />
Eigenleben zu führen. Wie unter einem schneidenden Wind<br />
- der tatsächlich aber gar nicht da war - ruckelten, zuckelten<br />
und wackelten die Blätter. Gerade so, als ob sie sich von<br />
selbst bewegen würden. Wurzeln veränderten ihre Positionen.<br />
Wo eben noch ein Pfad war, da stand im nächsten Augenblick<br />
ein undurchdringliches Dornendickicht. Und wo eben noch<br />
dichtes Unterholz lag, da eröffnete sich völlig unerwartet ein<br />
neuer Pfad. Findus hatte das Gefühl, vom Wald selbst geleitet<br />
zu werden. Doch wohin? Und auch der Zeitablauf war<br />
irgendwie durcheinander geraten. Als er losging, hatte die<br />
Sonne am Mittagshimmel gestanden. Jetzt dagegen neigte sie<br />
sich sogar sehr schnell ihrer Nachtruhe zu.<br />
Findus war nach seinem eigenen Dafürhalten gar nicht<br />
lange unterwegs. Dennoch - die Sonne war untergegangen<br />
und der Mond schien, als der Wanderer auf eine Lichtung<br />
traf. Im bleichen Mondlicht lag ein großer Stein, ein uralter<br />
Opferstein. Er schimmerte rötlich. „Was jetzt?“ dachte<br />
Findus. Ihm war kalt. Es war Nacht und die feuchte Kälte des<br />
Nebels biss in seine Haut.. Findus setzte sich neben den alten<br />
Opferstein, versuchte sich zu sammeln. Zu kalt. Er stand auf,<br />
blickte den Stein abschätzend an. Ein Gedanke: „Magie<br />
- warum eigentlich nicht?“ Wozu hatte er schon soviel<br />
gelernt? Er zeichnete eine Rune in die Luft: „Sowelu erhelle<br />
diesen Stein, auf dass er mich wärme“ - ein einfacher Spruch,<br />
aber von verblüffender Wirkung. Vom Luftbild der Sowelu-<br />
114
Rune zog sich eine gleißende Leuchterscheinung hin zum<br />
Opferstein. Der begann zu glühen. Kurz darauf zeigten sich<br />
Flammen auf seiner Oberfläche. Der Stein selbst brannte!<br />
Erschrocken trat Findus zurück. Die Hitze vertrieb die Kälte<br />
- und wie! Nie hätte der Mann ohne Gedächtnis geahnt, wie<br />
machtvoll sich sein Handeln auswirken könnte.<br />
Es war, als hätte der Wald nur auf die Anwendung der<br />
Magie gewartet. Laub knisterte und raschelte. Waldgeister<br />
versammelten sich in der Dunkelheit: Feen, Wichtel,<br />
Waldelben, Luftgeister, Dryaden, Quellnixen, Elfen und<br />
andere Naturwesen. Auch Kobolde waren darunter. Eine<br />
Stimme, tief wie der Schoß der Erde selbst, sagte: „Du<br />
sterblicher Narr. Was treibt dich her? Sprich schnell!“ Findus<br />
aber gelang es nicht, den Urheber dieser Frage ausfindig zu<br />
machen. Doch dann lösten sich drei Gestalten aus dem<br />
Dunkel. Gestalten von durchaus menschlichem Aussehen,<br />
aber ihm höchstens bis zum Nabel reichend. Muskulös,<br />
martialisch gepanzert und Kraft ausstrahlend, verkniffene<br />
Gesichter mit roten Bärten und ledernrunzlig-braunkupferner<br />
Haut. Das mussten die Zwerge sein! Einer von ihnen<br />
- anscheinend der Sprecher der drei - trat vor.<br />
„Wer bist du und was suchst du hier?“ fragte der Sprecher.<br />
„Man nennt mich Findus. Ich bin hier weil...“ Verlegen<br />
verstummte Findus und blickte zu Boden, entschloss sich<br />
dann aber für schonungslose Offenheit. Er sah wieder auf<br />
und sagte mit fester Stimme. „Ich bin hier, weil ich mich<br />
selbst und meine Bestimmung suche. Man sagte mir, Ihr<br />
könntet mir dabei helfen.“ „Was sagt dir deine Erinnerung<br />
hinsichtlich deiner Bestimmung?“ fragte der Zwerg. „Ich<br />
habe keine. Mein Gedächtnis ist weg.“ Der Zwerg begann zu<br />
lächeln. „Wenn du wirklich der bist, für den du dich ausgibst,<br />
dann verfügst du über ein ganz spezielles Schmuckstück.“<br />
Findus zeigte ihm den Alraunen-Topas-Anhänger. Der Zwerg<br />
nickte. „Ich fühle, dass du die Wahrheit sprichst. Nun gut.<br />
Niemand soll Zweifel an unserer Höflichkeit und<br />
Gastfreundschaft hegen. Ich bin Brokk, der Schmied. Das<br />
dort...“ - er wies auf die beiden schweigsam hinter ihm<br />
stehenden Zwerge – „...sind Gübich der Kämpfer und<br />
Bonneführlein, unser Vogt. Dein Kommen wurde uns<br />
115
avisiert. Wir werden dir helfen.“ Er schwieg und blickte<br />
Findus ernst an.<br />
„Doch du bist bewaffnet. So etwas mögen wir bei Gästen<br />
gar nicht. Gib´ mir dein Schwert.“ Nur widerstrebend<br />
übergab Findus ihm die Waffe. Der nahm Bewok´s Geschenk<br />
an sich, zog es aus der Scheide, wog es prüfend und<br />
betrachtete es lange. Es wurde totenstill. Eine beinahe schon<br />
feierliche Stimmung breitete sich aus. Brokk sprach leise und<br />
ehrfürchtig: „Dieses Schwert ist alt. Uralt. Sein Stahl<br />
entstammt einem vom Himmel gefallenen Stein. Das härteste<br />
Eisen überhaupt. Einst lag ein Zauber auf dieser Klinge. Ein<br />
Zauber, der sie befähigte, im Verteidigungsfalle jeden Gegner<br />
zu töten. Das Schwert wurde aber missbräuchlich eingesetzt<br />
und der Zauber verflog. Woher hast du es?“ Forschend<br />
blickte der Schmied Findus an.<br />
Der antwortete: „Der Tiedsiepefischer - Bewok ist sein<br />
Name - hat es mir vor längerer Zeit geschenkt. Wie es in<br />
seinen Besitz gelangt ist, weiß ich nicht.“ Nachdenklich<br />
schaute Brokk auf den Stahl. „Du wirst es irgendwann<br />
brauchen. Ich werde es dir neu schmieden und mit einem<br />
Zwergenzauber versehen. Einem Schwertzauber, mit dem du<br />
jede feindliche Waffe abwehren kannst. Doch das wird lange<br />
dauern. Mindestens einen Sommer und einen Winter lang.<br />
Auch musst du lernen, die Waffe perfekt zu beherrschen.<br />
Auch das wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Bist du<br />
dazu bereit?“ Vorsichtig entgegnete Findus: „Meine Gefährtin<br />
wartet außerhalb der Nebelsenke auf mich...“ „Oh, hab´ keine<br />
Angst. Hier vergeht die Zeit anders. Für Dayla“ - Brokk<br />
lächelte verschmitzt – „wirst du kaum einen Lidschlag lang<br />
verschwunden sein. Sie wird dich nicht vermissen.“ „Dann<br />
gerne!“ antwortete Findus erleichtert.<br />
„Zuerst musst du zu dir selbst finden“ empfahl Brokk und<br />
setzte hinzu: „Deswegen werden wir dich jetzt allein lassen.<br />
Öffne deinen Geist dem, was dir der Wald zu sagen hat. Höre<br />
in dich hinein. Erfahre den Wald, werde eins mit ihm. Lass´<br />
die Welt los und du begreifst, was es mit den Elementaren auf<br />
sich hat. Lerne! Ich werde danach rechtzeitig wieder bei dir<br />
sein.“ Sprach´s und trat zusammen mit seinen Gefährten<br />
wieder in den Schatten der Dunkelheit. Findus blieb allein<br />
zurück. Nun ja - nicht ganz allein. Denn um ihn herum waren<br />
116
da ja noch die Naturgeister, flüsternd, wispernd - und<br />
unsichtbar. Die Flammen über dem Opferstein waren<br />
zusammen gefallen. Dennoch strahlte der Stein eine<br />
angenehme Wärme aus. Findus suchte seine Nähe und<br />
kauerte sich hin. Zog die Schuhe aus, wollte das nasse Laub<br />
auf den nackten Fußsohlen und auf den Handflächen spüren.<br />
Eine wohlige Müdigkeit überkam ihn.<br />
Findus ließ seine Gedanken schweifen, dachte an gar<br />
nichts mehr und machte seinen Kopf frei. Seine Finger und<br />
Zehen vermittelten ihm das Gefühl, sich wie Wurzeln in die<br />
Erde zu bohren. Hätte es hier und jetzt einen außenstehenden<br />
Beobachter gegeben, so wäre der über die Veränderung des<br />
Wanderers erschrocken. Es dauerte nämlich nicht lange, und<br />
Findus war der menschlichen Welt entflohen. Seine Gestalt<br />
ähnelte eher einer alten knorrigen Wurzel mit entfernt<br />
menschlichem Aussehen.<br />
Findus selbst aber bekam von seiner Veränderung nichts<br />
mit. Vielmehr erschien es ihm so, als seien die Naturwesen<br />
Schutzgeister. Seine Schutzgeister. Er fühlte die Kraft des<br />
Waldes in sich - den ewigen Kreislauf von Leben, Sterben<br />
und Wiedergeburt. Wie im Zeitraffer rasten Tage und Nächte,<br />
Sonne und Regen, Windstille und Sturm vor seinem geistigen<br />
Auge dahin. Er war eins mit den Pflanzen geworden, wusste,<br />
wann und warum sie heilsame Stoffe ausbildeten - ihr Schutz<br />
gegen das ‚Gefressen werden‘, gegen das ewige Gesetz der<br />
Natur. Das war die Grundlage der Kräutermagie!<br />
Er sah die Welt mit den Augen der Tiere. Die völlig<br />
ungewohnten Farben, nach denen eine Biene sich orientierte.<br />
Die seltsamen Töne, die einer Fledermaus den Weg zeigten.<br />
Die Welt der Gerüche, die einen Fuchs oder Wolf zur Beute<br />
führten. Die Bewegungen der Luft und des Windes, die einem<br />
Eichelhäher das Fortkommen ermöglichten. Findus spürte<br />
den Ethos des Waldes und des Landes; war Teil des Ganzen.<br />
Vision und Wirklichkeit waren für ihn nicht mehr<br />
unterscheidbar. Und überhaupt: Was war denn Wirklichkeit?<br />
Existierte eigentlich so etwas wie eine ‚richtige‘ Realität? Oder<br />
war das nur eine stillschweigende Übereinkunft? War die<br />
‚Wirklichkeit‘ an sich nicht vielmehr einzig durch die<br />
Wahrnehmung geprägt?<br />
117
Findus erkannte das ursächliche Wesen der Elementare.<br />
Das Wasser: Symbol für das Leben. Aber auch für die damit<br />
verbundene Wandlung, für das Nachgeben, für Intuition und<br />
Säuberung. Symbol für weibliche Emotionalität als Ausgleich<br />
für maskuline Härte. Wasser - Flexibilität und Energie vom<br />
kleinsten unscheinbaren Tautropfen bis hin zur Urgewalt des<br />
ungebändigten Meeres. Die Erde: Sie stand für Geborgenheit,<br />
Macht und Festigkeit. War gleichzeitig Fruchtbarkeit, Heilung<br />
und Vertrauen. Symbol des Männlichen im Weiblichen. Vom<br />
kleinsten Staubkorn bis hinauf zum größten Felsen. Wasser<br />
war nichts ohne Erde und Erde war nichts ohne Wasser. Erst<br />
beides zusammen bewirkte Lebenskraft, ergab heilende<br />
Energien, zog das Negative aus den Lebewesen heraus - wenn<br />
sie es nicht verlernten, mit der Erde in Kontakt zu treten.<br />
Findus erlangte auf diese meditative Weise die Fähigkeit<br />
zur Betrachtung aus der Ferne mit ungerührter Klarheit.<br />
Sequenzartig kehrte sein Gedächtnis zurück, fügte sich<br />
Puzzlestein um Puzzlestein zusammen. Er sah sich selbst als<br />
Säugling, in wärmende Tücher gehüllt und an die Brust eines<br />
Mannes mit dem Namen Ravon gepresst, welcher ihn mit<br />
scharfem Ritt vor seinem Bruder in Sicherheit brachte.<br />
Welchem Bruder? Sah sich sich selbst als Kind, aufgezogen von<br />
einem Kräuterweib, durch Gehölz und Dickicht streifend,<br />
erste magische Lektion erlernen. Erfuhr, wie sie ihn zur<br />
Bônday brachte, wo seine magische Ausbildung fortgesetzt<br />
wurde und wie die Bônday die magischen Völker über die ihm<br />
innewohnende Macht informierte. Wie er in jugendlichem<br />
Leichtsinn von dort ausriss, nur um wenig später den<br />
Versprechungen eines falschen Freundes zu folgen. Wie<br />
dieser falsche Freund ihn zu einem vermeintlichen fahrenden<br />
Händler lockte, der ihn daraufhin vergiftete. Und der Händler<br />
war niemand anderes als Baldur höchstpersönlich gewesen!<br />
Welches erbärmliche Leben er in der Anderswelt gehabt<br />
hatte. Einer Anderswelt, in der er als einer von vielen elendig<br />
krepiert und verweht wäre, hätte nicht ein dort tödlicher<br />
Unfall seinen Geist urplötzlich zurück nach <strong>Norgast</strong><br />
geschleudert.<br />
Seine damaligen Kenntnisse der Elementare hatten ihm<br />
beim Überleben geholfen. Das Elementar der Luft:<br />
Lebensenergie, Freiheit, Inspiration und Weite. Grenzenlose<br />
118
Erneuerung. Vom kleinsten Lufthauch bis hin zum wüstesten<br />
Tornado. So leicht und ungreifbar und dennoch machtvoll<br />
formend. Ein Element, welches man auf der nackten Haut<br />
spüren musste, um es zu verstehen. Das Elementar des<br />
Feuers: Wärme und Licht, Leidenschaft und Vitalität.<br />
Ungezügelt, allesverzehrend und zerstörerisch, wenn man sich<br />
seiner nicht zu bedienen wusste. Ein unverzichtbares, aber<br />
auch ein furchtbares Element. Schon der allerkleinste Funke<br />
konnte - einmal seinen Schranken entlassen - zum<br />
verheerenden Waldbrand ausarten. Doch auch ein nützliches<br />
Element, half es doch mit innerem Feuer - mit Fieber - gegen<br />
Krankheiten und ermöglichte es das Überleben in<br />
Winterskälte oder in der Dunkelheit.<br />
Findus erkannte ganz klar, dass ein Element nichts ohne<br />
das andere war, dass erst ihr Zusammenspiel das Leben an<br />
sich ausmachte. Ihm wurde schlagartig bewusst, wie er Wasser<br />
und Luft zu einem einfachen Wetterzauber zusammenfügen<br />
musste, mit dem sich Regen erzeugen ließ. Wie eine solche<br />
Magie, ergänzt um Erde und Feuer zu einem Erntezauber<br />
wurde. Wie alles aufeinander aufbaute. Findus begriff<br />
instinktiv und aus seinem innersten Gefühl heraus die<br />
Elementarkräfte. Begriff, wer er selbst war im Rahmen seiner<br />
zeitlosen Meditation. Nur seine Herkunft blieb noch im<br />
Dunkel. Doch war die Meditation wirklich zeitlos? Sein<br />
Körper regte sich; es war ein strahlender Sommertag. Brokk<br />
stand vor ihm und überreichte Findus das neu geschmiedete<br />
Schwert. „Ein Jahr ist vergangen“ sagte der Zwerg.<br />
„Das ist Gnarp“ führte Brokk aus und wies auf das<br />
Schwert. „Es wehrt jede feindliche Waffe ab. Aber nur, wenn<br />
du damit umzugehen weißt. Das bedeutet eine lange<br />
Lehrzeit.“ Fragend sah er Findus in die Augen. Findus nickte<br />
- ja, auch dazu war er bereit. Wenn schon, denn schon.<br />
Neugierig zog Findus nun die Klinge aus der Scheide und<br />
betrachtete Brokk´s Werk. Die Sägezähne waren<br />
verschwunden. Dafür gleißte die Klinge im Sonnenlicht. Sie<br />
sah nicht nur sehr scharf aus, sie war es auch. Und sie war<br />
auffallend leicht. Viel leichter, als Findus das Schwert in<br />
Erinnerung hatte. Eingearbeitete Hohlkehlen dienten jetzt der<br />
Gewichtsersparnis. Und die sorgsam-fein eingravierten Runen<br />
Uruz, Thurisaz, Isaz, Sowelo, Teiwaz, Dagaz, Eiwaz mit den<br />
119
Bedeutungen von Stärke, Schutz, Hindernis, Sonne,<br />
Kriegsgott, Licht und Unsterblichkeit sorgten für magische<br />
Kraft.<br />
„Ich zeige Dir etwas“ sagte Brokk und griff nach dem<br />
Schwert. Findus gab es ihm zurück. Brokk nestelte aus dem<br />
Beutel an seinem Gürtel eine Feder heraus. Er warf sie in die<br />
Luft. Sacht segelte die Feder nach unten und traf auf Gnarp´s<br />
Schneide. Die Feder wurde zerteilt! Brokk reichte ihm Gnarp<br />
zurück. „Eine weitere Demonstration. Halte das Schwert ganz<br />
still waagerecht in der Luft, wenn ich mit meinem eigenen<br />
Schwert zuschlage. Wehre den Schlag einfach nur passiv ab.“<br />
Brokk zog sein eigenes Schwert, holte aus, legte seine ganze<br />
Kraft in den Hieb und schlug zu. Traf Gnarp. Dessen Klinge<br />
vibrierte. Die Vibration endete noch vor dem Knauf. Dieses<br />
Schwert würde seinen Träger im Kampf niemals ermüden!<br />
Brokk´s Schwert hingegen war zerbrochen. Gnarp - das war<br />
ein Schwert für Könige, unbezahlbar wertvoll! „Morgen<br />
beginnt deine Kampfausbildung. Sie dauert mindestens ein<br />
weiteres, ganzes Jahr lang. Das wird Gübich übernehmen.<br />
Folge mir jetzt.“<br />
Der Zwerg drehte sich um und Findus trabte hinterdrein.<br />
Brokk führte ihn in eine Höhle, in den Berg hinein. In das<br />
eigentliche Reich des alten Volkes. Zuerst hingen noch bizarr<br />
geformte Stalagtiten von der Decke, denen sich Stalagmiten<br />
von unten her näherten. Später waren die Steine zu wahren<br />
Vorhängen zusammen gewachsen und der Weg wurde<br />
beschwerlicher. Das letzte Stück quetschte Findus sich durch<br />
einen eigentlich für ihn schon viel zu engen Gang, sich dabei<br />
Knie und Hände aufschürfend. Doch plötzlich weitete die<br />
Höhle sich wieder, mündete in einen gigantischen Dom.<br />
Findus sah andere Zwerge - viele. Auch viele Feuer. Der Berg<br />
hallte vom Hämmern seiner Bewohner wieder. Bonneführlein<br />
kam auf sie zu und wies Findus einen Schlafplatz an. Eine<br />
Zwergenfrau brachte Wasser und Essen. Dann war er allein<br />
und schlief einen tiefen Schlaf mit einem seltsamen Traum.<br />
Er sah den Berg von innen. Wie sich Wasser durch enge<br />
Spalten schlängelte, um die Tropfsteine zu formen. Im Traum<br />
begriff Findus, wie Wasser und unscheinbarer Kalk<br />
zusammen wirkten, um die Luft atembar zu erhalten – ein<br />
ewiges Gleichgewicht. Er sah die Adern mit dem kostbaren<br />
120
Erz, die den Zwergen ihr ureigenstes Leben ermöglichten.<br />
Wie tief im Untergrund eine unbändige Glut vom<br />
geschmolzenem Gestein brodelte. Er spürte den Geist des<br />
Berges in sich.<br />
Findus wurde viel zu früh - und wie er fand auch ziemlich<br />
unsanft - geweckt. Gübich stand vor ihm. „Deine<br />
Kampfausbildung beginnt. Jetzt! Lass´ Gnarp ruhig hier<br />
liegen. Du brauchst das Schwert nicht. Noch sehr lange<br />
nicht.“ Findus guckte ziemlich überrumpelt, woraufhin<br />
Gübich schallend zu Lachen begann. „Was glaubst du denn,<br />
was Schwertkampf ist?“ fragte der Zwerg belustigt. „Hau<br />
drauf und gib ihm? Nein, mein Junge - das ist eine hohe<br />
Kunst, bei der jede Bewegung erlernt und im Schlaf<br />
beherrscht werden muss. Wasch´ dich und folge mir danach<br />
zum Kampfplatz; wir beginnen mit Stöcken.“ Eine hastige<br />
Morgentoilette, kein Frühstück. Gübich wartete ungeduldig,<br />
Findus´ Eile spöttisch kommentierend und erwies sich so als<br />
unbarmherziger Ausbilder. Auf dem Weg zum Kampfplatz<br />
dachte Findus noch, dass er ob seiner eigenen Körpergröße<br />
Gübich gegenüber im Vorteil wäre. Aber auf dem<br />
Kampfplatz angelangt, wurde er schnell eines Besseren<br />
belehrt. Entweder war Gübich gewachsen oder Findus<br />
geschrumpft - jedenfalls standen sie sich in Augenhöhe<br />
gegenüber. Bei den Zwergen schien alles möglich zu sein.<br />
Der Kampfplatz selbst war eine Arena. Am Arenarand<br />
bauten sich soeben ein paar Zwerge mit Musikinstrumenten<br />
auf. Gübich sagte: „Wir beginnen mit den Grundschritten.<br />
Die sind das Wichtigste. Stell´ dir vor, dass du einen fast<br />
doppelt mannslangen Stock in der Hand hast und mach´ mir<br />
die Schritte nach.“ Er sah zum Arenarand hinüber. „Musik!“<br />
rief er. Die anderen Zwerge begannen mit dem Spielen der<br />
Instrumente. Es war eine seltsame Musik, aber nicht<br />
unmelodisch. Findus hörte die Töne nicht nur, sondern nahm<br />
sie auch optisch vor dem inneren Auge wahr: grüngoldene<br />
Bögen, röhrenartige goldennass-schimmernde Wellen, das<br />
dunkelrote bienenkorbähnliche Wummern der Trommel,<br />
Silberringe von Schellen und vieles mehr. Er konzentrierte<br />
sich so auf das Aussehen der Musik, dass er beinahe Gübich´s<br />
erste Lektion übersah. Doch was sollte das? Das waren<br />
121
Tanzschritte! Weibisch! Sollte Findus damit Baldur später zu<br />
Tode langweilen oder zum Totlachen bringen?<br />
Unwillig - und unbeholfen - versuchte Findus, Gübich die<br />
Schritte nachzumachen. Der wurde sehr ungehalten,<br />
schimpfte. „Das ist Mist, Mist und nochmal Mist! Wenn du<br />
kämpfen willst, dann müssen die Schritte sitzen. Eine<br />
Choreographie, die du im Schlaf beherrscht, ohne darüber<br />
nachdenken zu müssen. Wenn du mir nicht glaubst, dann<br />
machen wir´s eben auf die harte Tour!“ Am Arenarand lagen<br />
zwei Stöcke bereit. Gübich holte sie. Gab einen davon<br />
Findus. „Und jetzt pass´ auf!“ sagte der Zwerg. Die Musik<br />
setzte erneut ein. Findus wurde von einem Schlag getroffen,<br />
versuchte sich zu wehren. Doch sein Gegener war nicht da,<br />
war schon ganz woanders. Der nächste Schlag und noch einer<br />
und noch einer. Als die Musik endete, war es Findus noch<br />
nicht gelungen, selbst auch nur einen einzigen Schlag<br />
anzubringen. Zum Ausgleich dafür hatte er zahllose blaue<br />
Flecken. „Frühstück!“ verkündete Gübich. Findus stöhnte<br />
nur gequält auf.<br />
Während sie aßen erläuterte Gübich ihm die Situation. „Im<br />
Kampf kommt es darauf an, dem Gegner keine Angriffsfläche<br />
zu bieten. Stell´ Dir mal einen Baum vor. Im Sturm überlebt<br />
der nur, weil er biegsam ist. Alte und knorrige Bäume<br />
brechen. Siegen durch ausweichen. Fairness existiert nicht,<br />
denn es geht um Dein Leben. Heldenmut und Sportlichkeit<br />
sind vielleicht ganz schön, aber es gibt verdammt wenige alte<br />
Helden. Mit dir ist das genauso. Du darfst niemals dort sein,<br />
wo dein Gegner Dich vermutet. Dazu dienen die Schritte. Es<br />
gibt Grundschritte und Variationen davon. Zuerst lernst du<br />
die Grundschritte. Dann die Varianten. Zuletzt üben wir mit<br />
den Waffen, sonst ist es zu gefährlich. Hast du das jetzt<br />
begriffen?“ „Ja“ antwortete Findus, ziemlich ernüchtert. Ihm<br />
tat jetzt schon jeder Knochen weh.<br />
Dann ging es weiter. Grundstellung, Grundschritte,<br />
Schrittfolgen - auch mit Variationen. Findus übte. Stunden,<br />
Tage, ganze Mondumläufe. Wieder und wieder. Er verlor<br />
jegliches Zeitgefühl, automatisierte seine Bewegungsabläufe.<br />
Später folgten die Übungen mit den Stöcken. Jetzt wurde es<br />
schon deutlich komplizierter, mussten doch Füße und Hände<br />
unabhängig voneinander bewegt werden. Aber Findus lernte<br />
122
aus seinen Fehlern, lernte aus jeder Blessur. Messerkampf,<br />
Axtkampf. Ihm wurde klar, dass immer derjenige mit der<br />
längeren Waffe im Vorteil war und er erkannte, was er tun<br />
musste, um diesen Vorteil wieder zunichte zu machen.<br />
Zuletzt der Schwertkampf: Angriff, Parade, Finte, Stoß und<br />
Gegenstoß. Die Steigerung davon: der Zweischwerterkampf.<br />
Die Attacke mit unterschiedlichen Waffen: Schwert und<br />
Morgenstern, Dolch und Axt. Wehren und Abwehren. Kaum<br />
ein Abend, an dem Findus nicht ausgepumpt und ramponiert<br />
auf sein Nachtlager sank.<br />
Nichts als Übungen tagein tagaus. Irgendwann war im<br />
Zwergenland ein ganzer Sonnenumlauf beendet, in <strong>Norgast</strong><br />
hingegen eine kaum wahrnehmbare Zeitspanne vergangen.<br />
Gegen Ende der Ausbildung übte Findus mit einem speziellen<br />
Schwert, welches in Länge, Gewicht und Aussehen Gnarp<br />
glich - damit er sich an die Waffe gewöhnte. Gnarp selbst<br />
kam jedoch nur zum Abwehren von Pfeilen zum Einsatz,<br />
denn diese Waffe war einfach zu gefährlich. Irgendwann<br />
beherrschte Findus auch die Kampfkunst perfekt, besiegte<br />
Gübich. Bonneführlein hatte diesen letzten Kampf genau<br />
beobachtet und kam auf Findus zu. „Deine Ausbildung ist<br />
beendet. Gübich kann dir nichts mehr beibringen. Deswegen<br />
geh´ jetzt zurück zu Dayla. Sie erwartet dich. Brokk wird dich<br />
führen.“ Findus dankte den Zwergen überschwänglich und<br />
trottete hinter Brokk her. Der Rückweg durch die<br />
Tropfsteinhöhle war wesentlich einfacher als der Hinweg.<br />
Am Höhleneingang stehend blickte Brokk dem Kämpfer<br />
ernst in die Augen. „Es liegt allein an dir, was du aus deiner<br />
Kunst und aus dieser Waffe machst. Benutze deine<br />
Fähigkeiten niemals zum Angriff, sondern einzig und allein<br />
zur Verteidigung. Nur dadurch kannst du einen klaren Kopf<br />
bewahren. Und nur mit einem klaren Kopf bleibst du am<br />
Leben. Es liegt bei dir allein. Werde mächtig, besiege Baldur<br />
und stelle das Gleichgewicht im magischen Geflecht wieder<br />
her. Denn andernfalls... ...andernfalls werden wir alle sterben<br />
müssen, weil die Magie versiegt.“ Der Schmied drückte ihn an<br />
sich, wies nach draußen und sagte „Geh jetzt!“. Findus<br />
drückte ihm zum Abschied gerührt die Hand. Er fand keine<br />
Worte, hatte einen dicken Kloß im Hals und nickte nur. Dann<br />
drehte er sich um und verließ das Nebeltal.<br />
123
Mochte sich die Nebelsenke auch in einer Zwischenwelt<br />
außerhalb des Landes <strong>Norgast</strong> befinden, so blieb Findus´<br />
Ausbildung seitens der Zwerge doch nicht gänzlich ohne<br />
Auswirkungen auf das magische Geflecht. Um die Mittagszeit<br />
des Tages erspürte Baldur in Norstedt ein schwaches und<br />
kurzes Rumoren der Magie. Nicht mal einen Lidschlag lang,<br />
doch er war aufmerksam. Seine Spur - er hatte Recht<br />
behalten! Südlich von hier. Allerdings konnte niemand<br />
abschätzen, welche Macht sein Gegner inzwischen besaß.<br />
Deswegen wäre es wohl besser, nicht allein zu gehen.<br />
Fieberhaft erwartete Baldur daher Neville´s Ankunft, welche<br />
noch einige Zeit auf sich warten ließ. Da die Spur heiß war,<br />
gönnte er den Männern keine Pause. Zusammen mit Neville<br />
und vier anderen aus der Todesschwadron verließ der<br />
Herrscher Norstedt. Zu Pferde, denn Baldur wusste nicht, wo<br />
er den Gesuchten finden würde. Sie mussten einfach auf alles<br />
und jeden achten. Der Ritt führte flussaufwärts am Wilderfrio<br />
entlang - genau auf Bewok´s <strong>Heim</strong>statt zu...<br />
Der Findus, der sich Dayla näherte, war muskulöser als der<br />
Junge, den sie eben noch gesehen hatte. Er wirkte in sich<br />
gekehrt, machtvoller und einfach - reifer. „Was ist mit Dir<br />
geschehen?“ flüsterte Dayla. „Ich weiß jetzt, wer ich bin und<br />
wo meine Bestimmung liegt. Auch wenn sich meine Herkunft<br />
immer noch meiner Kenntnis entzieht. Sag´ - wer ist mein<br />
Bruder? Kennst du ihn?“ Dayla schüttelte überrascht den<br />
Kopf. „Nein, ich... ...erzähle doch erstmal!“ forderte sie ihn<br />
auf. Und Findus berichtete. Alles, vom Opferstein, über seine<br />
Erfahrung des Landes an sich, sein Verstehen der<br />
Elementarmagie, seine Begegnung mit den Zwergen und über<br />
seine Ausbildung durch Gübich. Er zeigte ihr Gnarp.<br />
Ehrfürchtig bestaunte Dayla das Schwert, fühlte die ihm<br />
innewohnende Macht.<br />
„Ich bin also als Säugling von einem Mann namens Ravon<br />
zu einer Kräuterfrau gebracht worden, verbrachte dort meine<br />
Kindheit und wurde dann zur Bônday geschickt. Sie, du und<br />
124
Lyonora - ihr habt mich in den magischen Techniken<br />
ausgebildet. Ich aber riss aus und bin falschen Freunden in die<br />
Falle gegangen. Baldur selbst versuchte mich zu töten. Ich<br />
weiß alles von damals und über mein Leben in der<br />
Anderswelt. Fragt sich nur noch, vor welchem Bruder Ravon<br />
mich in Sicherheit gebracht hat.“ fasste Findus zusammen.<br />
Fragend schaute er Dayla an. Doch die antwortete: „Von<br />
Deiner Herkunft und von einem Bruder weiß ich nichts. Ich<br />
glaube, dass Dir da nur die Bônday selbst weiterhelfen kann.“<br />
Nachdenklich schwieg sie und fuhr fort: „Dieses Gift, das<br />
Baldur Dir damals gegeben hat... Ich kenne nur ein Gift, das<br />
so wirkt. Es nennt sich ‚Traumtrank‘ und wird aus<br />
Unterweltpflanzen hergestellt. Wenn Baldur über dieses Gift<br />
verfügt hat, dann musste er sich dazu der Hilfe eines Dämons<br />
versichern. Der Herrscher ist noch weitaus gefährlicher, als<br />
wir dachten. Es ist der Beweis für unsere Vermutungen. Das<br />
muss die Bônday unbedingt ganz schnell erfahren!“<br />
Doch es war über Findus Bericht hinweg schon Abend<br />
geworden. Sie beschlossen, ihr Nachtlager gleich hier auf der<br />
Anhöhe an Ort und Stelle aufzuschlagen und entfachten ein<br />
kleines Lagerfeuer. Mit Hilfe eines Tierzaubers lockte Findus<br />
ein Kaninchen an. Er tötete es, schlachtete es aus, vergrub die<br />
Abfälle und sie brieten das Tier über dem Feuer. „Was tun<br />
wir jetzt?“ fragte er Dayla. Die schmiegte sich an ihn. „Lass´<br />
uns alles überschlafen. Morgen sehen wir weiter.“ Sie<br />
schliefen miteinander und die Nacht verging ruhig.<br />
Am nächsten Morgen verkündete Findus: „Ich werde<br />
versuchen, die Elementare in einem magischen Kreis<br />
anzurufen. Vielleicht zeigen sie mir ja etwas aus der Zukunft.<br />
Das wird uns die Entscheidung erleichtern, ob wir unsere<br />
Reise fortsetzen, uns trennen oder zur Bônday zurück kehren<br />
sollen.“ Dayla nickte. „Ich helfe dir“ sagte sie und suchte aus<br />
ihrem Ranzen etwas Räucherwerk, welches sie ihm gab, und<br />
einen silbernen Kelch hervor. „Ich hole Quellwasser“ meinte<br />
sie. Findus sah sie dankbar an und machte sich selbst auf die<br />
Suche nach einer prächtig blühenden Blume. Nachdem er die<br />
gefunden hatte, entnahm er seinem Ranzen eine Kerze. Im<br />
Lagerfeuer war noch genügend Glut zum Entzünden von<br />
Räucherwerk und Kerze. Mit Hilfe von Gnarp zog er dreimal<br />
einen großen Kreis auf den Boden. Dieser Kreis wurde mit<br />
125
jeder Umdrehung auf magische Weise stärker; er stellte einen<br />
Platz zwischen den Welten dar. Eine Kontaktstelle zur<br />
Astralebene, gleichzeitig Schutz vor bösen Einflüssen bietend.<br />
Dann viertelte Findus den Kreis entsprechend den<br />
Himmelsrichtungen. Er blickte auf die nach Osten weisende<br />
Linie und sprach „Luft - ich rufe Dich!“ Platzierte in Folge<br />
das Räucherwerk auf dieser Linie. Findus wandte sich gen<br />
Süden. „Feuer - ich rufe Dich!“ Er entzündete die Kerze und<br />
stellte sie auf die nach Süden gerichtete Linie. Zum Westen<br />
gewandt sprach er mit klarer Stimme „Wasser - ich rufe<br />
Dich!“ und stellte den mit Quellwasser gefüllten Kelch auf die<br />
zugehörige Linie. Schließlich blickte er nach Norden und<br />
vollendete mit „Erde - ich rufe Dich!“ und dem Niederlegen<br />
der Blume auf die nach Norden weisende Linie die Anrufung.<br />
Er setzte sich in die Kreismitte, zog den Alraunen-Topas-<br />
Anhänger der Dryade hervor und versenkte seinen Geist<br />
meditativ in den Stein. Schneller als er es erwartet hatte stellte<br />
sich eine Vision ein.<br />
Findus sah eine Sequenz aus einer nicht weit entfernten,<br />
möglichen Zukunft: Eine ihm nur allzu vertraute Hütte.<br />
Verwittertes Holz mit einem Schilfdach. Die Hütte stand in Flammen.<br />
Aus ihrem Innern ertönten die grauenvollen Schreie eines Menschen, der<br />
lebendig verbrannt wird. Snofork! Vor der Hütte ein lebloser Körper mit<br />
abgeschlagenem Kopf - Bewok. Dessen Boot versenkt, Netze und Reusen<br />
zerstört. Das Vieh hingemetzelt. Sechs dunkle Gestalten, die das<br />
Refugium des Fischers dem Erdboden gleich machten. Eine dieser<br />
Gestalten kam Findus sehr bekannt vor. Der Händler, der<br />
ihm den Traumtrank verabreicht hatte. Baldur!<br />
Schweißgebadet löste sich Findus aus der Elementaranrufung<br />
und brach das magische Symbol, indem er den Kreis<br />
zerstörte. Er war verstört. Ging zur Quelle, wusch sich.<br />
Atmete tief durch.<br />
„Was hast du gesehen?“ wollte Dayla voll von ängstlicher<br />
Vorahnung wissen. „Sie sind zu sechst. Sie kommen. Bald.<br />
Und Baldur führt sie an. Sie werden Bewok und Snofork<br />
töten, wenn wir nichts unternehmen.“ „Sechs sind zu viele.<br />
Ich begleite Dich!“ Findus nickte - ja, Dayla würde ob ihrer<br />
magischen Kräfte eine große Hilfe sein. „Wir müssen sie<br />
zuerst von Bewok ablenken. Kennst du einen dafür<br />
geeigneten Ort?“ Dayla überlegte kurz und nickte. „Ja, aber...<br />
126
Der Ort ist sehr gefährlich. Die Menschen meiden ihn.“<br />
„Umso besser, wo ist es?“ „Genau östlich von hier“<br />
entgegnete Dayla, doch Findus schüttelte unwillig den Kopf.<br />
„Dort ist doch nur der Sumpf!“ „Ja, und in dessen<br />
Verlängerung zum Wilderfrio hin gibt es einen Wald, der den<br />
Namen Myrkviör trägt. Dieser Wald ist von Geistern<br />
bewohnt. Die Menschen meiden das Gebiet, weil der Wald<br />
böse ist.“ „Bring´ mir den Geist des Waldes...“ flüsterte<br />
Findus und sah Dayla an.<br />
„Meinst du wirklich?“ fragte sie. „Ja. Wir gehen dorthin.<br />
Ich werde dann einen Zauber entfachen, den Baldur einfach<br />
nicht übersehen kann. Das lenkt ihn von Bewok ab.“ „Wie<br />
wollen wir dorthin gelangen?“ „Du beherrscht doch die<br />
Kunst der Tierverwandlung?“ Dayla nickte. Natürlich - was<br />
für eine Frage! „Kannst du Dich samt Gepäck in ein Tier<br />
verwandeln?“ „Ja, das geht. Viele können das nicht. Mich<br />
kostet es nur mehr Kraft.“ Versonnen blickte Findus zu<br />
einem Baum hinauf. Drei schwarze Krähen saßen dort.<br />
Krächzten, flatterten manchmal ziellos herum und amüsierten<br />
sich über das, was die Menschen sich selbst vormachten.<br />
„Lass´uns fliegen“ schlug er vor, ohne den Blick abzuwenden.<br />
Dayla nickte, verwandelte sich in einen Schwan. Strahlend<br />
weiß und schön anzusehen. Findus aber sah die Welt mit den<br />
Augen der Krähen, verspürte ihre unbändige Freiheit. Auch<br />
er verwandelte sich.<br />
Seine Kleidung und sein Schwert wurden zum Federkleid.<br />
Einem blütenweißen Federkleid, welches auf mächtigen<br />
Schwingen saß. Sein Körper hingegen nahm eine Gestalt ganz<br />
ähnlich der der Krähen an. Nur größer. Viel größer. Die<br />
Gestalt eines Raben. Findus war zum weißen Raben<br />
geworden! Rabe und Schwan flogen hinaus in das weite Land,<br />
in Richtung des Sonnenaufgangs...<br />
127
Kapitel 7: Der Geist des Waldes<br />
Die Reise verlief ereignislos. Sie dauerte beinahe einen<br />
ganzen Tag lang. Es war schon spät, als die beiden im Licht<br />
der untergehenden Sonne auf einem Grasstreifen landeten.<br />
Ein Schwan wurde zu Dayla und ein weißer Rabe verwandelte<br />
sich zurück in Findus. Schockiert betrachteten sie die<br />
Landschaft. Der Grasstreifen war von dunklem Braun und<br />
schlüpfrig, etwa fünfzig Mannslängen breit. Er trennte den<br />
Sumpf vom Wald. Der Boden war matschig. Überall standen<br />
Pfützen mit schalem, übelriechendem Wasser. Dunstiger<br />
Himmel und ein trüber Schleier schien zwischen Land und<br />
Sonne zu liegen. Schlangen zischten giftig in schwarz-weißem<br />
Gekrissel, wanden sich und flüchteten vor den beiden. Kein<br />
schöner Platz zum Übernachten.<br />
Erschrocken sah Dayla den Forst an und flüsterte „Er ist<br />
so groß geworden - so mächtig...“ Ein Wald, dichter als jedes je<br />
zuvor gesehene Gehölz. Fremdartige Pflanzen wucherten.<br />
Äste starrten hervor wie Messerspitzen, wechselten sich mit<br />
kahlen, verwinkelt-verkrümmten Bäumen von bläulichschwärzlichem<br />
Holz ab. Dazwischen wogten Schwaden aus<br />
dunklem Dampf. Schleimig-feucht glänzende Blätter und<br />
riesige grellbunte, kelchartige Blüten mit Farben, welche dem<br />
Auge Schmerzen verursachten und welche Insekten und<br />
Vögel fingen - und fraßen! Das Unterholz ein einziger dunkler<br />
Schatten, in den hinein sich kein einziger Lichtstrahl verirrte<br />
- nacktes Grauen.<br />
Findus blickte zu seiner Gefährtin. „Was meinst du<br />
damit?“ „Ich kenne diesen Wald von früher her. Aber da war<br />
er viel kleiner. Es ist schon sehr lange her. Er wächst. Und<br />
wird stärker. Wie ein Geschwür.“ Findus spürte, was sie<br />
meinte. „Ja“ entgegnete er „der Wald ist böse. Durch und<br />
durch. Eine fremde dunkle Macht wohnt ihm inne. Ich kann<br />
sie sehen - grauschwarze Schlieren, die Farben fressen. Eine<br />
Macht, die nicht von dieser Welt ist - ein Dämon.“ Und Dayla<br />
fügte entsetzt hinzu: „Der Dämon entzieht dem magischen<br />
Geflecht die Kraft. Es ist wie ein unersättliches Loch. Früher<br />
war es noch nicht annähernd so schlimm, nicht ansatzweise<br />
128
so deutlich. Myrkviör ist ein alle Kraft aufsaugender<br />
Schwamm. Er fängt <strong>Norgast</strong>´s Seelen. Irgendwann wird er<br />
sich das ganze Land einverleibt haben.“<br />
Findus konnte ihr ansehen, wie schockiert sie war. „Wie<br />
sah denn nun eigentlich dein Plan in Bezug auf Baldur aus?“<br />
„Ich wollte, dass er durch den Wald reitet. Das der Wald ihn<br />
schwächt. Aber Baldur ist mit einem Dämon im Bunde. Und<br />
in diesem Wald wohnt auch ein Dämon; das zumindest ist<br />
nun deutlich. Ich wusste das vorher nicht. Zwei Dämonen<br />
- entweder sie bekämpfen sich gegenseitig oder aber sie<br />
machen gemeinsame Sache. Wir würden beides nicht<br />
überleben und auch <strong>Norgast</strong> würde beides nicht überstehen.<br />
Damit ist Baldur zweitrangig geworden.“ „Lass´ uns erstmal<br />
das Nachtlager aufschlagen“ meinte Findus „und morgen bei<br />
Tageslicht sehen wir weiter.“<br />
Das Aufschlagen des Nachtlagers war leichter gesagt als<br />
getan. Die beiden suchten lange, bevor sie ein hinreichend<br />
trockenes Stück Grasland fanden. Das Ziehen des magischen<br />
Schutzkreises, bestärkt durch ein Bestreuen mit Meersalz, ließ<br />
ihre Reserven an magischen Utensilien dramatisch<br />
dahinschmelzen. Doch der Kreis war nötig - diente er doch<br />
dazu, die Schlangen und die Bosheit des Waldes abzuhalten.<br />
Findus wollte ganz auf Nummer Sicher gehen und zeichnete<br />
mit den Worten „Vereint mit Erce, Thorn schütze uns!“ eine<br />
Schutzrune in die Luft. Die Rune glimmte aber nicht wie<br />
üblich auf, sondern verwehte still in einen violetten Dunst,<br />
während vom Wald herüber ein unangenehmes Zischen an<br />
ihre Ohren drang.<br />
Dayla hielt das für ein böses Omen. Nichts ging hier mit<br />
rechten Dingen zu. Sie versuchte beinahe vergeblich, ein<br />
Lagerfeuer zu entfachen, musste dazu aber letztlich doch auf<br />
ihre magischen Hexenkräfte zurück greifen. Doch weil das<br />
Holz nicht trocken war und Dayla befürchtete, mit ihren<br />
Kräften sparsam umgehen zu müssen, gab das Feuer nur<br />
wenig Wärme ab - dafür aber umso mehr an beißendem<br />
Qualm. Es würde wohl eine eher unruhige Nacht werden.<br />
Dayla und Findus sprachen kurz miteinander und entschieden<br />
sich, abwechselnd Wache zu halten. Und so streckte Findus<br />
sich zum Schlafen aus. Regelmäßige Atemzüge signalisierten<br />
Dayla, dass er Ruhe gefunden hatte. Sie aber starrte grübelnd<br />
129
in das Feuer. Doch nicht lange. Denn plötzlich veränderte<br />
sich der Rhythmus von Findus´ Atem! Alarmiert und mit<br />
einem Satz kauerte Dayla bei ihm. Selbst in dem schwachen<br />
Feuerschein war die wächserne Blaugraufärbung seines<br />
Gesichts unverkennbar. Auch seine Lippen wiesen einen<br />
bläulichen Schimmer auf. Er röchelte und rang nach Luft. Mit<br />
offenen, leblosen Augen starrte der Schlafende in den leeren<br />
Nachthimmel. Sein Körper zuckte konvulsivisch.<br />
Findus: „Es war seltsam. Ich schlief beinahe augenblicklich<br />
und auch genauso schnell stellte sich der Traum ein. Im<br />
Traum sah ich zahllose Punkte - nein, bei genauerem<br />
Hinsehen Köpfe. Graue Knochenschädel vor einem<br />
dunkelbraunroten Hintergrund. Darüber gleißendes weißes<br />
Licht. Ich glitt - flog - über die Schädel hinweg nach oben und<br />
in das Licht hinein. Badete förmlich darin, verlor jegliches<br />
Zeitgefühl. Irgendwann sah ich unter mir meinen Körper<br />
liegen und sich in Zuckungen winden. Dayla kniete daneben<br />
und führte nur undeutlich erkennbare, hastige Bewegungen<br />
aus. Mir war es egal. Mir war auch der Körper - mein Körper!<br />
- völlig gleichgültig. Ich brauchte ihn nicht mehr, flog<br />
euphorisch immer höher ins Licht. Unerwartet drehte sich<br />
von rechts unten eine schwarze Scheibe in mein Gesichtsfeld<br />
- schwärzer noch als die schwärzeste Nacht. Wie ein Loch.<br />
Und dieses Loch saugte nicht nur das Licht und die Schädel<br />
in sich auf - nein, auch ich flog mit gelähmtem Willen immer<br />
schneller darauf zu. Es saugte die Lebenskraft aus mir heraus.<br />
Doch plötzlich veranlasste mich ein inneres Gefühl, mich<br />
umzudrehen. Und ich erblickte in der anderen Richtung einen<br />
freundlich und lebensbejahend schimmernden Regenbogen.<br />
Unter ihm stand Dayla. Sie streckte mir die Hand entgegen.<br />
Ich versuchte, diese Hand zu ergreifen, mich festzuhalten,<br />
doch vergeblich. Je mehr ich mich anstrengte, desto<br />
schwächer wurde ich. Verloren! Auf einmal wuchs Dayla über<br />
sich hinaus, ergriff mich und zog mich zurück. Die<br />
Dunkelheit zerriss. Zurück in Sicherheit!“<br />
Dayla: „Findus wurde im Schlaf von einem<br />
heimtückischen magischen Angriff überrascht. Ich erkannte<br />
die Symptome sofort. Er war auf einer unkontrollierten<br />
Astralreise und sein Geist hatte den Körper verlassen. Mehr<br />
als fraglich, ob sie je wieder würden zusammenfinden können.<br />
130
Ich handelte so schnell ich konnte, bot alles auf, was ich hatte.<br />
‚Kaunan, nimm´ Dich seiner an und weise ihm mit Deinem<br />
Licht den Weg! Sowelo, vertreibe die Dunkelheit und hilf´<br />
ihm damit! Teiwaz, gib´ ihm die Kraft, das durchzustehen!<br />
Algiz, schütze dieses Leben! Dagaz, lass´ ihn den Tag erleben!<br />
Ihwaz, erinnere Dich seiner und schenke ihm Langlebigkeit!‘<br />
Zu jedem Spruch entnahm ich meinem Ranzen hastig eine<br />
der aufgeladenen Runen, zeichnete damit das zugehörige<br />
Symbol über Findus´ Körper und legte die Runen auf seine<br />
Brust. Zuletzt zog ich Gnarp aus der Scheide, legte es über<br />
die Runen und zog Findus´ Alraunen-Eiben-Topas-Anhänger<br />
über Gnarp. Erst alles zusammen gab mir die Kraft, ihn<br />
geistig zu erreichen - und zu seinem Anker zu werden. Er<br />
hatte schon beinahe das Reich des Dämons erreicht. Jetzt<br />
aber kehrte Findus zurück. Ich war heilfroh, denn ich hatte<br />
nicht nur die Kampfmagie abwehren können, sondern ihm<br />
dadurch auch noch das Leben gerettet.“<br />
Findus erwachte kurz, schaute sich einen Moment lang<br />
desorientiert um und erblickte die neben ihm hockende<br />
Dayla. „Danke!“ sagte er nur noch, dann schlossen sich seine<br />
Augen. Der Kopf rollte zur Seite und er fiel in einen tiefen<br />
Schlaf. Diesmal ungestört. Dayla wachte über ihn. Im frühen<br />
Morgengrauen - Dayla konnte kaum selbst noch die Augen<br />
offen halten - erwachte Findus. Er legte ihr die Hand auf die<br />
Schulter. „Schlaf´ du jetzt“ waren seine Worte „denn morgen<br />
müssen wir ausgeruht sein.“ Seufzend nickte Dayla. Er hatte<br />
Recht und hundemüde war sie auch. Sie legte sich hin.<br />
Findus ließ sie bis weit in den Vormittag hinein schlafen.<br />
Als Dayla die Augen öffnete, erblickte sie einen neuen, trüben<br />
Tag. Kein aufmunternder Anblick. Kurze Zeit später saß sie<br />
mit Findus zusammen. Sie sprachen über den magischen<br />
Angriff in der vergangenen Nacht. „Weißt du, das kam<br />
einfach zu überraschend“ erläuterte Findus. „Ich habe diesen<br />
Dämon direkt vor mir sehen können. Er zeigt sich als alles<br />
verschlingendes schwarzes Loch. Und die Schädel - das<br />
können doch eigentlich nur die Geister von den Toten sein,<br />
die ursprünglich mal im Wald umgekommen sind.“ „Und was<br />
tun wir jetzt?“ „Es ist Tag. Das ist günstig für uns. Ich glaube,<br />
dass ich diesen Dämon unter bestimmten Umständen in seine<br />
131
Unterwelt zurück verbannen kann.“ „Wie willst du das<br />
anstellen?“<br />
Versonnen blickte Findus zum Wald hinüber. „Nicht ich,<br />
sondern wir beide“ korrigierte er sanft und sah ihr fest in die<br />
Augen: „Allein kann ich das unmöglich schaffen. Deine<br />
Künste sind absolut unverzichtbar. Ein Risiko gibt es dabei<br />
natürlich. Wenn wir versagen, dann verschlingt uns der<br />
Dämon.“ „Und wenn wir nichts tun, dann verschlingt er über<br />
kurz oder lang ganz <strong>Norgast</strong> und uns beide gleich mit“<br />
ergänzte die Hexe bitter. Eine vertrackte Situation! Findus<br />
unterbreitete ihr daraufhin seinen Vorschlag: „Ich habe die<br />
Kraft, dieses Loch im magischen Geflecht zu schließen. Doch<br />
ohne einen Anker nützt mir das gar nichts. Da verliere ich<br />
mich im Nichts. Du hast die Kraft, mein Anker zu sein. Nur<br />
du kannst mich von der Astralebene wieder zurück holen.<br />
Das hast du letzte Nacht eindringlich bewiesen.“<br />
„Sprich´ weiter“ forderte Dayla ihn auf und Findus fuhr<br />
fort: „Wir bereiten uns intensiv auf die Begegnung vor. Durch<br />
eine meditative Übung hier im Schutzkreis. Wir haben<br />
abnehmenden Mond. Das ist günstig für jede Art von<br />
Bannzauber - und wir wollen den Dämon ja bannen.<br />
Verbannen. Die Übung wird uns mit magischer Energie<br />
aufladen. Gegen Ende der Übung verlasse ich meinen Körper<br />
und stelle mich dem Dämon. Es wird deine Aufgabe sein,<br />
über mich zu wachen und mir den Weg zu weisen.“ „Du<br />
solltest deinen Anhänger in die eine und Gnarp in die andere<br />
Hand nehmen. Das gibt dir noch mehr Kraft.“ „Gute Idee“<br />
erwiderte Findus. „Aber“ warf Dayla ein „dann sind da immer<br />
noch die Geister der Toten. Selbst wenn es dir gelingt, den<br />
Dämon aus dieser Welt zu verjagen, dann bleiben die Toten<br />
hier. Mit dir verbunden. Sie können dir durchaus zu Diensten<br />
sein. Aber glaub´ mir - schön ist das nicht. Auf die Dauer<br />
wird es dich verrückt machen. Die Macht über die Toten ist<br />
eine furchtbare Waffe.“<br />
Versonnen vor sich hinblickend murmelte Findus „Bring´<br />
mir den Geist des Waldes...“ Er sah auf. „Ich könnte sie doch<br />
auch freigeben, so dass sie ins Totenreich eingehen dürfen“<br />
entgegnete Findus. „So einfach ist das nicht“ antwortete<br />
Dayla „denn es muss ein Übergang zum Totenreich da sein.<br />
Und den spüre ich hier nicht.“ Schweigen. Beide überlegten.<br />
132
„Hier nicht“ sprach Findus auf einmal „aber ich kenne so<br />
einen Ort. Jetzt passt auch alles zusammen. Wir machen<br />
Folgendes...“ Detailliert erklärte er ihr seinen Plan. Das würde<br />
schwierig werden, aber es war grundsätzlich machbar. Auch<br />
das ‚Baldur‘-Problem ließe sich dadurch auf ganz einfache<br />
Weise lösen...<br />
„Lass´ uns beginnen“ forderte Findus seine Gefährtin auf<br />
und fragte „Was nehmen wir?“ „Ich habe einen Mondstein<br />
bei mir.“ „Energie und Aktivität - gut!“ Dayla entnahm ihrem<br />
Ranzen den Stein und legte ihn in die Mitte des Schutzkreises.<br />
Aus Sumpfmoos - dem Symbol für freie und ungebundene<br />
Stärke - richtete Findus zwei Sitzmulden her. Dayla setzte sich<br />
vor den Stein, Findus sich ihr gegenüber. Sie reichten sich die<br />
Hände, hielten zusammen Gnarp und den Anhänger fest und<br />
versenkten den Geist in die so herrlich bunte Welt der<br />
anderen Wahrnehmung. Da war das Rauschen des<br />
Luftelementes, eine verwirbelnd-fraktale Struktur in<br />
Dunkelgrau bildend. Der blaugrünliche Geruch eines vom<br />
Sumpf herüberwehenden Dunststreifens. Das creme-silberne,<br />
rehbraun-durchwachsene und wie ineinander verschlungene<br />
Tropfsteine aussehende Quarren und Quaken der Frösche<br />
und Kröten. Dazwischen immer wieder das scheinbar<br />
allgegenwärtige schwarz-weiße Gekrissel vom Zischen der<br />
Schlangen. Halbrund-pastellfarben bunte Farbtupfer: die Rufe<br />
der Vögel außerhalb des verwunschenen Waldes. Beide<br />
konzentrierten sich auf diese Form der Wahrnehmung und<br />
betrachteten dabei den Stein. Erlangten das Wissen um seine<br />
Form. Das Wissen um die Form führte zum Wissen um die<br />
Formgebung. Das Wissen um die Formgebung führte zum<br />
Wissen um die Herkunft. Das Wissen um die Herkunft ließ<br />
sie teilhaben an der Urgewalt der Welt...<br />
Findus und Dayla öffneten gleichzeitig die Augen.<br />
„Bereit?“ fragte Findus. „Ja“ antwortete die Hagia. Dayla<br />
entnahm ihrem Ranzen die Algiz-Rune und legte sie in die<br />
Kreismitte. Zusammen mit Findus intonierte sie den Gesang<br />
„Algiz schütze uns vor dem Dämon des Myrkviör. Algiz leite<br />
unseren Weg. Algiz verleihe uns die Macht, den Dämon zu<br />
vertreiben.“ Findus schloss die Augen wieder und trennte<br />
seinen Geist vom Körper. Es war für ihn zunächst das gleiche<br />
Gefühl wie in einem dieser seltsamen luziden Träume, in<br />
133
denen man seinen Körper verlässt und über die Welt fliegen<br />
kann. Findus Geist stieg höher und höher - ins Licht.<br />
Währenddessen sang Dayla mit glockenheller Stimme ihre<br />
Zaubersprüche: „Erce, Erdgöttin und Friedensfürstin,<br />
schenke diesem Land Deine Gunst. Gib´ uns goldene Kraft<br />
um das zu vertreiben, was hier nicht hergehört. Thorn, wir<br />
bitten Dich um Deinen Schutz...“ Ihr Gesang schwang<br />
irgendwo im hintersten Winkel von Findus´ Geist mit - ein<br />
Spinnweb-artig verwobenes Silbergebilde mit golden<br />
funkelnden Tautropfen darauf, Orientierung und Kraftquelle<br />
zugleich. Ein Regenbogen manifestierte sich in diesem<br />
zeitlosen Kontinuum aus Licht und Findus steuerte auf<br />
dessen höchsten Punkt zu.<br />
Jetzt sah er auch den Dämon wieder - eine abstoßend<br />
schwarze Scheibe, genau wie letzte Nacht. Geleitet durch<br />
Daylas Gesangsmuster steuerte Findus jetzt den gesamten<br />
Regenbogen auf die schwarze Scheibe zu. „Was du gewesen,<br />
sei vergessen. Geh´ zurück dorthin, von wo du gekommen<br />
bist“ beschwor er das fremde Etwas und formte den<br />
Regenbogen zu einem Kreis, welcher die hässliche schwarze<br />
Scheibe einschloss. Nur noch ein unendlich dünn<br />
auslaufender Trichterstiel, stabilisiert durch Dayla´s<br />
Gesangsspinnweben, verband ihn und den Kreis aus<br />
materialisiertem Licht mit seiner Welt - mit <strong>Norgast</strong>. Der<br />
namenlose Dämon geriet in Bedrängnis, wollte den ihn<br />
umschließenden bunten Lichtkreis abschütteln. Das Schwarz<br />
begann sich zu drehen und in das Blau des<br />
Regenbogenkreises hinein zu fressen. Dann in das Grün und<br />
in das Gelb. Findus rief im Gegenzug Berkana, Raido und<br />
Laguz an. Die Kraft dieser Runen ließ das Rot und Violett des<br />
Kreises anschwellen und verdrängte das Schwarz aus dem<br />
Gelb. Der Dämon drehte sich schneller und schneller. Die<br />
Ränder der dämonischen Scheibe bröckelten und mit jedem<br />
Stück, das sich löste, gewann die Regenbogenscheibe an<br />
Größe und Leuchtkraft zurück, transformierte seine Energie,<br />
bis sie sich schließlich ähnlich einer Irisblende über dem<br />
verblassenden Schwarz schloss.<br />
Jetzt verblassten auch die Regenbogenfarben und Findus´<br />
Geist schwebte zurück in seinen Körper. Zurück blieb<br />
anstelle des Dämons eine Art von grauem Neutrum. Ein Ort,<br />
134
der zwar Bestandteil von <strong>Norgast</strong> war, an dem es aber kein<br />
magisches Geflecht und damit auch keine Magie mehr gab<br />
- wie ein Narbengewebe. Findus kannte diese Art von<br />
Gewebe schon von der Anderswelt her... Der ganze magische<br />
Kampf schien nur wenig Zeit beansprucht zu haben, doch er<br />
hatte Findus richtiggehend ausgelaugt. Der öffnete jetzt die<br />
Augen und erblickte Dayla. Sah hoch zur Sonne. Die aber<br />
stand schon tief. Für Dayla musste der Kampf endlos lange<br />
gedauert haben. Ängstlich sah sie ihn an. „Geschafft?“ war<br />
ihre bange Frage. „Geschafft ja, aber noch nicht fertig“<br />
erwiderte Findus erschöpft. „Da sind noch die Seelen der<br />
Toten“ erläuterte er.<br />
Findus schloss die Augen erneut und versetzte sich in den<br />
unwirklich-meditativen Zustand zwischen Wachen und<br />
Traum - eine der ersten Übungen, die er von der Bônday<br />
gelernt hatte. Im Wachtraum - einem von ihm bewusst<br />
beeinflussbaren Traum - ließ er seinen Geist ähnlich einem<br />
Netz durch den Wald driften und fing die zuvor vom Dämon<br />
festgehaltenen Bewusstseinssplitter der Toten ein. Verbittertverängstigte<br />
und jetzt orientierungslose Geister, kaum noch<br />
klarer Gedanken fähig. Nicht länger an das magische Geflecht<br />
gebunden waberten diese Seelen ziellos herum. Nachdem sie<br />
von ihm eingesammelt worden waren, erlangte Findus den<br />
Wachzustand zurück. Laut befahl er „Geister der Toten<br />
- sprecht zu mir!“ Die Antwort war eine dumpf klingende und<br />
von überall her kommend scheinende Stimme: „Ich bin der<br />
Geist der Toten. Du bist mein Herr. Verfüge über mich!“<br />
Findus lächelte jetzt. „Was ist dein sehnlichster Wunsch?“<br />
„Gib´ uns frei, auf dass wir endlich in das Reich der Toten<br />
einkehren können. Weise uns den Weg dorthin.“ „Bald. Ich<br />
verspreche es. Doch zuvor habe ich eine Aufgabe für dich.<br />
Wir erwarten Besuch“ sagte er „sechs Reiter. Verwirrt sie,<br />
wenn sie im Wald sind. Versucht sie aufzuhalten.“ Versonnen<br />
blickten er und Dayla zum Wald hinüber. Der Hauch des<br />
Bösen war von dort verschwunden. Endgültig. Aber irgend<br />
etwas tat sich da - nur was, das hätte keiner von ihnen zu<br />
sagen vermocht. Myrkviör war zwar ein Teil von <strong>Norgast</strong>,<br />
aber aufgrund des fehlenden magischen Geflechts irgendwie<br />
auch wieder nicht. Was würde aus den dortigen Bäumen und<br />
135
Pflanzen werden? Was würde sich dort neu ansiedeln - oder<br />
überhaupt ansiedeln können?<br />
Einige Zeit vorher. Sechs Reiter auf dem Weg stromaufwärts<br />
am Wilderfrio entlang. Ytarre, Söldner. Weder Tod noch<br />
Teufel fürchtend und nie nach dem Grund für einen Befehl<br />
fragend. Joritu, Söldner. Narbig, kampferprobt und bösartig.<br />
Talieste, Söldner. Ein gefühlloser Schlächter, der sich an den<br />
Qualen seiner Opfer weidete. Charlos, Söldner. Das Einzige,<br />
was er fürchtete, waren böse Geister, mieses Essen und<br />
schlechter Sold. Neville, Kommandeur der Truppe. Ein<br />
Spion. Baldur, der Herrscher. Anführer. Kurz nachdem die<br />
Sonne den Zenit eben überquert hatte, zügelte Baldur sein<br />
Pferd und blieb stehen. Er hob die Hand und bedeutete den<br />
anderen damit, still zu sein.<br />
Baldur horchte in sich hinein, wie ein witternder Wolf. Er<br />
spürte etwas. Er spürte die Spur, nach der sie suchten. Er<br />
spürte sein Opfer. Etwas Großes geschah da. Etwas, das im<br />
magischen Geflecht nicht bloß ein Rumoren oder Vibrieren<br />
hervorrief. Nein, etwas viel Größeres, was das magische<br />
Geflecht wie ein Erdbeben durchschüttelte. Um was immer<br />
es sich dabei auch handeln mochte - genau das war es! Nun<br />
konnte er ihm nicht mehr entkommen! Höchstens einen<br />
Tagesritt von hier, exakt in westlicher Richtung! Baldur wies<br />
den anderen den Weg, rief „Hüa!“ und gab seinem Pferd die<br />
Sporen. Ihr scharfer Ritt durch den Auwald dauerte bis zum<br />
Abend. Sie erreichten einen lichten Streifen, wo Baldur sie das<br />
Nachtlager aufschlagen und rasten ließ. Morgen - morgen<br />
würde er einen Konkurrenten weniger haben...<br />
Der nächste Tag. Schon früh brachen die Sechs auf.<br />
Baldur kannte nur ein Ziel - die Vernichtung seines<br />
Widersachers! Kein Blick nach rechts oder links. Auch nicht<br />
auf die überaus seltsamen Gewächse des Waldes. So entging<br />
ihnen allen die von den fleischfressenden Pflanzen<br />
ausgehende Gefahr. Da es keinen Pfad durch den Myrkviör<br />
gab, mussten sie absitzen und sich ihren Weg zu Fuß bahnen.<br />
Als Ersten erwischte es Talieste. Er stolperte über eine<br />
Wurzel und fiel hin. Ytarre war Zeuge des Sturzes und hätte<br />
136
eschwören können, dass die Wurzel seinen Kumpan<br />
absichtlich zu Fall brachte. Wie auch immer - kaum, dass<br />
Talieste auf dem Boden lag, schoss ein Baum scharfe, spitze<br />
Dornen auf ihn ab. Der sonst so gefühllose Söldner schrie,<br />
machte etwas von dem durch, was sonst nur seine Opfer zu<br />
spüren bekamen. Ranken schossen aus dem Wald hervor und<br />
umwickelten ihn, zogen den schweren Mann zu einem der<br />
riesigen Blütenkelche. Letzterer stülpte sich über Talieste und<br />
schloss sich mit einem unangenehm-fleischigen Schmatzen.<br />
Talieste´s Schreie waren nur noch gedämpft zu hören - doch<br />
sie hatten nichts Menschliches mehr an sich.<br />
Joritu war der Nächste. Der Waldboden gab unter ihm<br />
nach und er stürzte in eine gar nicht mal so tiefe Grube. Doch<br />
bevor er sich daraus befreien konnte, wimmelte es nur so von<br />
Abermillionen an Ameisen, Spinnen und Käfern. Sie<br />
zerfetzten den unbeugsamen Mann bei lebendigem Leib.<br />
Längere Zeit geschah dann nichts mehr und die vier noch<br />
verbliebenen Personen kämpften sich durch den unwegsamen<br />
Forst, wiegten sich in falscher Sicherheit. Denn plötzlich<br />
waren die Seelen der Toten da. Von Grauen geschüttelt<br />
rannte Charlos blindlings los, ins Unterholz hinein. Prallte<br />
gegen einen Baumstamm, stürzte und brach sich dabei das<br />
Genick. Die Toten jubelten. Mit jedem verlöschenden Leben<br />
wurden es ihrer mehr. Ytarre war der Letzte. Sein Schicksal<br />
entschied sich, als ein aufgebrachter Eber ihren Weg kreuzte.<br />
Die von dem wilden Tier ausgehende Gefahr unterschätzend<br />
wollte Ytarre es mit dem Schwert abschlachten. Doch die<br />
Hauer des Tieres mit den vierundvierzig scharfen Zähnen<br />
waren schneller...<br />
Baldur hatte keine Möglichkeit, seine Männer zu schützen.<br />
Seine Magie versagte in diesem Wald, stand einfach nicht zur<br />
Verfügung. Es gab hier keine Magie! Er war außer sich vor<br />
Wut. Macht war seiner Meinung nach dazu da, genossen und<br />
zum eigenen Wohl angewandt zu werden. Und hier hatte er<br />
keine Macht! Ein ihm völlig unbegreiflicher, ungewohnter<br />
Zustand. Gnadenlos trieb er Neville an, ohne zu bemerken,<br />
dass der überfordert wurde. „Alles Versager!“ fluchte Baldur<br />
und gab noch zahllose weitere beleidigende Äußerungen von<br />
sich. Seine Laune war auf dem absoluten Tiefstpunkt<br />
angekommen. Er brauchte unbedingt jemanden zum<br />
137
Abreagieren! Er schikanierte seinen Begleiter, kritisierte wild<br />
drauflos, ohne konkret zu werden. Neville musste sich<br />
Diskreditierungen und Unterstellungen gefallen lassen. Doch<br />
da vorn wurde es heller. Baldur spannte seine Armbrust,<br />
machte sie schussbereit. Neville – nun ob Baldur´s<br />
schmählicher Behandlung gleichfalls wütend - zog seine<br />
Doppelaxt. So erreichten beide den Rand des Waldes. Auf der<br />
Lichtung standen Findus und Dayla.<br />
Aus den Reaktionen der Toten war es Findus möglich<br />
gewesen zu ermitteln, mit wie vielen Gegnern sie es noch zu<br />
tun hatten. Zwei gegen Zwei. Rein zahlenmäßig ein<br />
ausgeglichenes Verhältnis. Und doch auch wieder nicht. Denn<br />
Findus und Dayla standen auf dem Grasstreifen. Sie konnten<br />
auf ihre magischen Fähigkeiten zurück greifen. Für die im<br />
Myrkviör befindlichen Angreifer stand diese Option nicht zur<br />
Verfügung. Ruhig und mit Gnarp in Hand stand Findus im<br />
Gras. Ebenso ruhig und gefestigt im Wissen um ihre Macht<br />
wartete Dayla neben ihm, nur bewaffnet mit einem Ritualstab<br />
aus Eibenholz.<br />
Als Baldur und Neville die beiden erblickten, griffen sie<br />
sofort und erbarmungslos mit aller Härte an. Neville warf<br />
seine Axt auf Dayla. Die aber zeichnete - zu schnell, um den<br />
Bewegungen mit dem Auge folgen zu können - mittels des<br />
Ritualstabes eine Algiz-Rune in die Luft. Blendend goldenes<br />
Licht ging von der Rune aus: Der Axtstiel verbrannte noch im<br />
Flug und die Schneide schmolz. Es zischte laut, als das<br />
flüssige Eisen auf das nasse Gras tropfte. Baldur hingegen<br />
feuerte gleichzeitig seine Armbrust auf Findus ab. Geisterhaft<br />
schnell zuckte dessen Hand mit Gnarp darin vor und die<br />
Schneide des magischen Schwertes lenkte den tödlichen<br />
Bolzen seitlich in den Boden.<br />
Mit lauten Schreien, die Schwerter den Scheiden entrissen,<br />
stürmten Neville und Baldur jetzt vor. Dayla belegte Neville<br />
in kurzer Folge mit Zeitzaubern, die den Spion immer für<br />
kurze Momente in der Bewegung einfrieren ließen. Als Folge<br />
davon strauchelte er, verlor das Gleichgewicht und fiel. Fiel<br />
zwischen die Schlangen. Als er sich wieder erhob, waren seine<br />
138
Augäpfel derart verdreht, dass man nur noch das Weiße darin<br />
sehen konnte. Eine schwarze Schlange hatte sich in seinem<br />
Nacken festgebissen. Eine Kupferfarbene wand sich um<br />
seinen Hals und biss ihn eben ins Gesicht. Die langen<br />
Giftzähne mit den daraus hervorperlenden, kleinen<br />
blassgelben Tropfen funkelten in der Sonne. Eine Grauweiße<br />
hing, die Giftzähne noch in seiner Haut verhakt, von seiner<br />
Hand herunter. Neville röchelte und fiel. Regte sich nicht<br />
mehr - tot!<br />
Baldur hingegen stürmte wie ein Unwetter und vor<br />
unbändiger Wut laut brüllend auf Findus zu. Schwerter<br />
kreuzten sich, blitzend wirbelnde Klingen im Sonnenlicht.<br />
Baldur´s Schwert stieß plötzlich aus der Hüfte vor. Wurde<br />
von Gnarp abgelenkt. Stoß-Parade-Gegenstoß. Die Kämpfer<br />
schenkten sich nichts, verzichteten aber auf den Einsatz von<br />
Magie. Baldur, weil er sich ohnehin für den Stärkeren hielt<br />
und Findus, weil ihm das nur ein allerletztes Machtmittel sein<br />
sollte. Keuchend umkreisten sie einander. Der Kampf legte<br />
eine kurze Atempause ein. Plötzlich Finte, Ausfall und<br />
erneute Parade. Angriff. Wirbelnder Stahl und Funken der<br />
furios aufeinander treffenden Klingen. Findus war von den<br />
Zwergen sehr gut ausgebildet worden. Er drängte Baldur<br />
zurück. Zurück in den Myrkviör. Kaum aber hatte Baldur<br />
einen ersten Schritt rückwärts in den seltsamen Wald hinein<br />
getan, da stolperte er über eine merkwürdig verdrehte Wurzel.<br />
Oben am Baum brach ein Ast ab und fiel herunter, traf<br />
Baldur am Kopf. Der blieb bewusstlos liegen. Der Kampf<br />
zwischen dem Herrscher und seinem Opfer war vorbei.<br />
Ein Stöhnen, Raunen und Wispern ringsum. Die Geister<br />
der Toten versammelten sich, wollten die Seele des<br />
Herrschers. „Nein, lasst ihn“ wies Findus sie zurück. Erstaunt<br />
blickte Dayla ihn an: „Aber warum?“ „Ich höre die Stimme<br />
seines Blutes“ flüsterte Findus kaum hörbar. Er sah seine<br />
Gefährtin und Geliebte aus tränennassen Augen an. „Spürst<br />
du es denn nicht? Er... ist... mein... Bruder!“ Die Stimme<br />
versagte ihm. Dayla schaute perplex auf den Bewusstlosen<br />
hinab. Trocken und pragmatisch denkend bemerkte sie:<br />
„Dann nenn´ wenigstens seinen richtigen Namen, um ihn an<br />
Dich zu binden! Damit er kein Unheil mehr anrichten kann.“<br />
„Nein, er soll seine Chance bekommen. Seine Letzte. Als<br />
139
Blutsverwandter bin ich ihm dazu verpflichtet.“ Aus dem<br />
Augenwinkel heraus bemerkte Findus eine sich nähernde<br />
Schlange. „Zurück“ wies er sie an und das Tier gehorchte<br />
augenblicklich. „Komm´, hilf´ mir, ihn in den Schutzkreis zu<br />
tragen.“ Dayla fasste mit an und sie schleppten Baldur zu<br />
zweit in den magischen Kreis hinein. Vorsichtshalber<br />
erneuerte Findus den Kreis sogar noch. „Er mag hier liegen<br />
bleiben, bis er aufwacht“ sprach der Sieger „und dann tun,<br />
was ihm beliebt. Wenn er einsichtig ist, dann weiß er, was<br />
getan werden muß. Wenn nicht...“ Findus ließ den Rest des<br />
Satzes offen und schwieg vielsagend.<br />
Ernst blickte er Dayla in die Augen. „Sag´ - wenn die<br />
Bônday von dem Dämon im Myrkviör gewusst hätte, hätte sie<br />
Dir dann davon erzählt?“ „Mit Sicherheit“ erwiderte Dayla.<br />
„Und du warst völlig überrascht. Dann hat sie davon nicht<br />
gewusst. Dann konnte sie auch das mit den Seelen der Toten<br />
nicht wissen und ihre Befreiung war nicht meine zweite<br />
Prüfung“ folgerte Findus. „Das dürfte richtig sein“ meinte<br />
Dayla und setzte hinzu „Was hast du jetzt vor?“ „Unsere<br />
Wege trennen sich vorerst. Die Bônday muss informiert<br />
werden. Mach´ du das. Ich werde den Balumer Wald<br />
aufsuchen und die Seelen der Toten dort freigeben. Danach<br />
mache ich mich auf die Suche nach dem Geist des Waldes<br />
und nach dem Stein des Lebens. Allein. Wenn ich beides<br />
gefunden habe, dann kehre ich zur ‚namenlosen Insel‘ zurück.<br />
Warte dort auf mich. Die Bônday sollte sich auf diesen Tag<br />
gut vorbereiten. Sie wird mir nämlich helfen müssen, etwas<br />
über meine Herkunft zu erfahren. Die letzten Rätsel aus<br />
meiner Vergangenheit müssen gelöst werden. Unbedingt!“<br />
Dayla nickte - ja, was er sagte, das war alles logisch und<br />
nachvollziehbar. Es war der beste Weg. Sie küssten und<br />
umarmten sich zum Abschied. Dayla verwandelte sich wieder<br />
in den weißen Schwan und flog nach Westen davon - in<br />
Richtung Tiedsiepe.<br />
Findus schaute zum Wald hinüber. Es gab da eine<br />
Verbindung... - eine Drachenlinie! Ein vom magischen<br />
Geflecht selbst zur Verfügung gestellter Pfad in einer<br />
140
unwirklichen Zwischenwelt. Ein Pfad, quer durch alle<br />
Landschaften, Lebewesen und Gebäude. Ein zeitloser Pfad.<br />
Wer den Eingang zu diesem auch als Ley-Linie bezeichneten<br />
Weg fand, der konnte riesige Entfernungen praktisch in<br />
Nullzeit zurück legen. Allerdings offenbarten sich derartige<br />
Eingänge nur den allerwenigsten Menschen. Vielleicht<br />
manchmal den Menschen, die fähig waren, die Welt mit den<br />
Augen der Tiere zu sehen und die Gedanken der Tiere zu<br />
verstehen. Es bedurfte zum Auffinden schon einer<br />
besonderen, sehr seltenen Sensibilität, gepaart mit großer<br />
innerer Stärke. Nur Menschen, die über diese Eigenschaften<br />
verfügten, vermochten das flüchtige Flirren der Luft oder das<br />
seltsame Ziehen beim Reisen zu bemerken, welches vom<br />
Münden einer Ley-Linie kündete. Baldur konnte es nicht.<br />
Dayla auch nicht – oder nur noch nicht?<br />
Findus lächelte. Ja - genau da drüben flirrte die Luft.<br />
Kaum wahrnehmbar, wie eine Wärmeschliere und nur allzu<br />
leicht zu übersehen. Dort befand sich ein Ort, an dem der<br />
Wechsel von <strong>Norgast</strong> auf eine der Kraftlinien des magischen<br />
Geflechts möglich war. Findus trat darauf zu. Er verspürte im<br />
Kopf ein schwaches Ziehen, gerade so, als streife ein<br />
schwacher Wind an seiner Wange vorbei - nur eben Innen.<br />
Findus schloss die Augen und ließ den Ort auf sich wirken.<br />
Sah wieder das graue Narbengewebe Myrkviörs. Sah eine<br />
vernarbte und bis zum Balumer Wald reichende, hauchdünne,<br />
gleichfalls grau-vernarbte Linie. Daneben aber, breit und<br />
einladend, lag die Drachenlinie nass-kupfern schimmernd<br />
genau vor ihm. Er öffnete die Augen wieder. „Geist der<br />
Toten, sprich´ zu mir“ befahl er. „Ich höre dich, Herr“<br />
ertönte es von überall her. „Ihr Toten habt mir im Kampf<br />
gegen den Herrscher geholfen“ äußerte Findus „und dafür<br />
gebührt euch mein Dank. Sammelt euch. Ich führe euch zu<br />
einem Ort, an dem ihr freigegeben werdet. Dort sollt ihr in<br />
das Totenreich eingehen und eure ewige Ruhe finden.“ „Herr,<br />
wir hören dich und wir danken dir. Wir folgen“ erscholl es<br />
zur Antwort. Er schloss die Augen erneut und konzentrierte<br />
sich auf die Ley. Findus durchschritt - den Pulk der Toten im<br />
Gefolge - die magische Grenze.<br />
141
Baldur erwachte. Er war allein. Keine Überlebenden bei<br />
seinen Männern. Das kam seiner Einstellung gleichzeitig aber<br />
auch sehr entgegen, denn nur so konnte niemand von seiner<br />
Niederlage berichten. Die Niederlage - etwas in dieser Art war<br />
ihm noch nie zuvor passiert. Und dann auch noch gegen so<br />
einen Niemand! Das alles kratzte an seinem<br />
Selbstbewusstsein. Gewaltig sogar. Er war unterlegen - und<br />
kein Mensch durfte je davon erfahren. Aber was jetzt? Baldur<br />
stellte fest, dass er in einem magischen Kreis lag. Gut. Die<br />
Magie funktionierte also wieder. Scheu blickte er zu dem<br />
seltsamen Wald hinüber. Ein mögliches Rückzugsgebiet, für<br />
den Fall, dass der Shâgun ihn angriff. Denn wo keine Magie<br />
existierte, da konnte auch ein Dämon nichts ausrichten. Aber<br />
nur die allerletzte Möglichkeit des Rückzuges, denn ein Ort<br />
zum Leben war dieser Wald ganz gewiss nicht. Dann schon<br />
eher zum Sterben...<br />
Doch wie sollte es nun weitergehen? Baldur dachte nach<br />
und besann sich auf genau das, was er am Besten beherrschte:<br />
Intrigen durch Lug und Trug zu sähen, dabei aber selbst<br />
immer als das Sinnbild der Gerechtigkeit, als der Inbegriff des<br />
Guten dastehend. Hinterlist und <strong>Heim</strong>tücke - seine liebsten<br />
Waffen, die er auch einzusetzen gedachte. Die Verfolgungen<br />
mussten sofort eingestellt werden. Das brachte jetzt ohnehin<br />
nichts mehr. Er würde die Männer ganz bewusst opfern und<br />
es so darstellen, als wären das Rebellen gewesen. Rebellen, die<br />
seine Gutartigkeit ausnutzten, um ihm ihre Untaten in die<br />
Schuhe zu schieben.<br />
Ja, so müsste es funktionieren. Dazu noch die<br />
entsprechenden Falschinformationen unter die Bevölkerung<br />
bringen - das konnte das Syndikat der Kaufleute erledigen.<br />
Baldur würde sich selbst als den strahlenden Helden<br />
präsentieren, dem es nur unter Einsatz seines eigenen Lebens<br />
gelungen war, die Köpfe der Rebellion auszuschalten. Das<br />
hörte sich schlüssig an. Und die Leute glaubten alles, wenn<br />
man es ihnen nur oft und laut genug von offizieller Seite<br />
sagte. Sogar das Gegenteil von dem, was sie selbst erfahren<br />
hatten. Das war schon immer so gewesen und würde wohl<br />
auch bis an das Ende aller Ewigkeit so bleiben.<br />
142
Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, erhob sich<br />
Baldur. Er legte seine Kleidung ab und wechselte die Gestalt.<br />
Wurde zur Krähe und flog zurück nach Helgenor. Nicht lange<br />
Zeit danach hörten die Verfolgungen auf. Viele der Häscher<br />
wurden auf sein Geheiß hin hingerichtet. Die Kaufleute<br />
berichteten den Menschen von einer fehlgeschlagenen<br />
Rebellion, doch sei jetzt wieder Frieden im Land. Aber was<br />
für ein Frieden...<br />
Eine Art von Lähmung hatte <strong>Norgast</strong> ergriffen. Jeder<br />
versuchte nur noch, für sich ganz allein zu überleben. Keine<br />
Nachbarn halfen sich mehr. Der Frieden war auf Angst und<br />
Misstrauen gegründet worden. Jeder gegen jeden, auf das<br />
Recht des Stärkeren pochend. Kritische Stimmen<br />
verstummten für immer, weil ihre Besitzer plötzlich auf<br />
klammheimliche und mitunter höchst seltsame Weise<br />
verschwanden. Querdenker wurden verlacht, aus den Städten<br />
geprügelt oder gleich erschlagen. Und insgeheim formierte<br />
Baldur eine neue Polizeitruppe. Die hatte nur einen einzigen<br />
Auftrag: Den Mann zu finden, der für ihn den Staatsfeind<br />
Nummer Eins darstellte! Baldur war vielleicht unterlegen,<br />
aber nachdem er seinen Widersacher schon einmal erfolgreich<br />
vergiftet hatte, stand es damit bestenfalls unentschieden. Die<br />
Sache war noch nicht ausgestanden – noch lange nicht!<br />
Doch die Suche nach Findus geschah in aller <strong>Heim</strong>lichkeit<br />
und unter massiver Bespitzelung der Bevölkerung. Baldurs<br />
eifrigste Zuträger waren die Kaufleute, koordiniert durch den<br />
jetzt doch nicht abgesägten Mijneer Vankampen. Für sowas<br />
war der alte Schleimer allemal noch gut genug. Und gelangte<br />
von den Maßnahmen doch einmal etwas an die<br />
Öffentlichkeit, dann wurde das mit Schutzbestrebungen<br />
begründet. Mit der Notwendigkeit, den Anfängen zu wehren<br />
und rebellische Zellen schon sehr frühzeitig ausschalten zu<br />
müssen – eben zum Schutz der Bevölkerung! Baldur hatte<br />
doch nur das Wohlergehen seiner Untertanen im Sinn, wie er<br />
selbst zynisch erklärte. Damit ließ sich alles begründen - auch<br />
das Beschneiden persönlicher Freiräume bei harmlosen<br />
Bürgern, auch jedwede Art von ‚vorbeugenden‘ Kontroll-,<br />
Überwachungs- und Haftmaßnahmen...<br />
143
Zwischenspiel: Dayla war knapp zwei Tage unterwegs, bevor<br />
sie die ‚namenlose Insel‘ erreichte. Die Bônday zeigte sich<br />
höchst erstaunt darüber, Dayla allein zurück kommen zu<br />
sehen. Sie ahnte, dass etwas vorgefallen sein musste. Das<br />
Beben im magischen Geflecht hatte sie alarmiert. Im Beisein<br />
von Lyonora berichtete Dayla daraufhin von ihrer Reise mit<br />
Findus. Sie setzte die beiden über Findus Erfahrungen bei<br />
den Zwergen, über das magische Schwert Gnarp, die<br />
neugewonnene magische Kraft und über alles Weitere in<br />
Kenntnis. Besonders das, was Dayla über die Brüderschaft<br />
mit dem Herrscher, den Myrkviör und über den Dämon zu<br />
sagen hatte, versetzte die Bônday in helle Aufregung. „Ein<br />
solcher Dämon kommt nicht von selbst“ bemerkte die<br />
Größte der Hexen <strong>Norgast</strong>´s und fügte hinzu: „Der muss<br />
beschworen worden sein. Vielleicht sogar unbeabsichtigt, so<br />
dass er nur ein offen stehendes Tor nach <strong>Norgast</strong> gefunden<br />
hat. Aber wenn das einmal geschehen ist, dann kann es auch<br />
öfter passieren. <strong>Norgast</strong> kann daran zugrunde gehen! Wir<br />
müssen unbedingt herausbekommen, wer das getan hat.“<br />
Ernst sah sie ihre beiden Novizinnen an: „Wir werden<br />
unsere Neutralität aufgeben und uns einmischen müssen. Es<br />
hilft nichts; es geht nicht anders. Wenn das eine Bônday tut,<br />
dann betrifft das den ganzen Zirkel und damit auch<br />
automatisch alle Bôndays. Ich werde mit den anderen<br />
Kontakt aufnehmen.“ An Dayla gewandt setzte sie noch<br />
hinzu: „Findus hat Recht damit, dass dem Geheimnis seiner<br />
Herkunft jetzt größte Bedeutung beizumessen ist. Bereite du<br />
eine Evokation vor. Vergangenheit und vielleicht sogar<br />
frühere Inkarnationen von ihm. Die Evokation wird er<br />
natürlich selbst durchführen müssen, wenn er kommt. Aber<br />
dann sollte es sehr schnell gehen. Verzögerungen können wir<br />
uns nicht mehr leisten. Die Lage ist ernster, als ich dachte.“<br />
Und so wurde der gesamte Hexenzirkel alarmiert und die<br />
Bônday, Lyonora sowie Dayla warteten sehnlichst auf Findus´<br />
Rückkehr...<br />
Findus überschritt die Grenze zur Ley-Linie. Für einen<br />
Außenstehenden hätte es so ausgesehen, als würde seine<br />
144
Gestalt von einem orangenen Licht umspült werden und<br />
langsam verblassen. Dann lag <strong>Norgast</strong> hinter ihm. Um ihn<br />
herum die Geister der Toten - gesichtslose Schädel, verirrte<br />
Wanderer. Es mussten ihrer Hunderte sein und er war ihr<br />
Führer. Eine eigentümliche Stille umfing sie. Kein Laut war<br />
hier zu hören. Vor ihm lag ein höchst merkwürdiger Weg in<br />
Orange getaucht. Der Zeitablauf war verändert. Die<br />
Drachenlinie führte quer durch <strong>Norgast</strong>, quer durch Bäume,<br />
Tiere und Menschen. Auch durch das Innere der Bewohner.<br />
Aber alles war in seiner Bewegung erstarrt, wie eingefroren.<br />
Für Findus und die Toten hingegen verging Zeit - Reisezeit.<br />
Die Kraftlinie veränderte das Empfinden der Reisenden.<br />
Sie verfügten schlagartig über eine nie gekannte Einsicht und<br />
Klarheit der Gedanken. Sie verfügten über Erkenntnis. Das<br />
Wesen der Magie an sich offenbarte sich ihnen. Findus<br />
erkannte, dass die Magie in verschiedenen Ausprägungen<br />
auftrat und dass eben diese Ausprägungen eines<br />
Ordnungsprinzips oder eines Fokus bedurften. Die<br />
Ordnungsprinzipien selbst - das waren die Symbole,<br />
beispielsweise die Runen, die Steine, die Kerzen, die<br />
Ritualstäbe, die Kräuter. Sie variierten je nach Kultur und<br />
bewirkten doch alle das Gleiche - nämlich die Bereitstellung<br />
eines stofflichen Symbols. Das diente einzig dazu, die eigenen<br />
Gedanken derart zu konzentrieren, dass man das magische<br />
Geflecht nutzen konnte. Deswegen gab es für ein und die<br />
gleiche Art von Magie auch nicht nur ein einziges Symbol,<br />
sondern zumeist sogar deren viele.<br />
Die magische Kraft musste seitens ihres Benutzers fühlbar<br />
sein. Nur dann war es ihm möglich, ein magisches Symbol<br />
auch wirksam einzusetzen. Genau deswegen konnte aber die<br />
laienhafte, direkte Übernahme fremder magischer Techniken<br />
nicht funktionieren. Das wäre wie ein Wagen ohne Pferd<br />
gewesen. Das Pferd - das war der die Kräfte erfahrende<br />
Benutzer. Der Wagen - das war die Technik an sich: Die<br />
Rune, das Ritual, die Beschwörung, der Fluch. Die Dschinns<br />
in der fernen Wüste wandten andere Techniken als die Magier<br />
und Hexen <strong>Norgast</strong>´s an. Aber dennoch griffen sie auf die<br />
gleichen magischen Grundlagen zurück.<br />
Jede Kultur, ja jeder Magier oder jede Hexe entwickelte<br />
hinsichtlich der Technik einen ganz eigenen, persönlichen Stil.<br />
145
Abwandlungen davon kamen im Lauf der Zeit zwar auf, aber<br />
die beeinflussten die Wirkung der Kräfte nicht. Auf diese<br />
Weise wurde der ganz persönliche magische Stil immer<br />
ergebnisorientiert eingesetzt und beeinflusste die<br />
Selbstorganisation der chaotischen Urkraft. Kleine Ursache<br />
und große Wirkung - womit sich ein Kreis schloss: Die<br />
Funktionsweise der Magie.<br />
Findus erblickte weitere Drachenlinien, alle einander<br />
ähnlich - selbstähnlich. In der Anderswelt hätte man das mit<br />
dem Fachbegriff ‚fraktal‘ bezeichnet. Zusammen bildeten die<br />
Linien Muster. Muster, welche denen überaus ähnlich waren,<br />
die er mit seiner anderen Art der Wahrnehmung vor dem<br />
inneren Auge immer sah. Muster, die manchmal auch im<br />
Lande <strong>Norgast</strong> einen Abdruck hinterließen - in Form von<br />
Bergrücken, Streifen ohne Bewuchs, Hainen mit bestimmten<br />
Pflanzen und auf andere Weise.<br />
Mit den Toten im Gefolge schritt er die Drachenlinie<br />
entlang. Folgte dem orangenen Licht durch das Innere von<br />
Bäumen hindurch. Sah deren Jahresringe und deren<br />
lebensspendende Säfte. Erstarrte Dryaden dazwischen. Sah<br />
tief in der Erde verankerte Wurzeln und die Würmer und die<br />
Bodenbewohner ringsum. Sie glitten durch einen scheinbar<br />
mittig geteilten Menschen, durchwanderten später eine Hütte,<br />
in welcher Findus´ das Fischerpaar Bewok und Snofork zu<br />
erkennen glaubte. Sie durchschritten Gewässer, ohne nass zu<br />
werden. Sahen bewegungslose Fische und Najaden.<br />
Hier und dort gewahrte Findus einen blassen Spalt im<br />
allgegenwärtigen Orange - die Ein- und Ausgänge der<br />
Drachenlinie. Einen dieser Spalte drückte er mit<br />
Gedankenkraft auseinander und trat hinaus. Er war wieder in<br />
<strong>Norgast</strong>. Hier war keinerlei Zeit vergangen. Er befand sich an<br />
dem seltsamen und doch so vertrauten Ort südlich von<br />
Balum. An dem Ort mit den merkwürdig verdrehten Bäumen<br />
- dort, wo Baldur ihn einst vergiftet hatte. „Geist der Toten,<br />
sprich zu mir!“ rief Findus. „Herr, ich bin hier“ ertönte die<br />
Antwort. „Dieser Ort ist ein Übergang zwischen den Welten.<br />
Ihr seid frei. Geht ein in das Totenreich und findet Eure<br />
ewige Ruhe!“ „Wir danken dir!“ Ein Rauschen, Raunen und<br />
Brausen erhob sich. Es dauerte nicht lange und Findus war<br />
allein.<br />
146
Er ließ die Seltsamkeit dieses Übergangs zwischen den<br />
Welten - dieses ‚Kraftplatzes‘ - auf sich einwirken. Blickte auf<br />
das ihm so wohlvertraute Gehölz. Auf die gnomenhafte<br />
Wurzel, aus der sich zwei lange Baumtriebe rechts und links<br />
wie Arme nach oben erstreckten. Auf den hölzernen<br />
Schlangenkopf. Auf den mannsstarken, korkenzieherartig<br />
verdrehten Stamm eines anderen Baumes. Daneben einer mit<br />
einem Ring im Stamm. Findus´ Blick verlor sich in der<br />
Unendlichkeit. Der Wald verschwamm vor seinen Augen.<br />
Stattdessen sah er Punkte. Winzige, vernarbte Punkte von<br />
Grau und alle miteinander durch hauchzarte Narbenfäden<br />
verbunden. Einer davon führte an der Ley-Linie entlang. Hier<br />
war es gewesen. Hier hatte das Unheil seinen Lauf<br />
genommen. Hier war der Dämon nach <strong>Norgast</strong> hinein<br />
diffundiert und dann der Kraftlinie gefolgt, um sich<br />
schließlich im Myrkviör zu manifestieren.<br />
Aber warum war der Myrkviör-Dämon gekommen? Wer<br />
hatte ihm den Zutritt ermöglicht? Fragen, die Findus quälten.<br />
Fragen, die einer Antwort harrten. Und dann war da noch<br />
etwas: Dieser überaus seltsame Ort erschien ihm wie eine Art<br />
von dreidimensionalem Spiegel. Spiegel sind schon seltsame<br />
Gegenstände. Auf den ersten Blick zeigen sie einem nur das<br />
eigene Spiegelbild. Richtig angeordnet und das Licht<br />
umlenkend kann man aber mit mehreren Spiegeln auch<br />
fremde Orte betrachten. Und wenn man sich erst einmal in<br />
der Betrachtung eines Spiegelbildes verliert, dann können<br />
noch weitaus merkwürdigere Dinge geschehen - gerade so, als<br />
sähe man die Rückseite des Spiegels. Was wäre wohl auf der<br />
Rückseite dieses Spiegels, dieses seltsamen Ortes, zu<br />
erwarten?<br />
Findus entspannte sich, machte seine Gedanken frei und<br />
führte eine meditative Übung durch. Ja - da war eine<br />
Schwingung. Sie zeigte die Rückseite des Spiegels. Ein Baum.<br />
Uralt, verwinkelt, dickborkig und knorrig. Mit einer riesigen<br />
Krone, die ihn wie eine Glocke umgab und deren Äste bis<br />
zum Boden reichten. Noch merkwürdiger geformt als die<br />
Bäume hier. Aber dieser eine Baum war mehr - war der<br />
König, der Herrscher des hiesigen Gehölzes. Findus stand auf<br />
und trat durch den Spiegel hindurch. Nun stand er in der<br />
Glocke, vor diesem einen Baum, in einem gänzlich anderen<br />
147
Wald. Der Wind rauschte und die Vögel sangen. Dies hier<br />
mochte durchaus auch noch <strong>Norgast</strong> sein – nur ein gänzlich<br />
anderer Ort.<br />
Doch was war das? Um den Baum herum lag ein<br />
Bannzauber, wie Findus ihn noch nie erfahren hatte. Findus<br />
trat aus der Baumkronen-Glocke hinaus und betrachtete das<br />
Gebilde kopfschüttelnd von außen. Unglaublich! Der Bann,<br />
der um diesen Baum herum lag, war hier draußen geradezu<br />
lachhaft schwach. Kaum zu bemerken und jeder Magienovize<br />
oder jede Junghexe hätte den Zauber problemlos aufheben<br />
können. Im Innern der Glocke jedoch war der Bann geradezu<br />
überwältigend stark. Auf Findus wirkte das wie eine<br />
Monsterwelle. Vom Rücken her - also von außen - bis zum<br />
Kamm hin nur sacht ansteigend, aber auf der anderen Seite<br />
eine vernichtende, unbezwingbare Wand.<br />
Um einen solchen Bannzauber zu installieren bedurfte es<br />
großer magischer Kraft bei gleichzeitig geringen Kenntnissen<br />
der Magie oder aber umgekehrt perfekten Kenntnissen der<br />
Magie bei vergleichsweise schwacher Kraft. Oder aber... ...es<br />
bedurfte zweier Personen. Eines Magiers, welcher noch nicht<br />
auf der Höhe seiner Kunst angelangt war und fremder,<br />
mächtiger Hilfe. Beispielsweise dämonischer Kraft! Und<br />
genau das war die Verbindung zu dem seltsamen Wald bei<br />
Balum, durchfuhr es Findus siedend heiß. Wenn sich dort<br />
jemand einer durch und durch bösen Macht bedient hatte, um<br />
hier ein Wesen festzusetzen, dann konnte dieses festgesetzte<br />
Wesen eigentlich nur gut sein! Findus entschloss sich daher,<br />
den Bann aufzuheben. „Berkana und Sowilu, vertreibt die<br />
Dunkelheit. Gewährt diesem gefangenen Geschöpf einen<br />
Neubeginn.“ Er zeichnete die Runen in die Luft. Beide<br />
flammten kurz auf und waren verschwunden.<br />
Zunächst geschah gar nichts, so dass Findus schon<br />
annahm, sein Befreiungsversuch seie fehlgeschlagen. Doch<br />
urplötzlich raschelte es in den Blättern und sie bewegten sich<br />
- gerade so, als würden sie von einem Wind, der vom Stamm<br />
ausgeht, nach oben auseinander gedrückt werden. Tatsächlich<br />
geschah auch genau das. Die Äste bewegten sich nach oben<br />
und schrumpften dabei. Die Blätter kehrten in das Holz<br />
zurück. Die nun aufgerichtete Baumkrone schrumpfte in den<br />
Stamm hinein. Was übrig blieb, war ein knorriger Stamm von<br />
148
entfernt menschenähnlicher Statur. Und auch dieser knorrige<br />
Stamm verwandelte sich unaufhaltsam weiter. Bis am Ende<br />
ein sehr, sehr alter Mann von machtvoller Ausstrahlung dort<br />
stand - ein Magier. „Danke“ sagte der nur.<br />
Findus starrte den Magier an. „Wer bist du? Und wo sind<br />
wir hier eigentlich?“ fragte er. Der alte Magier begann weise<br />
zu lächeln und stellte eine Gegenfrage: „Wer bist du denn,<br />
Jüngling, dass du die Kraft hast, mich zu befreien und<br />
gleichzeitig zu unwissend bist, um deinen eigenen<br />
Aufenthaltsort zu kennen?“ „Man nennt mich Findus. Ich bin<br />
von Balum aus hierher gelangt.“ „Von Balum aus, so so...<br />
Und wie bist du hergekommen?“ „Über den seltsamen Ort<br />
dort im Wald. Er funktioniert wie ein Spiegel. Ich suchte die<br />
Rückseite des Spiegels. Dann bin ich durchgegangen.“<br />
„Einfach so, ja? Es gibt da eine ganze Menge, was du mir<br />
noch erzählen musst. Jemanden mit einer magischen Kraft<br />
wie der deinen gibt es nur selten. Aber dazu kommen wir<br />
später, denn ich will nicht unhöflich sein. Du befindest dich<br />
hier im Haucain. Ich selbst werde - oder wurde, denn ich weiß<br />
nicht, wieviel Zeit vergangen ist, seit ich in die Baumgestalt<br />
gesperrt worden bin - Malweýn genannt.“<br />
„Malweýn“ keuchte Findus und blickte den Alten<br />
entgeistert an. Dann kam es flüsternd aus seinem Mund<br />
„Meine zweite Prüfung... Bring´ mir den Geist des Waldes...“<br />
Der Alte verfügte über sehr gute Ohren. „Wer hat Dir das<br />
aufgetragen?“ fragte er. „Die Bônday von der ‚namenlosen<br />
Insel‘“ lautete wahrheitsgemäß Findus´ Antwort. Malweýn<br />
lächelte versonnen „Meine alte Freundin und Konkurrentin.<br />
Es gibt sie also immer noch. Sag´“ er blickte Findus nun<br />
direkt an „wer regiert jetzt <strong>Norgast</strong>?“ „Baldur.“ In den Augen<br />
des Alten blitzte es zornig auf. „Baldur. Ausgerechnet! Von<br />
allen möglichen Wahrscheinlichkeiten die mit Abstand<br />
Allerschlimmste! Dann kann es dem Land nicht gut gehen!“<br />
„Das tut es auch nicht. <strong>Norgast</strong> heute, das ist jeder gegen<br />
jeden. Mord, Folter, Intrigen und Angst. Baldur lebt gut<br />
davon. Er hält die Menschen unwissend, versorgt sie mit<br />
falschen Informationen und presst aus ihnen heraus, was<br />
herauszupressen ist.“ „Und ich wette, die Kaufleute<br />
unterstützen ihn dabei nach Kräften.“ „Das mag sein“<br />
mutmaßte Findus „doch davon weiß ich nichts.“<br />
149
„Wir sollten uns jetzt ganz intensiv miteinander<br />
unterhalten“ schlug Malweýn vor und setzte sich. „Erzähl mir<br />
alles, was du weißt.“ Und Findus berichtete. Von dem<br />
Kräuterweib, das ihn aufgezogen hatte. Von seiner Zeit des<br />
Erwachsenwerdens auf der ‚namenlosen Insel‘. Wie er von<br />
dort ausgerissen war und wie Baldur ihn vergiftete. Von den<br />
Erlebnissen in der Anderswelt. Wie sein Gedächtnis<br />
verschwand. Von Bewok und Snofork und von seiner<br />
Rückkehr zur ‚namenlosen Insel‘. Von Dayla, seiner<br />
Geliebten. Er sprach über die drei Prüfungen, welche die<br />
Bônday ihm abverlangte. Erwähnte die Nebelsenke, die<br />
Zwerge und Gnarp. Wie er selbst zum weißen Raben wurde.<br />
Die ganze Zeit über hörte Malweýn ihm aufmerksam zu,<br />
ohne ihn zu unterbrechen. Nur an der Stelle, als Findus´<br />
Erzählung auf die Geschehnisse um den Dämon im Myrkviör<br />
und auf Baldur kam, da wurde der Alte lebendig.<br />
„Ich ahnte, daß etwas Schlimmes passieren würde. Baldur<br />
hat auch mich seinerzeit vergiftet. Dennoch wäre es ihm<br />
niemals möglich gewesen, mich so zu bannen, wie es dann<br />
doch passiert ist. Dazu reichte seine Magie einfach nicht aus.<br />
Er hat Hilfe beschworen. Dämonische Hilfe. Er war es, der<br />
den Myrkviör-Dämon nach <strong>Norgast</strong> hinein gelassen hat!“ Der<br />
alte Zauberer schwieg wieder und Findus setzte seinen<br />
Bericht fort. Wie er die Drachenlinie benutzte und wie die<br />
Seelen der Toten ihre Ruhe fanden. Wie er hierher gelangt<br />
war.<br />
Mit den Worten „Und was machen wir jetzt?“ schloss<br />
Findus seinen Bericht. „Nicht wir, mein Junge, sondern du.<br />
Du ganz allein. Ich für meinen Teil weiß ganz genau, was ich<br />
zu tun habe. Deswegen muss ich dich auch entäuschen. Der<br />
Geist des Waldes - das bin ganz zweifellos ich selbst. Aber du<br />
wirst mich nicht zur Bônday bringen, ganz im Gegenteil. Ich<br />
werde die Bônday veranlassen, zu mir zu kommen. Das<br />
zwingt sie, ihre sinnlose und gefährliche Einstellung der<br />
Nichteinmischung aufzugeben und endlich mal Partei zu<br />
ergreifen.“ „Du kennst sie von früher?“ „Oh ja, und wie. Eine<br />
weise und schöne Frau, die es versteht, einem Mann die<br />
schönsten Freuden zu schenken. Wir standen uns sehr nahe,<br />
standen aber auch in Konkurrenz miteinander, haben uns<br />
zusammengerauft, geliebt, gehasst, geliebt, gestritten und<br />
150
wieder geliebt. Ich kann nicht ohne sie sein und sie nicht<br />
ohne mich. Aber wir beide zusammen - da wird ein kritischer<br />
Punkt überschritten und das geht erst Recht nicht gut. Wir<br />
sind eben zwei zu selbstbewusste, querdenkende Geister.<br />
Manchmal mit gleichen Ansichten. Manchmal aber auch<br />
nicht. Und dann knallt´s eben.“ Versonnen lächelnd blickte<br />
Malweýn in die Ferne.<br />
Ächzend erhob sich der alte Magier. „Gut, dann will ich<br />
dich mal in meine Pläne einweihen. Baldur schöpft seine<br />
politisch-weltliche Macht aus seinem Reichtum. Nur, dass<br />
<strong>Norgast</strong> selbst kaum Reichtümer zu bieten hat. Geld, Gold,<br />
Edelsteine und so weiter - all das stammt aus dem Süden und<br />
wird von den Kaufleuten herangeschafft. Unter dem Strich<br />
sind sie es, die Baldur´s Herrschaft erst ermöglichen. Eine<br />
Situation, die sich im Laufe der Zeit so entwickelt hat. Geld<br />
kam zu Geld und irgendwann waren es die mit dem meisten<br />
Geld, die nur noch ihnen genehme Herrscher einsetzten. Das<br />
Vermögen der Kaufleute kommt aus dem Süden, aus der<br />
Gegend um die Suderhelge und aus der Wüste. Karawanen<br />
handeln dort mit Lebensmitteln aus <strong>Norgast</strong>, denn da unten<br />
wächst kaum etwas. Gold und Edelsteine sind der Gegenwert.<br />
Eingesammelt wird das alles in Sirval am Rande der<br />
Steinwüste. Von dort aus werden in regelmäßigen Abständen<br />
geheime und schwer bewachte Kutschen nach Diekenboog<br />
und Westboog geschickt. Das war schon zu meiner Zeit so<br />
und daran wird sich bis heute nichts geändert haben.“<br />
Malweýn schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Der<br />
Weg dieser Kutschen führt durch den Bomenhau. Schneidet<br />
man Baldur hier den Nachschub seines Reichtums ab, dann<br />
schneidet man ihm auch die Lebensader ab. Er hatte mich<br />
gebannt, aber meine Macht konnte er nicht brechen.<br />
Deswegen war ich zwar bewegungslos, aber nicht untätig.<br />
Komm´ mit!“ Der Zauberer trat vor und öffnete wie beiläufig<br />
den Zugang zu einer Ley-Linie. Sie traten ein, doch kaum<br />
waren sie in dem orangenen Licht, da befanden sie sich auch<br />
schon wieder draußen - im Wald von Balum. Hinter ihnen<br />
knisterte es und schwarze Funken schwebten für kurze Zeit in<br />
der Luft. „Diese Ley ist eben zusammen gebrochen“ meinte<br />
Malweýn und erläuterte achselzuckend: „Die Verbindung<br />
bestand sowieso nur aufgrund des alten dämonischen<br />
151
Einflusses. Eigentlich müsste ich Baldur dafür sogar dankbar<br />
sein. Denn ohne diese künstliche Verbindung wäre mir das<br />
hier nie gelungen.“ Malweýn stand da und breitete mit einer<br />
weit ausladenden Bewegung seine Arme zum Wald hin aus.<br />
„Was meinst du mit ‚das hier‘?“ fragte Findus, der sich<br />
neben dem Alten plötzlich wieder ganz klein und unwissend<br />
vorkam. Malweýn grinste ihn freudig an. „Was siehst du?“<br />
„Die verdrehten Bäume. Und die seltsamen Wurzeln.“<br />
„Erinnern Dich die Formen der Wurzeln nicht an irgend<br />
etwas?“ „Ja schon. Teilweise haben sie entfernte Ähnlichkeit<br />
mit Tieren oder Menschen.“ „Es sind Tiere oder Menschen.<br />
Und Zwerge und Trolle und Kobolde. Und mehr.<br />
Eingefangen und verholzt. Meine Horde, mit der ich Baldur<br />
und die Kaufleute zu erledigen gedenke. Die Tiere gehorchen<br />
mir ohnehin. Den Menschen und den anderen Wesen werde<br />
ich es freistellen, ob sie mich begleiten wollen. Aber ich bin<br />
sicher, dass die meisten es tun werden. Sie sind Flüchtlinge<br />
und Ausgestoßene. Menschen, die unter Baldur gelitten<br />
haben.“<br />
Malweýn intonierte einen für Findus´ Ohren völlig<br />
fremdartigen Gesang in einer unbekannten Sprache.<br />
Metallisch-bläulich glühendes Licht umspielte den Körper des<br />
Alten. Wie von innen heraus leuchtete seine Aura. Von seinen<br />
Fingerspitzen aus fuhren grünlich-türkisfarbene Blitze in die<br />
Wurzeln und gaben das frei, was darin steckte. Hier einen<br />
Menschen, der sich verwundert die Augen rieb. Da eine<br />
Schlange. Ein Wildschwein. Und noch viel mehr... Nachdem<br />
das alles vorüber war, umfasste die Horde gut fünfzig<br />
Mitglieder – Menschen ebenso wie magische Wesen und<br />
Tiere. Malweýn sprach zu ihnen, legte ihnen seine Absichten<br />
dar. Er beabsichtigte, sie zum Bomenhau zu führen. Quer<br />
über das Land; eine Reise von ungefähr der Dauer eines<br />
halben Mondes. Nicht einer der Befreiten wollte zurück<br />
bleiben.<br />
„Nun zu dir“ sagte Malweýn, vor neugewonnener Energie<br />
nur so berstend, an Findus gewandt. „Bei der Suche nach<br />
dem Stein des Lebens kann ich dir nicht helfen. Es kann<br />
durchaus sein, dass es sich um einen realen Stein handelt.<br />
Aber es ist genauso gut möglich, dass das nur im<br />
übertragenen Sinne gemeint ist. Die Bônday liebte es schon<br />
152
immer, sich einen orakelhaften Anschein zu geben und in<br />
Rätseln zu sprechen. Für sie hat das den Vorteil, dass<br />
niemand sie auf etwas festnageln kann. Einer unser ältesten<br />
Streitpunkte überhaupt. Doch egal. Wie gesagt - ich selbst<br />
kann dir nicht helfen. Aber ich kenne jemanden, der sich sein<br />
ganzes Leben lang mit der Magie der Steine befasst hat. Es ist<br />
ein Dschinn. Er lebt etwa westlich von Sirval, dort, wo Wüste<br />
und Suderhelge ineinander übergehen. Gehe dorthin. Bestelle<br />
ihm einen schönen Gruß von mir. Er wird Dir sehr<br />
wahrscheinlich weiterhelfen können. Ach ja - und er ist<br />
manchmal etwas sonderbar, um nicht zu sagen schrullig. Sieh´<br />
es ihm nach.“ Malweýn hob zum Abschied grüßend die Hand<br />
und zog, begleitet von seiner Horde, los.<br />
153
Kapitel 8: Der Stein des Lebens<br />
„Ausgerechnet ein Dschinn!“ dachte Findus am Tag darauf,<br />
lange nachdem Malweýn losgezogen war, und rekapitulierte<br />
kurz, was er eigentlich über die Dschinn wusste. Viel war es<br />
nicht und es entstammte noch der Zeit seiner Ausbildung bei<br />
der Bônday. Aus der Zeit vor dem Verlust seines<br />
Gedächtnisses. Erst bei den Zwergen hatte er dieses Wissen<br />
zurück erlangt. Danach handelte es sich bei den Dschinn um<br />
Geistwesen, die irgendwo zwischen Menschen und Göttern<br />
einzuordnen waren. Sie sollten aus rauchlosem Feuer<br />
bestehen - was immer das auch sein mochte. Und sie konnten<br />
sich in bestimmten Fällen durch Vergeistigung aus einem<br />
Menschen entwickeln. Weit im Süden glaubten die Leute, dass<br />
ein jeder Zeit seines Lebens von einem Dschinn, den er Qarin<br />
oder Gefährte nannte, begleitet wurde.<br />
Ob das den Tatsachen entsprach, vermochte niemand zu<br />
sagen. Immerhin - starb ein magisch begabter Mensch, dann<br />
konnte er im Dschinn aufgehen und zukünftig mit dem eine<br />
Einheit bilden. Andererseits aber konnte ein Mensch niemals<br />
die Befehlsgewalt über einen Dschinn erlangen. Und genau<br />
so, wie es gute wie böse Menschen gab, sollten auch<br />
freundliche wie schlechte Dschinns existieren. Nur - selbst<br />
mit den Guten war das so eine Sache... Denn allzu oft<br />
verloren sie den Kontakt zur Realität oder entwickelten recht<br />
seltsame Schrullen. Deswegen tat man gut daran, den Kontakt<br />
mit einem Dschinn nicht zu suchen. Sie lebten eben ihr<br />
eigenes Leben.<br />
Doch selbst dann, wenn der Kontakt absichtlich gesucht<br />
wurde, waren die Dschinns häufig nicht zu finden. Es gab<br />
welche, die im Boden lebten. Anderen war die Luft eine<br />
<strong>Heim</strong>at. Und schließlich gab es eine letzte, erdgebundene<br />
Gruppe. Diese Dschinns lebten in Tieren oder in<br />
Gegenständen - Ruinen, Bäumen, Dünen. Heute hier, morgen<br />
dort. Nein, einen Dschinn finden konnte man nicht. Vielmehr<br />
wurde man selbst von einem gefunden! Nicht gerade rosige<br />
Aussichten. Findus seufzte. Er verwandelte sich wieder in den<br />
weißen Raben und flog los. Richtung Osten, auf die Wüste zu.<br />
154
Schnell breitete sich sonnendurchglühtes Land unter dem<br />
hochfliegenden Vogel aus. Weißes Salz, soweit das Auge<br />
reichte. Wie ein liegender und nach oben weisender Haizahn<br />
schob sich die Wüste in nordöstlicher Richtung nach <strong>Norgast</strong><br />
hinein. Doch es war keine einheitliche Landschaft - weit<br />
gefehlt, wer das glaubte! Kurz vor dem Erreichen der<br />
heißesten Zeit des Tages begann das Land, sich zu wandeln.<br />
Unmerklich zunächst, wurde es schnell immer deutlicher, dass<br />
das Salz einer Sandfläche wich. Findus blickte auf sanft<br />
geschwungene Dünen hinab. Feinster Sand - hübsch<br />
anzusehen, solange er ruhig lag. Eine tödliche Gefahr, wenn<br />
Wind – der Sufon, wie ihn die Bewohner des Südens nannten<br />
- hinzu kam!<br />
Zum Glück aber war es windstill und Findus hatte keinen<br />
Sandsturm zu befürchten. Doch die Hitze machte ihm zu<br />
schaffen, trocknete ihn aus. Er brauchte Wasser. Unbedingt<br />
und schnell! Der weiße Rabe hielt Ausschau nach dem Grün<br />
von Pflanzen, welches Wasser oder gar eine Oase signalisieren<br />
würde, doch er konnte nichts finden. Findus flog weiter - und<br />
höher, denn weiter oben war es kühler. Doch damit nahm er<br />
ganz bewusst den Nachteil in Kauf, die Wüste nicht mehr in<br />
allen Einzelheiten mit den Augen absuchen zu können. So<br />
bemerkte er auch erst recht spät, wie sich die Berge der<br />
Suderhelge vor ihm aufzutürmen begannen.<br />
Er flog tiefer, entdeckte Grün, landete. In einer schattigen<br />
Nische fand er nach einigem Suchen sogar Wasser und<br />
konnte seinen Durst löschen. Er verwandelte sich in die<br />
menschliche Gestalt zurück und blickte sich um. Eine<br />
trostlose Mondlandschaft umgab ihn! Hübsch bunt<br />
gemusterte Felsen zwar, aber bar jeglichen Lebens. Kahle<br />
Berghänge in einem abweisenden, lebensfeindlichen<br />
Urzustand. Weiter draußen, zur Sandwüste hin, türmten sich<br />
Geröllberge auf - wie Schutt, den spielende Riesen hier<br />
abgeladen hatten. Über allem spannte sich, im krassen<br />
Gegensatz zur Feindseeligkeit des Landes stehend, ein<br />
azurblauer Himmel. Der Ort stimmte. Doch wie, um alles in<br />
der Welt, sollte er hier den von Malweýn erwähnten Dschinn<br />
finden? Zumal die Sonne sich jetzt bereits neigte? Um sich<br />
vor Schlangen und ähnlichem Getier zu schützen, zog Findus<br />
mit Gnarp einen magischen Kreis. Fraglich, ob der hier<br />
155
funktionierte. Daher fügte er in den Kreis noch ein<br />
Pentagramm mit ein und schlug exakt in der Mitte sein<br />
Nachtlager auf. Sein Magen knurrte. Morgen würde er<br />
weitersehen.<br />
Findus erwachte noch vor Sonnenaufgang. Ihn fröstelte; es<br />
war empfindlich kühl - und er hatte Hunger. Aber nichts zu<br />
essen. Wirklich nicht? Sein Blick fiel auf das Grün, welches<br />
ihn gestern hierher geführt hatte. Pflanzen. Vielleicht essbar.<br />
Und wo Pflanzen wuchsen, da gab es für gewöhnlich auch<br />
Insekten. Er kramte eine kleine hölzerne Schale aus seinem<br />
Ranzen und schöpfte damit etwas Wasser. Dann ging er zu<br />
den Pflanzen hinüber: unbekannte Gewächse. Möglicherweise<br />
giftig. Doch das Risiko würde er eingehen müssen. Er<br />
untersuchte das Kraut und fand - Ameisen! Vermutlich gab es<br />
keinen Ort auf der Welt, den diese kleinen Tierchen nicht<br />
besiedelt hatten. Aber egal - das war Nahrung und er spürte,<br />
dass er Kraft brauchen konnte.<br />
Der einsame Reisende sammelte soviele Ameisen wie er<br />
konnte und brach auch einige der grünen Stängel ab. Das alles<br />
wanderte zerkleinert in die Schale mit dem Wasser. Unter der<br />
Anrufung von Sig´s Kräften erwärmte sich das Wasser zu<br />
einer vielleicht nicht gerade wohlschmeckenden, aber doch<br />
stärkenden Suppe. Findus leerte alles aus - wer wusste schon,<br />
wann er die nächste Mahlzeit bekommen könnte? Doch so<br />
‚ganz ohne‘ waren die Pflanzen nicht, denn schon kurz nach<br />
diesem Frühstück füllte sich sein Geist mit einem<br />
bemerkenswerten Weitblick. Findus richtete seine Gedanken<br />
zur Wüste hin, machte den Kopf frei und verinnerlichte die<br />
Macht von Othila. Irgendwann bemerkte er, dass die Sonne<br />
schien. Irgendwann stellte er fest: Da draußen war - etwas!<br />
Er stand auf, kniff die Augen zusammen und beschattete<br />
sie obendrein noch mit der Hand, um nicht vom grellen<br />
Sonnenlicht geblendet zu werden. Blickte zur Wüste hinaus.<br />
Wie eine Windhose erhob sich dort ein blassgraugelber<br />
Schleier vor den Geröllbergen - ein Staubteufel! Und genau<br />
der übte eine eigenartige, magische Anziehungskraft aus.<br />
Findus wechselte in die Gestalt des weißen Rabens und flog<br />
156
hin. Nein - das war kein Staubteufel. Das war eine<br />
Staubwolke, hervorgerufen von einem springenden<br />
Sandwurm! Sandwürmer: selten, riesig und überaus gefährlich!<br />
Diese Tiere erinnerten auf den ersten Blick an einen<br />
überdimensionalen, hausgroßen Regenwurm. Doch im<br />
Gegensatz zum Regenwurm verfügten sie über ein<br />
ausgeprägtes Kopf- und Schwanzende. Das Schwanzende war<br />
extrem muskulös und erlaubte ihnen weite Sprünge. Auf diese<br />
Weise durchquerten die Tiere Geröllflächen und gelangten in<br />
ihren angestammten Lebensraum, den Sand. Dort gruben sie<br />
sich mit Hilfe des riesigen, dreieckigen und Tentakellippenbesetzten<br />
Mauls ein. Dabei schluckten sie Unmengen von<br />
Sand - und zogen alles an Wasser und fleischlicher Nahrung<br />
aus dem Sand heraus, was sie zum Überleben brauchten.<br />
Sandwürmer verwerteten alles, und zwar vollständig. Auch<br />
Mensch und Tier verschmähten sie nicht - ganz im Gegenteil,<br />
so etwas deckte ihren Nährstoffbedarf für eine lange Zeit. Sie<br />
wuchsen sehr langsam und wurden uralt dabei. Und<br />
verdammt groß. Anhand der Größe ließ sich ihr Alter<br />
abschätzen. Dieses Exemplar hier vor Findus erreichte die<br />
Größe einer typischen Kaufleute-Bark. Es musste Hunderte<br />
von Sonnenumläufen alt sein. Schon aufgrund seiner schieren<br />
Masse war es praktisch unangreifbar.<br />
Ein Sandwurm hier mitten im Geröllfeld - weit weg von<br />
jeder Sandfläche. Wie kam der hierher? Das augenlose Tier<br />
witterte Findus auf eine nicht erkennbare Weise und rollte<br />
sich ähnlich einer angriffsbereiten Schlange zusammen. Es<br />
hob den Kopf und öffnete das Maul. Findus blickte in einen<br />
fremdartigen Rachen und zog vorsichtshalber Gnarp. Er war<br />
auf einen Angriff vorbereitet. Und das Tier - es nieste! Staub<br />
und Geröllbrocken - letztere gefährliche Geschosse von der<br />
Größe eines Männerkopfes - flogen Findus um die Ohren.<br />
Gedankenschnell parierte er mit Gnarp und es gelang ihm, die<br />
Steine abzuwehren. Dann eine kurze Stille und der Boden<br />
vibrierte. Ein tiefer, dunkler, wolkig-voluminöser, nasskupferfarbener<br />
Ton - und ganz entfernt an so etwas<br />
Ähnliches wie ein menschliches Lachen erinnernd. Der<br />
Sandwurm senkte den Kopf, schien auf etwas zu warten.<br />
Hinter Findus ein Geräusch. Alarmiert blickte er kurz über<br />
die Schulter nach hinten - und erstarrte.<br />
157
Findus´ Mund öffnete sich, doch kein Geräusch entrang<br />
sich ihm. Findus stand nur da und staunte. Die Steine. Die<br />
abgewehrten Steine! Sie bildeten eine Form, eine Figur<br />
- nämlich : Far-Ur-Rit! Das Untier kannte Findus´<br />
wirklichen Namen! Dann konnte es kein normales Tier sein!<br />
War das etwa der schrullige Dschinn, den Malweýn erwähnt<br />
hatte? „Wer oder was bist du wirklich?“ rief er dem Tier<br />
entgegen. Wieder dieses tief-vibrierende Lachen. Dann löste<br />
sich etwas in der Luft Flirrendes aus dem Körper des Tieres.<br />
Der Sandwurm blieb liegen, schlief ein und das Flirren<br />
schwebte auf Findus zu.<br />
„Ich kann mir nur eine Person vorstellen, die mir einen<br />
weißen Raben schickt“ standen plötzlich fremde Worte in<br />
Findus´ Geist und spöttisch: „Gibt es den alten Möchtegern-<br />
Zauberer immer noch?“ „Meinst du Malweýn?“ „Keinen<br />
anderen.“ „Ja, es gibt ihn noch. Oder besser, es gibt ihn<br />
wieder. Er trug mir auf, mich nach einem Dschinn<br />
umzusehen, der mir helfen kann. Der soll hier in dieser<br />
Gegend leben.“ „Ich weiß hier nur von einem Dschinn und<br />
das bin ich selbst. Wobei helfen?“ „Bei der Suche nach einem<br />
Stein.“ „Was für ein Stein? Erz? Edelsteine? Seltene Kristalle?<br />
Reichtum? Das ist es doch, was euch Sterbliche einzig<br />
interessiert!“ „Nein, mir ist eine Aufgabe auferlegt worden.“<br />
„Was für eine Aufgabe?“ „Bring´ mir den Stein des Lebens!“<br />
„Wer hat dir diese Aufgabe gestellt?“ Die Stimme des<br />
Dschinns in Findus´ Kopf klang plötzlich kalt und<br />
schneidend, ernst und schmerzend. Der spöttische Unterton<br />
darin war restlos verschwunden.<br />
Findus spürte instinktiv, dass er hier an uralte Geheimnisse<br />
rührte. Verborgenes Wissen, welches nur einigen ganz<br />
Wenigen zugänglich war. Er entschied sich daher wieder für<br />
schonungslose Offenheit, wie seinerzeit auch Malweýn<br />
gegenüber: „Diese Aufgabe hat mir die Bônday gestellt, die in<br />
<strong>Norgast</strong> auf der ‚namenlosen Insel‘ inmitten der Tiedsiepe<br />
lebt - falls dir das etwas sagt.“ „Oh ja, es sagt mir etwas. Sogar<br />
sehr viel. Es bedeutet nämlich, dass eine Bônday sich<br />
einmischt. Das hat es noch nie gegeben. Nun, mir soll es<br />
Recht sein. Ich muss es ja nicht ausbaden. Du wirst den ‚Stein<br />
des Lebens‘ hier allerdings nicht finden. Dennoch werde ich<br />
versuchen, dir zu helfen. Erschrick´ nicht!“ Das Flirren kam<br />
158
auf Findus zu und durchdrang ihn. Schlagartig wurde ihm<br />
unendlich heiß. Jetzt fühlte er am eigenen Körper, was ‚aus<br />
rauchlosem Feuer gemacht‘ bedeutete. Ein heißer Schmerz<br />
zwang ihn, die Augen zu schließen. Als er sie wieder öffnete,<br />
stand er in einer Höhle. Neben ihm flirrte es in der Luft.<br />
„Was siehst du?“ klangen fragende Worte in Findus´ Geist<br />
auf. Er blickte sich aufmerksam um. Kristalle - da waren<br />
Kristalle an den Wänden. Sechseckige pyramidale Kristalle,<br />
prismatische Stifte und seitlich aufgewachsene Doppelender,<br />
teilweise unterarmlang. Er fühlte sich von dieser natürlich<br />
entstandenen, zeitlosen Vollkommenheit seltsam berührt. Der<br />
flirrende Dschinn neben ihm leuchtete in der Farbe des<br />
Tageslichts und die vom Geist ausgehenden Lichtstrahlen<br />
wurden von den Kristallen vielfach und in allen möglichen<br />
Farben gebrochen. Wasserklar vom Bergkristall, violett vom<br />
Amethyst, goldfarben vom Rauchquarz, rötlich vom<br />
Rosenquarz, gelb vom Citrin, blau vom Saphirquarz.<br />
Teilweise bildeten sich sternförmige und sich in einem<br />
einzigen Punkt schneidende Lichtstreifen oder je nach<br />
Blickwinkel unterschiedliche, buntfleckige Farbenspiele. Das<br />
hier war eine natürliche Schatzkammer, wie sie bisher nie<br />
eines Menschen Auge erblickt hatte. Viel zu vollkommen für<br />
den Menschen...<br />
Findus schuckte. Er versuchte sich zu artikulieren, doch<br />
fehlten ihm angesichts dieses Naturwunders die richtigen<br />
Worte. Es ließ sich einfach nicht mit Silben beschreiben, was<br />
er sah, was er fühlte. „Du sagst ja gar nichts“ ertönte die<br />
Stimme des Dschinns. „Dir hat´s wohl die Sprache<br />
verschlagen? Das kann ich verstehen. Und dennoch ist das,<br />
was du hier siehst, nur ein schwacher, unvollständiger<br />
Abklatsch dessen, was du eigentlich suchst. Der ‚Stein des<br />
Lebens‘ ist ein natürlicher Stein. So wie diese Kristalle hier.<br />
Aber es ist ein Stein im Stein, ein Kristall im Kristall und<br />
darin wieder ein Kristall und so weiter bis hinein in die<br />
Unendlichkeit.“<br />
Die Stimme schwieg, ließ Findus die überwältigenden<br />
Eindrücke in sich aufnehmen und fuhr kurze Zeit später fort:<br />
„Einen solchen Stein gibt es hier nicht. Wenn du ihn siehst,<br />
dann wirst du begreifen, was es mit <strong>Norgast</strong>, den<br />
Anderswelten und dem Universum auf sich hat. Wie alles<br />
159
zusammenhängt und welche Rolle der Magie wirklich<br />
zukommt. Doch dazu musst du den Stein erst sehen.“ „Wo<br />
finde ich ihn?“ fragte Findus tonlos. „Weit weg von hier. Im<br />
Norden. Hinter dem Maar. Dort liegt eine Insel namens<br />
Fucunor. Auf der Insel gibt es ein paar Hütten, die den<br />
Namen ‚Nifelheim‘ tragen. Dort lebt eine Bônday, die eine<br />
Harpyie ist. Sie mag keine Fremden.“ Das Flirren umhüllte<br />
Findus erneut und nun stand er nicht weit entfernt von<br />
seinem letzten Nachtlager. „Mehr Hilfe kann ich dir nicht<br />
geben. Viel Glück!“ Das Flirren und die Stimme in seinem<br />
Kopf verschwanden. Findus war allein. Allein und sehr<br />
nachdenklich...<br />
Wieder in Rabengestalt verwandelt flog Findus los, einen<br />
Kurs immer etwas rechts von der Sonne haltend, in Richtung<br />
Nordwesten. Er flog sehr lange, bis das Gleißen der Wüste<br />
unter ihm verschwand. Erst mit den letzten Strahlen der<br />
untergehenden Sonne erreichte er bewaldetes Gebiet und hielt<br />
nach etwas ganz Bestimmtem Ausschau. Und nach einigem<br />
Suchen fand er es dann auch, nur aus großer Höhe als das zu<br />
erkennen, was es war: Ein Netz von Linien mit schwächerem,<br />
abweichendem oder gar fehlendem Bewuchs. Ähnlich dem<br />
Netz einer Spinne. Das Netz der <strong>Norgast</strong> durchziehenden<br />
Drachenlinien! Er landete im Wald nahe einer solchen<br />
Sakrallinie und nahm Menschengestalt an. Wasser gab es hier<br />
ganz im Gegensatz zur Wüste zur Genüge, doch der Hunger<br />
quälte ihn.<br />
Findus suchte einen Eingang zur Ley, welche hier unten<br />
am Erdboden absolut nicht mehr auszumachen war. Dabei<br />
fiel sein Blick auf ein paar recht große Pilze und sein Hunger<br />
meldete sich wieder unüberhörbar. Er kannte diese Art von<br />
Pilzen zwar nicht, doch es gab Schnecken, die sich an den<br />
Pilzen labten. Der alte Waldläufer-Grundsatz fiel ihm ein:<br />
„Pilze, die von Schnecken befallen werden, sind essbar.“ Die<br />
anderen mochten vielleicht nicht unbedingt giftig sein, doch<br />
sollte man da sehr viel Vorsicht walten lassen. Immerhin<br />
- diese Pilze konnten seinen größten Hunger stillen. Er<br />
pflückte einige davon, entfernte die Schnecken und benutzte<br />
160
Gnarp, um das Pflanzenmaterial zu putzen. Über diese<br />
Tätigkeit brach die Dunkelheit herein.<br />
Der Reisende aß ungeachtet des leicht bitteren<br />
Geschmacks die Pilze roh, so groß war sein Hunger. Doch<br />
Schnecken oder nicht - als so ‚völlig wirkungslos‘ erwiesen<br />
sich die Pilze dann aber doch nicht. Nicht lange nach der<br />
Mahlzeit fühlte Findus eine seltsame, klarsichtige und<br />
allumfassende Leichtigkeit der Gedanken. Die Geräusche<br />
wurden deutlicher und sein Gespür für alles Magische nahm<br />
deutlich zu. Trotz der Dunkelheit fand er daher auch rasch<br />
einen ansonsten unsichtbaren Eingang zur Ley.<br />
Er trat hindurch und das wohlbekannte orangefarbene<br />
Licht umfing ihn. Findus folgte der Drachenlinie durch das<br />
bewegungslos erscheinende <strong>Norgast</strong>. Vorbei an stillstehenden<br />
Quellfeen, vorbei an erstarrten Waldelben. In einem breiten<br />
Fluss, welchen er trockenen Fußes durchqueren konnte, sah<br />
er Reusen mit Fischen und Flusskrebsen darin. „Natürlich<br />
- der Wilderfrio!“ durchfuhr es ihn. Und warum sollte er nicht<br />
bei seinen alten Bekannten übernachten? Nach der<br />
Durchquerung des breiten Stromes suchte der Wanderer<br />
daher einen Ausgang aus der Ley-Linie. Er fand auch bald<br />
einen und trat hindurch.<br />
Stille umfing Findus. Er stand in einem nassen Wald, an<br />
dessen Gehölz die fortgeschrittene Jahreszeit bereits<br />
unübersehbare Spuren hinterlassen hatte. Hier oben, weiter<br />
im Norden, war die Sonne zwar auch schon untergegangen,<br />
aber die Dämmerung lag noch über dem Wald. Dichte Nebel,<br />
Portale zur magischen Welt der Drachenlinien, wogten hin<br />
und her, den Uneingeweihten den Blick versperrend und den<br />
Eingeweihten dagegen den Weg weisend. Der Nebel dämpfte<br />
jedes Geräusch, erzeugte die Illusion von der Geborgenheit in<br />
einer anderen Welt. Findus erkannte diesen Ort sofort wieder.<br />
Hier geschah es, dass er seinerzeit dem Fuchs begegnet war.<br />
Nicht weit von der Hütte des Fischers. Er machte sich auf<br />
den Weg dorthin.<br />
Als der Reisende die kleine Hütte erreichte, war es bereits<br />
tiefdunkle Nacht. Man konnte die Hand vor Augen nicht<br />
mehr sehen. Von drinnen waren vereinzelte, gedämpfte<br />
Wortfetzen zu hören. Lautstark klopfte Findus an die Tür.<br />
Drinnen plötzliche Stille. Dann eine tiefe, brummige und nur<br />
161
allzu gut bekannte Stimme: „Wer ist dort?“ „Ein müder<br />
Wanderer.“ „Und was willst du?“ „Ich suche ein Lager für die<br />
Nacht.“ „Wer bist du, dass ich Dir ein Nachtlager gewähren<br />
sollte?“ „Jemand, den du aus dem Wilderfrio gefischt hast.<br />
Jemand, den du, Bewok, auf Snofork´s Geheiß hin zur<br />
‚namenlosen Insel‘ gebracht hast.“ Nur ein kurzer,<br />
überraschter Moment der Stille. Dann erklang ein freudiglautstarkes,<br />
zweistimmiges Gebrüll „Findus!!!“ und die Tür<br />
wurde ungestüm aufgerissen.<br />
Die beiden Alten begrüßten ihn wie einen verlorenen Sohn<br />
und bestürmten ihn mit Fragen. „Wie ist es dir ergangen?“<br />
„Wo kommst du her?“ „Wohin willst du, wie lange bist du<br />
schon unterwegs?“ „Hast du Hunger?“ „Du musst uns alles<br />
erzählen!“ „Was führt dich ausgerechnet in diese Gegend?“<br />
Sie umarmten und drückten ihn dermaßen, dass Findus kaum<br />
noch Luft bekam. „Langsam“ wehrte er lächelnd ab und das<br />
Fischerpaar trat zurück. „Lass´ dich ansehen“ meinte Snofork<br />
und stellte fest „Größer bist du geworden. Und muskulöser.<br />
Reifer siehst du aus - und irgendwie auch mächtiger. Und du<br />
trägst ein wertvolles Schwert.“ „Sowas zieht Ärger an. Kannst<br />
du wenigstens damit umgehen?“ fragte Bewok weniger<br />
begeistert und fügte hinzu „Na, komm´ erstmal rein!“<br />
Findus wurde zum Tisch genötigt und Snofork wuselte in<br />
Windeseile in der Hütte hin und her, um für ihn ein<br />
Abendessen zusammen zu stellen. „Das Schwert“ sagte<br />
Findus zu Bewok „erkennst du es denn nicht wieder?“ Er zog<br />
Gnarp und legte es auf den Tisch. Wie ein silberner Edelstein<br />
funkelte die Klinge im Kerzenschein. Snofork unterbrach ihre<br />
Tätigkeit und trat an den Tisch. „Es war immer schon ein<br />
Zauberschwert. Jetzt ist es wieder eins“ flüsterte sie. Nur<br />
Bewok guckte verständnislos. „Alter Klotzkopf, dein<br />
Gedächtnis war auch schon mal besser!“ fuhr dessen Frau ihn<br />
an. „Das alte Schwert...-werkzeug?“ fragte Bewok erstaunt.<br />
„Genau das“ antwortete Findus. „Woher hattest du es<br />
eigentlich?“ „Es hing vor Urzeiten mal in einem meiner<br />
Netze, draußen im Fluss.“<br />
„Die Klinge ist neu geschmiedet worden“ stellte Snofork<br />
fachmännisch fest. „Von Könnern. Wer har das gemacht?“<br />
„Die Gleichen, die mich im Schwertkampf ausgebildet haben.<br />
Die Zwerge“ entgegnete Findus. „Zwerge?“ dröhnte Bewok.<br />
162
„Wo soll es denn hier in <strong>Norgast</strong> Zwerge geben?“ „Es gibt<br />
sie!“ „Na ja“ - Bewok blickte Findus schräg an – „wirst wohl<br />
Recht haben. Du hattest ja wohl schon immer seltsame<br />
Freunde. Doch jetzt erzähle alles mal der Reihe nach!“<br />
Snofork stellte Essen und Getränke auf den Tisch und Findus<br />
berichtete. Alles. An der Stelle, als seine Erzählung auf Baldur<br />
und dessen Leute sowie auf die Auseinandersetzung im<br />
Myrkviör kam, blickten sich Bewok und Snofork vielsagend<br />
an.<br />
„Dein Traum war also richtig“ sagte Bewok zu seiner<br />
Frau. „Natürlich - wie konntest du nur daran zweifeln?“<br />
Findus sah die beiden fragend an und Bewok erklärte ihm:<br />
„Snofork hatte einen Traum, in dem sie die Zukunft gesehen<br />
hat. Sechs Reiter, die uns überfielen und töteten. Sie bat mich,<br />
alles Notwendige zusammen zu packen und von hier fort zu<br />
gehen. Ich habe sie für übergeschnappt gehalten und ihren<br />
Traum für eine Narretei.“ „Für die Narretei eines alten<br />
Weibes, gib´s zu“ keifte Snofork aufgebracht und fuhr fort<br />
„Siehst du jetzt endlich ein, dass ich Recht hatte? Wenn der<br />
Junge hier nicht gewesen wäre, dann wären wir jetzt tot!“<br />
Betretenes Schweigen folgte. Um die peinliche Situation zu<br />
beenden räusperte Findus sich und setzte seinen Bericht fort.<br />
Er erzählte von den Toten, der Ley, Malweýn, seinen<br />
Erlebnissen in der Wüste und dass er im Grunde nur auf der<br />
Durchreise mit dem Zielpunkt Fucunor war.<br />
„Fucunor...“ meinte Bewok versonnen. „Junge, da hast du<br />
dir aber was verdammt Großes vorgenommen. Soweit ich<br />
weiß, fahren nur ein- oder zweimal im Jahr Schiffe dorthin.<br />
Wenn überhaupt. Und um diese Jahreszeit schon gar nicht.<br />
Die Schiffsroute beginnt in Torboog mit einem<br />
Zwischenstopp auf der letzten unserer vorgelagerten Inseln.<br />
Die Insel ist unbewohnt, aber sie hat Süßwasser. Dort ergänzt<br />
man die Vorräte vor der eigentlichen großen Reise. Aber wie<br />
gesagt: Um diese Jahreszeit bestimmt nicht mehr. Keine<br />
Chance!“ Er schwieg.<br />
Snofork fügte noch hinzu: „Und eine Drachenlinie kannst<br />
du auch nicht benutzen. Keine passierbare Ley führt direkt zu<br />
einer Bônday.“ „Und fliegen?“ fragte Findus. „Schlag´ Dir das<br />
mal gleich wieder aus dem Kopf“ antwortete Bewok. „Der<br />
Weg über das Meer ist weit und gefährlich - selbst für einen<br />
163
weißen Raben. Die Stürme dort oben können Dich schon auf<br />
kürzesten Strecken töten. Aber lass´ uns mal überlegen,<br />
vielleicht gibt´s noch einen anderen Weg...“ Der alte Fischer<br />
dachte angestrengt nach. Snofork sah ihm dabei in die Augen.<br />
Plötzlich begann sie zu lächeln. Ein paar Gedanken ihres<br />
Mannes waren zu ihr herübergeweht. „Das ist es!“ strahlte sie.<br />
„Was?“ wollte Findus wissen. Bewok: „Du machst das so.<br />
Erstmal musst du Torboog erreichen. Da gibt´s Kaufleute<br />
und da gibt´s Piraten. Beide sind sich nicht grün. Aber es gibt<br />
garantiert auch heruntergekommene Kaufleute, die hin und<br />
wieder mit den Piraten Geschäfte machen - denn sonst<br />
könnten die gar nicht überleben. Ich weiß von den fahrenden<br />
Händlern, dass solche Geschäfte immer weit im Norden auf<br />
offener See abgewickelt werden. Damit keines Menschen<br />
Auge sie bemerkt. Such´ Dir also ein möglichst vergammelt<br />
aussehendes Kaufleuteschiff, das weit in den Norden reist.<br />
Von dessen Ankerplatz aus fliegst du dann als Rabe nach<br />
Fucunor. Auch das wird wohl noch hart genug werden. Aber<br />
es ist machbar.“<br />
Snofork ergänzte: „Du heuerst als einer von der<br />
Mannschaft an. Als Passagier kannst du nicht reisen, denn das<br />
ist auffälliger als ein Leuchtfeuer. Gib´ einen falschen Namen<br />
an. Alle auf solchen Schiffen haben Dreck am Stecken und<br />
laufen vor irgendwas oder irgendwem weg. Wenn einer von<br />
denen auf See verschwindet, dann kräht kein Hahn danach.<br />
So eine Person musst du werden. Ich weiß auch schon eine<br />
schöne Geschichte für Dich.“ Sie strahlte. „Und welche?“<br />
fragte Findus. „Na, ist doch klar. Du siehst gut aus; bist im<br />
besten Mannesalter. Du bist auf der Flucht. Vor dem Mann,<br />
mit dessen Frau du´s getrieben hast.“ „Weib!“ schimpfte<br />
Bewok aufgebracht. „Nein, lass´“ sagte Findus „die<br />
Geschichte hat was. Die ist gut. Das ist glaubhaft.“ „Deine<br />
Entscheidung“ knurrte der Fischer. Er gähnte. „Es ist<br />
verdammt spät geworden. Du weißt ja, wo dein Bett steht.<br />
Und Morgen ist auch noch ein Tag.“ So begaben die Drei sich<br />
zur Nachtruhe.<br />
Im Verlauf des nächsten Tages meinte Bewok „So wie du<br />
aussiehst, kannst du nicht bleiben. Zu auffällig für Torboog.<br />
Ich suche dir mal andere Kleidung raus.“ Er verschwand<br />
hinter dem die Hütte teilenden Vorhang und kehrte kurze<br />
164
Zeit später mit einem Bündel auf dem Arm zurück. „Hier, das<br />
dürfte dir passen. Waldläuferkleidung. Alt und abgetragen<br />
zwar, aber sauber. Und vor allem: Frei von Flöhen, Wanzen<br />
und anderem Viehzeug.“ Dankbar nahm Findus das Bündel<br />
entgegen und zog sich um. Eine dunkle Hose mit etlichen<br />
Flicken darauf. Das Kleidungsstück war sicherlich<br />
irgendwann einmal von heller Farbe gewesen, doch das lag<br />
wohl schon lange zurück. Ein warmes, dunkelgrünes Hemd<br />
und darüber ein wärmender, beinahe schwarzer Umhang mit<br />
wallender Kapuze. Festeres Schuhwerk, welches ihm sogar<br />
passte und wollende Handschuhe - Winterbekleidung.<br />
„Gut siehst du aus“ kommentierte Snofork die Wandlung<br />
und fügte hinzu „wie ein richtiger Waldläufer.“ „In Torboog<br />
wirst du Geld brauchen“ ergänzte Bewok „aber das habe ich<br />
leider nicht. Doch manchmal gibt der Wilderfrio noch was<br />
anderes frei als Zauberschwerter.“ Er warf einen scheuen<br />
Blick auf Gnarp, welches wieder an Findus´ Hüfte baumelte.<br />
Mit „Warte einen Moment“ verschwand der Fischer wieder<br />
hinter dem Vorhang. Findus hörte ihn in irgend etwas<br />
kramen. Dann kam Bewok zurück. In seiner Hand hielt er ein<br />
wertvolles Armband. Gold, mit edlen Steinen besetzt. „Das<br />
hier dürfte mindestens für etwas Essen und ein paar<br />
Übernachtungen im Gasthaus reichen. Feilsche - sonst nimmt<br />
dich keiner ernst. Das Teil ist sehr wertvoll.“ Er übergab<br />
Findus das Armband und drückte ihn dann an sich. Snofork<br />
gab Findus einen Kuss auf die Wange. „Pass´ gut auf dich auf,<br />
Junge. Spiel´ nicht mit dem Feuer“. Es war die Zeit des<br />
Abschieds...<br />
Am späten Nachmittag machte Findus sich auf den Weg.<br />
Zurück in den Wald, zurück zur Drachenlinie. Er fand sie<br />
rasch und trat in die Nebenwelt der Magie ein. Folgte der<br />
Linie durch Wasser - es war Flut in der Tiedsiepe -, durch<br />
Wald und durch die Berge des Helgebarg. Hinter einem Fluss<br />
fand sich eine grasbewachsene Ebene mit einem Ausgang.<br />
Sollte er die Ley hier schon verlassen? Sein Blick folgte dem<br />
magischen Weg. Ja, es schien besser zu sein. Denn irgendwo<br />
in der Ferne zerfaserte die Linie im Wasser. Das Meer war<br />
165
nicht mehr weit. Der Wanderer betrat <strong>Norgast</strong> nicht weit von<br />
Torboog entfernt in einem kleinen Wäldchen, welches in<br />
dieser gräsernen Ebene wie deplatziert wirkte. Doch es bot<br />
einen guten Sichtschutz.<br />
Ein kleines Problem tat sich allerdings auf. Rings um den<br />
Ausgang herum wuchs das Unkraut zum Teil mannshoch.<br />
Vorsichtig bahnte sich Findus den Weg hindurch.<br />
Dreissigeckige und dadurch nahezu rund wirkende<br />
Spinnennetze glänzten silberfarben im Licht der späten<br />
Sonne, von angefrorenen Tautropfen in funkelnde Juwelen<br />
verwandelt. Sie blieben an seiner Kleidung hängen. Er war<br />
empfindlich kalt. Sein Atem kondensierte zu kleinen,<br />
gefrierenden Nebelwölkchen. „Eben hoher Norden“ dachte<br />
der Reisende. Dornenbewehrte Ranken schienen nach ihm zu<br />
greifen. Vorsichtig setzte Findus Fuß vor Fuß in das kniehohe<br />
und den Boden verdeckende Gras, denn versteckte Löcher<br />
und Steine konnten einen Wanderer schnell zu Fall bringen.<br />
Als er das Gehölz hinter sich gelassen hatte, war nicht mehr<br />
viel von der Sauberkeit seiner Kleidung übrig geblieben. Jetzt<br />
sah er wirklich wie ein waschechter Waldläufer aus!<br />
Torboog lag nun schon so nahe, dass er die Stadt mit<br />
bloßem Auge sehen konnte. Er marschierte darauf zu und<br />
bemerkte das bereits verschlossene, große Stadttor. Neben<br />
dem Tor befand sich eine kleine Tür. Lautstark klopfte<br />
Findus dort an. Eine Sichtluke wurde zur Seite geschoben.<br />
„Wer begehrt Einlass?“ fragte ein mürrisch wirkender<br />
Torwächter. „Ein Waldläufer, der ein Nachtlager, ein warmes<br />
Essen und etwas Unterhaltung sucht.“ „Waldläufer verirren<br />
sich nur selten in die Stadt.“ „Mag sein, aber ich brauche eine<br />
Schiffspassage.“ Der Torwächter sah ihn abschätzend an.<br />
Waldläufer gehörten nicht unbedingt zu den Personen, die<br />
der Stadt Wohlstand und Reichtum brachten. Sie besaßen<br />
nichts. Normalerweise waren solche Leute nicht gern gesehen.<br />
In sich gekehrt und nachdenklich redeten sie nicht viel,<br />
wirkten unheimlich. Andererseits - auf einen Waldläufer war<br />
immer Verlass. „Um diese Jahreszeit? So komm´ denn rein“<br />
entschied der Wächter und öffnete das kleine Tor.<br />
Findus trat ein; blieb vor dem Wächter stehen. Der<br />
betrachtete den Reisenden interessiert. „Suchst du zusätzlich<br />
noch eine Unterkunft?“ „Das auch.“ „Gut. Gerade aus hoch<br />
166
und dann die dritte Gasse links. Dort hinein und auf der<br />
rechten Seite findest du die Herberge ‚Zum Wohlhabenden<br />
Schiffsmann‘. Da kannst du beides finden: Unterkunft und<br />
vielleicht auch eine Passage.“ „Sei bedankt“ antwortete<br />
Findus und marschierte los, in die fremde, dunkle Stadt<br />
hinein. Enge Gassen. Stinkende Gassen. Unrat auf der<br />
Strasse. Und quiekende Ratten, die im Unrat nisteten. Nicht<br />
gerade sonderlich einladend.<br />
Der ‚Wohlhabende Schiffsmann‘ sah noch wesentlich<br />
weniger einladend aus. Das Schild hing schief. Die Fenster,<br />
durch welche trübes Kerzenlicht sich kraftlos seinen Weg<br />
nach draußen bahnte, waren winzig und vom Staub sowie von<br />
Spinnweben mit den darin hängenden toten Fliegen völlig<br />
verdreckt. „In so einem Gasthaus kann es nur einen<br />
Wohlhabenden geben, nämlich den Wirt“ dachte Findus und<br />
trat ein. Der Raum war zwar als Saal gebaut worden, aber<br />
dennoch klein. Ein säuerlicher Geruch von menschlichen<br />
Ausdünstungen hing im Zimmer und schien selbst von den<br />
Holzwänden ausgeatmet zu werden. Roh<br />
zusammengezimmerte Holzbänke und -tische bildeten neben<br />
einer Theke das einzige Mobiliar. Über einer Feuerstelle<br />
brodelte in einem Kessel eine dünne Suppe mit<br />
undefinierbaren Fleischstücken darin. Ob Hund, Schwein<br />
oder Ratte - Findus wollte es lieber gar nicht erst wissen.<br />
Im Raum befanden sich an die dreissig Personen, meist<br />
Seeleute und teils schon sehr stark angetrunken - was<br />
angesichts des säuerlich-dünnen Weines an sich schon eine<br />
Leistung darstellte. Streit, Ärger und Aggression lagen<br />
förmlich in der Luft. Findus steuerte auf einen überaus fetten<br />
und hinter der Theke stehenden Mann zu. „Seid ihr der Wirt<br />
hier?“ „Wer will das wissen?“ lautete die unfreundliche<br />
Antwort. „Ein Wanderer, der eine Unterkunft, ein Essen und<br />
eine Schiffspassage sucht.“ „Ihr?“ „Ja, ich.“ „Ihr seht aus wie<br />
ein Waldläufer. Womit gedenkt ihr denn zu bezahlen?“<br />
„Damit“ antwortete Findus und zog den von Bewok<br />
stammenden Armreif aus der Tasche. Die Augen des Wirts<br />
begannen vor Gier zu glänzen. „Ein Essen, eine<br />
Übernachtung“ sagte der. „Vergesst es“ meinte Findus und<br />
steckte den Reif wieder weg. „Mit dem Schmuckstück könnte<br />
ich eure ganze Herberge kaufen!“<br />
167
Im Gesicht des Wirtes arbeitete es. Er wollte den Reif.<br />
Unbedingt. Sie feilschten. Schließlich einigten sie sich auf<br />
maximal einen vollen Mond an Unterkunft und Essen. „Wen<br />
kann ich fragen, wenn es um eine Schiffspassage geht?“ wollte<br />
Findus wissen. „Wohin wollt ihr?“ „Nach Norden, möglichst<br />
weit.“ „Aussichtslos. Das einzige Schiff, das um diese<br />
Jahreszeit noch das Nordmeer befährt, ist die ‚Königin von<br />
Fucunor‘. Und Schiff ist da wohl zuviel gesagt.“ „Warum?“<br />
„Weil der Kahn ein Seelenverkäufer ist. Der Kapitän<br />
- Einauge nennt man ihn - ist zwar ein Kaufmann, aber man<br />
munkelt von einer Piratenvergangenheit. Er soll auch heute<br />
noch mit den Piraten dunkle Geschäfte machen.“ „Bingo!“<br />
dachte Findus. „Wo kann ich ihn erreichen?“ „Gar nicht. Alle<br />
Geschäfte erledigt sein Zahlmeister. Seht Ihr den Kerl mit<br />
dem dunkelroten Umhang da hinten am Tisch? Den Dicken?<br />
Das ist er.“<br />
In diesem Moment rempelte ein stark Betrunkener Findus<br />
heftig an und unterbrach das Gespräch. Der betrunkene<br />
Seemann war auf Streit aus und wusste nicht mehr, was er tat.<br />
„Wassollndas?“ lallte er lautstark und stierte Findus aus<br />
glasigen Augen an. „Willstestreit? Kannstehabn!“ Er zog sein<br />
Schwert und schlug zu. Findus war schneller. Gnarp stand in<br />
der Luft und parierte die Klinge. Das Schwert des Angreifers<br />
zerbrach. Fassungslos glotzte der nur auf das Heft in seiner<br />
Hand und stammelte „Das... das...“ Dann wandte er sich an<br />
den Wirt und meinte ernüchtert „Gib´ mir noch mehr Wein!“<br />
Der Zwischenfall hatte alle Aufmerksamkeit auf den<br />
vermeintlichen Waldläufer und auf den Betrunkenen gezogen.<br />
Für einen Moment war es im Saal totenstill geworden.<br />
Besonders der Dicke mit dem roten Umhang schaute sehr<br />
aufmerksam herüber. „Jetzt oder nie“ dachte Findus und ging<br />
auf ihn zu. „Der Wirt meinte, ihr als Zahlmeister der ‚Königin<br />
von Fucunor‘ könntet mir weiterhelfen. Ich suche eine<br />
Passage nach Norden.“ „Jemanden, der sein Schwert zu<br />
handhaben weiß, können wir immer gebrauchen. Wir laufen<br />
aber schon morgen bei Flut aus, also kurz nach der<br />
Mittagszeit. Kommt früh morgens zum Schiff. Dann sehen<br />
wir weiter.“ Findus nickte und verabschiedete sich. Er suchte<br />
sich einen Platz in der Gaststube und eine Magd brachte ihm<br />
etwas sauren Wein und von dem Essen aus dem Kessel. Es<br />
168
schmeckte auch so, wie es aussah. Die Unterkunft selbst<br />
konnte Findus danach erst Recht nicht mehr erschüttern...<br />
Schon der erste Hahnenschrei brachte Findus wieder auf die<br />
Beine. Nur fort von hier, fort aus dieser schmutzstarrenden<br />
Kaschemme! Er fragte sich bis zum Hafen durch. Es war kalt.<br />
Viele Schiffe lagen hier nicht mehr und eine dünne Eisschicht<br />
überzog das Wasser. Ein paar Fischerboote. Ein paar zum<br />
Winter hin eingemottete Großsegler. Und - ein gehöriges<br />
Stück abseits, gerade so, als wolle niemand damit etwas zu tun<br />
haben - eine Brigg: Die ‚Königin von Fucunor‘. Das Schiff<br />
war dreckig; die Planken sahen stellenweise sogar morsch und<br />
angefault aus. Die schlaff von den beiden Masten<br />
herunterhängenden Segel schienen nur aus Flicken zu<br />
bestehen - Flicken, die ein Einrollen des Tuchs unmöglich<br />
machten. Das Schiff wies zwei Aufbauten auf, an Backbord<br />
für die Offiziere sowie für die Schiffsleitung und mittschiffs<br />
für die Mannschaft.<br />
Trotz der noch frühen Stunde herrschte schon ein reges<br />
Treiben. Die Mannschaft war mit dem Stauen der Waren<br />
beschäftigt. Welcher Waren? Besser nicht danach fragen.<br />
Überhaupt, die Mannschaft: Was Findus davon zu Gesicht<br />
bekam, machte nicht gerade den besten Eindruck. Irgendwie<br />
passte die Meute zum Zustand des Schiffes. Menschen und<br />
Schiff ähnelten einander auf geradezu frappierende Weise.<br />
Kaufleute sollten das sein? Seltsame Kaufleute! Ein jeder von<br />
ihnen sah aus - und benahm sich auch so - als könne er es gar<br />
nicht abwarten, so schnell wie möglich von hier fort zu<br />
kommen. Gehetzte, misstrauische Blicke allenthalben. Und<br />
vermutlich hatte auch jeder von denen einen ganz bestimmten<br />
und guten Grund dafür. Leute, die nichts mehr zu verlieren<br />
hatten. Die keine Zukunft kannten. Auf seine Frage nach dem<br />
Zahlmeister wurde Findus zu dem hinteren Aufbau<br />
verwiesen. Er fand die Tür, die er suchte, klopfte und wurde<br />
aufgefordert, einzutreten.<br />
„Sieh´ an, der Waldläufer von gestern Abend.“ Der Dicke<br />
lächelte falsch. „Es war dir also ernst mit dem Anheuern?“<br />
„Ja, das war es“ entgegnete Findus wortkarg. „Warum willst<br />
169
du weg?“ Forschend sah der Zahlmeister ihn an. „Will ich<br />
das?“ fragte Findus zurück. „Hör´ zu, mein Junge, versuche<br />
nicht, mich zu verarschen. Jeder hier an Bord hat Dreck am<br />
Stecken, denn sonst wäre er nicht hier. Da machst du keine<br />
Ausnahme. Aber wir nehmen auch nicht jeden. Brandstifter,<br />
Diebe und Säufer oder sowas brauchen wir hier an Bord<br />
nicht. Also?“ Er fixierte Findus. „Nun ja - ich werde<br />
verfolgt.“ „Hast du jemanden umgebracht?“ „Nein...“ Findus<br />
entschloss sich, noch einen draufzusetzen „...eher im<br />
Gegenteil.“ Unverständnis im Gesicht seines Gegenübers.<br />
Dann langsames Verstehen und ein breites Grinsen. „Und<br />
jetzt ist sie mit dem Kind hinter dir her?“ „Sie nicht. Aber ihr<br />
Mann.“ Der Zahlmeister brach in ein brüllendes Gelächter<br />
aus. „Das ist gut! Ein Waldläufer, der...“ Vor Lachen blieb<br />
ihm die Luft weg.<br />
Dann aber beruhigte der Zahlmeister sich wieder. „Warst<br />
du schon einmal auf See oder auf einem Schiff? Hast du<br />
Erfahrung mit dem Meer?“ Findus schüttelte den Kopf. „Das<br />
macht gar nichts“ meinte der Zahlmeister und fuhr fort:<br />
„Entweder du bekommst diese Erfahrung oder du stirbst. So<br />
einfach ist das. Schon eine kleine Unachtsamkeit kann tödlich<br />
sein. Wenn du in das Wasser des Nordmeeres fällst, dann<br />
stirbst du augenblicklich durch den Kälteschock. Falls du es<br />
aber überleben und rausgefischt werden solltest, dann erfrierst<br />
du langsamer. Kein schöner Tod, glaub´ mir! Gut, du wirst<br />
Mitglied der Mannschaft. Mädchen für alles. Du bekommst<br />
freie Kost und Logis. Am Ende einer erfolgreichen Fahrt<br />
kommt noch ein Lohn hinzu, den der Kapitän allein festlegt.<br />
Der Kapitän ist für dich so etwas wie ein Gott. Du hast ihn<br />
nicht anzusprechen. Gleiches gilt für die Offiziere. Dein<br />
einziger Ansprechpartner bin ich selbst.“<br />
Er legte eine kurze Pause ein und sprach dann weiter: „Als<br />
Mannschaftsmitglied wirst du in die Gilde der Kaufleute<br />
aufgenommen. Bei uns gelten bestimmte Regeln. Ich nenne<br />
sie dir jetzt - merke sie dir gut! Zuerst: Die Öffentlichkeit<br />
erfährt niemals, wie wir unsere Geschäfte abwickeln und was<br />
für Geschäfte wir machen. Wer plaudert, der hat die<br />
Konsequenzen zu tragen. Unangenehme Konsequenzen. Sehr<br />
unangenehm! Weiter: Nur ein Kaufmann ist befähigt, die<br />
Befähigung anderer Kaufleute zu beurteilen, aber kein<br />
170
Kaufmann darf jemals gegen einen anderen Kaufmann<br />
aussagen. Der Einzelne ist nichts; die Gilde ist alles. Sollte<br />
jemand auf die Idee kommen, von einem Händler übervorteilt<br />
worden zu sein, dann muss der Betreffende selbst den Beweis<br />
dafür erbringen.“ Der Zahlmeister schwieg und sah Findus<br />
an.<br />
Findus ergänzte: „Und da er das nicht beurteilen kann und<br />
kein Händler gegen einen anderen aussagen darf, dürfte ihm<br />
das schwerfallen.“ Breit grinsend meinte der Zahlmeister:<br />
„Du kannst ja sogar denken. Ich sehe, wir haben uns<br />
verstanden. Hier ist dein Kontrakt, als Namen habe ich<br />
‚Waldläufer‘ eingesetzt. Setze drei Kreuze darunter und dann<br />
geh´ nach vorn. Frage nach dem Seehundsjäger; er wird dich<br />
einteilen.“<br />
Damit war Findus entlassen. Er suchte den Seehundsjäger,<br />
fand ihn und half auf dessen Anweisung hin beim Stauen der<br />
Ladung mit. Währenddessen lief die Flut auf. Nachdem die<br />
Sonne ihren Zenit überschritten hatte, herrschte ablaufendes<br />
Wasser. Findus arbeitete unter Aufbietung aller Kräfte am<br />
Ankerspill - der Anker wurde aufgeholt. Es folgte das<br />
Loswerfen der Leinen und die ‚Königin von Fucunor‘ ließ<br />
sich vom Ebbstrom langsam auf die offene See hinausziehen.<br />
Mit dem Land verschwanden auch die einzelnen Nebelfetzen,<br />
die noch über dem Wasser gelegen hatten. Wind kam auf,<br />
füllte knallend die ächzenden Segel. Es roch nach Salz - nach<br />
vielen winzigen, beigefarben-würzigen Polyedern, hellgrünlich<br />
und weißgepunktet krisselig mit einem spitzen und<br />
tiefoliven Geschmack: Soltwind! Die Brigg machte Fahrt und<br />
Findus sah besorgt hinauf zu den mächtigen, geblähten<br />
Leinenmassen. Doch die hielten der Brise stand. Das Schiff<br />
befand sich in einem besseren Zustand, als sein<br />
heruntergekommenes Aussehen vermuten ließ.<br />
Kalt war es. Besonders der schneidende Wind kühlte den<br />
Körper aus. Sechseckige Schneeflocken tanzen wild in der<br />
Luft. Horizontal peitschte der Nordwest Findus die<br />
Eiskristalle ins Gesicht, jede Berührung ein winzig kleiner<br />
Schmerz in Ultrablau, wie die Flamme eines Schmiedefeuers,<br />
aber kalt. Eiskalt und dennoch schön. Tausende und<br />
Abertausende von diesen Funken. Wolkig-rauchig-grau mit<br />
weißen Punkten durchsetzt wie eine zerfasernde, alte<br />
171
Teppichrolle - aber trotzdem unvergleichlich ästhetisch - lag<br />
über allem das rauschende Donnern der ewigen Brandung.<br />
Spitz zulaufende, weißlich-blaßgelbe Bögen am Himmel; die<br />
Schreie der allgegenwärtigen Möwen. Die Möwen flogen in<br />
die Bögen hinein; es sah aus, als würden die Bögen ein Teil<br />
von ihnen sein. Neben Findus´ Ohren baute der Wind<br />
fauchend wahre gräuliche, kugelige Gebirge auf. Trotz dicker<br />
Kleidung drang die quietsch-bonbonrote, schmutzigweißfarben-getüpfelte<br />
Kälte langsam durch. Von den<br />
mitgerissenen Wassertröpfchen wurde die Kleidung immer<br />
feuchter, nasser, kälter. Der Nordwest trieb ihm die Tränen in<br />
die Augen; die Gischt flog über ihn hinweg: Das Schiff war<br />
auf dem offenen Meer!<br />
Die ‚Königin von Fucunor‘ benötigte gegen die Strömung<br />
beinahe zwei volle Tage, um die vorgelagerte Insel zu<br />
erreichen. Die anrollenden Wellen - bleigrau mit weißen<br />
Schaumkämmen, dazwischen treibende Eisbrocken -<br />
verzögerten die Fahrt und warfen das Schiff immer wieder<br />
hin und her, so dass Ausweichkurse nötig wurden. Manch<br />
einer wurde seekrank; Findus´ jedoch blieb das zum Glück<br />
erspart. Es waren die zwei Tage, während denen er erkannte,<br />
dass Malweýn mit seinen Ausführungen zur Rolle der<br />
Kaufleute in <strong>Norgast</strong> richtig lag - und nicht nur das! Was<br />
Findus seitens der anderen Besatzungsmitglieder erfuhr, warf<br />
ein noch sehr viel schlechteres Licht auf die Gilde als Solche.<br />
Die Händler legten aufgrund ihrer Monopolstellung die<br />
Ankaufspreise bei den Produzenten fest; sie kauften billig und<br />
verkauften teuer - ohne je selbst etwas zu schaffen, ohne<br />
jemals selbst irgendwo Hand anzulegen. Sie machten auf<br />
Kosten der Erzeuger großen Profit und brachten dem Land<br />
Reichtum. Aber darüber hinaus: Sie wurden eben dadurch<br />
- durch die Ausnutzung der Bevölkerung - auch entsprechend<br />
einflussreich. Und sie waren skrupellos.<br />
Sie ‚kauften‘ politisch einflussreiche Personen, um Einfluss<br />
auf die Politik zu nehmen: Ratgeber, Lehrer, Erzieher,<br />
Bürgermeister, Richter. Letztere reagierten dann in ihrem<br />
Sinne und nicht mehr im Sinne der Bevölkerungsmehrheit.<br />
Die Kaufleute glaubten sich aufgrund ihres großen Einflusses<br />
als über den Gesetzen stehend. Sie scheuten auch nicht davor<br />
zurück, mit Verbrechern Geschäfte zu machen, wenn es<br />
172
ihrem Profit diente. Die Verbrecher ‚beschäftigten‘ sich als<br />
Letzte in der Kette mit den Leuten, die der Gilde<br />
unangenehm waren - immer dann, wenn ein gildeninterner<br />
Anschlag auf die körperliche Gesundheit der Betroffenen<br />
oder der Versuch, solche Leute zu disqualifizieren nichts<br />
gebracht hatte. Die Gildenführer berieten Baldur und Baldur<br />
änderte dafür <strong>Norgast</strong>s Gesetze - zu ihren Gunsten! Eine<br />
Hand wäscht die andere!<br />
Immer mehr und immer neue Gesetze. Den Menschen<br />
wurde dadurch das Denken abgewöhnt. Weitsicht,<br />
Folgenabschätzung - wozu denn? Alles war doch von oben<br />
her verordnet und reglementiert. Hatte man aber den<br />
Bewohnern des Reiches auf diese Weise erst einmal<br />
abgewöhnt, sich selbst Gedanken zu machen, dann war das<br />
Spiel leicht geworden. Man konnte den Leuten einreden, was<br />
sie denken sollten. Man konnte sie Glauben machen, diese<br />
oder jene Waren unbedingt kaufen zu müssen, um ihre<br />
persönliche Situation zu verbessern. Querdenker wurden<br />
seitens des Staates kriminalisiert; sie störten doch nur die<br />
Ordnung. Und wer profitierte davon? Natürlich die Gilde!<br />
Findus fragte sich, ob Baldur diese Machenschaften<br />
überhaupt durchschaute. Vielleicht war gar der auch nur ein<br />
Rädchen im Getriebe? Ein wichtiges Rädchen zwar, aber eben<br />
nur ein Rädchen. Und damit beliebig austauschbar. Die Fäden<br />
im Reich zog nicht der Herrscher. Die zogen andere - nämlich<br />
die Kaufherren.<br />
Dieses perfide und festgefügte, sich inzwischen selbst<br />
stabilisierende System erinnerte Findus an den Myrkviör-<br />
Dämon: Erst langsam eingesickert und dann wuchernd wie<br />
ein Krebsgeschwür. Nur war der Dämon leichter zu<br />
bekämpfen gewesen, denn es hatte sich um einen erfahrbaren<br />
Gegner gehandelt. Die Gilde hingegen bildete eine<br />
schwammige, niemals direkt greifbare, allgegenwärtige Masse.<br />
Malweýn hatte von einer Lebensader gesprochen und damit<br />
vollkommen Recht. Er meinte nur den Falschen. Doch wenn<br />
er diese Lebensader abschneiden könnte, dann träfe das<br />
automatisch auch die Richtigen!<br />
Auf der vorgelagerten Insel wurde Trinkwasser<br />
aufgenommen und die Mannschaft beseitigte die Schäden, die<br />
sich auf der Herfahrt gezeigt hatten, so gut es eben ging.<br />
173
Findus packte tatkräftig mit an. Dann begann die Fahrt auf<br />
das eigentliche Nordmeer hinaus. Das Maar veränderte sich.<br />
Anfangs manövrierten sie zwischen Untiefen, brausenden und<br />
donnernden Brechern hindurch. <strong>Heim</strong>tückisch glucksend und<br />
gurgelnd fluteten die Wasser rings um das Schiff herum,<br />
gerade so, als wollten sie den Kahn mit Mann und Maus<br />
hinab in die eisigen Tiefen ziehen. Später schlugen die<br />
brausenden Wogen weniger hoch; das Schiff lag ruhiger. Der<br />
Wind dreht auf südöstliche Richtung und die Brigg machte<br />
schnelle Fahrt gen Norden.<br />
Zwei Tage später veränderte sich auch das Meer selbst.<br />
„Eisberg voraus!“ erscholl eine Stimme vom Ausguck. Jetzt<br />
war es vorbei mit der schnellen Fahrt. Die ‚Königin von<br />
Fucunor‘ kreuzte nur noch langsam und vorsichtig durch die<br />
Gewässer, zwischen den eisigen Hindernissen hindurch.<br />
Abends - die Sonne ging hier oben im Norden nicht mehr<br />
völlig unter - erblickten sie im Schatten eines Eisberges ein<br />
weiteres Schiff: eine Piratenfregatte! Doch es kam nicht zur<br />
Konfrontation, ganz im Gegenteil! Vielmehr blitzen von<br />
dieser Fregatte aus Lichtsignale zur Brigg hinüber. Mit Hilfe<br />
von Silberspiegeln fingen die Offiziere der ‚Königin‘<br />
Sonnenstrahlen ein und schickten sie zurück<br />
- Lichtkommunikation über weite Entfernungen hinweg.<br />
Beide Schiffe kamen längsseits. Eine kurze Begrüßung der<br />
Schiffsführungen – man kannte einander! - und die auf der<br />
Brigg verstauten Waren wurden umgeladen.<br />
Es war reine Knochenarbeit. Findus rang nach Atem und<br />
blickte in Richtung Norden. Da war etwas, rechts von der<br />
Sonne. Kaum sichtbar und nur hin und wieder im Zwielicht<br />
kurz rötlich aufglimmend. Der Seehundsjäger gesellte sich zu<br />
ihm. „Na, Waldläufer, kannst du nicht mehr?“ „Doch, es geht<br />
gleich wieder. Was ist das da im Norden?“ „Das da? Fucunor.<br />
Die verwunschene Insel mit ihren feuerspeienden Bergen.<br />
Besser nicht hinsehen. Nicht mal drüber sprechen. Komm´,<br />
fass´ wieder mit an.“ Er ging erneut zu den Umladearbeiten<br />
hinüber, in der Annahme, dass Findus ihm folgen würde.<br />
Doch Letzterer blieb allein zurück. Eine gute Gelegenheit!<br />
Fucunor in Sichtweite und er war allein! Findus wurde zum<br />
weißen Raben und flog hoch in den klaren Himmel hinauf<br />
mit Kurs in Richtung Norden. Ein unaufmerksamer<br />
174
Beobachter mochte ihn für einen kleinen Albatros oder für<br />
eine sehr große Möwe halten. Es wurde ein sehr langer Flug<br />
- denn auf dem Meer können die Entfernungen gewaltig<br />
täuschen!<br />
Die Insel Fucunor: Aus Feuer geborenes Eis. Schroffe<br />
schwarze, steil aufragende Berghänge, gekrönt von<br />
feuerspeienden Kratern in Gelbrot. Schneebedeckte<br />
Bergflanken und dichte Wolken weißen Wasserdampfes<br />
überall dort, wo sich Feuer und Schnee zu nahe kamen.<br />
Zwischen dem Strand und den Vulkanflanken heiße Quellen<br />
und Geysire, welche schmale grüne Streifen üppig beheizten<br />
und so für eine geradezu überschäumende Vegetation<br />
sorgten. Schwarz, Weiß, Gelbrot und Grün inmitten eines<br />
silberblauen und von türkis-weißen Eisbergen reichlich<br />
durchsetzen Meeres. All das nahm Findus aus der großen<br />
Höhe seines Fluges wahr. Und noch etwas sah er: Von einem<br />
der Berghänge löste sich etwas. Auf den ersten Blick sah es<br />
aus wie ein sehr großer Vogel. Doch nur auf den ersten Blick.<br />
Findus landete nahe einem der Grünstreifen und nahm<br />
wieder seine menschliche Gestalt an. Wohin er auch blickte:<br />
Berge und die Unendlichkeit der See. Der vermeintliche<br />
Vogel landete neben ihm. Es war aber kein Vogel - es war<br />
eine Harpyie. Der Unterleib eines Adlers, die Füße in scharfen<br />
und langen Raubvogelklauen auslaufend. Der nackte<br />
Oberkörper einer wunderschönen Frau, schwarzhaarig und<br />
mit leicht schräg gestellten Mandelaugen. Ihre Arme liefen<br />
nach hinten in die Schwingen aus, mit denen sie flog und<br />
mündeten seitlich in ganz normalen menschlichen Händen.<br />
Die Harpyie blickte Findus an. Sie begrüßte ihn mit den<br />
Worten: „Wir mögen hier keine Fremden. Auch dann nicht,<br />
wenn sie ihre Gestalt wechseln können. Du bist hier nicht<br />
willkommen!“<br />
„Das mag durchaus sein, aber ich habe einen Auftrag von<br />
der Tiedsiepe-Bônday zu erfüllen. Du bist doch eine Novizin<br />
der hiesigen Bônday. Bring´ mich zu ihr!“ entgegnete Findus<br />
sehr bestimmt. Perplex sah die Harpyie ihn an. Er<br />
kommandierte sie! Doch sie bemerkte noch etwas - nämlich<br />
175
die von dem Ankömmling ausgehende magische Kraft. „So<br />
komm´ denn mit“ lenkte sie ein und schwang sich in die<br />
Lüfte. Findus verwandelte sich wieder in den weißen Raben<br />
und flog mit ihr zu einem der Berghänge. Sie landeten und<br />
Findus wurde wieder zum Menschen. Vor ihm tat sich ein<br />
steinerner Saal auf, in dem sich eine weitere Harpyie aufhielt.<br />
Die jedoch war dunkelhäutig mit bernsteinfarbenen<br />
Katzenaugen und wasserstoffblond-silbernem Haar: Die<br />
Bônday von Fucunor!<br />
„Ah, Lanyla - du bringst Besuch mit?“ „Er behauptet, er<br />
käme im Auftrag der Tiedsiepe-Bônday.“ „Stimmt das?“<br />
richtete die Fucunor-Bônday nun ihre Frage an Findus. Der<br />
bemerkte „Ja und nein. Ich erhielt von der Tiedsiepe-Bônday<br />
den Auftrag, nach dem Stein des Lebens zu suchen. Ein<br />
Dschinn verriet mir, dass ich ihn hier finden kann.“ „Wie ist<br />
Dein Name?“ „Findus.“ „Nun Findus, siehst du hier irgend<br />
etwas, das wie ein Stein des Lebens aussieht?“ Findus blickte<br />
sich um - vergeblich. „Nein“ gestand er „hier ist nichts. Aber<br />
vielleicht auf Deiner Insel. Ich werde eben suchen müssen.“<br />
„Vielleicht auf meiner Insel...“ meinte die Harpyie versonnen.<br />
„Du bist hartnäckig. Das erklärt, warum meine Schwester in<br />
der Tiedsiepe so große Hoffnungen in dich setzt. Gut. du isst<br />
erst einmal und schläfst dich aus. Es dürfte eine anstrengende<br />
Reise gewesen sein. Morgen weise ich dir einen Weg. Was<br />
danach passiert, dass liegt jedoch ganz allein bei dir.“ Findus<br />
nickte. Es wurde ein gutes Essen und das Lager war allemal<br />
besser als das auf dem Schiff.<br />
Am Vormittag des Folgetages ließ die Bônday nach Findus<br />
rufen. „Flieg´ mit mir“ lud sie ihn ein. Beide stiegen auf und<br />
flogen über die Insel, vorbei an Schneefeldern und zwischen<br />
den grollenden, aktiven Vulkanen hindurch. Irgendwo im<br />
Innern von Fucunor landeten sie schließlich. „Siehst du die<br />
große Höhle in dem Berg dort drüben?“ fragte die Harpyie.<br />
„Ja“ bestätigte Findus. „Wenn es hier irgendwo das gibt,<br />
wonach du suchst, dann dort. Aber sei gewarnt. Hüte Dich<br />
vor dem Wächter, denn er mag Fremde noch sehr viel<br />
weniger als ich. Es liegt alles nur bei dir!“ Sprach´s und erhob<br />
sich wieder in die Luft, Findus allein zurück lassend. Der<br />
nahm die Warnung sehr ernst. Dennoch - er war schon zu<br />
weit gereist, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen.<br />
176
Entschlossen setzte er seinen schon vor langer Zeit<br />
eingeschlagenen Weg fort, den Berg hinauf zur Höhle.<br />
Findus war noch nicht bei der Höhle angelangt, als eine<br />
feurige Lohe den Felsblock vor ihm zerspringen ließ. Die<br />
Wucht des Feuers warf den Wanderer auf den Rücken, doch<br />
behende stand Findus wieder auf den Beinen, Gnarp bereits<br />
wachsam in der Hand. Aus der Höhle bahnte sich ein<br />
Schatten seinen Weg ins Freie. Ein riesiger Schatten! Erst als<br />
das Geschöpf vollständig draußen war, konnte Findus<br />
erkennen, um was es sich handelte. Es war ein gigantischer<br />
Drache! Der erdfarbene Reptilienkopf auf jeder Seite von vier<br />
spitzen Hörnern umsäumt. Geschuppte, ledrige Haut. Lange<br />
und garantiert auch scharfe Zähne. Zwei ledrige Fledermaus-<br />
Schwingen, jeweils so lang wie zehn ausgewachsene<br />
Menschen. Vier Gliedmaßen mit Krallen, denen man besser<br />
nicht zu nahe kam. Ein mächtiger Körper, in einen langen<br />
und dünnen, peitschenartigen Schwanz mit einer stachligen<br />
Keule am Ende auslaufend. Ein Urtier aus einer längst<br />
vergangenen Zeit; einer Zeit, in der die Magie noch sehr viel<br />
mächtiger und verbreiteter war als heute!<br />
Findus sprang - unsichtbar für den Drachen, wie er hoffte<br />
- zur Seite und presste sich in eine Felsnische. Keinen<br />
Moment zu früh, denn auf die Stelle, an der er eben noch<br />
gestanden hatte, fiel ein Feuerregen nieder, der seinen<br />
Ursprung in den Nüstern des Drachen hatte. Findus überlegte<br />
fieberhaft. Rein logisch betrachtet konnte er es mit diesem<br />
Untier, mit dieser unbändigen Kraft, niemals aufnehmen.<br />
Seine einzige Chance bestand darin, schnell, unsichtbar klein<br />
und lautlos zu sein. Und die empfindliche Stelle des Drachen<br />
zu treffen. Vermutlich von der Unterseite aus, vermutlich das<br />
Herz. Schnell, unsichtbar und lautlos: Das alles hatte Bewok<br />
ihm einmal beigebracht, als es darum ging, Forellen mit<br />
bloßer Hand zu fangen. „Wo bist du, Sterblicher?“ röhrte der<br />
Drachen mit einer Lautstärke, welche die Wände erzittern<br />
ließ. Kleine Gesteinsbrocken lösten sich durch den Lärm und<br />
prasselten nach unten. Einer davon fiel Findus genau vor die<br />
Füße. Schnell bückte er sich und nahm ihn auf. Eine einfache<br />
List fiel ihm ein.<br />
Er warf den Stein, der mit einem cremeweiß-klackenden<br />
Geräusch aufkam. Der Kopf des Drachen ruckte suchend in<br />
177
Richtung auf das Geräusch herum; ein Feuerstoß folgte. Drei,<br />
vier lange Sätze und Findus stand unter dem Ungeheuer.<br />
Gnarp zuckte hoch und bohrte die Spitze handspannenlang in<br />
die ledrige Haut. Schwarzes Drachenblut prasselte auf Findus<br />
hernieder, durchnässte ihn völlig, machte ihn - wenn man den<br />
Sagen Glauben schenken durfte - unverwundbar. Der Drache<br />
hingegen stand still, wie zur Salzsäule erstarrt. Er wusste, dass<br />
jede Bewegung seinerseits nun ausreichen würde, um ihm die<br />
Schwertspitze bis ins Herz zu treiben. Aber warum machte<br />
der Sterbliche dem Kampf kein Ende? Findus stand<br />
gleichfalls unbeweglich da, im Regen aus Drachenblut. In<br />
seinem Kopf hörte er wieder Brokk´s Worte. „Benutze deine<br />
Fähigkeiten niemals zum Angriff, sondern einzig und allein<br />
zur Verteidigung“ und auch die Empfehlung der alten<br />
Zigeunerin „Tu was du willst, aber schade niemandem.“<br />
„Mach´ endlich ein Ende, oder willst du mich langsam<br />
verbluten lassen?“ sagte der Drache resignierend. „Ich will<br />
dich gar nicht töten“ antwortete Findus und fügte hinzu „Wir<br />
können uns durchaus einigen. Gib´ mir dein Wort, dass du<br />
mich nicht mehr angreifst und ich ziehe das Schwert zurück.“<br />
„Das Wort eines Drachen - weißt du, was du da von mir<br />
verlangst?“ „Ja. Genau deswegen verlange ich es ja.“<br />
Menschen konnten lügen, konnten Meineide schwören.<br />
Drachen nicht. Sie waren um ihres eigenen Lebens willen für<br />
immer und ewig an ihr Wort gebunden. Und ein<br />
Drachenleben währte sehr viel länger als das Leben eines<br />
Menschen. Sogar viel länger als das Leben einer Bônday. Sich<br />
einen Drachen zu verpflichten oder ihn gar zum Freund zu<br />
haben - etwas Besseres konnte einem Menschen nicht<br />
passieren. „So sei es denn, ich gebe dir mein Wort. Ich werde<br />
dich nicht mehr angreifen“ lenkte der Drache ein und:<br />
„Nenne mich Draconis.“ Findus zog Gnarp zurück und ließ<br />
das Schwert in der Scheide verschwinden. Mit einem sanften<br />
Schmatzen schloss sich die Wunde im Leib des Ungetüms.<br />
Der Blutregen versiegte augenblicklich. „Mein Name ist<br />
Findus“ erwiderte er und trat unter dem gewaltigen Leib<br />
hervor, um dem Drachen in die senkrecht geschlitzten<br />
Pupillen sehen zu können.<br />
„Lass´ uns wie zivilisierte Wesen miteinander reden“<br />
schlug Findus vor. „Ein Sterblicher, der sich mit Gewalt einen<br />
178
Drachenschatz aneignen will - nennst du das etwa zivilisiert?“<br />
Findus lächelte. „Darf ich dich darauf hinweisen, dass du<br />
mich zuerst angegriffen hast? Aber es geht mir gar nicht um<br />
irgendeinen Schatz. Und ich verspreche, nichts aus der Höhle<br />
mitzunehmen, zu dem du nicht die Erlaubnis erteilst.“ „Bist<br />
du sicher, dass in deinem Kopf noch alles in Ordnung ist?“<br />
spottete Draconis. „Durchaus“ antwortete Findus ernst und<br />
fuhr fort „Ich suche einen einzigen Stein. Den Stein des<br />
Lebens. Die Bônday sagte, er könnte dort drin sein...“<br />
- Findus wies zur Höhle – „...war sich aber nicht sicher. Lass´<br />
mich hinein und dort suchen. Das ist alles. Mehr will ich<br />
nicht.“ Der Drache schüttelte in völlig menschlicher Manier<br />
den Kopf. „Unglaublich“ brummte er „einfach unglaublich.<br />
Geh´ schon!“<br />
Findus blickte erst den Drachen an und betrat dann die<br />
Höhle, die einen tiefgrünlichen Geruch ausstrahlte. Schon<br />
kurz hinter dem Eingang fand er das, wovon Draconis<br />
gesprochen hatte: den Drachenschatz! Gold, Silber, edle<br />
Steine, Münzen, funkelnde Diademe, Messer, Schalen, Perlen,<br />
Korallen, seltene Metalle. Und alles nicht das, wonach er<br />
suchte - denn alles war von Menschenhand gemacht oder<br />
doch zumindest von Menschenhand bearbeitet worden. Der<br />
Stein des Lebens hingegen musste mehr sein - mehr als ein<br />
Mensch je zu schaffen vermochte. Folglich konnte er nur<br />
natürlichen Ursprungs sein, wie der Dschinn es gesagt hatte.<br />
Findus untersuchte den Schatz daher nur oberflächlich. Hier<br />
ein Blick, da ein Blick. Oh ja, soviel Reichtum würde<br />
bestimmt große weltliche Macht verleihen - Macht, die er<br />
nicht wollte, die ihn abstieß!<br />
Findus fand in dem Haufen von Geschmeide und<br />
materiellem Wert nicht das, wonach ihm der Sinn stand.<br />
Deswegen wagte er sich tiefer und tiefer in die sich immer<br />
weiter verengende Höhle hinein. Ganz hinten am Ende war<br />
da auf einmal nur noch ein schmaler Spalt im Fels. Ein Spalt<br />
allerdings, aus dem Licht schimmerte. Findus quetschte sich<br />
hindurch, das scharfkantige und auf seiner Haut scheuernde<br />
Gestein nicht achtend. Und stand urplötzlich in einer kleinen<br />
Kammer, deren Wände über und über mit Bergkristallen<br />
bewachsen waren. Durch ein kleines Loch in der Decke fiel<br />
Licht. Licht, welches von den Kristallen tausendfach<br />
179
gebrochen und reflektiert wurde. Atemberaubend chaotisches<br />
Licht. Still und stumm betrachtete er das optische Schauspiel.<br />
Sein Blick folgte den verschiedenen Strahlen. Dann plötzlich<br />
entdeckte er das Ziel seiner Suche.<br />
Es war ein auf den ersten, flüchtigen Blick ganz ordinärer<br />
Bergkristall. Ein Doppelender, an einer Längsseite mit der<br />
Felswand verwachsen. Doch dieser Kristall wies eine<br />
Besonderheit auf. Er war nicht so vollendet rein und klar wie<br />
die anderen Steine. Vielmehr hatte sich bei seinem Wachstum<br />
immer wieder und wieder irgend etwas Mineralisches auf den<br />
einzelnen kristallinen Flächen abgelagert. Danach war er<br />
einfach weiter gewachsen und dieses Wachstum führte zum<br />
Einschluss der Mineralabscheidung, so dass der Stein nun<br />
aussah wie ein Kristall in einem Kristall in einem Kristall und<br />
so weiter bis in alle Unendlichkeit – genau wie es der Dschinn<br />
beschrieben hatte. Es war eine seltene Form vom Bergkristall<br />
- ein Phantomquarz, der Stein des Lebens!<br />
Findus vergaß alles um sich herum und ließ seinen Blick<br />
über dieses Symbol höchster Vollkommenheit schweifen. Ja,<br />
genau das war es! Eine Versinnbildlichung ihrer aller Welt,<br />
nein, sogar aller möglichen Welten überhaupt, die<br />
Anderswelten mit eingeschlossen! Jede Ebene, jede<br />
Kristallfläche stand für den vorgezeichneten Weg einer<br />
einzigen Welt. Vom Anfang bis zum Ende. Doch es waren<br />
unendlich viele Kristallebenen, folglich auch unendlich viele<br />
Welten. Und doch hingen sie alle zusammen, waren sie<br />
miteinander verwachsen! Dadurch würde das, was auf einer<br />
Ebene geschah, automatisch auch Auswirkungen auf alle<br />
anderen Ebenen zeigen müssen. Mal mehr, mal weniger. Mal<br />
im Kleinen, dafür aber gerichtet und mal im Großen, dafür<br />
aber ungerichtet.<br />
Jede Kristallebene entsprach einer statischen,<br />
vorgezeichneten Möglichkeit, einer Wahrscheinlichkeit.<br />
Welche dieser Möglichkeiten aber schließlich zur individuellen<br />
Realität wurde, dass hing einzig und allein vom Verhalten des<br />
Ebenenbewohners, von seinem Bewusstsein, von seiner Seele,<br />
von seinen Entscheidungen ab. Entscheidung bedeutete<br />
nämlich, auf eine andere Ebene überzuwechseln. Zeit,<br />
Entwicklung, Evolution - all das entstand erst durch die<br />
Wechselwirkung des Bewusstseins mit der Gesamtheit der<br />
180
Welten. Ohne die Berücksichtigung des Beobachters wäre die<br />
Beschreibung der Welten weder vollständig noch machbar.<br />
Erst der Beobachter selbst ermöglichte überhaupt diese<br />
Welten. Der Phantomquarz versinnbildlichte das Wesen aller<br />
Welten an sich!<br />
Die Findus so wohlbekannten seltsamen Orte - das waren<br />
die Übergänge von einer Ebene zur anderen. Und zwar die<br />
‚großen‘ Übergänge, mit denen sich Weltenebenen<br />
überspringen ließen. Daneben gab es natürlich noch die<br />
Verwachsungspunkte, die ‚kleinen‘ Übergänge. Sie waren<br />
unendlich viel zahlreicher und standen für den Verlauf des<br />
Lebens. Heute diese Entscheidung, morgen jene: Das<br />
bedeutete, heute einen Wechsel in eine benachbarte Welt und<br />
morgen in eine andere. In Welten, die der derzeitigen<br />
Existenz so frappierend ähnlich waren, dass man sie gar nicht<br />
als neue Ebenen zu erkennen vermochte. Jeder Bewohner,<br />
jedes Wesen suchte sich so einen chaotischen,<br />
unvorhersehbaren Weg durch die verschiedenen Ebenen.<br />
Viele Welten - viele Doppelgänger. Der einzelne Geist oder<br />
die einzelne Seele verteilte sich auf all diese multiplen Welten<br />
in multiple Existenzen. Das Betreten einer neuen Welt führte<br />
automatisch dazu, dass der zuvor dort vorhandene, ganz<br />
persönliche Doppelgänger auch in eine andere<br />
Wahrscheinlichkeit gelangte - wo er wieder einen<br />
Doppelgänger verdrängte und so weiter bis in alle<br />
Unendlichkeit.<br />
Auf diese Weise blieben Energie und Materie für jede<br />
Weltebene konstant und erhalten. Insgesamt gesehen jedoch<br />
befand sich alles im permanenten Umbruch, generierte<br />
dadurch laufend neue Erkenntnisse, neue Erfahrungen - wie<br />
das Licht, welches zwischen den einzelnen Kristallebenen<br />
eingefangen hin und her gespiegelt wurde. Der Wechsel von<br />
einer Ebene zur anderen - für ein Lebewesen wie den<br />
Menschen hier ein vielleicht etwas ziehendes Gefühl, dort<br />
vielleicht eine kurze Irritation. Ein Messer, welches heute hier<br />
lag, lag morgen – auf einer anderen Ebene, in einer anderen<br />
Welt - woanders. Oder ein Teller oder ein Becher. Eine Szene<br />
aus der Vergangenheit, an die man sich genau erinnern<br />
konnte, von der man sicher wusste, dass alles auf genau diese<br />
Weise und nicht anders geschehen war. Was dann aber<br />
181
seltsamerweise auf einmal nicht mehr stimmte... Der winzige<br />
Moment völliger Irritation, weil der eben noch so<br />
wohlbekannte Weg kurzzeitig unendlich fremd erschien.<br />
Solche unmerklichen Kleinigkeiten zeigten den<br />
Ebenenwechsel an - und wurden übersehen, wurden für eine<br />
Unachtsamkeit gehalten. Oder sie äußerten sich als Déjà-Vu.<br />
Nur deshalb schien es dem Einzelnen so, als seien die<br />
anderen Ebenen unendlich weit entfernt oder nicht existent.<br />
Tatsächlich jedoch befand er sich bereits mittendrin, ohne es<br />
zu erkennen. Es gab keine absolute Realität – nur einzelne,<br />
individuelle Wirklichkeiten. Das, was gemeinhin für ‚real‘<br />
gehalten wurde, beruhte nur auf einer Kommuniktion unter<br />
Zuhilfenahme eines kleinsten gemeinsamen Nenners.<br />
Wiedergänger – Tote, die auf einmal unvermittelt für kurze<br />
Zeit wieder auftauchten - das waren nur irregeleitete<br />
Doppelgänger, die sich kurzfristig auf einer für sie falschen<br />
Weltenebene befanden.<br />
Die das alles definierende und durchziehende, ja lenkende<br />
Struktur, der zugrunde liegende Bauplan - das war die Magie<br />
selbst! Auf jeder einzelnen Ebene zeigte sich von ihr nur ein<br />
winziger Ausschnitt des gesamten Bauplanes, so dass dieser<br />
winzige Ausschnitt chaotisch wirken musste. Hier eine<br />
Magieanwendung, vielleicht in Form eines durch einen<br />
Wetterzauber hervorgerufenen Hagelschauers, da die<br />
mächtige Ley-Linie. Über alles gesehen jedoch wies die Magie<br />
durchaus eine sehr geordnete Struktur auf - bestimmte sie<br />
doch die Konstruktion für alle Weltenebenen! Nur musste<br />
man sich - um eben das zu erkennen - von liebgewordenen<br />
Vorstellungen lösen.<br />
Findus blickte auf. Das Licht war deutlich schwächer<br />
geworden. Wie lange hatte er hier gesessen, versunken in die<br />
Betrachtung dieses so wunderbaren Steins? Er wusste es<br />
nicht. Er fühlte sich wie aus einem langen Schlaf erwachend.<br />
Und er hatte Erkenntnis gewonnen. Fundamentale<br />
Erkenntnis. Wie sagte doch die Bônday aus der Tiedsiepe?<br />
„Bring´ mir den Stein des Lebens!“ Nein - das würde er nicht<br />
tun. Der Stein musste hier bleiben. Hier und nirgendwo<br />
anders. Nur hier gehörte er hin. Ihn von der Felswand zu<br />
lösen wäre ein Frevel sondergleichen gewesen. Findus erhob<br />
182
sich und verließ wie im Traum, wie betäubt, die Höhle.<br />
Draußen wartete der Drache.<br />
„Hast du gefunden, wonach du suchtest?“ wollte Draconis<br />
wissen. „Ja“ war Findus´ einsilbige Antwort, noch ganz<br />
entrückt von dem so unerwartet Erlebten. „Und was hast du<br />
mitgenommen?“ „Gar nichts.“ „Wie - gar nichts? Da drin<br />
liegt ein riesiger Schatz! Für sowas tut ihr Sterblichen doch<br />
alles!“ „Ich nicht. Der Schatz interessiert mich nicht. Ich habe<br />
den Stein des Lebens gesucht. Er gehört nicht zum Schatz,<br />
sondern ist Teil der Höhlenwand. Ihn mitzunehmen wäre<br />
eine Blasphemie. Er gehört hier her und kann nur hier<br />
bleiben!“ Findus schwieg und blickte den Drachen an.<br />
„Du warst lange fort“ murmelte Draconis. „Wie lange?“<br />
wollte Findus wissen. „Zwei volle Tage und Nächte. Ich<br />
dachte schon, dir sei etwas passiert.“ Zwei volle Tage und<br />
Nächte - seltsam! Findus verspürte weder Hunger noch Durst<br />
oder Müdigkeit. Dieser meditative Zustand bei der<br />
Betrachtung des Phantomquarzes musste sämtliche<br />
Lebensvorgänge seines Körpers angehalten haben. Erst jetzt<br />
gewahrte Findus auch, dass es Nacht war. Die Nacht des<br />
Nordens. Die Sonne als schmale Sichel über dem Horizont,<br />
ein helles Dämmerlicht verbreitend. Der über dem Meer<br />
stehende Mond und ein über das tiefblau daliegende Wasser<br />
wogendes Nebelfeld. Noch immer aufgewühlt setzte er sich.<br />
Draconis erkannte, wie tief bewegt Findus war. „Was hast<br />
du jetzt vor?“ lautete seine Frage. „Ich muss zurück. Nach<br />
<strong>Norgast</strong>, zur Tiedsiepe. Zur dortigen Bônday.“ „Und wie<br />
willst du das anstellen? Dein Schiff dürfte längst über alle<br />
Berge sein.“ „Weiß ich noch nicht. Vielleicht in Gestalt einer<br />
Robbe oder eines Fisches. Mal sehen.“ Findus schwieg wieder<br />
und blickte nachdenklich auf das Meer hinaus. „Magie“<br />
dachte er „das ist der Schlüssel zu allem.“ „Ein weiter und<br />
gefährlicher Weg. Weißt du, wenn schon ein Sterblicher kein<br />
Interesse an meinem Schatz mehr hat, dann ist es sinnlos, hier<br />
noch länger etwas zu bewachen. Was hältst du von<br />
Begleitung?“ Überrascht schaute Findus den Drachen an.<br />
„Wie meinst du das? Du willst mitkommen? Nach <strong>Norgast</strong>?<br />
Aber ja - warum eigentlich nicht!“ „Ich fliege dich hin. Ein<br />
Drachen ist sehr schnell, selbst wenn seine Knochen schon so<br />
uralt sind wie die Meinen. Steig´ auf! Bevor die Sonne am<br />
183
Mittagshimmel steht sind wir da!“ Und so wurde Findus zum<br />
Drachenreiter...<br />
184
Kapitel 9: Forst der Entscheidung<br />
Der Drache und sein Reiter erreichten die Tiedsiepe am<br />
späten Vormittag, wobei die sich auf der ‚namenlosen Insel‘<br />
vereinigenden Erdströme auf den Drachen wie ein<br />
unübersehbares, astrales Leuchtfeuer wirkten. Draconis´ hohe<br />
Körpertemperatur verhinderte zudem, dass der Flugwind<br />
Findus zu Eis erstarren lassen konnte. Dennoch war es für<br />
den Drachenreiter auch so noch anstrengend genug gewesen.<br />
Lyonora bemerkte sie zuerst. Die Novizin sammelte gerade<br />
Kräuter im Norden der ‚namenlosen Insel‘, als sie am Himmel<br />
einen sich nähernden und dadurch stetig größer werdenden<br />
Punkt wahrnahm. So schnell wie möglich informierte sie<br />
Dayla und ihre Bônday. Letztere trat ins Freie und suchte den<br />
Himmel ab. Ihre Katzenaugen waren schärfer als die eines<br />
Menschen. „Das ist ein Drache!“ sagte die Bônday und setzte<br />
noch hinzu: „Ich wusste gar nicht, dass es noch welche gibt.<br />
Das wird sicherlich interessant! Vielleicht sogar gefährlich...“<br />
Auch Draconis hatte die drei Personen am Boden schon<br />
erspäht. „Unser Empfangskomitee wartet bereits“ rief er<br />
Findus über die Schulter hinweg zu. „Dann lande irgendwo in<br />
ihrer Nähe. Wer weiß, wie sie auf dich reagieren.“ Draconis<br />
schüttelte sich vor Lachen und der Flug wurde unruhig. Sein<br />
Passagier hatte dadurch seine liebe Mühe, nicht den Halt zu<br />
verlieren. „Kannst du dich vielleicht mal wieder beruhigen“<br />
schimpfte Findus, erreichte mit seiner Bemerkung aber genau<br />
das Gegenteil. Resignierend hielt er den Mund und nahm sich<br />
vor, zukünftig einen fliegenden Drachen nicht mehr zum<br />
Lachen zu bringen – zumindest keinen, auf dem er selbst als<br />
Passagier mitflog. Wohlbehalten landeten sie kurze Zeit später<br />
nicht weit von den drei Frauen entfernt und Findus stieg ab.<br />
Er ging auf die Bônday zu. „Findus!“ staunte die. „Ich hätte<br />
es mir denken können. Wer sonst würde einen der letzten<br />
Drachen oder vielleicht sogar den letzten Drachen <strong>Norgast</strong>s<br />
ausfindig machen?“ „Bônday“ - er begrüßte sie mit einem<br />
Kopfnicken und schloss auch Lyonora und Dayla mit ein.<br />
„Ich bin zurück von meinem Auftrag. Doch ich habe nur<br />
eine der drei Prüfungen bewältigen können.“ „Ja, der weiße<br />
185
Rabe. Dayla erwähnte es bereits. Aber was ist mit dem Geist<br />
des Waldes?“ „Malweýn ist wieder frei. Er war in Baumgestalt<br />
gebannt worden. Ich bat ihn, hierher zu kommen, doch er<br />
verweigerte sich. Er hat eigene Pläne und dürfte in diesen<br />
Tagen den Bomenhau erreichen. Mir erschien es, als warte er<br />
darauf, dass du ihn besuchst und nicht umgekehrt.“ „Er war<br />
schon immer ein alter Sturkopf und daran hat sich wohl<br />
nichts geändert. Und was ist mit dem Stein des Lebens?“<br />
„Dabei handelt es sich um einen Phantomquarz in<br />
Draconis´...“ - Findus wies mit dem Kopf zum Drachen<br />
hinüber – „...Höhle. Der Stein symbolisiert das<br />
Zusammenspiel von dieser Welt mit allen Anderswelten,<br />
wobei die Magie selbst den Bauplan bildet. Der Stein ist<br />
insofern gefährlich, als dass man sich in seiner Betrachtung<br />
verlieren kann. Er ist Bestandteil der Höhlenwand. Das ist<br />
sein natürlicher, angestammter Platz und nur dort gehört er<br />
auch hin. Deswegen ließ ich ihn, wo er ist.“<br />
Die Bônday sah Findus direkt in die Augen. „So betrachte<br />
ich denn alle drei Prüfungen als bestanden“ teilte sie ihm<br />
formell mit. Dann trat sie auf ihn zu und ergriff seine Hände.<br />
„Willkommen zurück!“ sagte sie und ihre Augen blitzten. „Du<br />
siehst reifer aus als früher. Und abgekämpft. Und - nimm´ es<br />
mir nicht übel - du brauchst auch dringend ein Bad.“ „Ich<br />
habe alles gehört“ meldete sich jetzt Draconis mit seiner<br />
gewaltigen Stimme aus einiger Entfernung zu Wort. „Er<br />
stinkt. Er stinkt nach meinem Blut!“ „Drachenblut?“ fragte<br />
die Bônday erstaunt. Findus nickte: „Ich erzähle euch später<br />
alles, in Ordnung?“ Die Bônday nickte. „Dann bist du überall<br />
da, wo sein Blut dich benetzt hat, unverwundbar. Doch geh´<br />
jetzt. Dayla wird dir helfen. Und ich muss unbedingt ein paar<br />
Worte mit deinem neuen Freund wechseln.“ Sie übergab<br />
Findus in Dayla´s Obhut und trat zu Draconis, mit dem sich<br />
ein leise geführter Wortwechsel entspann.<br />
Einige Zeit später – der Tag neigte sich bereits - trafen die<br />
fünf am Tiedsiepe-Strand unterhalb der Hütten erneut<br />
zusammen. Findus war inzwischen wieder sauber, verpflegt<br />
worden und er hatte auch neue Kleidung erhalten. Sie saßen<br />
im Kreis und er berichtete, wie es ihm ergangen war.<br />
Nachdem er geendet hatte, ergriff die Bônday das Wort. „Ich<br />
habe vorhin ausführlich mit Draconis gesprochen. Er ist kein<br />
186
Freund von vielen Worten und bat mich, für ihn zu sprechen.<br />
Er hat Findus sein Drachenwort gegeben, dass er ihn nicht<br />
angreift. Und Findus hat das nicht ausgenutzt, obgleich es<br />
viele andere Menschen in Versuchung geführt hätte. Draconis<br />
ist davon tief beeindruckt. Er bietet uns einen Pakt und<br />
speziell Findus seine Feundschaft an.“ Sie sah Findus an. Der<br />
erhob sich und trat zu dem Drachen hinüber, legte die Hand<br />
auf die Nüstern, aus welchen kleine Rauchwölkchen quollen.<br />
„Einen besseren Freund kann ich mir nicht vorstellen“<br />
meinte Findus nur. Dayla schmunzelte: „Ihr beide werdet ein<br />
unschlagbares Team abgeben.“ Damit waren Pakt und<br />
Freundschaft besiegelt. Findus setzte sich wieder.<br />
„Gut“ meinte die Bônday „nachdem das nun geklärt ist,<br />
kommen wir zum nächsten Punkt. Einem sehr wichtigen<br />
Punkt...“ - sie blickte Findus an und fuhr fort – „...nämlich zu<br />
deiner Vergangenheit. Du wurdest vor ungefähr dreissig<br />
Sommern und noch als Säugling von einem Mann namens<br />
Ravon bei einem Kräuterweib abgegeben. Er führte ihr<br />
gegenüber damals aus, dass er dich vor deinem Bruder in<br />
Sicherheit bringen wollte. Einem Bruder, der einmal große<br />
Macht haben würde. Inzwischen wissen wir alle, wer dieser<br />
Bruder ist. Baldur, der Herrscher von <strong>Norgast</strong>.“ Die Bônday<br />
seufzte. „Das Kräuterweib zog dich auf. Zehn Sommer lang.<br />
Sie spürte eine große Magie in dir und brachte dich deswegen<br />
zu uns. Du bliebst knapp zwanzig Sommer lang. Vor etwa<br />
einem Sommer bist du dann ohne meine Erlaubnis<br />
aufgebrochen, um deine Herkunft selbst zu ergründen. Den<br />
Rest kennst du. Es ging schief.“ Die Bônday schwieg und ließ<br />
ihren Blick durch die Runde wandern, ließ die Worte wirken.<br />
Im Anschluss an diesen Moment der Besinnung fuhr sie<br />
fort: „Das bedeutet, dass Findus von königlichem Blut ist.<br />
Aber wie? Seine Mutter hatte seinerzeit nur ein Kind und bei<br />
dessen Geburt ist sie gestorben. Ein Rätsel. Ein Rätsel,<br />
welches wir lösen müssen. Denn wenn Findus vom gleichen<br />
Blut ist, dann hat er ebenso einen Anspruch auf den Thron<br />
<strong>Norgast</strong>´s wie Baldur. Und er gäbe sicherlich einen<br />
menschlicheren Herrscher ab. Wir müssen also in die<br />
Vergangenheit sehen. Es gibt einen Weg, die Vergangenheit<br />
noch einmal lebendig werden zu lassen: Die Rückschau durch<br />
spiegelmagische Evokation. Ich habe daher, Findus´<br />
187
Einverständnis vorausgesetzt,“ - er nickte – „Dayla und<br />
Lyonora gebeten, alles vorzubereiten. Und Draconis hat sich<br />
bereit erklärt, uns mit seiner Drachenmagie zu unterstützen,<br />
weil wir zur Zeit keinen Vollmond haben. Damit sollte das<br />
Erfahren der Evokation uns allen möglich sein. Es ist bereits<br />
stockdunkel. So lasst uns denn beginnen!“<br />
Dayla und Lyonora erhoben sich und holten einen<br />
silbernen, etwa halb mannshohen Spiegel, an dessen<br />
Rückseite sich ein Ständer befand. Sie stellten den Spiegel auf<br />
und richteten ihn genau nach Norden hin aus. Die Bônday<br />
steuerte frisches Quellwasser bei, mit welchem der Spiegel<br />
sorgfältig gereinigt wurde. Im Anschluss stellte sie eine Kerze<br />
rechts vom Spiegel auf und entzündete die. Links vom Spiegel<br />
wurde eine Räucherschale mit dem Harz des Wicbaumes<br />
beschickt. Dann setzte sich Findus direkt vor den Spiegel, die<br />
drei Frauen nebeneinander und etwas hinter ihm. Draconis<br />
ließ kleine Flammen aus seinen Nüstern züngeln und ersetzte<br />
so das fehlende Licht des Vollmondes. Findus und die Hagias<br />
schauten in den Spiegel und entspannten sich, imaginierten<br />
ein goldenes Licht in ihrem Innern und erlangten so einen<br />
tranceähnlichen, schamanischen Geisteszustand. Nach einiger<br />
Zeit löste sich das Spiegelbild auf, verschwand einfach.<br />
Stattdessen wirbelten Szenen über den Spiegel. Gesichter,<br />
Orte.<br />
Irgendwann wurde eine Szene eingefangen. Ein Reiter, der<br />
mit einer hochschwangeren Frau auf einem Bauernhof<br />
anlangte. Sie war durchnässt. Ihre Fruchtblase war bereits<br />
geplatzt. Die Geburt. Zwei Kinder. Zweieiige Zwillinge.<br />
Brüder. Der Mann sprach die Frau mit dem Namen<br />
„Gwylon“ an. Sie hörten die Worte der Frau: „Ravon, der<br />
Erstgeborene soll den Namen Baldur erhalten. Der<br />
Zweitgeborene wird Findus genannt. Bringt Findus weg.<br />
Versteckt ihn. Ich habe schlimme Vorzeichen gesehen. Ich<br />
weiß nicht, ob Mykyllin das Kind erziehen wird.“ Die Mutter<br />
überlebte das Kindbettfieber nicht und Ravon brachte Findus<br />
zu einem Kräuterweib. Die Szene wechselte. Ein prächtig<br />
gekleideter Kaufherr sprach mit einem anderen Mann:<br />
„Merkyllum, ihr seid der Verwalter von <strong>Norgast</strong>. Ihr kümmert<br />
euch um die Erziehung des Kindes. Erzieht es in unserem<br />
Sinne und ihr werdet es nicht bereuen. Die Gilde wird sich<br />
188
erkenntlich zeigen.“ „Und der König? Mykyllin?“ „Er wird<br />
einen bedauerlichen Jagdunfall erleiden...“ Dann waren<br />
plötzlich die Spiegelbilder wieder da.<br />
Obgleich sie alle noch im Bann des soeben Gesehenen<br />
standen, erhob sich die Bônday und löschte Kerze sowie<br />
Räucherschale aus. „Ich glaube, wir haben genug gesehen.<br />
Findus ist der Sohn von Gwylon und Mykyllin. Einer von<br />
zwei Königssöhnen. Damit hat er berechtigten Anspruch auf<br />
genau die Hälfte des Reiches <strong>Norgast</strong>. Der alte König - der<br />
ein guter König war! - ist von den Kaufleuten ermordet<br />
worden, damit Merkyllum Truchsess werden konnte. Der<br />
Truchsess erzog Baldur im Sinne der Kaufleute-Gilde. Ein<br />
abgekartetes Spiel profitgieriger Mächte, die immer im<br />
Hintergrund bleiben und die sich niemals selbst die Finger<br />
schmutzig machen. Die bis heute die einfachen Menschen<br />
erfolgreich von Wissen und Bildung ausschließen, um so<br />
etwas nur ihrem eigenen Nachwuchs angedeihen zu lassen.“<br />
Sie schwieg, sah Findus an: „Bist du bereit, deinen Teil des<br />
Reiches zu beanspruchen, um diese Verhältnisse zu ändern<br />
und notfalls darum zu kämpfen?“ „Ja“ antwortete der<br />
Angesprochene schlicht. „Gut. Ich für meinen Teil werde<br />
meine Neutralität aufgeben und mich einmischen. Draconis,<br />
bringe du bitte Findus zu Malweýn. Der Alte hatte schon<br />
immer brauchbare Einfälle; er wird wissen, was zu tun ist. Ich<br />
selbst mache mit Hilfe meiner Schwestern eine Ley von hier<br />
bis zum Bomenhau begehbar. Wenn meine Hilfe erforderlich<br />
sein sollte, dann werde ich zur Stelle sein. Dayla, Lyonora<br />
- schließt ihr euch mir an?“ Zustimmendes Nicken. „In<br />
Ordnung. Bereitet für Findus eine brauchbare Ausrüstung<br />
vor, denn im Bomenhau wird schon tiefer Winter herrschen.<br />
Draconis, findet das auch deine Zustimmung?“ Zur Antwort<br />
entließ der Drache bestätigend eine feurige Loh in die klare<br />
Nachtluft.<br />
Der nächste Tag. Draconis und Findus brachen früh auf<br />
- Findus dick vermummt aufgrund der zu erwartenden<br />
Winterkälte und wieder als Drachenreiter. Obgleich der<br />
Drache sehr schnell war, wurde es ein langer Flug gegen den<br />
189
Wind. Immer genau in Richtung Osten lag die Tiedsiepe bald<br />
hinter ihnen. Nach der Überquerung des Wilderfrio mischten<br />
sich erste Schneeflächen zwischen die unter ihnen liegenden<br />
Wälder und das Land stieg stetig an - die Nähe der Gebirge<br />
Haucain und Itcain machte sich bemerkbar. Irgendwann<br />
gegen die Mittagszeit - nur erkennbar anhand einer trübe<br />
durch dicke Schneewolken blinzelnden Sonne - erstreckte sich<br />
ein großes, tiefverschneites und scheinbar unberührtes<br />
Waldgebiet unter ihnen: der Bomenhau. Irgendwo hier<br />
mussten sich Malweýn und seine Horde aufhalten. Sie<br />
mussten ‚nur‘ noch gefunden werden und Findus war sich<br />
sicher, dass Malweýn ein Meister der Tarnung war...<br />
„Draconis, kannst du irgendwas erkennen?“ „Nein, nichts.<br />
Der Schnee ist überall wie jungfräulich. Vielleicht sind sie<br />
noch nicht hier.“ „Sie sind da. Ich spüre es. Aber sie haben<br />
sich versteckt. Kein Wunder, wenn man nicht gefunden<br />
werden will. Die Horde besteht aus Leuten, die es offiziell gar<br />
nicht mehr gibt. Sie sind vogelfrei. Wenn irgendwer jemanden<br />
von ihnen erschlägt, dann kümmert sich niemand darum und<br />
der Täter geht straffrei aus. Deswegen verstecken sie sich.<br />
Drehe mal ein paar Runden über dem Wald, aber so tief wie<br />
möglich.“ „Warum - glaubst du, dass du besser sehen kannst<br />
als ich?“ „Das wohl nicht gerade, aber wenn wir sie nicht<br />
finden können, dann lassen wir uns eben von ihnen finden.<br />
Wie gut sie sich auch verstecken, einen tieffliegenden<br />
Drachen werden sie wohl kaum übersehen.“ „Gute Idee!“<br />
antwortete Draconis und ging tiefer.<br />
Nach einiger Zeit und ein paar Runden über dem<br />
ausgedehnten Forst fanden sie eine Lichtung nahe der<br />
Felswand, welche den Gipfel des Bomenhau bildete. Draconis<br />
landete dort. Nun blieb ihnen nichts weiter übrig, als zu<br />
warten. Sie harrten der Dinge, die da kommen sollten und<br />
ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Als die<br />
Abenddämmerung hereinbrach kam ein Uhu auf einen der<br />
Bäume am Rand der Lichtung herabgeschwebt und<br />
beobachtete sie unbewegt. Wartete ebenfalls. Findus wurde es<br />
langsam zu bunt. „Draconis, du hast doch eine laute Stimme.<br />
Ruf´ mal Malweýn, aber so, dass man es im ganzen Wald<br />
hört.“ „Malweýn, komm´ endlich raus!“ brüllte der Drache<br />
mit orkanartiger Stimmkraft, wobei Findus sich entsetzt die<br />
190
Ohren zuhielt. Zuerst geschah gar nichts. Doch dann<br />
schwebte der Uhu von seinem Baum herab und verwandelte<br />
sich in einen alten Mann.<br />
„Brüll´ hier nicht so rum, Drache - dies ist nicht dein<br />
Land!“ tadelte er. „Na endlich!“ meinte Findus. „Ich<br />
beobachte euch schon seit geraumer Zeit“ führte Malweýn<br />
aus und setzte hinzu „aber Geduld scheint nicht gerade zu<br />
euren Tugenden zu gehören. Und einem Drachen trauen nur<br />
Verrückte.“ „Sieh´ dich vor, alter Mann, ich kann auch<br />
anders!“ wurde Draconis langsam wütend. Findus<br />
beobachtete die Situation mit Sorge. Es war nicht gut, einen<br />
Drachen zu reizen. „Nun beruhigt euch beide mal wieder“<br />
versuchte er das Verhältnis zu entspannen. „Malweýn, das ist<br />
Draconis. Er ist auf unserer Seite. Ich habe sein Drachenwort<br />
und ich bin ganz gewiss nicht verrückt.“ „Was hast du? Wie<br />
hast du das denn gemacht?“ staunte da der Zauberer.<br />
„Später“ winkte Findus ab. „Ich werde dir alles berichten. Wo<br />
sind die anderen?“ „Versteckt rings um uns herum.“ „Seid ihr<br />
schon lange genug hier, um so etwas wie ein Lager zu<br />
haben?“ „Was glaubst du denn - natürlich! Meinst du etwa,<br />
ich wäre den ganzen weiten Weg zu Fuß gegangen? Wir<br />
haben die nächste passende Ley gesucht und benutzt.“ „Dann<br />
lass´ uns zum Lager gehen und da sollten wir miteinander<br />
reden.“ „In Ordnung. Es ist nicht weit von hier. Komm´ mit.<br />
Aber der Drache passt da nicht rein.“ „Ich warte hier“<br />
knurrte Draconis.<br />
Weit war es wirklich nicht bis zum Lager, doch Findus<br />
hätte es selbst dann verfehlt, wenn er über den Ort informiert<br />
worden wäre. Unmittelbar hinter den Bäumen begann<br />
dichtestes Unterholz. Es führte ein Weg hindurch, der sich<br />
allerdings nur dem Eingeweihten offenbarte. Auf dem Weg<br />
durch das Unterholz machte Malweýn eine beiläufige<br />
Bewegung mit der Hand. Ein kurzer Wind kam auf, fegte den<br />
Schnee nach oben und ließ ihn wieder hinunterrieseln. Ihre<br />
Spuren waren bedeckt und die Schneefläche präsentierte sich<br />
so jungfräulich wie zuvor. Gewunden und labyrinthartig<br />
mündete der durch sehr hohes, dorniges Gestrüpp führende<br />
Weg in eine zwar gut mannshohe, jedoch recht schmale<br />
Felsspalte im Massiv des Bomenhau-Gipfels. Hatte man sich<br />
durch diese Felsspalte gezwängt, dann stand man im Vorraum<br />
191
einer Höhle - ein Vorraum, der mit einer seltsam anmutenden<br />
Menagerie angefüllt war. Wildschweine hausten da neben<br />
Füchsen, Luchse neben Wölfen, Dachsen oder Schlangen. Es<br />
waren die ehemals gefangenen Tiere aus dem Wald von<br />
Balum. Sie waren Malweýn gefolgt.<br />
Von dem Vorraum aus führte ein natürlicher,<br />
tropfsteinbewachsener Gang in einen großen Dom. Hier<br />
lebten die Menschen. Männer, Frauen und Kinder - auch alles<br />
ehemalige Gefangene des seltsamen Waldes. Leute, die<br />
irgendwann einmal vor Baldur´s Häschern hatten flüchten<br />
müssen. Viele Feuer brannten und die Luftverhältnisse in der<br />
Höhle bewirkten, dass der verräterische Rauch erst weit durch<br />
den Berg geführt wurde, bevor er an gänzlich anderer Stelle<br />
austrat. „Unser Reich“ sagte Malweýn und unterstrich seine<br />
Ausführungen mit einer ausholenden Bewegung der Arme.<br />
„Ich kannte diese Höhle schon vor Urzeiten. Es sind aber<br />
nicht alle da. Einige halten draußen Wache, überwiegend die<br />
Trolle. Ein paar Kinder sind in Sirval und kundschaften die<br />
Routen der Kutschen aus. Und das ist auch gut so. Auf<br />
Kinder achtet nämlich keiner. Die werden von den<br />
Erwachsenen immer unterschätzt.“ „Die Kutschen...“<br />
murmelte Findus, sah Malweýn an und setzte hinzu: „Zum<br />
Teil hast du damit Recht gehabt. Sie sind Baldur´s<br />
Lebensader. Aber sie sind auch noch viel mehr. Sie halten die<br />
Gilde der Kaufleute an der Macht und die Gilde ist es, die<br />
Baldur als Herrscher in ihrem Sinne eingesetzt hat. Das war<br />
nämlich so...“ Und Findus berichtete, was er seit ihrer<br />
Trennung in Erfahrung gebracht hatte.<br />
Sie hatten sich an ein Feuer gesetzt und der alte Zauberer<br />
lauschte dem Bericht. Nachdem Findus endete meinte er:<br />
„Das ist sehr interessant, doch es ändert im Grunde nichts an<br />
meinen Plänen.“ „In gewisser Hinsicht sollte es schon was<br />
ändern“ widersprach Findus. „Wie meinst du das?“ „Es stellt<br />
sich die Frage, was mit den aufgebrachten Schätzen<br />
geschehen soll.“ „Nun, wenn dir ohnehin genau die Hälfte<br />
davon zusteht, dann solltest du selbst dir darüber Gedanken<br />
machen.“ „Habe ich schon getan. Und auch mit Draconis<br />
gesprochen. Auf dem Herflug. Er brachte mich auf eine<br />
Idee.“ „Der Drache hat dir Vorschläge gemacht? Na, da bin<br />
192
ich aber mal gespannt!“ Der Zauberer misstraute Draconis<br />
noch immer.<br />
„Draconis´ Vorschlag ist im Grunde nur eine Abwandlung<br />
deiner Pläne. Wir haben uns Folgendes ausgedacht: Die<br />
Kutschen werden durch Listen aufgebracht. Menschenleben<br />
werden geschont, wo immer es geht. Damit die Leute sich<br />
daran halten, entlohnen wir sie nach einem Prämiensystem.<br />
Wer das Meiste ranschafft, ohne Menschen zu töten oder zu<br />
verletzen, der bekommt auch den größten Anteil. Für jeden<br />
verletzten oder getöteten Menschen wird der Anteil<br />
gemindert. Wer von unseren Leuten im Kampf dauerhaft<br />
verletzt wird, der - oder im Todesfalle dessen Hinterbliebene -<br />
erhält eine lebenslange Grundversorgung. Das zur Motivation<br />
unserer eigenen Leute. Von jeder Kutsche nehmen wir nur<br />
genau die Hälfte - nämlich den mir allein zustehenden Anteil.<br />
Den Rest lassen wir weiter transportieren. Das sollte Baldur<br />
nachdenklich werden lassen.“<br />
Findus hielt kurz inne und fuhr fort: „Die gesammelten<br />
Reichtümer dritteln wir. Ein Drittel bleibt für uns selbst. Das<br />
wird für die Versorgung unserer Leute mehr als ausreichend<br />
sein. Die beiden restlichen Drittel aber...“ Findus schwieg.<br />
„Ja?“ fragte Malweýn interessiert. „Die Macht der Kaufleute-<br />
Gilde beruht darauf, dass die einfachen Menschen tagtäglich<br />
um ihr Überleben kämpfen müssen. Deswegen laufen sie<br />
jedem hinterher, der ihnen nur laut genug Besserung<br />
verspricht. Die Kaufleute versprechen zwar lauthals<br />
Besserung, leben aber nur aufgrund eben dieses Systems sehr<br />
gut. Sie sind daher an seiner Erhaltung und keinesfalls an<br />
einer Veränderung der Verhältnisse interessiert. Und Baldur<br />
ist nichts ohne die Gilde.“<br />
„Weiter“ verlangte der Zauberer. „Wenn wir den<br />
Menschen eine Grundversorgung zukommen lassen, dann<br />
wird auch der Überlebenskampf entschärft. Die Leute können<br />
beginnen, sich Gedanken zu machen. Dadurch finden sie<br />
Wahlmöglichkeiten. Alternativen. Sie hören nicht mehr auf<br />
jeden, laufen nicht mehr hinter jedem her, der ihnen etwas<br />
verspricht. Das wird die Macht der Gilde schwächen.“ „Du<br />
willst die verbleibenden zwei Drittel der Schätze also unter<br />
den Bewohnern <strong>Norgast</strong>´s verteilen?“ „Draconis wird das<br />
übernehmen.“ „Ausgerechnet! Der Drache wird sich damit<br />
193
einen eigenen Schatz aufbauen!“ „Nein. Das hat er gar nicht<br />
nötig - er hat nämlich schon einen. Und den hat er mir<br />
zuliebe im Stich gelassen.“ „Dann ist der Drache also wirklich<br />
und vorbehaltlos auf unserer Seite?“ „Ist er.“ „So sei es denn.<br />
Wir werden deinen Plan in die Tat umsetzen, genau so, wie<br />
du es gesagt hast. Es wird aber lange dauern, bis er Wirkung<br />
zeigt.“ „Es hat auch lange gedauert, bis die Gilde so mächtig<br />
war, wie sie es heute ist!“ Malweýn nickte verstehend. Und so<br />
verfuhren sie dann auch...<br />
Sirval: In mehreren Reihen umgaben steinerne, befestigte<br />
große Häuser einen riesigen Marktplatz, auf dem das Leben<br />
nur so quirlte. Bunte Tücher, vielfarbige und teils prächtig<br />
ausgestattete Zelte, lärmende Menschen. Dazwischen Vieh,<br />
Waren und fluchende Reiter, denen ein Durchkommen durch<br />
das Gewühl kaum möglich war. Häuser und Markt kündeten<br />
vom Reichtum der Stadt. Es war allerdings nur der Reichtum<br />
einiger Weniger, denn an die Reihen der befestigten Häuser<br />
schlossen sich schier endlose, schmale und von mehr oder<br />
weniger ärmlich aussehenden Holzhütten dicht an dicht<br />
umsäumte Gassen an. Das reinste Labyrinth. Zwischen den<br />
steinernen Häusern befand sich ein abgesperrter und streng<br />
bewachter Bereich. Hier wurden die Kutschen für den<br />
Norden mit Schätzen beladen.<br />
Das Mädchen mochte vielleicht ein Dutzend Sommer<br />
zählen. Es trug zerlumpte, ärmliche Kleidung, blickte den<br />
neben ihr in einer dunklen Ecke stehenden Erwachsenen an.<br />
Der nickte. Sie trat auf den Markt hinaus. Schaute hier,<br />
schaute dort, wie zufällig. Ein unvorsichtigerweise offen<br />
liegen gelassenes Brot wechselte insgeheim den Besitzer. Auf<br />
diese Weise näherte sie sich langsam dem abgesperrten<br />
Bereich. Hielt sich im Hintergrund, spitzte die Ohren und<br />
lauschte. Auf dem für sie unzugänglichen Gelände stand eine<br />
Sechsspänner-Kutsche, allerdings ohne Pferde. Ächzende<br />
Männer schleppten schwere Kisten dort hinein. Nur<br />
Wortfetzen wehten zu ihr herüber. Sie trat näher heran, um<br />
besser hören zu können, schlich auf eine der Wachen zu.<br />
„Was willst du, Kind?“ herrschte der Gepanzerte sie an.<br />
194
„Wasser, Herr. Nur etwas zu trinken. Könntet ihr vielleicht<br />
etwas erübrigen?“ „Ich habe kein Wasser. Und jetzt<br />
verschwinde!“ „Darf ich euch morgen oder übermorgen noch<br />
einmal fragen?“ Mitleidig betrachtete der Wachmann das<br />
Mädchen mit dem flehenden Blick aus treuherzigen<br />
Kinderaugen. Sie hätte durchaus seine Tochter sein können.<br />
„Komm´ übermorgen gegen die Mittagszeit wieder. Dann<br />
ist hier weniger los. Bis dahin musst du dich selbst<br />
durchschlagen.“ „Ich danke euch, Herr, ihr seid zu gütig.“ Sie<br />
verschwand wieder im Gewühl. Kurze Zeit später erreichte<br />
sie den Erwachsenen, der noch immer in einer dunklen Ecke<br />
auf sie wartete. Beide flüsterten miteinander. Dann drückte<br />
der Erwachsene dem Mädchen etwas in die Hand und machte<br />
sich auf, die Stadt zu verlassen. Er ging zu Fuß durch die<br />
ärmlichen Gassen. Sein Ziel war ein abseits gelegener Hügel.<br />
Furchtsam blickte der Mann sich um. Keine Verfolger - gut!<br />
Er erklomm den Hügel und entnahm dem Lederbeutel an<br />
seinem Gürtel einen kleinen Silberspiegel. Fing damit das<br />
Sonnenlicht ein und lenkte es in Richtung Norden. Schickte<br />
eine genau bestimmte Folge von Lichtsignalen. Ein kurzes<br />
Aufblitzen am Horizont bestätigte ihm den Empfang der<br />
Nachricht. Die Kette von Lichtsignalen reichte über Station<br />
zu Station von Sirval bis hin zum Bomenhau. „Übermorgen<br />
verlässt eine Kutsche Sirval“ sagte Malweýn zu Findus. Der<br />
nickte. Sie begannen mit den Vorbereitungen.<br />
Viele Wege führten durch den Bomenhau. Doch jetzt im<br />
Winter wurde auf Grund der Behinderungen seitens des<br />
Schnees nur die alte Handelsstraße benutzt. Auch war der<br />
Winter die Zeit der schweren, der besonders wertvollen<br />
Transporte, denn der Boden war tief und hart gefroren, so<br />
dass die Kutschen nicht im Morast einsinken und stecken<br />
bleiben konnten. Die avisierte Kutsche kam denn auch<br />
tatsächlich gut zwei Tage später, am sehr späten Abend. Ein<br />
Dutzend Gepanzerte begleiteten sie, bildeten die<br />
Wachmannschaft. Es geschah kurz hinter der Brücke über<br />
einen der Nebenflüsse, welche den Strom Itfrio speisten.<br />
Eine Schlange - die um diese Jahreszeit sich eigentlich in<br />
der Winterruhe hätte befinden müssen - lag auf dem Weg, als<br />
die Kutsche sich näherte. Die Schlange hob den Kopf<br />
stoßbereit und zischte angriffslustig. Die Pferde der Kutsche<br />
195
scheuten und gingen dann durch, zogen das schwer beladene<br />
Gefährt in ihrer Panik hinter sich her. Den Kutscher<br />
schleuderte es vom Kutschbock; er blieb besinnungslos<br />
liegen. Fluchend machte sich die Wachmannschaft auf, um<br />
die Kutsche zu stoppen. Doch plötzlich erklang ein leises<br />
Fauchen und es bildete sich undurchdringlicher Nebel,<br />
dichter noch als Watte. Es hatte den im Verborgenen<br />
lauernden Draconis´ nur sehr kleiner Flammen bedurft, um<br />
den allgegenwärtigen Schnee zu verdampfen. Nebel und<br />
Dunkelheit. Als die zwölf Begleiter die Kutsche schließlich<br />
fanden, war exakt die Hälfte der Ladung verschwunden - und<br />
nirgendwo waren Spuren zu finden!<br />
Jede der folgenden Kutschen traf ein ähnliches Schicksal.<br />
Mal stoppte ein Wolf oder ein Wildschwein den Transport,<br />
mal lag ein schier unüberwindliches Schneehindernis auf der<br />
Straße, mal störte ein Luchs die Fahrt und ein andernmal<br />
tauchten seltsam singende Kinder zwischen den Bäumen auf<br />
und lenkten die Wächter ab. Doch immer blieb der<br />
eigentliche Angreifer verborgen und geheim. Niemals wurde<br />
ein Dieb auch nur gesehen. Man fand nicht einmal die<br />
geringste Spur! Es fuhren binnen eines Mondes immer so um<br />
die fünf bis zehn Kutschen von Sirval aus ab. Jede hatte beim<br />
Erreichen ihres Ziels nur noch genau die Hälfte der<br />
ursprünglichen Ladung. Auch fanden sich kaum noch<br />
Bewaffnete, welche bereit waren, die Transporte zu begleiten<br />
- glaubte man auf Grund der unsichtbaren Angreifer doch an<br />
Geister!<br />
Die Schätze häuften sich in Malweýn´s Versteck. Doch<br />
nicht für lange. Was nicht an die Horde der Vogelfreien zur<br />
Auszahlung gelangte, das wurde von Draconis im Schutz der<br />
Dunkelheit verteilt. Ursächlich verteilt an die ausgesprochen<br />
armen Leute, die außerhalb der Städte und festen<br />
Ansiedlungen lebten und deren Handelspartner die fahrenden<br />
Händler waren. So mancher Bauer oder Fischer fand eines<br />
schönen Morgens Schmuckstücke oder Geld auf seinem<br />
kärglichen Besitz liegend vor und rieb sich ob dieses<br />
unerwartet vom Himmel gefallenen Reichtums verwundert<br />
die Augen. Nur auf diese Weise konnte es geschehen, dass die<br />
fahrenden Händler erstmals so etwas wie einen gewissen<br />
Wohlstand erwirtschafteten. Sie wuchsen sich langsam aber<br />
196
sicher zur echten Konkurrenz für die Kaufleute-Gilde aus.<br />
Und Konkurrenz belebt das Geschäft!<br />
Die Konkurrenz seitens der fahrenden Händler zwang die<br />
Gilde, die Preise für ihre Dienstleistungen zu senken. Das<br />
wiederum führte dazu, dass den einfachen Menschen mehr<br />
Geld zum Leben blieb. Die Gilde jedoch machte gleich in<br />
doppelter Hinsicht Verlust - nämlich einerseits durch die<br />
gezwungenermaßen preiswerter angebotenen Waren und<br />
Dienstleistungen sowie andererseits dadurch, dass ihnen von<br />
den Kutschtransporten immer nur die Hälfte blieb. Denn<br />
Letzteres hatte sich nicht mehr geändert. Auch abweichende<br />
Routen der Kutschen, stärkere Bewachung, Fallen für die<br />
Diebe - indem man den Kutschen versteckte Bewaffnete<br />
anstelle von Waren mitgab - und ähnliche Maßnahmen waren<br />
wirkungslos geblieben. In ihrer Not wandten sich die<br />
Kaufherren daher nach Ablauf von knapp sechs vollen<br />
Monden an den Herrscher.<br />
Und sie fanden bei Baldur offene Ohren! Dem war es<br />
nämlich schon aufgefallen, dass seine eigenen<br />
Steuereinnahmen drastisch zurück gingen, während das Leben<br />
der Bevölkerung immer besser wurde. Ja, mehr noch: Er<br />
selbst hatte sogar hier und da schon persönliche Abstriche bei<br />
seinem eigenen Lebenswandel in Kauf nehmen müssen - eine<br />
untragbare Situation und absolut nicht mehr hinnehmbar!<br />
Fragte er seine Berater und Verwalter nach den Gründen des<br />
geringen Steueraufkommens, so fiel immer nur ein einziges<br />
Wort: „Bomenhau!“ Baldur handelte, und zwar gleich in<br />
zweifacher Hinsicht. Einerseits ließ er Bewaffnete und<br />
Reiterei in großer Anzahl nach Diekenboog transportieren.<br />
Von dort aus würde er zuschlagen und den Bomenhau<br />
ausräuchern! Schon sehr bald!<br />
Andererseits kannte er aber auch seine Verpflichtungen<br />
gegenüber der Kaufleute-Gilde. Baldur erließ ein Gesetz. Ein<br />
Gesetz, welches die Berufsausübung in der Bevölkerung stark<br />
einschränkte. Ab sofort durfte ungeachtet der Kenntnisse und<br />
Befähigungen eines jeden Einzelnen nur noch der selbständig<br />
einen Beruf ausüben, der dazu amtlicherseits eine Erlaubnis<br />
hatte. Die betreffenden Erlaubnisschreiben stellten Baldurs<br />
Hofbeamte aus - oder eben die Kaufleute, da sie überall im<br />
Reich präsent waren. Baldur hatte sie dazu ermächtigt. Und es<br />
197
erwies sich natürlich als selbstverständlich, dass nur solche<br />
Leute eine Berufserlaubnis erhielten, die dem Herrscher oder<br />
den Kaufleuten genehm waren.<br />
So mancher Schmied, Schuster, Sattler oder Schneider<br />
musste seine Werkstatt schließen und als Arbeiter bei einem<br />
Konkurrenten für schlechten Lohn neu beginnen - selbst<br />
dann, wenn er handwerklich geschickter als der weiter oben<br />
lieber gesehene Konkurrent war. Die fahrenden Händler<br />
bekamen generell keine Berufserlaubnis mehr, standen sie<br />
doch in Konkurrenz zur Gilde. Als Folge davon blühte im<br />
Reich <strong>Norgast</strong> der Schwarzmarkt. Mancher verdiente sich<br />
eine goldene Nase durch den schwunghaften Handel mit<br />
gefälschten Papieren – Papiere, die den Besitzern ungeachtet<br />
der tatsächlichen und häufig genug gar nicht vorhandenen<br />
Kenntnisse erstklassige Fähigkeiten bescheinigten.<br />
Fantasiepapiere, die umso eher akzeptiert wurden, je<br />
offizieller sie aussahen. Die ein Sprungbrett in die<br />
Oberschicht darstellten... Auch nahm die Staatsverdrossenheit<br />
zu, denn nur die wenigsten Menschen durften hinsichtlich<br />
ihrer Fertigkeiten noch das verwirklichen, was ihnen am<br />
Meisten lag. Doch sie waren ja nur Untertanen - dummes<br />
Volk in den Augen der Oberschicht und die Gilde profitierte<br />
wieder davon.<br />
Kurzfristig jedenfalls. Doch aufgrund der so unerwarteten<br />
Grundversorgung mit edlen Materialien fragte so mancher<br />
einfacher Bewohner sich, ob es denn überhaupt noch<br />
erforderlich sei, für schlechten Lohn bei schlechten Menschen<br />
zu arbeiten. Wer sich das fragte und über ausreichende<br />
Fähigkeiten verfügte, der baute sich insgeheim eine versteckte<br />
Werkstatt auf. Wer im Untergrund weiter arbeitete und<br />
gefasst wurde, der verlor alles. Sollte der doch sehen, wie er<br />
danach verarmt klar kam! Nicht Baldur´s Problem! Es wurde<br />
für Baldur damit zum einträglichen Geschäft, seine<br />
Bevölkerung erst zu kriminalisieren und dann als Folge davon<br />
ganz legal zu enteignen.<br />
Dennoch arbeiteten viele im Untergrund weiter. So bot<br />
der Schwarzmarkt bald bessere eine Qualität als der offiziell<br />
abgewickelte Handel. Weder Baldur noch die Handelsherren<br />
bemerkten das. Wie auch - verließen sie doch niemals ihr<br />
gesellschaftliches Umfeld. In gewisser Hinsicht hatten sie<br />
198
jeden Kontakt zur Realität verloren und das Volk des Landes<br />
unterteilte sich in zwei Klassen: die wirklichkeitsfremde<br />
korrupte, hab- und machtgierige Oberschicht sowie die<br />
einfachen Menschen, welche diese Oberschicht murrend<br />
duldeten – noch! Es gärte gewaltig! Schleichend setzte eine<br />
Landflucht ein. Dieser oder jener versuchte verzweifelt und<br />
ungeachtet der damit verbundenen Risiken, sein Glück<br />
jenseits von Ithelge oder Itcain zu machen. Andere probierten<br />
über Wilderbomen nach Sudergast zu gelangen, um sich dort<br />
ein neues Leben aufzubauen. Noch andere suchten Rat bei<br />
den überall verstreut lebenden Hexen und wurden von denen<br />
nach reiflicher Prüfung mit Malweýn´s Horde in Kontakt<br />
gebracht. Die Horde der Vogelfreien nahm dadurch gewaltig<br />
an Stärke zu und die Hagias dienten als Anlaufpunkte für alle<br />
Querdenker und für alle diejenigen, die aus dem<br />
menschenverachtenden System auszusteigen gedachten.<br />
So sahen die Zustände im Reich <strong>Norgast</strong> zu Beginn des<br />
Sommers aus, als Baldur von Diekenboog aus sein Heer in<br />
Bewegung setzte. Ein riesiges Heer, welches den Auftrag<br />
hatte, den Bomenhau dicht an dicht zu durchkämmen und<br />
gnadenlos jeden zu erschlagen, der dort zu finden war. Der<br />
Mordbefehl hatte einen sehr pragmatischen Hintergrund: Es<br />
waren in der letzten Zeit nicht mehr so viele Menschen wie<br />
zuvor in <strong>Norgast</strong> verstorben. Das bedeutete aber auch wenig<br />
Nahrung für den Shâgun. Der war zwar schon lange nicht<br />
mehr aufgetaucht, doch Baldur befürchtete dessen baldiges<br />
Erscheinen. Irgendwie fühlte er es! Davor hatte er Angst und<br />
diese permanente Angst machte ihn halb verrückt. Denn der<br />
Dämon würde kommen, eine reine Zeitfrage!<br />
Während Baldur in seinem Palast auf Helegenor weilte,<br />
setzte sich auf seinen Befehl hin das Heer in Bewegung.<br />
Richtung Süden, Richtung Bomenhau. Allerdings: Sonderlich<br />
motiviert waren diese Söldner nicht gerade. Das Gerede über<br />
die Geister des Waldes zeigte bei vielen Teilnehmern des<br />
Heerzuges abschreckende Wirkung. Da das Gebiet südlich<br />
von Diekenboog dicht bewaldet war und niemand genau<br />
sagen konnte, wo nun eigentlich der Forst des Bomenhau<br />
wirklich begann, kamen sie nur sehr langsam voran - nämlich<br />
im Schritt-Tempo, immer einer in Sichtweite des anderen.<br />
199
Auf diese Weise durchsuchte eine dichte Menschenkette den<br />
Forst vom Norden bis zum Süden.<br />
Findus war als weißer Rabe zuerst auf die Bedrohung<br />
aufmerksam geworden. Er informierte Malweýn und der ließ<br />
seine Gefolgsleute allesamt die schützende Höhle aufsuchen.<br />
Mit Hilfe eines Pflanzenzaubers machte er den Zugang<br />
gänzlich unpassierbar - alles war jetzt restlos vom<br />
Dornengestrüpp zugewuchert. Doch bevor das geschah,<br />
musste noch ein Problem gelöst werden, das auf den Namen<br />
Draconis hörte. Der Drache passte ja nicht in die Höhle.<br />
Doch er verfügte über die Eigenschaft, gänzlich<br />
bewegungslos ruhen zu können, so dass ein flüchtiger<br />
Betrachter ihn aus der Ferne durchaus mit einem Haufen<br />
Felsbrocken verwechseln konnte. Draconis suchte den<br />
steinernen Gipfel des Bomenhau auf und legte sich dort<br />
nieder. Findus und Malweýn bedeckten ihn zudem mit einer<br />
dünnen Schicht von Steinen, Erde und Laub.<br />
Sollte jemand dort entlang gehen, so hätte er danach auf<br />
dem Drachen stehen können, ohne ihn zu bemerken. Und<br />
auch für den Fall, dass Baldur´s Heer die Höhle trotz allem<br />
entdeckte, war Vorsorge getroffen worden. In diesem<br />
unwahrscheinlichen Falle nämlich würde Draconis auffliegen<br />
und alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Drache hoffte,<br />
dass ihm das Auffliegen schnell genug gelingen könne, um<br />
den Pfeilen und Bolzen von Langbogen und Armbrüsten zu<br />
entgehen. Doch soweit kam es gar nicht erst. Die<br />
Menschenkette - ohnehin schon sehr lustlos - zog eher müde<br />
vorbei und bemerkte nichts. Wäre ein Magier zugegen<br />
gewesen, dann hätte der sicherlich die magischen Einflüsse<br />
spüren können - doch es war keiner dabei und so erwies sich<br />
Baldur´s aufwändige, teure Aktion als ein einziger Fehlschlag.<br />
Ein Fehlschlag, der seinem ohnehin schon sehr<br />
angeschlagenen Ansehen noch beträchtlich mehr schadete.<br />
Das Aufbringen der Kutschen ging weiter. Doch im<br />
Gegensatz zu Baldur lernten Findus und Malweýn aus ihren<br />
Fehlern, wurde doch jetzt auch der Norden und damit<br />
Diekenboog selbst von der Horde überwacht. Besonders auf<br />
ein ganz bestimmtes Ereignis warteten beide gespannt<br />
- genau darauf, dass Baldur seinen Palast verließ, um selbst im<br />
Bomenhau nach dem Rechten zu sehen. Baldur hatte das<br />
200
ganz und gar nicht vor und wollte stattdessen lieber den<br />
ganzen Forst abbrennen lassen – getreu seiner Devise, alles<br />
das, was er nicht zu beeinflussen vermochte, einfach zu<br />
ignorieren oder zu zerstören. Ignorieren aber schied in diesem<br />
Falle aus. Von dem Zerstören jedoch rieten ihm seine Berater<br />
dringend ab – denn dann hätte man den Kutschen zukünftig<br />
obenrein auch noch einen teuren Versorgungstross mitgeben<br />
müssen.<br />
Es blieb Baldur folglich nichts anderes übrig, als sich selbst<br />
zum Ort des Geschehens zu begeben. Nachdem das Heer<br />
nichts gefunden hatte, war ihm schlagartig klar geworden,<br />
dass dort im Bomenhau nur Magie mit im Spiel gewesen sein<br />
konnte! Und einen vollen Mond nachdem das Heer Höhle<br />
und Gipfel passiert hatte, war es dann auch so weit. Ein<br />
Lichtsignal kündete von einem Schiff, welches Baldur nach<br />
Diekenboog brachte. Findus und Malweýn waren über seine<br />
Ankunft schon informiert, noch bevor der Herrscher<br />
überhaupt seinen Fuß auf das Land setzen konnte. Und für<br />
Baldur´s Erscheinen waren ganz spezielle Vorkehrungen<br />
getroffen worden.<br />
Etwa auf halbem Wege zwischen dem Bomenhaugipfel und<br />
Diekenboog floss ein Wildbach vom Gebirge ausgehend in<br />
den Wilderfrio. Der Bomenhau war an diesem Ort zu einem<br />
von Sumpf durchsetzten Auwald geworden. Die beiden<br />
Herren des Waldes - Findus und Malweýn - wählten diese<br />
Stelle für ihr Treffen mit dem Herrscher sorgsam aus, weil sie<br />
weit genug von der Höhle entfernt lag. Galt es doch, die<br />
eigenen Leute zu schützen. An diesem Ort nun wirkten sie im<br />
Verborgenen mächtige Schutzzauber. Nur eben nicht ganz im<br />
Verborgenen, denn einzelne, kurze Schübe von sehr starker<br />
Magie gelangten aus dem Wald heraus und versetzten das<br />
magische Geflecht in unübersehbare Schwingungen. Einem<br />
Außenstehenden gegenüber erweckte dies den Eindruck, als<br />
würde etwas praktiziert werden, was unbedingt geheim<br />
gehalten werden sollte. Genau das aber war ihr Köder für<br />
Baldur!<br />
201
Doch der Herrscher ließ sich Zeit. Erst vier Tage nach<br />
Baldur´s Ankunft näherte sich ein Reiter langsam dem<br />
besagten Gebiet. Findus und Malweýn - beide in Vogelgestalt<br />
- sahen ihn schon von Weitem kommen. Nachdem er nahe<br />
genug war, landeten beide und nahmen wieder menschliche<br />
Gestalt an. Sie erwarteten ihn. Unweit eines<br />
baumbestandenen Sumpfes zügelte Baldur sein Pferd. Dort<br />
vorn... Da standen zwei Gestalten. Sie kamen ihm zwar<br />
bekannt vor, doch aus der Ferne war es ihm noch nicht<br />
möglich, irgendwelche Einzelheiten zu erkennen. Egal! Denn<br />
schließlich war er ja nicht nur der beste Schwertkämpfer<br />
<strong>Norgast</strong>´s, sondern obenrein auch noch der mächtigste<br />
Magier. Ihm konnte keiner etwas anhaben! Das jedenfalls<br />
dachte Baldur voller Selbstüberschätzung, als er auf die<br />
beiden Gestalten zuritt. Dann irgendwann erkannte er sie!<br />
„Mein Widersacher! Und mein greiser Lehrer! Hat er dich<br />
befreit, alter Mann? Warst du über all die Jahre hinweg zu<br />
unfähig, um das selbst zu bewerkstelligen?“ höhnte Baldur.<br />
„Sei vorsichtig Baldur“ warnte Malweýn ihn. Baldur aber<br />
grinste nur verächtlich und stieg siegessicher vom Pferd. Mit<br />
diesen beiden Maden würde er schon fertig werden! Es wäre<br />
doch gelacht, wenn es anders kommen sollte! „Und du,<br />
Söhnchen - gerade du traust dich mir noch einmal unter die<br />
Augen? Ich habe dich schon einmal besiegt! Du hast keine<br />
Chance gegen mich!“ Findus antwortete: „Das beruht auf<br />
Gegenseitigkeit. Auch ich habe dich schon einmal besiegt. Im<br />
Myrkviör. Und dir dennoch eine neue Chance gegeben. Eine<br />
Chance, die du nicht genutzt hast. Schon vergessen - Bruder?“<br />
Das Wort ‚Bruder‘ traf Baldur fast wie ein körperlicher<br />
Schlag. Jetzt erst begriff er, begriff, was ihm ein ständig<br />
unterdrücktes, inneres Gefühl hatte mitteilen wollen. Dieses<br />
Gefühl - die Stimme des Blutes. Seines eigenen Blutes. Ja,<br />
jetzt verstand er. Warum sein Plan, Findus zu töten, nicht<br />
funktioniert hatte. Warum der Shâgun sich nicht an Findus´<br />
Seele hatte laben können. Weil ihrer beider Geister<br />
miteinander verbunden waren. Untrennbar verbunden durch<br />
den gemeinsam miteinander geteilten Mutterleib. Doch auch<br />
angesichts dieser existenziellen Erkenntnis behielt Baldur´s<br />
Selbstsucht die Oberhand. Bisher war er ohne einen Bruder<br />
ausgekommen - und dass sogar sehr gut! Er polterte: „Was<br />
202
kümmert es mich, dass du mein Bruder bist? Glaubst du etwa,<br />
ich würde dir <strong>Norgast</strong> überlassen? Träum´ weiter!“ „Danke<br />
ab, Baldur“ empfahl Findus. „Niemals! Du stirbst hier und<br />
heute!“ Baldur zog sein Schwert, wollte den Kampf - den alles<br />
entscheidenden Endkampf.<br />
Doch die zu erwartende Konfrontation blieb aus, denn<br />
völlig unerwartet lag urplötzlich so ein bitter-süß-fauliger,<br />
blassrötlich-türkisfarbener Geruch in der Luft. Ein grellkeckerndes<br />
Lachen ertönte und aus der Luft schälte sich<br />
langsam eine schwarze Nebelwolke von unaussprechlichem<br />
Grauen. Auch der Dämon war durch die Schutzzauber auf<br />
diesen Ort aufmerksam geworden! „Ausgerechnet ein<br />
Shâgun“ ächzte Malweýn und setzte hinzu: „Den kann man<br />
nur bannen, aber niemals beherrschen!“ „Du sagst es, alter<br />
Mann“ erklang eine Gänsehaut-erregende Stimme, als würden<br />
Fingernägel über Schiefer kratzen. Die Stimme fuhr triefend<br />
vor Gier fort: „Und wen haben wir denn hier? Zwei Brüder!<br />
Zwei verwandte Seelen - und ich bin hungrig. Sehr hungrig<br />
sogar!“<br />
Der Shâgun schwebte im Wissen um die eigene Macht, um<br />
die eigene Unverwundbarkeit, auf Findus und Baldur zu.<br />
Langsam, als wolle er sich an der Angst, an der Qual seiner<br />
ihm sicheren Opfer weiden. Plötzlich knisterte die Luft<br />
„Schssstkracks“ in grau-schwarzen, unregelmäßig geformten,<br />
zackigen Flecken. Dahinter orangefarbenes Licht und es<br />
materialisierten drei Körper: Lyonora, Dayla und die Bônday.<br />
„Ich sagte ja schon, dass ich da sein werde, wenn man mich<br />
braucht“ meinte die Letztere lächelnd mit ihrer Stimme wie<br />
golden-reifes und von Nebelschwaden durchzogenes Korn.<br />
Sie reichte Malweýn die Hand. „Du kommst spät - wie<br />
immer!“ murrte der, obgleich ihm die große Erleichterung ins<br />
Gesicht geschrieben stand. Ihr Körperkontakt bewirkte, dass<br />
einer die Gefühle des anderen spüren und darauf eingehen<br />
konnte. Seelischer Gleichklang war die Folge und der<br />
potenzierte ihrer beider magischen Kräfte. Zwei<br />
ernstzunehmende Gegner für den Shâgun!<br />
Schnell hoben beide zwei vom Nebeltau des Shâgun<br />
benetzte Blätter auf und umschlossen sie fest mit den<br />
Händen, streckten die geschlossenen Fäuste vor sich aus. Sie<br />
konzentrierten sich darauf und vollzogen zweistimmig<br />
203
singend ein kurzes Weiheritual: „Von nun an seiest du, vom<br />
Dämon benetztes Laub, Teil des Shâgun´s. Was mit dir<br />
geschieht, das geschehe auch dem Shâgun selbst!“ Der<br />
Dämon heulte auf, als er diese Worte hörte und wandte sich<br />
umgehend der Bônday und Malweýn zu. Die beiden konnten<br />
ihm jetzt wirklich gefährlich werden! Derweil sang die Bônday<br />
bereits, blendend helle Runen in die Luft zeichnend, die<br />
Worte: „Noth gebe dem Dämon das, dessen er wirklich<br />
bedarf. Isaz steuere seine Aktivität. Tyr hilf uns und Laguz<br />
dem Land!“ Gleichzeitig griff Malweýn den Shâgun mit<br />
Wenderunen an. Mit tiefer sonorer und sicherer Stimme,<br />
Sturzrunen zeichnend, intonierte der Alte die Sprüche:<br />
„Zuruh destabilisiere dieses Wesen, Zalagah führe ihn zurück<br />
in seine angestammte Unterwelt und Othrep beeinflusse seine<br />
Kraft, auf dass er für immer dort verbleibe!“<br />
Das Einzige, was der inzwischen schon schrumpfende<br />
Shâgun diesen machtvollen Beschwörungen entgegen zu<br />
setzen hatte, war rohe Gewalt. Bläuliche Blitze zuckten von<br />
dem sich ringelnden Nebelgebilde auf Magier und Hagia zu,<br />
ohne jedoch die beiden wirklich erreichen zu können.<br />
Stattdessen wurden die Blitze abgelenkt, trafen auf das<br />
geweihte Laub! Mit jeder Abwehrmaßnahme brachte der<br />
Shâgun sich nur selbst immer stärker in Bedrängnis, denn die<br />
beiden nunmehr auf den offenen Handflächen von Malweýn<br />
und der Bônday präsentierten Blätter trockneten durch die<br />
Blitze sehr schnell aus, rollten sich krümmend zusammen,<br />
verfärbten sich erst dunkelbraun, dann schwarz und<br />
zerkrümelten schließlich zu Asche, welche zu Boden rieselte.<br />
Im gleichen Maße aber verschwand der Shâgun aus <strong>Norgast</strong>!<br />
Unmittelbar vor seinem endgültigen Verschwinden bäumte er<br />
sich - vergeblich - noch ein letztes Mal auf und schickte den<br />
Baldur so wohlbekannten und unvergesslichen, sich von tiefblutrot<br />
nach unerträglich-violett färbenden Blitz aus. Der traf<br />
Magier und Bônday. Sie blieben stehen, als sei nichts<br />
geschehen und der Shâgun verschwand endgültig in der<br />
Unterwelt. Nachdem das geschehen war, brachen beide<br />
gleichzeitig zusammen.<br />
Noch während Findus zu Malweýn eilte und Lyonora<br />
sowie Dayla zur Bônday rannten, erkannte Baldur seine<br />
Chance. Hals über Kopf raste er blindlings los, in das<br />
204
Dickicht des Waldes hinein. Fliehen, solange es noch ging;<br />
nur weg von hier! Doch aufgrund der sich zwischen den<br />
Bäumen erstreckenden Sumpfflächen kam er nicht weit.<br />
Noch ehe der Herrscher sich´s versah, war er bis zu den<br />
Schultern verschwunden, eingesunken im Morast. Und der<br />
Sumpf zog, zog ihn immer weiter hinab! Baldur schrie seine<br />
Not hinaus und Findus hörte ihn, blickte auf - doch es war zu<br />
spät. Grau-grün-braunes Wasser schloss sich mit gurgelndem<br />
Schmatzen über seinem Bruder und nur noch einzelne<br />
Luftblasen kündeten vom Ende eines menschlichen Wesens.<br />
„Baldur Os-Rit-Mannaz“ rief Findus noch den<br />
‚echten‘ Namen seines Bruders aus: Erreiche dein Ziel, indem<br />
du die Herausforderung durch den Kreislauf des Lebens anund<br />
dein Schicksal selbst in die Hand nimmst. Ein Beben<br />
erfasste das magische Geflecht - just in dem Moment, in dem<br />
Baldur´s Geist sich vom toten Körper trennte. Doch da der<br />
Körper bereits tot war, fand Baldur´s Seele keinen Anker<br />
mehr. Das verurteilte ihn zu einem Dasein als ruheloser<br />
Wanderer zwischen den Welten. Doch das Beben im Geflecht<br />
führte noch zu einem anderen Effekt. Malweýn erlangte kurz<br />
das Bewusstsein zurück, ergriff Findus´ Arm und blickte dem<br />
jungen Mann in die Augen. „Ich sterbe“ stöhnte er „nimm´<br />
meine Macht auf. Zum Wohle <strong>Norgast</strong>´s!“ Findus spürte, wie<br />
ihn eine nie gekannte, kraftvoll-magische Woge überlief, wie<br />
ihm weiteres Wissen zufloss. Ähnliches geschah bei der<br />
Bônday, neben der links und rechts sowohl Dayla wie auch<br />
Lyonora knieten. Die Bônday sah ihre beiden Novizinnen nur<br />
zufrieden lächelnd an und schloß dann die Augen – für<br />
immer.<br />
Findus blickte zu ihnen hinüber. Die beiden Frauen<br />
schauten auf. Daylas Augen waren verändert - nämlich<br />
bernsteingelb! Sie schluchzte. „Wir sollten unsere Toten<br />
zuerst bestatten“ sagte Findus etwas hilflos in seiner eigenen<br />
Trauer und mit erstickter Stimme. Unisono nickten Dayla und<br />
Lyonora. „Wir nehmen die tote Bônday mit zur ‚namenlosen<br />
Insel’ und kümmern uns dort um alles“ bemerkte Dayla<br />
tonlos und öffnete die Ley-Linie, über die sie gekommen<br />
waren. Etwas, das sie früher nicht gekonnt hatte. Erschüttert<br />
sah Findus zu, wie die beiden Frauen den toten Körper ihrer<br />
205
früheren Herrin dort hinein trugen. „Wir sehen uns später<br />
einmal...“ meinte Dayla zum Abschied „...wenn die Zeit reif<br />
ist.“ Findus konnte nur nicken, den toten Malweýn noch auf<br />
seinem Schoß gebettet.<br />
206
Kapitel 10: Das magische Geflecht<br />
Ein paar Tage später. Obgleich die Horde der Vogelfreien<br />
vollzählig versammelt war, verlief Malweýn´s Beisetzung in<br />
aller Stille. Er wurde tief im Schoß des Bomenhau vergraben<br />
- des Waldes, der ihm während seiner Bannung als Baum so<br />
lange so nah und gleichzeitig doch so fern gewesen war. Im<br />
Anschluss an die Trauerfreier hielt Findus eine kurze<br />
Ansprache an die Horde: „Ich beabsichtige, den von Malweýn<br />
einmal eingeschlagenen Weg konsequent zu einem guten<br />
Ende zu führen. Für <strong>Norgast</strong>! Ein Herrscher ist nichts ohne<br />
seine Untertanen. Nur zufriedene Untertanen sind auch treue<br />
Untertanen und nur treue Untertanen stehen zu ihrem<br />
Herrscher. Ein Herrscher muss daher immer das<br />
Wohlergehen seiner Untertanen im Auge haben. Baldur ist tot<br />
und ich als sein Zwilling bin sein legitimer Blutsnachfolger.<br />
Baldur hat die Armen ausgequetscht, um es den Reichen zu<br />
geben. Er war korrupt und hat alle Besitztümer <strong>Norgast</strong>s von<br />
unten nach oben umverteilt. Profitiert hat davon in erster<br />
Linie die Gilde der Kaufleute. Malweýn wollte diesen Trend<br />
umkehren. Als Herrscher beabsichtige ich, ganz im Sinne<br />
Malweýn´s weiterzumachen, denn wir sind noch nicht fertig.<br />
Noch lange nicht! Doch dazu brauche ich Helfer. Ich brauche<br />
euch, euch alle!“ Er machte eine Pause und blickte die um ihn<br />
herum stehenden Personen an. Neugierige Gesichter.<br />
„Wie stellst du dir das denn vor? Was genau sollen wir<br />
tun?“ fragte einer seiner Leute und Findus antwortete: „Die<br />
Vormänner bitte ich, nach Diekenboog zu gehen und dort auf<br />
meine Ankunft zu warten.“ Er wandte sich nun direkt an die<br />
Führer der Horde. „Ihr habt eure Führungsqualitäten mehr<br />
als bewiesen und solche Leute brauche ich im Palast von<br />
Helgenor. Dort sind noch die von Baldur eingesetzten<br />
Hofbeamten an der Arbeit. Solange ich neu im Amt bin,<br />
können die mir viel erzählen - zugunsten der Kaufleute und<br />
zulasten der Bevölkerung. Deswegen benötige ich<br />
zuverlässige Personen, die diesen Hofbeamten auf die Finger<br />
sehen. Und das sollt ihr sein. Ich werde euch voraussichtlich<br />
binnen eines Mondes aus Diekenboog abholen.“<br />
207
Nun wandte Findus sich wieder an alle: „Ihr anderen aber<br />
sollt ausschwärmen und verkünden, dass Baldur´s Herrschaft<br />
zu Ende ist. Das sein Bruder der neue Herrscher sein wird.<br />
Doch damit noch nicht genug. Ungleich wichtiger ist es, dass<br />
ihr weitere zuverlässige Leute anwerbt. Um herauszufinden,<br />
wer zuverlässig ist und wer nicht, müsst ihr unbedingt auf das<br />
Netzwerk der Hexen zurück greifen. Fragt die Hexen nach<br />
geeigneten Leuten! Sie waren schon in der Vergangenheit der<br />
Anlaufpunkt für alle Querdenker und sie werden es in der<br />
Zukunft erst Recht sein. Auch sind sie die Einzigen, welche<br />
die Aufrichtigkeit neuer Leute instinktiv richtig beurteilen<br />
können.“<br />
Er schwieg kurz und fuhr fort: „Richtet in jeder Stadt, in<br />
jeder Niederlassung, eine Anlaufstelle ein. Ihr erhaltet zur<br />
Finanzierung noch etwas von den restlichen Schätzen. Haltet<br />
eure Ohren offen und hört auf die einfachen Leute.<br />
Registriert Fehlverhalten, Bedrohungen, Korruption und<br />
Übervorteilungen. Die Vormänner werden so bald wie<br />
möglich wieder an euch herantreten und es wird auch<br />
geänderte Gesetze geben.“ Findus blickte in die Runde.<br />
„Draconis und ich verteilen noch die restlichen<br />
Wertgegenstände unter den Ärmsten der Bevölkerung. Dann<br />
statten wir der ‚namenlosen Insel‘ in der Tiedsiepe einen<br />
Besuch ab, um uns nach der Bônday zu erkundigen und<br />
danach begeben wir uns direkt nach Helgenor. Also - wer von<br />
euch macht mit? Wer mitmacht, der hebe seine Hand!“ Nicht<br />
eine Hand blieb unten. Man kannte Findus, kannte sein<br />
Können, achtete seine Motive. Er hatte bewiesen, dass er für<br />
seine Überzeugungen einzutreten wusste und deshalb<br />
vertraute man ihm. Taten statt Worte - und das war Ansporn<br />
genug.<br />
Ein paar Tage später hatte sich die Horde der Vogelfreien<br />
aufgelöst. Nach einer kurzen Ausstattung mit Sach- und<br />
Wertgegenständen waren die Leute losgezogen, um ihre<br />
neuen Aufgaben zu bewältigen - die ehemaligen Führer in<br />
Richtung Diekenboog und die anderen in alle<br />
Himmelsrichtungen. Auch die Höhle war jetzt leer, denn<br />
Draconis´ Flüge brachten die restlichen Schätze unter die<br />
Leute. Von Sirval aus fuhren wieder Kutschen nach<br />
Diekenboog - doch unbehelligt und gerade so, als sei nie<br />
208
etwas geschehen. Und die Kaufleute freuten sich über ihre<br />
Geschäfte, gaben sich vorerst noch der trügerischen<br />
Hoffnung hin, dass alles beim Alten bleiben würde.<br />
Draconis und Findus saßen jetzt allein auf dem Gipfel des<br />
Bomenhau. „Glaubst du wirklich, dass Baldur tot ist?“ fragte<br />
Draconis. „Nein“ entgegnete Findus „ich schätze vielmehr,<br />
dass es seinen Geist in eine der Anderswelten verschlagen<br />
haben wird. Ich glaube aber auch, dass wir hier in <strong>Norgast</strong><br />
von ihm nichts mehr befürchten müssen.“ „Wieviele<br />
Anderswelten mag es wohl geben?“ „Unendlich viele. Sieh´<br />
mal - wenn ich einen Drachen wie dich von vorn betrachte,<br />
dann weiß ich, dass es ein Drache ist. Wenn ich dich aber von<br />
der Seite oder von hinten sehe, dann weiß ich auch, dass du es<br />
bist. In meinem Kopf wird also nicht nur ein eben gesehenes<br />
Bild mit etwas schon Vorhandenem verglichen - denn sonst<br />
könnte ich dich von hinten oder von der Seite ja gar nicht als<br />
Drachen erkennen - sondern es geschieht etwas Neues. Eine<br />
Verbindung wird geknüpft und eine Erkenntnis entsteht.<br />
Diese Erkenntnis sehe ich als die Geburt einer neuen Welt<br />
- einer Anderswelt - an. Und da es unendlich viele Gedanken<br />
gibt, muss es auch unendlich viele Anderswelten geben.<br />
Vielleicht ist ja <strong>Norgast</strong> selbst nur irgendwo von irgendwem<br />
erdacht und dadurch zu unserer Realität geworden. Für den<br />
Betreffenden sind wir dann eine Anderswelt. In welche<br />
Anderswelt es Baldur allerdings verschlagen hat, das vermag<br />
ich nicht zu sagen.“ Findus schwieg und sah nachdenklich zu<br />
Draconis hinüber.<br />
Der fragte: „Was hast du jetzt eigentlich ganz konkret mit<br />
dem Land vor?“ Offen betrachtete Findus seinen Freund und<br />
erwiderte: „Zuerst gehört Baldur´s Berufsbefähigungsgesetz<br />
abgeschafft. Jeder soll wieder die Arbeit machen können, die<br />
ihm von Natur aus liegt. Nur dann sind die Menschen<br />
motiviert und nur dadurch kann es gute Arbeit und in Folge<br />
davon einen gewissen Wohlstand für jeden geben. Das<br />
Handelsmonopol der Kaufleute-Gilde werde ich auch<br />
beseitigen. Jeder soll Handel treiben dürfen. Es ist besser und<br />
sehr viel störungsunanfälliger, alles auf vielen kleinen<br />
Schultern dezentral zu verteilen, als nur auf einigen wenigen<br />
Großen.“<br />
209
Findus fuhr fort: „Die kleinen Händler können und sollen<br />
sich zusammenschließen. Doch solche Machtkonzentrationen<br />
wie in den Händen der Handelsherren darf es nie wieder<br />
geben, denn nur dadurch wurde Baldur´s Regime überhaupt<br />
erst ermöglicht. Geschäfte können zukünftig sowohl im<br />
Tausch wie auch über Geld abgewickelt werden. Von jedem<br />
Geldgeschäft beanspruche ich ein Drittel als Steuer. Auch von<br />
jedem Besitzstand, der ein gewisses Mindestmaß<br />
überschreitet, werde ich mir genau ein Drittel als Steuer<br />
nehmen. Davon wird eine Grundversorgung für die<br />
Bevölkerung finanziert, so dass niemand mehr Angst haben<br />
muss, gänzlich zu verarmen oder gar zu verhungern. Auch<br />
wird die Grundversorgung die Menschen flexibler machen<br />
- sie müssen dann nicht mehr um ihres Überlebens willen wie<br />
Sklaven für irgendwelche Parasiten arbeiten. Sie werden<br />
Wahlmöglichkeiten haben.“<br />
„Und darüber hinaus?“ fragte der Drache. „Darüber<br />
hinaus werde ich auch das Strafrecht ändern. Es gibt keine<br />
Vogelfreien mehr. Jeder Mord wird - ungeachtet des Opfers -<br />
auch als Mord geahndet werden. Übervorteilung beim Handel<br />
und Betrug werden einem Diebstahl gleichgestellt.“ „Wer soll<br />
die Einhaltung dieser Gesetze kontrollieren und wer soll<br />
Recht sprechen?“ „Ich werde das Reich in überschaubare<br />
Bezirke aufteilen. Jeder Bezirk wählt dann für<br />
Vollstreckungszwecke auf zwei Sommer einen Büttel. Der<br />
wiederum darf Helfer einstellen. Zusätzlich werden Richter<br />
und Dorfvorsteher gewählt. Aber auch nur für zwei Sommer<br />
und ohne die Möglichkeit einer Wiederwahl, damit es nicht zu<br />
Filz und Bestechung kommt. Wer korrupt ist, der verliert<br />
alles. Streitigkeiten lassen sich so zwischen den Beteiligten auf<br />
der Bezirksebene klären. Im Zweifelsfalle kann eine der<br />
Hexen als Beraterin angerufen werden, um die Motive aller<br />
und den Gesamtzusammenhang zu prüfen.“<br />
Draconis nickte zustimmend und Findus erläuterte weiter:<br />
„Den Bütteln und Richtern mehrerer Bezirke steht ein<br />
Vorgesetzter vor. Ich plane, dafür Leute aus der ehemaligen<br />
Horde einzusetzen. Weiterhin wird deren Aufgabe darin<br />
bestehen, die Steuern zu überwachen, damit niemand<br />
heimlich etwas beiseite schafft und so der Allgemeinheit<br />
schadet.“ „Und wie willst du das mit größeren Sachen<br />
210
handhaben, wenn beispielsweise eine Handelsflotte oder<br />
sowas da ist?“ „Nehmen wir einmal an, ein Handelsherr<br />
besitzt drei Schiffe. Dann geht eins davon als Steuer in<br />
meinen Besitz über. Er darf es zwar weiterhin benutzen, aber<br />
ich habe dadurch ein Mitspracherecht bei jeder Fahrt und bei<br />
jedem Besatzungsmitglied. Auch wird das Mitspracherecht auf<br />
alle irgendwo für irgendwen arbeitenden Menschen<br />
ausgeweitet werden müssen. Denn nur so kann geheimen<br />
Absprachen wirkungsvoll entgegen getreten werden.“<br />
„Was machst du mit Baldur´s Söldnern?“ „Wer von denen<br />
mir dienen will, der kann das auch tun. Ich werde Söldner<br />
brauchen, um den Piraten entgegen zu treten.“ „Ich sehe<br />
schon, dass du dir über <strong>Norgast</strong>´s Zukunft wirklich<br />
Gedanken gemacht hast. Wann willst du mit der<br />
Verwirklichung beginnen?“ fragte Draconis. „Jetzt sofort. Wir<br />
sind lange genug hier gewesen. Fliege mich zur ‚namenlosen<br />
Insel‘. Ich brauche Dayla´s Einverständnis für das, was ich<br />
vorhabe.“ „Dayla´s Einverständnis? Glaubst du, dass es noch<br />
die Dayla ist, die du kanntest?“ „Wir werden sehen“ meinte<br />
Findus und sie flogen los, in Richtung Tiedsiepe und der<br />
Sonne entgegen.<br />
Die beiden erreichten die ‚namenlose Insel‘ kurz nach<br />
Sonnenuntergang, wobei Draconis sich mit seinem<br />
Drachensinn wieder am Kreuzungs-Leuchtfeuer der<br />
Erdströme orientierte. Von oben her waren in der<br />
Dämmerung zwei Personen erkennbar - eine Frau und ein<br />
junges Mädchen. Findus riet dem Drachen, bei den beiden zu<br />
landen. Am Boden angekommen stieg der Drachenreiter ab.<br />
Die Frau, die er gesehen hatte, war ganz zweifellos Lyonora.<br />
Sie erwartete ihn. „Lyonora“ sagte Findus und nickte<br />
grüßend. Auch Lyonora begrüßte ihn kurz, stellte ihn ihrer<br />
Begleitung vor, wies auf das vielleicht ein Dutzend Sommer<br />
alte Mädchen und sagte: „Das ist Mona. Sie ist die neue<br />
Novizin.“ „Wo ist Dayla?“ Ein irritierter Blick seitens<br />
Lyonora, dann: „Warte bitte einen Moment. Ich werde die<br />
Bônday informieren.“ „Also doch!“ schoss es Findus durch<br />
211
den Kopf. Wie er es schon vermutet hatte. Dayla war zur<br />
neuen Bônday geworden!<br />
Lyonora verschwand und kam kurz darauf mit einer<br />
zweiten Frau zurück. Findus kannte die - und auch wieder<br />
nicht. Von der Gestalt her handelte es sich eindeutig um<br />
Dayla. Doch ihre Haut war dunkel und das Haar silbern<br />
geworden. Bernsteinfarbene Katzenaugen blickten ihn an und<br />
eine samtweiche, rauchige Stimme, wie Nebel in einem<br />
Kornfeld, sagte: „Ich habe dich noch nicht so früh erwartet.“<br />
„Dayla!“ antwortete Findus erfreut und wollte auf sie zu eilen,<br />
doch seine einstige Geliebte schüttelte nur bedauernd den<br />
Kopf. „Sag´ bitte Bônday. Dayla existiert nicht mehr.“ Sie war<br />
abgesehen von ihrer Erscheinung auf unbestimmbare Weise<br />
verändert. Distanzierter. Nicht mehr die Frau von früher.<br />
Reifer, erfahrener und mächtiger. Sie war ihm zwar weiterhin<br />
wohl gesonnen,. aber sie war nicht mehr seine Geliebte. Sie<br />
ging ihren eigenen Weg, einen anderen, älteren Weg. Da hatte<br />
sich etwas zwischen die einstmals Liebenden geschoben.<br />
Findus spürte das. Die Bônday auch - mit Wehmut. Doch die<br />
alten Zeiten waren vorbei. Wohl endgültig. Sie als mächtigste<br />
Hagia, er als stärkster Magier. Standen sie jetzt etwa in<br />
Konkurrenz zueinander? Oder würden sie zusammenarbeiten<br />
können oder gar müssen – wie einst die frühere Bônday und<br />
Malweýn?<br />
„Wir müssen miteinander reden“ begann Findus und fuhr<br />
fort „Wegen <strong>Norgast</strong>. Wie es weitergehen soll. Ich brauche<br />
deine Hilfe.“ Dayla - die Bônday - nickte verstehend.<br />
„Komm´ mit“ entgegnete sie und wies Lyonora sowie Mona<br />
an, sich um Draconis zu kümmern. Es würde ein Vier-Augen-<br />
Gespräch werden. Wenig später saßen Findus und die neue<br />
Bônday beisammen. Der zukünftige Herrscher legte ihr seine<br />
Pläne dar, wie er es auch schon gegenüber der früheren<br />
Horde und gegenüber dem Drachen getan hatte. Findus bat:<br />
„Ohne das Netzwerk der Hexen kommen wir nicht weiter.<br />
<strong>Norgast</strong> braucht die als Berater. Und wo wir schon mal dabei<br />
sind: Es wäre wünschenswert, wenn die<br />
Nichteinmischungspolitik der Bônday´s der Vergangenheit<br />
angehören könnte. Wenn du eine Kontrollfunktion<br />
ausübtest.“ „Was für eine Kontrollfunktion?“ wollte die<br />
Bônday wissen.<br />
212
„Über mich, über zukünftige Herrscher. Niemand ist<br />
unfehlbar. Es ist immer gut, wenn jemand da ist, der einen<br />
schon frühzeitig auf mögliche Fehlentwicklungen hinweist.<br />
Jemand, der enge Verbindung zum Volk hat. Wie du - durch<br />
die Hexen. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass es nie<br />
wieder zu so einem Machtmissbrauch wie unter Baldur´s<br />
Regentschaft kommt.“ „Eine schwierige Entscheidung“<br />
entgegnete die frühere Dayla, die es sich nicht leicht machte.<br />
„Wir sollten das überschlafen. Jeder für sich.“ fuhr sie fort<br />
und ergänzte „Morgen sehen wir weiter.“ Beide fanden in der<br />
Nacht jedoch wenig Schlaf. Zu schwer wogen die Gedanken.<br />
Das Reich musste von Grund auf umgekrempelt werden.<br />
Dazu bedurfte es der Hilfe aller. Auch die Bônday sah das ein.<br />
Am nächsten Tag teilte sie Findus ihr Einverständnis mit.<br />
„Jetzt kannst du mich zum Palast nach Helgenor bringen“<br />
sagte der daraufhin zu seinem Drachenfreund und ihre Reise<br />
ging weiter.<br />
Auf einen wochenlang schon unterwegs gewesenen<br />
Reisenden wirkte die Insel Helgenor wie eine Verheißung.<br />
Zuerst sah er vom Schiff aus, wie sich langsam eine Insel aus<br />
dem Dunst des fernen Horizonts schälte. Die Insel wuchs<br />
sich zum Berg aus und oben auf thronte der weiße Palast von<br />
Helgenor. Zu seinen Füßen kam dann nach und nach die<br />
Stadt Helgeboog in Sicht. Der mit einer<br />
Palisadenkonstruktion zum Meer hin befriedete Hafen. Die<br />
feste Stadt, umgeben von einer imposanten,<br />
halbkreisförmigen Stadtmauer aus massivem Stein. Ginge der<br />
Reisende an Land, so könnte er feststellen, dass sich an den<br />
Hafen Märkte und Handwerkshäuser anschließen. Am einen<br />
Stadtrand wären all die zu finden, deren Gewerbe mit<br />
Geruchsbelästigungen verbunden ist: die Gerber, die Färber,<br />
die Kerzenmacher, die Schmiede sowie das Fleisch und den<br />
Fisch verarbeitende Gewerbe. Am anderen Stadtrand fanden<br />
sich die Unterkünfte des Stadtvolks. Ein befestigter und<br />
gesicherter Weg führte hinauf zum Palast.<br />
Findus und Draconis jedoch bot sich ein gänzlich anderes<br />
Bild, denn sie kamen ja auf dem Luftweg. Von oben sahen sie<br />
213
den Hafen im Sonnenschein liegen. Aufgrund der warmen<br />
Meeresströmungen blühte die Insel und Frühlingsduft lag in<br />
der Luft. Große Hallen fanden sich in der Stadtmitte; ihre<br />
Reihen nur durchbrochen von den zahllosen Schenken, die<br />
- wenn man den Leuten denn Glauben schenken wollte -<br />
sogar frei von Ungeziefer sein sollten. Das Stadtvolk selbst<br />
wohnte in hübschen und gepflegten kleinen Häusern. Weiße<br />
Häuser, breite Straßen und elegante Torbögen. An den<br />
großen Markt am Hafen - der von einer Marktpolizei<br />
überwacht wurde - schlossen sich ringsum viele kleinere<br />
Märkte an, von oben leicht an den bunten Tüchern der<br />
Marktstände erkennbar. Ganz Helgeboog atmete Reichtum<br />
und Leichtigkeit aus - was so gar kein Vergleich mit dem Rest<br />
des Landes <strong>Norgast</strong> war. Und über allem: der majestätische<br />
weiße Palast des Herrschers. Luxus pur.<br />
Die Kunde vom neuen Herrscher war Findus und<br />
Draconis schon vorausgeeilt. Die Leute wussten etwas, aber<br />
nichts Genaues. Die Kaufleute hingegen hatten sich auf ihre<br />
Weise gewappnet. Draconis flog tief. Er zeigte sich den<br />
Bewohnern der Stadt und Findus inspizierte sein neues Reich<br />
von oben. Einige Pferde scheuten ob des Drachens;<br />
Menschen versteckten sich. Aber nicht alle. Findus wies<br />
Draconis an, höher zu fliegen, um Schaden zu vermeiden und<br />
bat ihn, Kurs auf den Palast zu nehmen. Auch viele der<br />
Stadtbewohner und der Soldaten strebten jetzt dorthin,<br />
gerade so, als erwarteten sie etwas. Ihren neuen Herrscher.<br />
Der von Helgeboog kommende, befestigte Weg mündete auf<br />
einen steingefassten Platz vor dem eigentlichen Palast. Dort<br />
landeten Drachen und Drachenreiter, warteten auf die<br />
Menschen. Und die kamen in Scharen und staunend.<br />
Nachdem der Platz sich gefüllt hatte, richtete Findus sich auf<br />
Draconis Rücken auf und der Drache sprach mit weithin<br />
hallender Stimme: „Ich bringe euch den neuen Herrscher von<br />
<strong>Norgast</strong>!“ Beinahe schlagartig trat Ruhe ein. Zeit für Findus,<br />
sich an sein Volk zu wenden.<br />
Er betrachtete die aufmerksame Menge vor ihm. Es waren<br />
einfache Leute - Fischer, Handwerker, Seeleute, Soldaten. Ein<br />
Mann in der vorderen Reihe fiel ihm auf, weil der trotz der<br />
milden Witterung einen langen blaugrauen Mantel trug. „Aber<br />
jeder so, wie es ihm beliebt“ dachte Findus bei sich. Mit<br />
214
klarer, lauter und volltönender Stimme begann er zu<br />
sprechen. „Ich grüße euch! Mein Name ist Findus. Ich bin der<br />
Sohn von König Mykyllin und von Königin Gwylon. Baldur<br />
war mein Zwillingsbruder. Er ist tot. Er unterlag mir im<br />
Kampf.“ Das stimmte so zwar nicht genau, aber Findus hatte<br />
nicht vor, hier und jetzt die ganze Geschichte von Baldur´s<br />
unrühmlichen Ende zu erzählen. Er schwieg kurz und<br />
überlegte sich die nächsten Worte. So entging ihm auch, dass<br />
der Mann im graublauen Mantel sich langsam und vorsichtig<br />
bückte.<br />
Die Kunde, dass Findus hinter den Vorfällen im<br />
Bomenhau gesteckt hatte, war ihm selbst lange vorausgeeilt<br />
- denn auch die Kaufleute kannten die Kommunikation mit<br />
Licht unter Verwendung kleiner silberner Spiegel. Und die<br />
Kaufleute hatten sich gewappnet. Sie wussten, was sie<br />
erwartete, wenn ein Mann des Volkes die Regierungsgeschäfte<br />
übernehmen würde. Das musste unbedingt verhindert<br />
werden! Und nicht umsonst hatte man seine Seilschaften,<br />
kannte Leute für besondere Gelegenheiten... Der Mantelmann<br />
war so ein Jemand für besondere Gelegenheiten. Ein Söldner,<br />
dem Auftrag und Auftraggeber völlig egal waren, solange nur<br />
der Lohn stimmte. Und der war in diesem Fall hoch. Wenn es<br />
ihm gelänge, Findus auszuschalten, dann winkte dem<br />
Auftragskiller ein ganzer Beutel mit Gold!<br />
Der Mantel hatte nur eine einzige Funktion. Er sollte eine<br />
kleine Armbrust und den Gürtel mit dem Spannhaken daran<br />
verbergen. Als der Mantelmann sich bückte, geschah dies nur<br />
aus einem einzigen Grund - nämlich um die Sehne der<br />
Armbrust in den Spannhaken einzuhängen, so dass die Waffe<br />
durch das Aufrichten gespannt wurde. Nachdem der Mann<br />
wieder gerade stand, knöpfte er langsam seinen Mantel auf.<br />
Insheim legte er einen Bolzen in die Schiene der Waffe ein.<br />
Die war damit schussbereit. Niemand nahm davon Notiz.<br />
Inzwischen aber sprach Findus bereits weiter.<br />
„Es gibt sicherlich einige unter euch, die Mykyllin und<br />
Gwylon noch gekannt haben. Wie man hört, sollen die beiden<br />
ein gutes Herrscherpaar gewesen sein.“ Ein zustimmendes<br />
Raunen durchlief die Menge und Findus atmete innerlich auf<br />
- er hatte genau den richtigen Ton getroffen. Er fuhr fort:<br />
„Gwylon war eine Hexe. Sie sah böse Vorzeichen und ließ<br />
215
mich deswegen nach meiner Geburt in Sicherheit bringen.<br />
Daher wurde mein Zwillingsbruder Baldur zum Herrscher<br />
- doch er war nur ein Strohmann! Ein Strohmann der Macht<br />
im Hintergrund. Einer Macht, der <strong>Norgast</strong> die heutigen<br />
Zustände zu verdanken hat. Seid ihr mit diesen Zuständen<br />
zufrieden?“ Ein einstimmiges „Nein!“ schallte ihm entgegen.<br />
„Baldur war ein Strohmann für die Gilde der Kaufleute!“ Ein<br />
erschrecktes Keuchen, vereinzeltes „Ah!“ und „Oh!“ kamen<br />
aus der Menge.<br />
Es reichte. Der Mantelmann war eiskalt, als er seinen<br />
Mantel zurück schlug, die Armbrust ansetzte, kurz zielte und<br />
abdrückte. Ein kurzes leises, erdbraunes „Plock!“ war zu<br />
hören - und der eisenbewehrte Bolzen schlug in Findus´ Brust<br />
ein. Findus fühlte den Schmerz eines Aufpralls und sah an<br />
sich herunter. Da hing ein zerbrochenes Geschoss in seiner<br />
Kleidung. Ein Armbrustbolzen. „Ihr könnt ihn nicht töten,<br />
denn er hat in meinem Blut gebadet! Er ist unverwundbar!“<br />
dröhnte Draconis. Der Mantelmann fluchte. Er wollte sich<br />
umwenden, flüchten, doch die Menschen standen wie eine<br />
unüberwindbare Mauer. Böse Blicke trafen ihn.<br />
Er erhielt einen Stoß und taumelte in den freien Raum<br />
zwischen Findus und den Menschen. Mit zusammen<br />
gebissenen Zähnen einen weiteren Fluch murmelnd spannte<br />
der Mann noch im Aufrichten seine Armbrust erneut. Mit<br />
einer einzigen fließenden Bewegung legte er einen zweiten<br />
Bolzen ein, hob die Waffe und drückte wieder ab. Doch der<br />
Drache kam ihm zuvor. Draconis entließ seinen Nüstern<br />
einen Feuerstoß, welcher den Bolzen noch im Fluge erreichte.<br />
Nur noch harmlose Funken segelten auf Findus herab und<br />
erweckten den Anschein, als wolle eine höhere Macht den<br />
neuen Herrscher erleuchten.<br />
Die Menschen traten nach vorn, auf den Söldner zu. Eine<br />
bedrohliche Situation. Er schloss mit seinem Leben ab. Dieser<br />
eine Anschlag war ein Anschlag zuviel gewesen. Der Letzte in<br />
seinem Leben. Doch es war ausgerechnet sein Opfer, welches<br />
ihn rettete. „Lasst ihn!“ rief Findus den Menschen zu, die<br />
erstaunt stehen blieben. Findus wandte sich nun selbst an den<br />
Attentäter: „Nenne mir deinen Auftraggeber und du gehst<br />
straffrei aus! Andernfalls überlasse ich dich den Leuten. Es ist<br />
deine einzige Chance. Also sprich! Wer gab dir den Auftrag,<br />
216
mich zu töten?“ Eingeschüchtert antwortete der Mann<br />
„Mijneer Vankampen.“ „Ein Handelsherr“ erwiderte Findus<br />
und wandte sich an das Volk: „Seht ihr? Sie lassen nichts<br />
unversucht. Lasst ihn jetzt gehen. Er hat keinen Schaden<br />
angerichtet.“ Murrend traten die Menschen beiseite, bildeten<br />
eine Gasse. Durch die floh der Söldner, so schnell er konnte.<br />
Ein Spießrutenlauf...<br />
Möglicherweise wusste der eine oder andere schon von der<br />
Rolle, welche die Kaufleute in <strong>Norgast</strong>´s Politik spielten. Viele<br />
hingegen hatten vielleicht nur so ein undefinierbares, nicht<br />
näher spezifizierbares Gefühl des Unbehagens, wenn sie an<br />
ihr Land dachten. Doch es war gerade dieser missglückte<br />
Anschlag, der den Menschen vollends die Augen öffnete. Als<br />
Findus weitersprach und seinen Untertanen die Pläne<br />
darlegte, die er Draconis´ und Dayla gegenüber geäußert<br />
hatte, da schlug ihm unverhohlene Begeisterung entgegen. Ja<br />
- die Bevölkerung würde mitziehen! <strong>Norgast</strong> würde wieder zu<br />
einem lebenswerten Land werden!<br />
Nach seiner Ansprache begann sich die Menge zu<br />
zerstreuen. Die Leute hatten Tätigkeiten, denen sie nachgehen<br />
mussten, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.<br />
Findus und Draconis hingegen wandten sich jetzt dem Palast<br />
zu. Die Hofbeamten, die auf der Gehaltsliste der Kaufleute<br />
standen, hatten Findus´ Redezeit genutzt, um sich schleunigst<br />
aus dem Staub zu machen. Es waren ihrer viele. Die<br />
verbliebenen Beamten hingegen waren integer, wie der neue<br />
Herrscher rasch feststellte. Nach zwei Tagen ließ er Draconis<br />
allein im Palast zurück und suchte nach einer Ley-Linie.<br />
Darüber reiste Findus nach Diekenboog. Wie versprochen<br />
holte er die Vormänner der Horde ab - seine derzeit<br />
wichtigsten Helfer.<br />
Obwohl die Vormänner, die früheren Mitglieder der Horde,<br />
die überall verteilten Hagias und die einfache Bevölkerung ihr<br />
Bestes gaben, gingen zwei volle Sommer ins Land, bis Findus´<br />
Reformen überall Wirkung zeigten - es war alles andere als<br />
einfach, das von Baldur und den Kaufleuten<br />
heruntergewirtschaftete Reich wieder zu reorganisieren!<br />
217
Baldur´s altes Berufsbefähigungsgesetz und das<br />
Handelsmonopol der Kaufleute-Gilde kippten als Erstes.<br />
Nach und nach setzte sich die neue Ein-Drittel-Besteuerung<br />
durch. So mancher versuchte dabei, wie er es aus früheren<br />
Zeiten gewohnt war, ganz selbstverständlich in die eigene<br />
Tasche zu wirtschaften - und flog auf, denn Hexen und Büttel<br />
nahmen ihre Kontrollfunktionen sehr ernst. Darüber hinaus<br />
legten die Büttel den ehemaligen Vormännern gegenüber<br />
Rechenschaft ab. Die Vormänner bereisten das Land und<br />
immer einer von ihnen war der Vorgesetzte mehrerer Büttel.<br />
Doch auch Findus verließ häufig den Palast, um selbst nach<br />
dem Rechten zu sehen. Das machte ihn beim Volk überaus<br />
beliebt.<br />
Irgendwann jedoch florierte alles - wie früher unter<br />
Mykyllin und Gwylon. Die Piraten spielten keine Rolle mehr;<br />
sie waren besiegt worden – nicht zuletzt unter aktiver<br />
Mitwirkung von Draconis. Die kleinen Tauschgeschäfte der<br />
einfachen Menschen blieben unbesteuert. Alle größeren<br />
Geschäfte hingegen wurden über Geld abgewickelt - und da<br />
gab es kein Verstecken, keine Abschreibungen, keine<br />
umfangreichen Aufkäufe von Sachwerten, welche letztlich<br />
immer nur Einzelnen die Taschen gefüllt hätten. Von jedem<br />
dieser Geschäfte ging genau ein Drittel an den Palast nach<br />
Helgenor, von wo aus es sofort wieder für die<br />
Grundversorgung der Bevölkerung ausgegeben wurde.<br />
Niemand musste mehr Hunger leiden. Niemand musste sich<br />
von einem Arbeitgeber mehr wie ein Sklave behandeln lassen.<br />
Die Menschen bekamen wieder Achtung voreinander und ein<br />
Jeder war sorgsam darauf bedacht, diesen Zustand möglichst<br />
lange bestehen zu lassen. Einer half dem anderen. Man<br />
handelte mit Blick auf die Zukunft.<br />
Eines schönen Tages jedoch kam es zu einem Vier-Augen-<br />
Gespräch zwischen Draconis und Findus. Draconis war im<br />
Verlauf der letzten Zeit immer schweigsamer geworden<br />
- gerade so, als bedrücke ihn etwas. „Was ist los mir dir?“<br />
fragte Findus ihn daher jetzt ganz unverblümt. Er setzte noch<br />
hinzu: „Sieh´ dich doch mal um - den Menschen geht´s besser<br />
und wir haben in vergleichsweise kurzer Zeit so unheimlich<br />
viel erreicht. Das Reich floriert. Und du machst hier einen auf<br />
Miesepeter! Also Klartext - was hast du?“ Draconis seufzte.<br />
218
Leise sprach er: „Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst.<br />
Wir sind Freunde. Deswegen bleibe ich bei dir. Aber<br />
manchmal da...“ Er verstummte. „Da was?“ wollte Findus<br />
wissen. „Da sehne ich mich nach den feuerspeienden Bergen<br />
zurück. Nach dem Eis und nach den Geysiren. Sogar nach<br />
meiner Höhle.“ Der Drache schwieg und der Herrscher sah<br />
ihn mitleidig an.<br />
„Du hast <strong>Heim</strong>weh... – das ist schlimm. Dann flieg´ nach<br />
Hause. Umgehend. Unserer Freundschaft tut das doch keinen<br />
Abbruch. Außerdem kannst du ja jederzeit wiederkommen.“<br />
„Danke. Genau das wollte ich aus deinem Mund hören. Ich<br />
selbst hätte nicht darum gebeten. Aber da ist noch etwas.“<br />
„Was?“ „Du hast mir mal von diesem Wald erzählt, in dem es<br />
keine Magie mehr gibt.“ „Ja, ich erinnere mich. Das ist der<br />
Myrkviör.“ „So etwas sollte es hier in <strong>Norgast</strong> nicht geben. Es<br />
gehört nicht hierher. Nicht in diese Welt. Genausowenig wie<br />
die magischen Machtkonzentrationen bei dir und bei der<br />
Bônday. Das ist ein falscher Weg. Gebt einen Teil eurer<br />
Macht auf. Gebt ihn an das magische Geflecht zurück, so wie<br />
Malweýn es früher befürwortet hat. Tut das im Myrkviör, um<br />
das magische Geflecht zu reparieren. Versprich´ mir das<br />
- bitte!“ Das Letzte hatte der Drache richtiggehend flehentlich<br />
vorgetragen.<br />
„Das würde ich dir gerne versprechen. Aber das kann ich<br />
nicht. Denn diese Entscheidung liegt nicht bei mir allein. Ich<br />
selbst würde es sofort tun. Aber die Bônday? Bei unserem<br />
letzten Treffen kam sie mir so unsagbar fremd vor...“ „Sie<br />
wird es einsehen. Es muss sein.“ Draconis hob den Kopf:<br />
„Pass´ auf, ich mache dir einen Vorschlag. Morgen breche ich<br />
auf. Ich fliege aber nicht direkt nach Fucunor, sondern<br />
erstmal nur über die Berge nach Osten. Zur Tiedsiepe, zur<br />
‚namenlosen Insel’. Dort spreche ich mit der Bônday. Auf die<br />
Weise kann ich mich auch gleich selbst von ihr verabschieden.<br />
Danach geht´s für mich zurück in den Norden. Irgendwann<br />
werde ich wohl mal zurück kommen, um hier nach dem<br />
Rechten zu sehen. Du gibst der Bônday ein paar Tage Zeit<br />
zum Nachdenken. Danach suchst Du sie persönlich auf und<br />
ihr besprecht alles Weitere gemeinsam. Sie wird die<br />
Notwendigkeit einsehen.“ Findus nickte. Der Vorschlag war<br />
gut und so machten sie es dann auch. Am nächsten Tag<br />
219
verabschiedeten sich die Freunde voneinander - für einen<br />
noch nicht absehbaren Zeitraum und Draconis flog in<br />
Richtung Helgebarg los.<br />
Findus wartete ein paar Tage ab. Tage, in denen das magische<br />
Geflecht vibrierte und bebte. Er nahm an, dass die <strong>Norgast</strong>-<br />
Bônday zu einem Hexenconvent geladen hatte, dass sie sich<br />
auf magische Weise mit den anderen Bônday´s beriet.<br />
Nachdem das Geflecht wieder zur Ruhe gekommen war,<br />
informierte er seinen Stellvertreter im Palast - einen<br />
ehemaligen Vormann - dahingehend, dass er selbst wohl für<br />
einige Zeit abwesend sein würde. Findus machte sich darum<br />
allerdings keine Sorgen. Das von ihm in <strong>Norgast</strong> eingeführte<br />
soziale System funktionierte. Und ein gutes System bewies<br />
seine Qualitäten dadurch, dass es auch ohne eine<br />
Führungskraft an der Spitze weiterhin perfekt arbeiten würde.<br />
Tragfähige Systeme regeln Störeinflüsse selbst aus. Also<br />
machte er sich beruhigt auf den Weg.<br />
Später: Ein weißer Rabe über einer schier endlosen<br />
Wasserfläche - Findus über der Tiedsiepe und auf dem Weg<br />
zur ‚namenlosen Insel’. Diesmal war es die Bônday selbst, die<br />
ihn erwartete. Sie begrüßten einander respektvoll. Die frühere<br />
Dayla wusste, warum er kam. „Draconis hat mich bereits<br />
informiert“ meinte sie. „Wir müssen das Myrkviör-Problem<br />
aus der Welt schaffen, auch wenn´s weh tun sollte. Endgültig!<br />
Ich habe deswegen bereits mit den anderen Bônday´s<br />
konferiert. Sie sind nicht gerade begeistert, aber sie werden<br />
mich unterstützen.“ Findus entgegenete lächelnd: „Dein<br />
Gespräch mit den anderen Oberhexen war nicht zu<br />
überhören. Aber ihr habt Recht. Nur leider habe ich nicht die<br />
geringste Vorstellung davon, wie unser ‚Reparaturversuch’<br />
ausgehen wird. Werden wir danach noch magische Kräfte<br />
haben? Gibt es danach überhaupt noch Magier, Hagias und<br />
Bônday´s?“<br />
Dayla: „Es ist gut möglich, dass wir alle unsere Kräfte<br />
einbüßen. Vielleicht nur wir beide; vielleicht aber auch alle.<br />
Vielleicht zerfällt auch der Orden der Magier oder das<br />
Netzwerk der Hexen. Ja, es ist ein großes Risiko. Aber dein<br />
220
Freund bat uns beide, es einzugehen. Und ich finde, wir<br />
sollten auf ihn hören.“ Findus nickte. Was sie sagte, das<br />
stimmte - leider! „Gut, werden wir mal ganz konkret. Wann<br />
soll es losgehen?“ „Sofort“ antwortete die Bônday bestimmt<br />
und verwandelte sich in den wohlbekannten weißen Schwan.<br />
Auch Findus wurde wieder zum weißen Raben und die beiden<br />
Vögel flogen los.<br />
Einige Zeit später landeten sie auf der ihnen so<br />
wohlbekannten Stelle - dem Grünstreifen, der Sumpf und<br />
Wald voneinander trennte. Aber was war das für ein Wald!<br />
Gut, die Aura des Bösen war aus ihm verschwunden. Aber<br />
das sollte auch schon alles Positive gewesen sein. Kahle, tote<br />
Äste reckten sich verdorrt, einsam und verloren in den<br />
Himmel. Das ganze Gehölz strahlte den Eindruck von<br />
deprimierender Traurigkeit und Trostlosigkeit, von Vergehen<br />
und Tod aus. Wie um diesen ersten Eindruck noch zu<br />
unterstreichen löste sich eben mit nervenzermürbendem<br />
Knirschen ein verfaulter Ast von einem der einstmals so<br />
riesigen Bäume und donnerte zu Boden. Kein Vogel sang im<br />
Myrkviör. Kein Tier verirrte sich dorthin. Es gab nur<br />
vereinzelte winzige Inseln von Grün - einem Grün, das<br />
verzweifelt um´s Überleben kämpfte, gerade so, als würde<br />
ihm etwas fehlen. Und tatsächlich fehlte dem Wald ja auch<br />
etwas - nämlich die Präsenz des magischen Geflechts.<br />
„Wie wollen wir vorgehen?“ fragte Findus die Bônday.<br />
„Von zwei Seiten“ lautete die Antwort. „Jeder von uns<br />
erspürt das magische Geflecht und jeder von uns muss<br />
versuchen, von der anderen Seite her dünne Fäden des<br />
Geflechts zu sich heran zu ziehen. Irgendwo werden die<br />
Fäden sich dann berühren und zusammenwachsen. Hoffe ich<br />
wenigstens“ meinte Dayla. „Und dann mehr und mehr Fäden,<br />
so dass sich Knotenpunkte bilden. So dass die Kraft des<br />
Geflechts einfließen kann“ ergänzte Findus. „Ja, so habe ich<br />
mir das vorgestellt.“ „Wer geht wohin?“ „Ich gehe in den<br />
Norden, du in den Süden. Wir sollten magische Schutzkreise<br />
verwenden. Nicht zum Schutz, sondern um besser in den<br />
Kontakt mit der Astralebene zu kommen.“ „Du hast Recht.<br />
So machen wir es“ signalisierte Findus sein Einverständnis,<br />
verwandelte sich erneut und flog in den Süden. Die Bônday<br />
221
egab sich in den Norden. Ein jeder von ihnen würde es<br />
spüren, wenn der andere mit der Beschwörung begann.<br />
Sie fanden geeignete Plätze. Gingen kreisförmig drum<br />
herum, Zaubersprüche murmelnd. Fügten in die Kreise<br />
Pentagramme ein, deren oberste Zacke jeweils in Richtung<br />
auf den Myrkviör wies - die Zacke würde die Kräfte der<br />
Magie bündeln. Findus setzte sich in die Mitte des<br />
Pentagramms, zog Gnarp aus der Scheide und versenkte sich<br />
in die Runengravuren auf dem Schwert. Die Bônday hingegen<br />
zog einen hölzernen und an einem Lederband befestigten, auf<br />
nackter Haut getragenen und mit ihrem eigenen Blut<br />
bemalten Dagaz-Runenanhänger hervor und versenkte ihren<br />
Geist darin. So erreichten beide einen tranceartigen,<br />
meditativen Geisteszustand. Innerhalb dieses Zustandes<br />
fühlten sie das magische Geflecht, die Linien und Ströme der<br />
Lebensenergien.<br />
Alles das, was die beiden über ihre Ohren und Augen<br />
noch wahrnahmen, erzeugte Gefühle. Die wiederum<br />
manifestierten sich gefühlssynästhetisch in Farben und<br />
Formen. Man kann sagen, dass beide über die Gefühle,<br />
welche das Geflecht in ihnen hervorrief, eben dieses Geflecht<br />
in gewissem Sinne auch ‚sahen’. Da waren breite, rote Ströme<br />
von ungebändigter, urgewaltiger Energie. Begleitet von gelben<br />
und blauen, dünneren Linien, welche die Ströme miteinander<br />
verbanden. Hier und da bildete sich eine Art von Strudel und<br />
verging wieder. Chaos, aus welchem Ordnung geboren wurde.<br />
Zeitlich begrenzt und immer nur in Form von kleinen Inseln.<br />
Dort, wo die Ordnungsinseln sich zusammenfanden, da<br />
bildete sich durch Selbstorganisation etwas Stabileres heraus.<br />
Eine Welt! Das Geflecht durchdrang alles, durchdrang alle<br />
Welten. Jede Veränderung hier musste sich überall auswirken.<br />
Und sie sahen in diesem erweiterten Bewusstseinszustand<br />
den Myrkviör. Ein Loch, eine Fehlstelle, ein Nichts in den<br />
allgegenwärtigen Strömen der Lebenskraft. Findus<br />
konzentrierte sich auf das ihm gegenüber liegende ‚Ufer’<br />
dieses Nichts und versuchte auf magischem Wege, die ihm<br />
nächste gelbe Energiebahn aufzuspalten. Er fühlte, dass sie<br />
aus zahllosen kleineren Strömungen und diese ihrerseits bis<br />
hinein in alle Unendlichkeit aus kleineren und noch kleineren<br />
Bahnen zusammengesetzt war. Und alles war zueinander<br />
222
selbstähnlich, war symmetrisch in verschiedenen<br />
Größenordnungen. Die Bônday tat es ihm gleich. Zögerlich<br />
nur lösten sich Fäden von magischer Energie aus den<br />
gelbfarbenen Strömen. Anfangs unsichtbar klein wuchsen sie<br />
zu filigranen, blitzähnlich unregelmäßig gezackten und<br />
grünlichen, überaus zarten Streifen heran. Von beiden Seiten<br />
her und aufeinander zu.<br />
Die ersten beiden hauchdünnen Linien berührten<br />
einander. Sofort schwollen sie an, änderten ihre Farbe nach<br />
gelblicher, wurden dicker. Am Berührungspunkt bildete sich<br />
ein bläulicher Konzentrationsknoten. Es funktionierte! Aber<br />
es kostete die beiden auch magische Kraft. Mehr, als sie selbst<br />
aufzubieten hatten. Instinktiv und unwillkürlich zapften sie<br />
daher andere Kraftquellen an - in Findus´ Fall andere Magier<br />
und in Dayla´s Fall andere Bônday´s, welche ihrerseits auf die<br />
Kräfte der überall verteilten Hexen zugriffen. Ein von den<br />
beiden nicht mehr bewusst zu beeinflussender Automatismus<br />
war in Gang gesetzt worden, bei dem sie selbst nur noch<br />
kanalisierend auf die ihnen zuströmende Magie wirkten. Und<br />
es bedurfte wirklich der mächtigsten Magier überhaupt, um<br />
diese Kanalisierung vornehmen zu können - keine anderen als<br />
Findus und Dayla wären dazu befähigt gewesen!<br />
Linie auf Linie wuchs unregelmäßig zum Knotenpunkt<br />
hin. Verbindungen entstanden zwischen den Linien, bildeten<br />
neue bläuliche Konzentrationsknoten. Das Loch im Geflecht<br />
wuchs zu. Langsam zwar, nur so nach und nach, aber es<br />
schloss sich. In Zukunft würde der Myrkviör wieder leben!<br />
Und ganz <strong>Norgast</strong> wäre wieder von der Magie durchdrungen!<br />
Die Folgen waren allerdings noch nicht absehbar. Als die<br />
Fäden und Knoten sich vollends zu einer - wenngleich<br />
inhomogenen - Fläche schlossen, da leuchtete das ganze<br />
Geflecht kurz auf. Findus und Dayla sahen noch, wie breite<br />
rote Magieströme abrupt ihre Richtungen veränderten und<br />
fanden sich unmittelbar darauf sehr unsanft in ihren<br />
angestammten Körpern und als normales Wachbewusstsein<br />
wieder. Etwas war zuletzt geschehen - aber was? Keiner von<br />
ihnen hätte es zu sagen vermocht. Das magische Geflecht war<br />
im Umbruch begriffen! Es reagierte chaotisch. Ein winzige<br />
Veränderung - hier das Schließen des Loches - führte durch<br />
223
Rückkoppelungsmechanismen zu einem Aufschaukeln, zu<br />
noch unabsehbaren Folgen!<br />
Aktuell erwiesen sich die Folgen für Magier und Hexe<br />
jedoch als zweitrangig. Es war Nacht; es stürmte. Beide waren<br />
hungrig, nass und durchgefrohren. Wie lange die ganze<br />
Aktion gedauert hatte, darüber ließ sich nur spekulieren. Es<br />
galt jetzt, sich selbst erst einmal in Sicherheit zu bringen.<br />
Findus versuchte, den Sturm zu beeinflussen - es gelang ihm<br />
nicht! Nicht mehr! Er suchte nach einer Ley; er konnte die<br />
Drachenlinien nicht mehr wahrnehmen. Hinsichtlich seiner<br />
magischen Fähigkeiten fühlte er sich leer und ausgebrannt.<br />
Schwach. Er schleppte sich torkelnd in Richtung Wald,<br />
errichtete mehr schlecht als recht einen primitiven Schutz aus<br />
Zweigen und Rinden. Todmüde schlief er auf der Stelle ein.<br />
Auch seiner Gefährtin auf der anderen Seite des Waldes<br />
erging es keinen Deut besser. Beide waren einfach nur fertig!<br />
Parallel zur Manifestierung einer neuen Ordnung im<br />
magischen Geflecht nahm die Stärke des Unwetters wieder<br />
ab. Am nächsten Morgen hatte es sich bereits verzogen und<br />
die Sonne schien. Das Leben kehrte in den Myrkviör zurück.<br />
Vögel sangen. Rehe sicherten vorsichtig durch das ihnen<br />
unbekannte Unterholz. Noch immer hungrig und fröstelnd<br />
versuchte Findus, die Gestalt des weißen Raben anzunehmen.<br />
Es funktionierte, obwohl es ihn ungleich viel mehr Kraft als<br />
früher kostete. Er flog zu dem Punkt auf dem Grünstreifen,<br />
von dem aus sie beide aufgebrochen waren. Eine Frau<br />
erwartete ihn dort bereits. Sie hatte das Aussehen einer<br />
Bônday - und war doch verändert. Der Herrscher von<br />
<strong>Norgast</strong> landete und verwandelte sich zurück. Vor Schwäche<br />
schwankend und stolpernd lief die Frau auf ihn zu. Er fing sie<br />
auf. Sah ihr in die Augen, als sie in seinem Arm lag. Sie<br />
lächelte. Ihr Mund öffnete sich etwas und sie schaute Findus<br />
erwartungsvoll an. Auch die Bônday hatte einen Großteil<br />
ihrer Kräfte aufgeben müssen. Aus der Bônday war mit<br />
Ausnahme des Aussehens wieder die Dayla von früher<br />
geworden. Findus´ Geliebte. Er sah den einladend geöffneten<br />
Mund. Sie küssten sich. Lange.<br />
Der Rest ist schnell erzählt. Natürlich wirkte sich die<br />
Neuorganisation des magischen Geflechts auf ganz <strong>Norgast</strong>,<br />
ja auf die ganze Welt, aus. Wo zuvor magische<br />
224
Machtkonzentrationen gwesen waren, da gab es jetzt zwar<br />
immer noch stärkere Magie, aber keine außerordentlich<br />
begabten Magier oder Hexen mehr. Je mächtiger ein Magier<br />
oder eine Hagia zuvor gewesen waren, desto mehr Kraft war<br />
auch eingebüßt worden. Am Schwächsten traf es die in<br />
magischer Hinsicht minderbegabten Personen. Doch wo ging<br />
die Macht hin?<br />
Sie übertrug sich auf die einfachen Menschen. Die wurden<br />
schlagartig sensibler, einfühlsamer. Jeder achtete jeden. Und<br />
diese neugewonnene Sensibilität öffnete so manchem die<br />
Augen. Plötzlich begann man, wieder Kobolde, Feen, Elfen,<br />
Einhörner, Fluss- und Höhlentrolle und was der magischen<br />
Wesen mehr waren zu sehen. Man berücksichtigte sie und<br />
insbesondere ihren Lebenraum bei allen Entscheidungen. Die<br />
Menschen wurden vorausschauender. Plötzlich hatte die<br />
Natur wieder einen Wert in sich selbst. Das Miteinander<br />
wurde groß geschrieben. Doch das magische Geflecht<br />
durchzog alle Welten. Seine Neuorganisation zeigte daher<br />
auch überall Auswirkungen...<br />
225
Kapitel 11: Anderswelt<br />
Rückblick - lange Zeit zuvor im Bomenhau. Da standen sie<br />
nun: Malweýn und die Bônday gegen den Shâgun. Und ihrer<br />
aller Aufmerksamkeit war auf das Duell mit dem Dämon<br />
gerichtet. Weder Findus noch Lyonora oder Dayla achteten<br />
auf Baldur. Das war seine Chance! Er rannte los, flüchtete.<br />
Egal wohin - nur weg von hier und zwar möglichst schnell.<br />
Keine Zeit, auf das Gelände zu achten. Das allerdings erwies<br />
sich als entscheidender Fehler. Baldur strauchelte und<br />
erkannte seinen Irrtum. Schon stand er bis zum Nabel im<br />
Sumpf. Panische Befreiungsversuche und das Wasser reichte<br />
ihm bis zu den Schultern – dann gab der Boden vollends<br />
unter ihm nach. Er versank. Gerbsäuren-gesättigtes, braunes<br />
und saures Wasser drang in seine Lungen. Das Ende...<br />
Der Körper starb. Baldur´s Geist löste sich vom Körper.<br />
Aus seiner neuen Perspektive sah er hinunter. Da war seine<br />
sterbliche Hülle, doch sie interessierte ihn nicht mehr. Das,<br />
was einmal seinen Körper dargestellt hatte, war ihm jetzt<br />
sowas von egal... Stattdessen nahm das vergeistigte Wesen<br />
etwas anderes wahr. Weit entfernt. Eine Helligkeit. Kein<br />
richtiges Licht, sondern vielmehr so eine Art von ätherischzartem,<br />
unwiderstehlichem, cremeweißem Glanz. Das würde<br />
sein neues Ziel sein. Er war unendlich neugierig darauf. Der<br />
Tod hatte seinen Schrecken verloren. Er stellte nur eine<br />
weitere Stufe im Kreislauf des Lebens, in der Entwicklung<br />
eines jeden Einzelnen, dar. Langsam trieb Baldur´s Geist auf<br />
die lichte Helligkeit zu, welche sich ihm inzwischen als eine<br />
Art von hell erleuchtetem Tunnel präsentierte. Ein Tunnel<br />
- wohin? Auf jeden Fall aber war es eine Art von Übergang.<br />
Eine tiefe, zuversichtliche Zufriedenheit erfüllte ihn.<br />
Plötzlich der machtvolle Ruf „Baldur Os-Rit-<br />
Mannaz!“ Sein Geist wurde zurück gerissen. Er entfernte sich<br />
vom Lichttunnel! So sehr der ehemalige Baldur sich auch<br />
anstrengte - es gab nichts, was ihn dorthin zurück bringen<br />
konnte. Wie ein Blatt im Wind taumelte sein Geist durch eine<br />
unwirkliche Zwischenwelt. Ohne Bezugspunkt, ohne Halt,<br />
226
ohne Anker. Baldur´s Seele konnte das Totenreich ob des<br />
magischen Rufes nicht betreten. Sie konnte <strong>Norgast</strong> aber<br />
auch nicht verlassen. Niemand hätte sagen können, wie lange<br />
dieser seltsame Zustand währte. Irgendwann und irgendwo<br />
jedoch fing eine Art von Sog die freie Seele ein. Es geschah<br />
an einem dieser ‚seltsamen Orte’ oder ‚Kraftplätze’. Der Sog<br />
zog Baldur´s Geist aus <strong>Norgast</strong> heraus und schleuderte ihn in<br />
eine Anderswelt. Eine Anderswelt mit schnellerem Zeitablauf.<br />
Der Junge zählte etwa anderthalb Jahre. Seine Eltern hatten<br />
ihn „Bernd“ getauft. Er war krank - totkrank! In<br />
Ermangelung einer Impfung gegen Pertussis tobte jetzt die<br />
Keuchusten-Infektion in seinem Körper. Die Eltern hielten es<br />
zunächst nur für eine böse Bronchitis. Doch als in Folge eines<br />
schlimmen Hustenanfalls der Atem aussetzte und sich<br />
Bernd´s Lippen bläulich verfärbten, da sahen sie, wie ernst es<br />
wirklich um ihn stand. Der Vater versuchte sich in Mund-zu-<br />
Mund-Beatmung, während die Mutter verzweifelt nach einem<br />
Rettungswagen telefonierte. Panik!<br />
Es war dieser eine unwahrscheinliche Moment. Der Geist<br />
des Kindes verließ die sterbliche Hülle. Doch noch war der<br />
Körper nicht ganz tot. Und er bot einen Anker. Einen Anker<br />
für eine fremde Wesenseinheit aus einer fremden Welt. Das<br />
suchende Wesen hatte nahezu alle Erinnerungen verloren,<br />
war - nachdem ein Sog es erfasst hatte - auf den Urgrund<br />
seines Seins, auf einen reinen Nucleus, reduziert worden. Es<br />
ergriff die Chance, krallte sich im Hirn des sterbenden Jungen<br />
fest, ersetzte so dessen ursprüngliches Bewusstsein. Der<br />
Rettungswagen kam schnell und eine seitens des Notarztes<br />
verabreichte Injektion holte Bernd ins Leben zurück. Aber<br />
war es wirklich noch Bernd?<br />
Der Schock, ihr Kind um Haaresbreite verloren zu haben,<br />
veränderte das Leben der Eltern. Sie hätschelten und pflegten<br />
Bernd, so gut es eben ging. Als Einzelkind wurde er umsorgt<br />
wie ein kleiner König. Auch wenn die Eltern selbst nicht viel<br />
besaßen - für ihren Bernd war nichts zu teuer oder zuviel. Er<br />
war ihr ein und alles. Nur eins fehlte dem Jungen:<br />
Sozialisierung. Wann immer Probleme mit anderen Kindern<br />
227
auftauchten, dann mischten sich die Eltern ein. Ihrer Ansicht<br />
nach waren es immer die anderen, die für Probleme sorgten,<br />
doch niemals ihr abgöttisch geliebter, unschuldiger Bernd.<br />
Der Junge wuchs unter diesen Bedingungen auf. Er erlernte<br />
niemals ein Miteinander oder Mitgefühl für andere, denn dazu<br />
bestand ja überhaupt keine Notwendigkeit. Nein, es schien<br />
sogar so zu sein, als ob alle anderen nur für ihn allein da sein<br />
müssten. Für Bernd war das selbstverständlich. Es entsprach<br />
auch dem ureigensten Verhalten des Wesens, welches Jahre<br />
zuvor vom Körper des Jungen Besitz ergriffen hatte.<br />
Bernd wuchs auf. Seine schulischen Leistungen waren<br />
nicht gerade berauschend; er war bestenfalls schwacher<br />
Durchschnitt. Die Eltern kümmerte das nicht. Auch wenn sie<br />
Überstunden leisten und all ihren Besitz zu Geld würden<br />
machen müssen - für Bernd mussten Privatlehrer her. Seine<br />
Leistungen verbesserten sich. Nicht wirklich, aber<br />
Privatunterricht schindet nun mal Eindruck und da ließen die<br />
regulären Pädagogen dann auch mit sich reden. Nach der<br />
Schule machte Bernd eine Lehre als Elektriker. Sein Vater<br />
hatte ihm die Lehrstelle besorgt. Doch was der Junge auch tat<br />
- im Betrieb eckte er mit seiner Art an. Überall. Da war<br />
nämlich der Umgang mit Menschen gefragt und der war ihm<br />
fremd. Niemand mochte ihn. Man hielt ihn für ein<br />
schleimenden, hinterlistigen Streber. Und genau das war er<br />
auch. Er haute seine Kollegen erbarmungslos und ohne<br />
Rücksicht auf Verluste in die Pfanne, wenn er sich davon<br />
auch nur den kleinsten Vorteil versprach.<br />
Wenn es eins gab, was Bernd während seiner Ausbildung<br />
wirklich lernte, dann war es die Tatsache, niemals mehr mit<br />
‚so einem Volk’, wie es seine Kollegen und Mitschüler<br />
gewesen waren, zu tun haben zu wollen. Er bekniete seinen<br />
Vater, ihm ein Studium zu bezahlen, war er doch für Höheres<br />
geboren! Sein Vater fühlte sich geschmeichelt - was hatte er<br />
nur für einen talentierten Sohn! Er arbeitete, um das Geld<br />
heran zu schaffen. Bernd studierte. Lange und ausgiebig.<br />
Länger und ausgiebiger, als ein Student normalerweise<br />
braucht, nämlich satte achtzehn Semester. Kurz - Bernd<br />
machte sich ein schönes Leben auf Papi´s Kosten. Sein Vater<br />
überlebte das nicht. Er arbeitete sich zu Tode. Kurz vor der<br />
Rente wurde er von einem Herzinfarkt erwischt.<br />
228
Für Bernd´s Leben bedeutete das einen entscheidenden<br />
Einschnitt. Er beendete sein Studium mehr schlecht als recht.<br />
Als frischgebackener Diplomingenieur, dessen<br />
hervorstechendstes Merkmal darin bestand, arrogant zu sein<br />
und im Grunde gar nichts zu können, stieß er auf den<br />
Arbeitsmarkt. Mit seinen Zeugnissen ließ sich aber kein Staat<br />
machen. Also mussten die auf die eine oder andere Weise<br />
‚geschönt’ werden. Doch gute Fälschungen kosteten Geld<br />
- viel Geld. Seine Mutter gab es ihm, obgleich sie nie erfuhr,<br />
was er damit machte. Auch war es seine Mutter, die von<br />
früher her noch einige von Papi´s Kollegen kannte. Sie ließ<br />
ihre Verbindungen spielen. Auf diese Weise kam Bernd zu<br />
einem Job bei einem Unternehmensberater.<br />
Bernd, dessen einzigste betriebliche Kenntnisse aus der<br />
nun schon über neun Jahre zurückliegenden Lehrzeit<br />
herrührten und der ansonsten nie einen Betrieb von innen<br />
gesehen hatte, sollte jetzt andere Unternehmen beraten. Wie<br />
konnte das funktionieren? Doch mit sicherem Auftreten und<br />
professioneller Rhetorik beeindruckte Bernd seinen<br />
Abteilungsleiter. Innerlich frohlockte er - nicht mehr lange,<br />
und er selbst würde die Abteilung führen. Aber von oben her.<br />
Intrigant und rücksichtslos bahnte er sich auf Kosten seiner<br />
Kollegen den Weg in die Chefetage. Eigene Fehler wurden<br />
anderen untergeschoben. Er vermied es nach Möglichkeit,<br />
selbst etwas zu tun, denn wer arbeitet, der macht auch Fehler.<br />
Und Fehler behindern einen Aufstieg. Stattdessen fand er<br />
heraus, wer im Unternehmen wirklich das Sagen hatte – und<br />
baute persönliche Beziehungen zu den betreffenden Leuten<br />
auf. Das brachte ihm Informationen, die er karrierefördernd<br />
einsetzen konnte. Absolutes Desinteresse bezüglich der<br />
Gefühle anderer, Verantwortungslosigkeit und eine<br />
ausgeprägte Missachtung aller sozialen Regeln ebneten ihm<br />
den Weg nach oben.<br />
Binnen kürzester Zeit saß er in der Chefetage. Wer ihm<br />
gefährlich werden konnte, der wurde durch gezielte<br />
Fehlinformationen und in Umlauf gebrachte Gerüchte<br />
diskeditiert - so lange, bis das Opfer seiner Hasskampagne<br />
von selbst ging. Das ersparte es dem Unternehmen, auch<br />
noch teure Abfindungen zahlen zu müssen. Bernd hatte es<br />
geschafft. Er wurde geachtet. Aber etwas fehlte ihm noch,<br />
229
nämlich soziales Ansehen. Um das zu erlangen, schloss Bernd<br />
einen Ehevertrag mit einer Frau, die er schon vor geraumer<br />
Zeit einmal kennengelernt hatte. Sie kannte ihn nicht wirklich.<br />
Und als sie hinter sein eigentliches Wesen kam, da war es für<br />
sie bereits zu spät. Sie war in wirtschaftlicher Hinsicht von<br />
ihm abhängig geworden. Um sie dauerhaft an sich zu binden,<br />
folgten dann noch zwei Kinder. Kinder, bei denen Liebe<br />
durch Geld und Sachwerte ersetzt wurde.<br />
Aber das war alles noch nicht das, was Bernd eigentlich<br />
wollte. Er saß zwar in der Chefetage, aber es war nicht sein<br />
eigenes Unternehmen. Dadurch war es ihm auch nicht<br />
möglich, so zu schalten und zu walten, wie er es gerne getan<br />
hätte. Ein eigenes Unternehmen musste her! Die Chance dazu<br />
bot sich im Rahmen einer Beratung. Es war nur ein kleiner,<br />
überschaubarer Betrieb. Bernd schickte dort Leute zur<br />
Beratung hin und sprach gleichzeitig mit dem schon in die<br />
Jahre gekommenen Geschäftsführer. Er bot sich an, seinen<br />
bisherigen job aufzugeben, sich dort einzukaufen und im<br />
Unternehmen mitzuarbeiten. Mit dem Fernziel, den Betrieb<br />
dann zu übernehmen, wenn dessen Geschäftsführer aus<br />
Altergründen ausscheiden würde. Und genau so kam es<br />
schließlich auch. Es brauchte ja niemand zu erfahren, dass<br />
Bernd das Ausscheiden des Seniors ‚geringfügig’ beschleunigt<br />
hatte - indem er den heimlich bei den Kunden schlecht<br />
machte.<br />
Jetzt besaß Bernd endlich seinen eigenen Betrieb. Ein<br />
erfolgreicher Geschäftsmann, sozial integriert durch eine vom<br />
Geld zusammen gehaltene Familie, welche ihm diesbezüglich<br />
als Alibi diente. Doch das Wesen, welches Bernd´s Körper<br />
bewohnte und steuerte, bekam niemals genug. Es fehlte an<br />
öffentlichem Ansehen. Folglich engagierte Bernd sich in<br />
öffentlichen und karitativen Veinigungen. Geld öffnet eben<br />
alle Türen. Auch kam er auf diese Weise in den Kontakt mit<br />
Leuten, die ihm auf Grund ihrer Stellung die eine oder andere<br />
Gefälligkeit erweisen konnten. Auch das hob ihn über das<br />
‚gemeine Volk’ hinaus und schmeichelte seinem Ego. Er<br />
zumindest brauchte nicht mehr lange auf irgendwelche<br />
Bearbeitungen zu warten. Was er befahl, dass hatte zu<br />
geschehen - und zwar sofort! Gesetze galten für ihn nicht. Da<br />
stand er drüber.<br />
230
Diese zweigleisige Vorgehensweise brachte allerdings auch<br />
Probleme mit sich. War Bernd jetzt nach außen hin ein<br />
geachteteter Wohltäter an der Gesellschaft, so praktizierte er<br />
in seinem Betrieb doch genau das Gegenteil davon. Seine<br />
Mitarbeiter waren für ihn Verlängerungen seiner Maschinen<br />
und seine Maschinen dienten einzig dazu, ihm das Bankkonto<br />
zu füllen. Maschinen waren ihm ohnehin lieber als Menschen<br />
- die widersprachen ihm nämlich nicht! Mit den Menschen<br />
hingegen war das so eine Sache. Im Grunde machten die<br />
doch immer, was sie gerade wollten. Und solange das nicht zu<br />
seinem unmittelbaren Nutzen geschah war das falsch!<br />
Deswegen bedurften die Menschen der Führung, nämlich<br />
seiner Führung: knallhart und ohne Rücksicht auf Verluste.<br />
Am liebsten hätte er sowieso auf die ganze Mischpoke<br />
verzichtet. Nur leider benötigte er sie zur Bedienung seiner<br />
Maschinen. Diese Schwächlinge! Wer nicht den gleichen<br />
Erfolg wie er selbst vorzuweisen hatte, der war doch im<br />
Grunde genommen lebensunfähig. Der bedurfte der<br />
permanenten Steuerung, sogar in der Freizeit! Bedingt durch<br />
diese Überlegungen scheute Bernd auch nicht davor zurück,<br />
Arbeitsverträge abzuschließen, welche die Menschenrechte<br />
des Einzelnen einschränkten. Hinzu kam seine betriebliche<br />
Überwachung: Da wurden Telefonate abgehört, Post<br />
kontrolliert, E-Mails abgefangen und so weiter. Irgendwann<br />
ging Bernd gar so weit, in den einzelnen Büro´s<br />
Videoüberwachungen einzurichten. Und es sollte bloß mal<br />
jemand wagen, dagegen aufzumucken! Der wäre sofort wieder<br />
draußen, denn Störenfriede brauchte er nicht.<br />
Aus diesem Grund hielt Bernd sich alle Möglichkeiten<br />
offen. Da war erstmal die Probezeit seiner Arbeitnehmer. Die<br />
wurde soweit wie möglich ausgedehnt, denn dann brauchte er<br />
keine Kündigungsfristen einzuhalten. Die meisten seiner<br />
Leute wechselten ja im Durchschnitt ohnehin schon nach<br />
zwölf Wochen. Egal - es gab ja mehr als genug Arbeitslose!<br />
Und wenn jemand tatsächlich mal die Probezeit ‚überlebte’,<br />
dann wurde dem danach beizeiten ein Aufhebungsvertrag<br />
angeboten. Die Abfindung bei sowas hielt sich immer in<br />
Grenzen. Langjährige Mitarbeiter hingegen wurde Bernd auf<br />
andere Weise los. Da wurde etwas zusammenkonstruiert<br />
- und mit Intrigen kannte er sich gut aus! - was aus seiner<br />
231
Sicht zur fristlosen Kündigung berechtigte. Es sollte mal<br />
jemand wagen, dagegen gerichtlich vorzugehen. Bernd würde<br />
auf Grund seines finanziellen Vermögens garantiert den<br />
längeren Atem haben und er freute sich schon darauf,<br />
renitente Niemande wirtschaftlich ‚hinzurichten’. Das machte<br />
ihm Spaß.<br />
Genauso wie das Fertigmachen von Mitarbeitern. Er lud<br />
dann ganz unvermittelt zu einem persönlichen Gespräch.<br />
Drohte ganz unverblümt. Schickte die Leute an ihren<br />
Arbeitsplatz zurück, ging dorthin und machte sie vor<br />
versammelter Mannschaft nochmal fertig. Immer dann, wenn<br />
eines seiner Mobbing-Opfer mit Tränen in den Augen und<br />
vollständig zerrütteten Nerven vor ihm saß, überkam ihn<br />
dieses Gefühl von Allmacht, an dem er sich so gern selbst<br />
berauschte. Er hatte Macht; er war besser als die anderen! Er<br />
durfte drauflospoltern, wann immer es ihm gefiel. Die<br />
anderen nicht. Er allein verfügte über abschließbaren<br />
Schreibtisch und abschließbare Büro´s, die anderen nicht.<br />
Sollten die anderen doch sehen, wo sie parkten - sein<br />
Chefparkplatz, der gut und gern für fünf Fahrzeuge<br />
ausgereicht hätte, gehörte ihm allein! Wer es wagte, etwas von<br />
ihm zu wollen, der musste erstmal durch´s Vorzimmer<br />
kommen. Private Gespräche am Arbeitsplatz waren ebenso<br />
verboten wie private Gegenstände. Foto´s der Familie oder<br />
sowas - wo kommen wir denn da hin! Verdammte<br />
Loserbande! Wer nicht mitzog, der wurde fertig gemacht.<br />
Bernd erhob das Mobbing zur Kunst.<br />
Ob Telefonterror, Bedrohungen, unsachliche Kritik am<br />
Privatleben, die bewusst falsch eingestellte Klimaanlage mit<br />
dem beständigen Zug von eiskalter Luft im Nacken, das<br />
Verbot von Pausen, Gesprächsverbote, Kontaktverweigerung,<br />
Gerüchte, Kränkungen, zotige Angebote, das Messen mit<br />
zweierlei Maß und was der Möglichkeiten mehr waren<br />
- Bernd spielte diese Klaviatur des Horrors perfekt. Zu seiner<br />
eigenen Erbauung. Und wer einmal im Leben mit ihm<br />
zusammen geraten war, der hielt zukünftig den Mund. Für<br />
immer. Dadurch brauchte Bernd sich auch niemals Kritik<br />
anzuhören. Nur manchmal, insgeheim, da zweifelte er an sich<br />
selbst. Da fragte er sich, ob ihm nicht irgend etwas fehlte.<br />
Denn wenn die anderen über Sensibilität,<br />
232
Einfühlungsvermögen, Liebe, Schönheit, Zuneigung oder so<br />
etwas sprachen, dann konnte er nicht mitreden. Er kannte<br />
zwar die Worte, aber nicht ihre eigentlichen Bedeutungen. In<br />
solchen Momenten des Selbstzweifels betäubte Bernd seine<br />
Bedenken durch ausschweifende Vergnügungen: Essen,<br />
Alkohol, zügellosen Sex, Kunst und Kultur - völlig egal,<br />
Hauptsache ablenkend!<br />
Jahrelang übte der angesehene Geschäftsmann sein<br />
geheimes Terrorregime aus, während er nach außen hin der<br />
Wohltäter an der Gesellschaft blieb. Dann geschah etwas<br />
gänzlich Unerwartetes. In <strong>Norgast</strong> reparierten Findus und<br />
Dayla das magische Geflecht, welches sich daraufhin<br />
umstrukturierte. Dessen Neuorganisation erfasste auch die<br />
Welt, in der Bernd - oder vielmehr das Wesen, welches<br />
Bernd´s Körper bewohnte - lebte. Quasi von heute auf<br />
morgen gingen die Leute auf die Straßen. Sie organisierten<br />
sich. Erkannten die Ausbeutung und die Ausbeuter.<br />
Tauschten sich über die Methoden der Manipulation aus, so<br />
dass die manipulativen Techniken der so genannten<br />
‚Menschenführung’ plötzlich durchschaubar und damit<br />
wirkungslos wurden. Geschäftsleute wie Bernd flogen auf.<br />
Bevor aber jemand sich an seinem - auf Kosten anderer<br />
erwirtschafteten - Reichtum vergreifen konnte, verkaufte er<br />
sang- und klanglos den ganzen Betrieb. Ging ins Ausland,<br />
dorthin, wo immer blaues Meer war und wo immer die Sonne<br />
schien. Es war schöner Batzen Geld. Das würde für den Rest<br />
seines Lebens reichen.<br />
Jahre später. Bernd lebte jetzt allein auf seiner Sonneninsel<br />
inmitten des blauen, warmen Meeres. Seine Kinder hatten<br />
sich in alle Welt zerstreut. Seine Frau war schon vor vielen<br />
Jahren verstorben. Ein Autounfall, wie tragisch! Sein Blick<br />
wanderte hinauf zu den Bergen. Zwei Gipfel und auf einem<br />
davon stand als Sehenswürdigkeit ein uralter Opferstein.<br />
Schon seltsam, wie bekannt einem manchmal etwas vorkam.<br />
Déjà-vu. Ihre Bremsen hatten dort oben versagt, weil die<br />
Bremsleitungen schlichtweg durchgegammelt waren.<br />
Niemand wusste davon, dass er die Leitungen über Monate<br />
233
hinweg immer wieder mit hochaggressiven Chemikalien<br />
behandelt hatte - immer in der Hoffnung, das naive Weib<br />
irgendwann loszuwerden, um endlich wirklich frei zu sein.<br />
Doch es hatte hingehauen. Innerlich grinste er.<br />
Aber auch in seinem <strong>Heim</strong>atland schien sich etwas getan<br />
zu haben. Die Krise war wohl überwunden worden, denn<br />
jetzt fanden wieder Touristen ihren Weg hierher.<br />
Scheißtouristen! Gewisse Strände betrachtete Bernd als sein<br />
Eigentum. Da hatten die nicht rumzulungern! Mischpoke!<br />
Heute auch wieder. Da lag so ein Typ mit zwei Blagen auf<br />
einem großen Badetuch. Seine Frau vergnügte sich im<br />
Wasser. Der Urlauber las in einem Buch. Der Buchtitel<br />
jedoch... Er zog Bernd´s Blick geradezu magisch an.<br />
Unwillkürlich blieb Bernd stehen. Trat auf den Mann zu. Der<br />
blickte auf. Bernd sah auf das Buch. Dann brach er laut<br />
schreiend zusammen...<br />
Alle verdrängten Erinnerungen kamen wie eine<br />
unaufhaltsame Flutwelle schlagartig zurück. Dayla, Malweýn,<br />
der Drache, Findus, die Bônday, Lyonora, der Shâgun, er<br />
selbst als Herrscher - sein Geist verwirrte sich. Er wusste<br />
nicht mehr, welche Welt die Seine war. Er erkannte sich<br />
plötzlich als Baldur und fühlte sich als um seine eigene Welt<br />
betrogen. Wusste, dass am Ende seines Weges unausweichlich<br />
der Shâgun auf ihn warten würde. Sein Geist wurde mit dem<br />
Ansturm von Informationen und Gefühlen nicht fertig,<br />
verwirrte und zerrüttete sich zusehends. Baldur-Bernd verlor<br />
die Besinnung, fiel in ein Koma, wurde in ein Krankenhaus<br />
gebracht. Er erwachte nicht wieder. Einige Wochen später<br />
verstarb er. Ein einziges Buch hatte das ausgelöst - ein Buch<br />
mit dem Titel ‚<strong>Norgast</strong>’!<br />
234
Anhang I: Making Of<br />
Nur wenige Menschen leisten sich den größten Luxus, den es im Leben<br />
gibt: Eine eigene Meinung.<br />
(Sir Alec Guinnes)<br />
<strong>Norgast</strong> ist eine rein fiktive Geschichte, welche in einer<br />
ebenso fiktiven Welt spielt - frei nach dem Motto ‚Star Wars<br />
meets Tolkien‘ (wobei das kein Anspruch sein soll). Doch es<br />
ist auch eine Geschichte, die in gewisser Weise das Leben<br />
selbst geschrieben hat und daher gibt es Realitätsbezüge.<br />
Teilweise zumindest, denn ich habe reichlich auf reale<br />
Gegebenheiten und Personen zurückgreifen können. <strong>Norgast</strong><br />
ist der letzte Band einer Trilogie, die aus zwei Sachbüchern<br />
und aus einem Roman besteht. Obgleich jeder Band dieser<br />
Trilogie (bestehend aus ‚Vernetzte Sinne - Über Synästhesie<br />
und Verhalten‘, ‚Böse Hexen gibt es nicht - Versuch einer<br />
interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens‘ und<br />
‚<strong>Norgast</strong>‘) ein in sich abgeschlossenes, von den anderen<br />
Bänden unabhängiges Ganzes bildet, gibt es doch<br />
Querverbindungen zwischen den einzelnen Büchern.<br />
So benennt ‚Vernetzte Sinne‘ Substanzen, welche die<br />
synästhetische Wahrnehmung beeinflussen bzw. für<br />
Nichtsynästhetiker überhaupt erst erfahrbar machen. Auch<br />
wird am Rande auf einen philosophischen Aspekt der<br />
Synästhesiedebatte hingewiesen - nämlich auf die Tatsache,<br />
dass unsere Realität immer wahrnehmungsgeprägt ist und es<br />
daher so etwas wie eine ‚absolute Realität‘ gar nicht geben<br />
kann. ‚Böse Hexen...‘ weist mehrere Berührungspunkte mit<br />
‚Vernetzte Sinne‘ auf, so u. a. hinsichtlich der ‚Hexenmittel‘<br />
und der Charaktereigenschaften früherer Hagias. Auch<br />
werden die Querverbindungen aus ‚Vernetzte Sinne‘<br />
aufgegriffen.<br />
<strong>Norgast</strong> schließlich mixt all dies mit einer gehörigen<br />
Portion an Fiktion und an Sozialkritik. Synästhetikern sagt<br />
man (wenn sie sich denn überhaupt zu erkennen geben) einen<br />
mitunter ‚etwas seltsamen‘ Musikgeschmack nach. Mir selbst<br />
als Coloured-Hearing-Synnie ist schon mehrfach mitgeteilt<br />
worden, dass meine musikalischen Interessen schlichtweg<br />
235
furchtbar seien - das ist gut so und so soll es auch bleiben! Ich<br />
selbst nenne das nämlich Vielseitigkeit! Auf Grund meiner<br />
synästhetischen Wahrnehmung beurteile ich Musik in erster<br />
Linie nach dem Aussehen, in zweiter Linie nach dem Text<br />
und erst zuletzt nach der Rhythmik. Ergo findet sich da auch<br />
eine ziemliche Bandbreite, welche absolut nicht mit dem<br />
kommerziellen Mainstream-Radio-Einheitsgedudele konform<br />
geht. Die synästhetisch wahrgenommenen Muster, Farben<br />
und Formen sind es auch, welche gedankliche Pirouetten<br />
erlauben, welche Zusammenfügungen ermöglichen, auf die<br />
man sonst wahrscheinlich gar nicht kommen würde. Das<br />
nennen einige Leute dann Kreativität.<br />
Aus einer solchen gedanklichen Pirouette heraus ist auch<br />
‚<strong>Norgast</strong>‘ entstanden - ohne Exposé. Statt dessen kommt der<br />
Musik der wichtigste Einfluss überhaupt zu. Die Texte der<br />
Musikstücke und die farbigen Formen der Melodien waren es,<br />
die das fehlende Exposé ersetzten. Dabei sind mir die Einfälle<br />
zur <strong>Norgast</strong>-Geschichte allerdings nicht in chronologischer<br />
Reihenfolge gekommen, sondern durcheinander. Ich habe sie<br />
dann wie ein Puzzlespiel zu dem Roman zusammen gesetzt.<br />
Den Musikern gebührt daher mein innigster Dank, denn ohne<br />
sie wäre die Geschichte ungeschrieben geblieben.<br />
Insbesondere haben die nachfolgend beschriebenen Stücke<br />
die Story erst ermöglicht.<br />
Kapitel 1: Der Intrigant<br />
„Der Tyrann“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />
Schwefel“, 2004)<br />
„Spielmannsfluch“ von In Extremo (aus dem Album „Verehrt und<br />
Angespien“, 1999)<br />
Diese beiden Songs lieferten die Grundlage zur<br />
Beschreibung von Baldur´s fiesem Charakter und seiner<br />
menschenverachtenden Herrschaft.<br />
„Waldmär“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“, 2005)<br />
Der Text dieses Liedes lag Baldur´s Tierverwandlung zu<br />
Grunde, als er beim Warten auf Findus´ Tod in Wolfsgestalt<br />
die beiden Köhler fraß.<br />
236
„Geisterschiff“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />
Schwefel“, 2004)<br />
Die Strandpiraten sind - neben realer Historie - vom<br />
Anfang dieses Liedes abgeleitet worden.<br />
„Planet Hell“ von Nightwish (aus dem Album „Once“, 2004)<br />
Die Unterweltschilderungen im Text des Songs<br />
inspirierten mich hinsichtlich der Figur des Shâgun.<br />
Sonstiges:<br />
Baldur existiert in gewissem Sinne wirklich, denn ich bin<br />
seinem Vorbild im realen Leben begegnet. Es handelt sich um<br />
einen Soziopathen. Dieser ist zumindest zeitweise ein<br />
erfolgreicher Geschäftsmann, der seinen erfahrenen und<br />
humorvollen Partner (hier: Malweýn) mit ziemlich linken<br />
Methoden ausbootete und statt dessen auf einen<br />
schleimenden und eher unfähigen ‚Chef-Chef-ich-weiß-was‘-<br />
Streber setzte. Im Roman geht Baldur´s Pakt mit dem Dämon<br />
auf Goethe´s ‚Faust‘ zurück. Der Shâgun ist eigentlich nichts<br />
weiter als eine Personifizierung der allgegenwärtigen<br />
deutschen Steuerbehörden, gemischt mit einer Firma, von<br />
welcher der ‚echte‘ Baldur aufgrund gemeinsamer Leichen im<br />
Keller gegängelt wird. Die Strukturen vom Syndikat der<br />
Kaufleute habe ich beim deutschen Gesundheitswesen<br />
abgeschaut, einem Staat im Staate. Einem Syndikat, welchem<br />
die ‚Kunden‘ von Unternehmen wie dem o. e. zugeschoben<br />
werden. Da ist alles so perfekt organisiert, dass eigentlich<br />
niemand mehr diese (zum Nachteil der Patienten)<br />
zementierten Strukturen aufzubrechen vermag. Baldur´s<br />
Tierverwandlung an sich beruht auf den psychoaktiven<br />
Wirkungen der wirklich hundsgefährlichen Solanazeen-<br />
Drogen. Für die geografische Größe von <strong>Norgast</strong> legte ich<br />
Deutschland zu Grunde. Die Vorlagen für die vorgelagerte<br />
Inselkette bilden die ostfriesischen Inseln. Das Vorbild für die<br />
Opfersteine des Helgebargs und später in der Nebelsenke war<br />
der Opferstein ‚Alte Taufe‘ im Deister, dem nördlichsten<br />
deutschen Mittelgebirge. Sandstedt war der Nordsee-Kurort,<br />
der sich heute Büsum nennt, bis ins 19. Jahrhundert hinein.<br />
Den im Zusammenhang mit einem seltsamen Ort südlich von<br />
Balum gelegenen Wald gibt es wirklich. In der Realität<br />
befindet er sich nordöstlich der Stadt Rodenberg am Deister<br />
und besteht aus den nur in dieser Gegend wachsenden<br />
237
Süntelbuchen - einer Buchenmutation. Das Coverfoto ist dort<br />
entstanden. Bei dem Ithelge-Gebirge erinnerte ich mich an die<br />
Tour durch die Sierra Nevada. In diesem Kapitel schlägt mein<br />
Sachbuch ‚Böse Hexen gibt es nicht’ gleich in doppelter<br />
Hinsicht durch - nämlich einerseits mit dem, was machbar ist<br />
und andererseits mit dem, was man getrost zum Reich der<br />
Fantasie zählen darf.<br />
Kapitel 2: Der Findling<br />
„Nechein Man“ von Faun (aus dem Album „Zaubersprüche“, 1997)<br />
„Sonnenstrahl“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“,<br />
2002)<br />
„Reich der Träume“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />
Schwefel“, 2004)<br />
„Nemo“ von Nightwish (aus dem Album „Once“, 2004)<br />
Alle diese Stücke zusammen lieferten mir die Vorlagen für<br />
die Figur des Findus, welcher ganz bewusst als Gegenpart zu<br />
Baldur angelegt worden ist.<br />
„Der Spion“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“, 2002)<br />
Das Lied gab mir die Idee für den Spion Neville (auch<br />
wenn Schandmaul´s Spion ganz anders aussieht...).<br />
Sonstiges:<br />
Auch Neville findet sein Vorbild im realen Leben, ist er<br />
doch in der Geschäftsleitung von ‚Baldur´s‘ Unternehmen<br />
tätig. Der Soziopath hat ihn in der Hand und daher ist er dem<br />
Boss geradezu hündisch ergeben. Die Untergebenen werden<br />
permanent gemobbt und wie (Lohn-) Sklaven behandelt.<br />
Derartige Unternehmen gibt es wohl viele... Das Vorbild für<br />
Mijnheer Vankampen ist gleichfalls ein Firmenmitarbeiter<br />
- der o. e. ‚Chef-Chef-ich-weiß-was‘-Typ. Letzterer schiebt<br />
seine Fehler grundsätzlich immer anderen in die Schuhe, so<br />
dass er selbst glänzen kann. Da haben sich zwei Leute gesucht<br />
und auch gefunden. Baldurs Verhaltensweise (ich meine<br />
natürlich die seines Vorbilds) habe ich im wirklichen Leben<br />
tatsächlich erlebt.<br />
Kapitel 3: Der Fischer<br />
„Egil Saga“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003)<br />
Runen sind ein zentrales Element in der gesamten<br />
Geschichte und bilden die Grundlage der - hoffentlich<br />
238
nachvollziehbar dargestellten - magischen Techniken. Die<br />
Idee dazu entnahm ich diesem Stück von Faun.<br />
„Der Fischer“ von Achim Reichel (aus dem Album „Regenballade“,<br />
1978)<br />
„American Remains“ von Highwaymen (aus dem Album<br />
„Highwayman 2“, 1990)<br />
„Unda“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003)<br />
Der Fischer Bewok, das Leben der einfachen Menschen<br />
und wie es in diesem Fall durch den Strom Wilderfrio<br />
definiert wird - all das kann auf diese drei Tracks zurück<br />
geführt werden.<br />
„Regenballade“ von Achim Reichel (aus dem Album „Regenballade“,<br />
1978)<br />
„Miyama No Sato“ von Tôsha Suihô (aus dem Album „Die Vier<br />
Jahreszeiten In Kyoto“, 1983)<br />
Findus´ Waldspaziergang beruht auf einer Story, die ich in<br />
ähnlicher Form schon an anderer Stelle veröffentlicht habe.<br />
Die Schilderung als Solche ist daher authentisch. Nur ging mir<br />
damals immer und immer wieder Achim´s Lied im Kopf<br />
herum. Und als ich das wieder mal hörte, da dachte ich, dass<br />
Findus´ Erfahren des Waldes doch prima passen würde. Und<br />
niemand kann solche synästhetischen Erlebnisse besser<br />
akustifizieren als Tôsha Suihô mit seiner japanischen<br />
Shinobue-Flöte.<br />
„Waldmär“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“, 2005)<br />
Die Begegnung mit dem Fuchs hat es wirklich gegeben.<br />
Aber um da was draus zu machen, bedurfte es des Anstoßes<br />
durch das Schandmaul-Lied. So wurde es dann zu Findus´<br />
Beinahe-Verwandlung.<br />
„Keridwen & Gwion“ von Faun (aus dem Album „Zaubersprüche“,<br />
1997)<br />
Der Trank, um den es in diesem Stück geht, bildete die<br />
Vorlage für den Findus seitens Snofork verabreichten<br />
Erinnerungstrank (nicht jedoch für das Rezept des Trankes!).<br />
Für die Bestandteile des Tranks griff ich auf mein früheres<br />
Sachbuch ‚Böse Hexen gibt es nicht - Versuch einer<br />
interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens‘ zurück.<br />
„Das Schloss am Meer“ von Faun (aus dem Album „Zaubersprüche“,<br />
1997)<br />
Das Lied war die Vorlage für Baldur in Helgenor.<br />
239
„16th Century Greensleeves“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />
„Past Times With Good Company“, 2002)<br />
„Ivory Tower“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost Of A<br />
Rose“, 2003)<br />
„Herr von Falckenstein“ von Falckenstein (aus dem Album<br />
„Feuerstuhl“, 1980)<br />
Die Hungertürme und die Geschichte des Bauern Mallok<br />
lassen sich auf einen Traum und auf die Texte dieser drei<br />
Songs zurück führen.<br />
Sonstiges:<br />
Ich bin Synästhetiker seit ich mir meiner selbst bewusst<br />
bin. Alle geschilderten synästhetischen Erfahrungen sind<br />
daher authentisch. Hinsichtlich Findus´ erstem<br />
Waldspaziergang habe ich mir ein Plagiat der auf meiner<br />
Homepage im Internet veröffentlichten Stories erlaubt und<br />
auch viele andere Schilderungen dieser Form der<br />
Wahrnehmung sind den dortigen Geschichten entnommen<br />
worden. Die Begegnung mit dem Fuchs hat in ähnlicher<br />
Form tatsächlich stattgefunden; die spätere Sache mit der<br />
Blaumeise ebenfalls und die spirituellen Erfahrungen an<br />
‚seltsamen Orten‘ oder ‚Kraftplätzen‘ gibt es wirklich. Die<br />
Hypothese der spirituellen Erfahrung anhand eines<br />
Magnetsinns lokalisiert im Schläfenlappen des Gehirns<br />
entstammt dem Heft ‚Bild der Wissenschaft‘ vom Juli 2005.<br />
Findus´ wirklicher Name ‚Far-Ur-Rit‘ ist ein runenbasierendes<br />
Wortspiel mit meinem eigenen Familiennamen. Die von<br />
Findus bei den Fischersleuten eingeführten Arbeitstechniken<br />
sind authentisch. Teils entstammen sie ‚Böse Hexen gibt es<br />
nicht‘ und teils eigenen Versuchen. Den Schilderungen des<br />
Outdoor-Lebens nebst Armbrustjagd, Räuchern,<br />
Fischfangmethoden usw. liegen meine eigenen Erfahrungen<br />
zu Grunde und das Vorbild für die Rigras-Stämme ist schlicht<br />
und einfach Bambus. Die im Roman genannten Kräuter gibt<br />
es wirklich; ihre Wirkungsmechanismen sind - abgesehen von<br />
einigen stilistisch erforderlichen Ausschmückungen - auch<br />
authentisch. Die gebräuchlichen Namen dieser Stoffe wurden<br />
lediglich durch ihre alten, überlieferten volksmedizinischen<br />
Bezeichnungen ersetzt. Auf Mengenangaben habe ich ganz<br />
bewusst verzichtet, denn ich will keine Anleitungen zum<br />
Missbrauch geben. Aus diesem Grunde sind alle Rezepturen<br />
240
auch nur sehr vage gehalten. Das von Snofork gebackene<br />
Fladenbrot trägt real die Bezeichnung ‚Damper‘. Es wurde<br />
- genau wie der Erdofen auf der Reise zur Bônday - bei den<br />
traditionellen Garmethoden der australischen Aborigines<br />
abgeschaut. Baldur´s Kontrollmaßnahme mit dem Paliwi<br />
entspricht der regulären (und meist illegalen) betrieblichen<br />
Arbeitnehmerüberwachung, wie sie bspw. immer dann<br />
möglich ist, wenn sich irgendwo ein vernetzter Rechner mit<br />
einem Headset daran befindet. Über das darin befindliche<br />
Mikrofon und ein Fernwartungsprogramm kann nämlich<br />
jederzeit abgehört werden - was leider auch tatsächlich<br />
geschieht, wie mir aus Erfahrung bekannt ist. Der Wilderfrio<br />
wird durch den Zusammenfluss zweier Quellflüsse gebildet.<br />
Das Vorbild dafür liefern Werra und Fulda, welche sich zur<br />
Weser vereinigen. Der Schilderung der Tiedsiepe-Wasserfälle<br />
liegen meine Erfahrungen mit den Niagara-Fällen zu Grunde,<br />
welche ich auf kanadischer Seite von unten bewundern durfte.<br />
Vorbild für die ‚namenlose Insel‘ ist in gewisser Weise der vor<br />
Ibiza gelegene, eindrucksvolle Felsen ‚Es Vedra‘. Helgenor<br />
entspricht in unserer Wirklichkeit der Blumeninsel Mainau im<br />
Bodensee und der Name des Naturheiligtums<br />
‚Achestorensten‘ ist nur ein alter Name für die Externsteine<br />
nahe Horn/ Bad Meinberg (dem ehemaligen<br />
Nationalheiligtum). Eine besondere Schwierigkeit bei der<br />
ganzen Story bestand darin, dass in einer vorwiegend<br />
mittelalterlich geprägten Welt praktisch keine normierten<br />
Maße und Zeiteinheiten verfügbar sind. Um dem Leser hier<br />
eine Vorstellung der Verhältnisse vermitteln zu können, griff<br />
ich auf Vergleiche und auf astronomische Faktoren zurück.<br />
Letzteres setze die Existenz eines Mondes voraus, woraus<br />
sich dann auch Ebbe und Flut sowie das Watt ergaben. Es ist<br />
unglaublich schwer, sich eine Welt ganz ohne Uhren<br />
vorzustellen und das dann bei der Beschreibung auch noch<br />
konsequent durchzuhalten!<br />
Kapitel 4: Die Bônday<br />
„Gewitter“ von Klaus Schulze (aus dem Album „Klaus Schulze<br />
2001“, 2001)<br />
Vielleicht nicht ganz leicht zu erklären. Meine<br />
synästhetische Wahrnehmung eines Gewitters und Klaus<br />
241
Schulze´s Musikstück sind zwar absolut nicht gleich, doch sie<br />
ähneln einander. Sehr sogar. Ich wollte dieses Kapitel mit<br />
einer lebendigen Schilderung der Wetterverhältnisse<br />
beginnen. Das Stück erinnerte mich an eines meiner<br />
unveröffentlichten Manuskripte mit meiner synästhetischen<br />
Darstellung eines Gewitters und das habe ich dann<br />
verwendet.<br />
„Written In The Stars“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />
„Fires At Midnight“, 2001)<br />
„Way To Mandalay“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost<br />
Of A Rose“, 2003)<br />
Eine Reise war von vornherein eingeplant. Aber wie und<br />
wohin? Diese beiden Tracks lieferten die Ideen.<br />
„Past Time With Good Company“ von Blackmore´s Night (aus dem<br />
Album „Under A Violet Moon“, 1999)<br />
„Under A Violet Moon“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />
„Under A Violet Moon“, 1999)<br />
Eine Reise ohne Zwischenfälle ist langweilig. Warum also<br />
nicht die Reisenden auf andere Leute treffen lassen? So wurde<br />
aus der ‚Good Company‘ das Zigeunerlager.<br />
„Ghost Love Score“ von Nightwish (aus dem Album „Once“, 2004)<br />
Und damit die Übernachtung im Zigeunerlager nicht zu<br />
einem Besäufnis verkommt, brauchte ich noch irgend etwas<br />
Unerwartetes. Dem geheimnisvollen Nightwish-Stück<br />
verdanke ich daher die uralte Zigeunerin.<br />
„Die Geister vom See“ von Achim Reichel (aus dem Album „Wilder<br />
Wassermann“, 2002)<br />
Ich hörte Achim´s Song und machte daraus Findus´<br />
Begegnung mit der Najade.<br />
„Der Sumpf“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />
Schwefel“, 2004)<br />
„Wintermoor“ von Aquarell (aus dem Album „Folk Fest“, 1979)<br />
Die <strong>Norgast</strong> zugrunde liegende Landkarte ist schon ein<br />
paar Jahrzehnte alt. Ich zeichnete sie vor Urzeiten nur mal so<br />
zum Spaß und hörte dabei das Stück von Aquarell. Irgendwie<br />
hat die Karte die Zeiten überdauert. Den dort<br />
eingezeichneten Sumpf hätte ich aber fast übersehen, wäre da<br />
nicht diese Musik gewesen.<br />
„Crystal Lake“ von Klaus Schulze (aus dem Album „Klaus Schulze<br />
2001“, 2001)<br />
242
„Graues Meer“ von Falckenstein (aus dem Album „Feuerstuhl“,<br />
1980)<br />
Ich habe lange Zeit meiner Kindheit an der Nordseeküste<br />
verbracht. Das Gleißen des in der Sonne oder unter Wolken<br />
liegenden Wassers und diese Stücke waren einander sehr<br />
ähnlich und als ich die Lieder hörte, war mir auch klar, was<br />
ich mit der Tiedsiepe machen würde...<br />
„Biikebrennen“ von Entrance (aus dem Album „Entrance“, 1985)<br />
...denn auch der Anblick des Watts ist mir sehr vertraut<br />
und es gibt kaum ein Musikstück, welches das Empfinden<br />
dabei besser wiedergeben kann. So etwas nennt sich<br />
metaphorische Synästhesie.<br />
„Avalon“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A Violet<br />
Moon“, 1999)<br />
„The Stones Of Avebury“ von Chris Evans und David Hanselmann<br />
(aus dem Album „Stonehenge“, 1980)<br />
Beides zusammen lieferte die Grundidee für die<br />
‚namenlose Insel‘.<br />
„Home Again“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Fires At<br />
Midnight“, 2001)<br />
Ende einer Reise ins Unbekannte. Wie beschreibt man so<br />
etwas? Indem man die Reisenden zurückkehren lässt...<br />
„All For One“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost Of A<br />
Rose“, 2003)<br />
Dieser Song lieferte den Entschluss, die Insel von drei<br />
Hexen bewohnen zu lassen...<br />
„Dein Anblick“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“,<br />
2002)<br />
...und die müssen ja nicht unbedingt uralt, hässlich und<br />
pickelig sein. Es gibt da ja auch genau das Gegenteil!<br />
Sonstiges:<br />
Für die Bônday und für Dayla haben zwei Neo-Hexen<br />
quasi Modell gestanden und Lyonora´s ‚Vorlage‘ ist die<br />
frühere Sängerin einer bekannten Gothic-Band. Für meine<br />
Beschreibung der Stimme der Bônday habe ich mir das<br />
synästhetische Aussehen der Stimme von Candice Night<br />
ausgeliehen. Die Augen der Bônday sind meine Reminiszenz<br />
an ein liebenswertes Raubtier, bei dem ich immer das Gefühl<br />
nicht loswerde, dass es sich Menschen zur Erbauung und<br />
Versorgung hält. Die geschilderten magischen Techniken<br />
243
durfte ich dem jeweiligen ‚Buch der Schatten‘ (BdS) der<br />
beiden Neo-Hexen entnehmen; ähnliches gilt auch für die<br />
Beschreibungen der Magie an sich. Die physikalischen<br />
Gegebenheiten der Tiedsiepe sind frei erfunden. Ihren<br />
Schilderungen liegen allerdings einerseits das seltsame<br />
Wasserspeicherverhalten des maltesischen Kalksteins und<br />
andererseits einige meiner früheren, nicht ungefährlichen<br />
Erlebnisse im Nordsee-Watt zu Grunde, so u. a. die Sache mit<br />
dem auflaufenden Wasser, dem mehrfach erlebten<br />
Geisternebel und die Geschichte mit dem Treibsand. Ferner<br />
werden wieder authentische Arbeitstechniken geschildert<br />
- teils europäischen Ursprungs, teils aber auch von den<br />
australischen Aborigines. Zusätzlich wird meine im Ausland<br />
gesammelte Erfahrung verarbeitet, dass die Gastfreundschaft<br />
und Hilfsbereitschaft im Grunde immer genau bei den<br />
Menschen am größten ist, die Otto Normalverbraucher<br />
gemeinhin vorurteilsbehaftet ablehnt.<br />
Kapitel 5: Drei Prüfungen<br />
„Der fliegende Holländer“ von Achim Reichel (aus dem Album<br />
„Klabautermann“, 1977)<br />
Das war die Vorlage für Baldur auf der Kaufleute-Bark.<br />
Dessen Aufenthalt dort war eine gute Gelegenheit, den Leser<br />
mit dem Hintergrund dieses Fieslings vertraut zu machen.<br />
„Der Kurier“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“,<br />
2002)<br />
Zu Baldur´s Hintergrund gehörten natürlich Mutter<br />
Gwylon und aus dem Kurier wurde Ravon, ihr Diener. Mit<br />
der Rolle dieser Figur hatte ich später im Hinblick auf Findus<br />
noch etwas vor.<br />
„Leb!“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und Schwefel“,<br />
2004)<br />
„Shadow Of the Moon“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />
„Shadow Of The Moon“, 1997)<br />
„Be Mine Tonight“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Shadow<br />
Of The Moon“, 1997)<br />
Alle diese Songs inspirierten mich bei der Beschreibung<br />
des Verhältnisses zwischen Findus und Hexe Dayla, welche in<br />
Wirklichkeit seine Geliebte ist.<br />
244
„Merseburger Zaubersprüche“ von In Extremo (aus dem Album<br />
„Verehrt und Angespien“, 1999)<br />
Findus´ Lernen der Zaubersprüche findet sich hier wieder.<br />
„Die drei Prüfungen“ von Schandmaul (aus dem Album<br />
„Narrenkönig“, 2002)<br />
Findus musste irgendwie wieder von der Insel runter,<br />
damit es nicht langweilig wurde. Aber wie? Laut dem<br />
Schandmaul-Song zum Lösen von Aufgaben, welche ihm<br />
zwecks Erlangung von Selbsterkenntnis gestellt worden sind.<br />
Sonstiges:<br />
Ich mischte die dem BdS der beiden Neo-Hexen<br />
entnommenen magischen Techniken mit der Runenkunde<br />
und mit eigenen Naturerfahrungen - einfach schon deswegen,<br />
weil es sehr naheliegend war. Schwieriger wurde es bei Baldur<br />
- obwohl ich schon mal mit Leuten zu tun hatte, die an einer<br />
‚dissozialen Persönlichkeitsstörung‘ litten, fiel und fällt es mir<br />
extrem schwer, mich in deren megaegoistische Denkweise<br />
hinein zu versetzen. Ich hoffe dennoch, dass mir das bei<br />
Baldur gelungen ist, zumal ich gerade in dem Fall auf das<br />
Mobbing-Tagebuch eines der Opfer von seinem Vorbild<br />
zurückgreifen konnte. Um es mal klar darzustellen<br />
- gegenüber so einem Ekel wie Baldur ist J. R. Ewing (aus der<br />
TV-Serie ‚Dallas‘) geradezu ein Heiliger.<br />
Kapitel 6: Der weiße Rabe<br />
„Frontiers-of-chaos“ von Software (aus dem Album „Chip-Meditation“,<br />
1985)<br />
„Mountain Music“ von Eberhard Schoener (aus dem Album „Sky<br />
Music/ Mountain Music“, 1984)<br />
„Window“ von Jon Lord und Eberhard Schoener (aus dem Album<br />
„Windows“, 1974)<br />
Schon seit jeher habe ich ein Faible für elektronische<br />
Musik und für bestimmte klassische Werke. Vielleicht<br />
deswegen, weil ich da als Synästhetiker die Töne noch am<br />
klarsten ‚erkennen‘ kann. Wie dem auch sei, über das Internet<br />
beklagte sich eine Neo-Hexe, dass sie zwar gerne Fantasy lese,<br />
dass es da aber praktisch nur solche ‚Hau-Drauf‘-Stories ohne<br />
‚echte‘ Magie gäbe. Ich rätselte dann herum, wie ich die<br />
entsprechenden Beschreibungen einbauen könnte und hörte<br />
dabei die o. a. Musikstücke. Die Titel beinhalten durchweg<br />
245
Elemente fraktaler Musik. Das erinnerte mich an meine viele<br />
Jahre zurückliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen im<br />
Bereich der Chaosmathematik und damit war dann eigentlich<br />
alles klar. Um zu erklären, wie die Magie in <strong>Norgast</strong><br />
funktioniert, brauchte ich nur die Gesetzmäßigkeiten der<br />
Chaosmathematik zu den magischen Grundlagen zu machen.<br />
Und Findus musste das dann lernen. Welche gedanklichen<br />
Verrenkungen einem so etwas abverlangt, das war mir ja aus<br />
der Erfahrung mit der Mathematik noch gut in Erinnerung.<br />
„Shelter From The Storm“ von Manfred Mann´s Earthband (aus dem<br />
Album „Soft Vengeance“, 1996)<br />
„Halfbreed“ in der Fassung von Shania Twain (aus dem Album „For<br />
The Love Of Him“, 1999)<br />
Diese beiden Songs inspirierten mich zu dem kleinen<br />
Intermezzo über Dayla´s Verhältnis zu Findus und über<br />
Dayla´s Kindheit. Wobei die Schilderung aus Dayla´s<br />
Kindheit den tatsächlichen Reaktionen der ‚lieben<br />
Mitmenschen‘ auf meine eigene synästhetische Wahrnehmung<br />
und auf mein früheres Buch ‚Vernetzte Sinne - Über<br />
Synästhesie und Verhalten‘ entspricht...<br />
„Ghost Story“ von Paice-Ashton-Lord (aus dem Album „Malice In<br />
Wonderland“, 1976)<br />
„Der Wilde Wassermann“ von Achim Reichel (aus dem Album<br />
„Wilder Wassermann“, 2002)<br />
Bei den Songs erinnerte ich mich an die norddeutschen<br />
Sagen aus meiner Kindheit. Sagen über den Nöck und über<br />
Nis Puck. Wenn man mal einen wirklichen Sturm an der<br />
Nordsee so richtig aus erster Hand und oben auf dem Deich<br />
miterlebt hat, dann versteht man auch diese Sagen. Hier<br />
passte das sehr gut, um Baldur das Leben schwer zu machen.<br />
„Unda“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003)<br />
„Die Sage“ von der Stern Combo Meissen (aus dem Album „Der<br />
Weite Weg“, 1979)<br />
Es gab ein Problem. Findus musste im Hinblick auf die<br />
unausweichliche, spätere Konfrontation mit Baldur perfekt<br />
mit einem Schwert umgehen können. Meine Gespräche mit<br />
Schwertkämpfern und Schmieden auf einigen<br />
Mittelaltermärkten (und auch eine erste Blutige-Anfänger-<br />
Grundlektion im Schwertkampf) brachten mich aber zu der<br />
Überzeugung, dass da verdammt viel Know How und Übung<br />
246
zugehört. Das geht nicht ‚mal eben so‘. Ich danke diesen<br />
Personen daher an dieser Stelle für ihre Mühen mit mir und<br />
für ihr Verständnis. Mögen sie es mir nachsehen, wenn ich<br />
etwas falsch wiedergegeben haben sollte. Im Roman musste<br />
die Schwertkampfausbildung schneller gehen - wesentlich<br />
schneller. Wie also schindet man Zeit raus, die man nicht hat?<br />
‚Unda‘ und ‚Die Sage‘ brachten mich auf die Nebelsenke, die<br />
dann einem veränderten Zeitablauf unterlag - beliebig viel<br />
Zeit für die Vervollkommnung von Findus´ Fähigkeiten.<br />
Einflüsse verschiedener Sagen (die nordische Mythologie<br />
– und hier insbesondere die Völuspá -, die Sage vom<br />
Hübichenstein bei Bad Grund im Harz, die Sage vom Zwerg<br />
aus den Schweckhäuser Bergen bei Göttingen u. a.) sind dabei<br />
nicht zu übersehen. Insbesondere die Saga der nordischen<br />
Götter hat es mir schon seit jeher angetan, zumal sich mein<br />
aus Skandinavien stammender Familienname wahrscheinlich<br />
auf die Wurzel ‚Frowe Urd‘ (eine der drei Nornen - die für die<br />
Vergangenheit Zuständige) zurückführen lässt. Und<br />
schließlich flossen in Findus´ Ausbildung zum<br />
Schwertkämpfer noch meine eigenen früheren Erfahrungen<br />
mit ostasiatischen Kampfkünsten mit ein.<br />
„3 Black Crows“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Ghost Of<br />
A Rose“, 2003)<br />
„Walpurgisnacht“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“,<br />
2005)<br />
„The Raven“ von Alan Parsons Project (aus dem Album „Tales Of<br />
Mytery And Imagination By Edgar Allan Poe“, 1975)<br />
Die Tierverwandlung - eine durch Solanazeendrogen<br />
hervorgerufene Illusion - findet sich überall in den alten<br />
Märchen, Sagen und Überlieferungen. Sie bot meiner<br />
Romanfigur eine elegante Möglichkeit, um relativ schnell<br />
große Entfernungen zurücklegen zu können. Aber welches<br />
Tier? Zunächst dachte ich an die Krähe, aber das erschien mir<br />
zu platt - war das doch schon Baldur´s bevorzugte Gestalt.<br />
Schandmaul und Alan Parsons Project lieferten die Lösung<br />
des Rätsels: einen Raben. Und weiß musste der allein schon<br />
deshalb sein, weil diese Farbe eben im westlichen Kulturkreis<br />
mit guten Absichten und Reinheit assoziiert wird.<br />
247
Sonstiges:<br />
Auch hier werden wieder einige magische Techniken<br />
(Runen und magischer Kreis), wie sie heute in den<br />
einschlägigen Kreisen praktiziert werden, recht detailliert<br />
beschrieben. In diesem Kapitel gibt es ganz bewusst heftige<br />
Seitenhiebe gegen die ignorante Vorgehensweise und<br />
Realitätsferne heutiger Politiker und Wirtschaftsbosse. Macht<br />
man das in einem Sachbuch, dann ist man angreifbar. Macht<br />
man das aber in einem fiktiven Roman, dann ist das<br />
künstlerische Freiheit... Paradox, nicht wahr? Honny soit qui<br />
mal y pense! In das Verhältnis zwischen <strong>Norgast</strong>, der<br />
Nebelsenke und der von Findus erfahrenen Anderswelt ist in<br />
sehr freier Form die Everett-Hypothese (auch: ‚Viele-Welten‘oder<br />
‚Viele-Historien‘-Hypothese) aus der Quantenphysik mit<br />
eingeflossen. Die Ablehnung, die Dayla in ihrer Kindheit<br />
seitens ihrer Mitmenschen entgegen geschlagen ist, stützt sich<br />
neben persönlichen Erfahrungen nicht zuletzt auch auf<br />
gewisse unsachliche Kritiken an meinem Sachbuch ‚Vernetzte<br />
Sinne‘ - eben meine ganz eigene Art von Rache an den<br />
besserwisserischen Kritikern, die sich abfällig über etwas<br />
äußern, bei dem sie schon aus rein biologischen Gründen gar<br />
nicht mitreden können!<br />
Kapitel 7: Der Geist des Waldes<br />
„Salvation On Sand Hill“ von Sammy Hagar (aus dem Album<br />
„Marching To Mars“, 1997)<br />
Diesem Stück entnahm ich die Idee mit den Schlangen. Da<br />
Schlangen im allgemeinen mit negativen Gefühlen assoziiert<br />
werden (Warum eigentlich? Die fühlen sich an wie Leder und<br />
sind überhaupt nicht glitschig! - Wieder nur so ein paar<br />
verdammte Vorurteile!), ergab sich daraus ein wunderbares<br />
Stilmittel für eine düstere Stimmung.<br />
„Präludium und Fuge g-moll BWV 558“ von Werner Jacob (aus dem<br />
Album „J. S. Bach: Die Arnstädter Orgelchoräle“, 1985)<br />
Klassisch-sakrale Musik und ganz speziell dieses Stück<br />
brachten mich auf den Gedanken, die im Roman dargestellten<br />
Beschwörungen und Zaubersprüche durch Abwandlungen<br />
der Texte aus einem christlichen Gesangbuch zu realisieren.<br />
„Tagelied“ von Faun (aus dem Album „Renaissance“, 2005)<br />
„Iyansa“ von Faun (aus dem Album „Renaissance“, 2005)<br />
248
Das Bannen des Dämons im Myrkviör wird zwar<br />
unmittelbar von Findus durchgeführt, wäre aber ohne Dayla´s<br />
Macht im Hintergrund niemals glaubhaft darstellbar gewesen.<br />
Letztlich ist dies die große Stunde der Hexe - inspiriert durch<br />
zwei Liedtexte.<br />
„Regenbogenkinder“ von Godewind (aus dem Album<br />
„Regenbogenkinder“, 1989)<br />
Dieser Song gab mir die Hinweise zum ‚Wie‘, was das<br />
Bannen des Myrkviör-Dämons betraf.<br />
„Das Duell“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />
Schwefel“, 2004)<br />
„Born And Raised In Black And White“ von Highwaymen (aus dem<br />
Album „Highwayman 2“, 1990)<br />
„Der Albatros“ von Karat (aus dem Album „Albatros“, 1979)<br />
Die Anregungen für den Kampf zwischen Findus und<br />
Baldur entnahm ich diesen Stücken.<br />
„March The Heroes Home“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />
„Under A Violet Moon“, 1999)<br />
„Now And Then“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A<br />
Violet Moon“, 1999)<br />
Der Dämon im Myrkviör war die eine Sache - die Seelen<br />
der Toten eine andere. Durch die o. a. Songs bin ich<br />
überhaupt erst darauf gekommen, die Letzteren eine Rolle<br />
spielen zu lassen. Und zwar gleich eine in doppelter Hinsicht<br />
wichtige Rolle: Sind es doch die Toten, die den Kampf mit<br />
Baldur entscheidend beeinflussen und sind sie es doch auch,<br />
die eine Überleitung zu den seltsamen Orten und zur<br />
Befreiung Malweýn´s gestatten - womit die zweite Prüfung<br />
abgehakt ist.<br />
„Das Macht Doch Nichts Das Merkt Doch Keiner“ von Hans<br />
Scheibner (aus dem Album „Das Macht Doch Nichts Das Merkt<br />
Doch Keiner“, 1979)<br />
„Das Narrenschiff“ von Reinhard Mey (aus dem Album<br />
„Flaschenpost“, 1998)<br />
„<strong>Heim</strong>atlos“ von Reinhard Mey (aus dem Album „Einhandsegler“,<br />
2000)<br />
Als ich noch am Überlegen war, wie ich nun weiter mit<br />
Baldur zu verfahren hatte, da hörte ich diese drei durch und<br />
durch politischen und nach wie vor topaktuellen Lieder.<br />
Damit war dann alles klar, was Baldur´s weiteren Weg betraf.<br />
249
Ähnlichkeiten dieses Weges mit den Schnüffelpraktiken eines<br />
gewissen Innenministers, mit dem Vorgehen der Medien und<br />
mit den Allmachtsfantasien vom Präsidenten einer gewissen<br />
großen Industrienation sind - natürlich! - nur rein zufällig und<br />
keinesfalls beabsichtigt...<br />
„Reich der Träume“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech und<br />
Schwefel“, 2004)<br />
Weitab von Raum und Zeit spürst du die Macht, spürst du<br />
die Kraft der Ewigkeit - exakt dieser Refrain gab mir den<br />
Hinweis mit der Geomantie, mit den Ley-Linien bzw.<br />
Drachenlinien. Könnte doch eine sehr bequeme (und<br />
schnelle) Art des Reisens sein, wenn man sie zu nutzen<br />
versteht.<br />
„Dark Chest Of Wonders“ von Nightwish (aus dem Album „Once“,<br />
2004)<br />
„Isis“ von Faun (aus dem Album „Licht“, 2003)<br />
Beide Stücke behandeln in gewisser Weise das gleiche<br />
Thema - nämlich magische Verwandlungen. Das führte zu<br />
dem Einfall, Malweýn gebannt in Form eines Baumes auf<br />
seine Befreiung warten zu lassen. Diese Idee kam mir schon<br />
in einem sehr frühen Stadium - lange bevor ich mit der<br />
eigentlichen Geschichte begann.<br />
Sonstiges:<br />
Das im Roman beschriebene orangefarbene Licht der<br />
Leylinien kommt nicht von ungefähr - ihm liegen<br />
physikalische und spirituelle Gegebenheiten zu Grunde. Ein<br />
Erdentag dauert exakt 23 Stunden und 56 Minuten (was<br />
letztlich die Notwendigkeit von Schaltjahren bedingt). Nimmt<br />
man den Kehrwert davon, so erhält man eine physikalische<br />
Schwingung. In den hörbaren Bereich hinein oktaviert<br />
entspricht sie dem Ton ‚g‘ - dem Ton, der insbesondere im<br />
buddhistischen Glaubensraum Gebete und Meditationen<br />
begleitet. Oktaviert man diesen ‚Erdenton‘ noch weiter, so<br />
erhält man die (Licht-) Frequenz von 700nm - ein leuchtendes<br />
Rotorange, wie es bspw. buddhistische Mönche bei ihren<br />
Roben bevorzugen. Daher stammt dann auch meine<br />
Farbgebung des Lichts der Drachenlinien. Kleine<br />
Randanmerkung: Oktaviert man das ‚g‘ noch höher, dann<br />
erhält man die Eigenresonanz menschlicher DNS - seltsam,<br />
nicht wahr? Die Formvorlage für den uralten Baum, in den<br />
250
Malweýn gebannt worden ist, lieferte wieder eine<br />
Süntelbuche. Sie wächst unter Naturschutz stehend in<br />
meinem Wohnort an sehr versteckter Stelle und widersetzt<br />
sich seit Jahren ausgesprochen erfolgreich jedem Versuch, auf<br />
einem Foto abgebildet zu werden. Auch hier gibt´s mal<br />
wieder Seitenhiebe satt. Die Vorlage für Baldur´s Benehmen<br />
lieferte das Verhalten eines gewissen Präsidenten einer<br />
gewissen großen Industrienation. Glaubhaften Gerüchten<br />
zufolge soll der gewisse Präsident ja primär auf seine Berater<br />
Jack Daniels und Johnny Walker hören. Baldur´s nach der<br />
Konfrontation mit Findus in Gang gesetzte Maßnahmen<br />
haben natürlich nur rein zufällig Ähnlichkeit mit den<br />
‚vorbeugenden Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung‘<br />
eines gewissen Innenministers. Auch das ‚Wie-funktioniertunsere-Wirtschaft‘<br />
bekommt sein Fett ab, weil es ja doch den<br />
einen oder anderen der Industrie mehr als dem Volk<br />
verbundenen Politiker geben soll - sei es durch<br />
Beraterverträge, Seilschaften, Aufsichtsratsposten,<br />
Polittourismus, Schmiergelder, Bordellaufenthalte oder wie<br />
auch immer. Findus´ Erfahrung beim Bannen des Dämons<br />
liegt meine eigene Erfahrung mit einem Nahtod-Erlebnis<br />
zugrunde. Allerdings habe ich in der Geschichte vieles aus<br />
dieser Erfahrung in sein Gegenteil verkehrt.<br />
Kapitel 8: Der Stein des Lebens<br />
„Cool Water“ von Marty Robbins (aus dem Album „Gunfighter<br />
Ballads And Trail Songs“, 1959)<br />
„El Paso“ von Marty Robbins (aus dem Album „Gunfighter Ballads<br />
And Trail Songs“, 1959)<br />
„A Horse With No Name“ von America (aus dem Album „A Horse<br />
With No Name And Other Hits“, 2004)<br />
Drei Songs, die in der Wüste spielen. Das brachte mich auf<br />
den Gedanken, meine eigenen Wüsten-Reiseerfahrungen<br />
zumindest rudimentär in die Geschichte mit einfließen zu<br />
lassen. Die Wüste - das ist eine Landschaft, die niemanden<br />
unberührt lässt. Karg und lebensfeindlich, aber von immer<br />
wieder wechselndem Aussehen. Entweder man will nie wieder<br />
hin oder aber die Sehnsucht danach verlässt einen nicht mehr.<br />
Bei mir Letzteres.<br />
251
„The Jouney“ von Rick Wakeman (aus dem Album „Journey To The<br />
Centre Of The Earth“, 1974)<br />
„Reise Zum Mittelpunkt Der Erde“ von den Puhdys (aus dem Album<br />
„Puhdys [1]“, 1974)<br />
Den beiden Vertonungen der gleichnamigen Jules-Verne-<br />
Geschichte entnahm ich die Idee mit der Höhle und mit den<br />
Kristallen. Ich habe ein Faible für Höhlen!<br />
„Frigga´s Web“ von Hagalaz´ Runedance (aus dem Album „Frigga´s<br />
Web“, 2002)<br />
Das Stück brachte mir den Einfall, Findus die Ley´s von<br />
oben ähnlich einem Spinnennetz sehen zu lassen. An dieser<br />
Stelle gilt mein ganz besonderer Dank einer Person, die sich<br />
die Bezeichnung ‚Hagia‘ wirklich ernsthaft verdient hat und<br />
die mich schon frühzeitig auf die Musik von Hagalaz´<br />
Runedance aufmerksam machte.<br />
„Open Source“ von den Magic Mushrooms (aus dem Album<br />
„OpenMusic-Sampler“, 2001)<br />
Hier war es zur Abwechslung mal nicht die Musik (obwohl<br />
die auch sehr gut ist!), sondern vielmehr der Name der Band,<br />
der mich Findus eine kräftigende und<br />
bewusstseinserweiternde Pilzmahlzeit servieren ließ.<br />
„Chant“ von White Water (aus dem Album „Celtic Abbey“, 1998)<br />
„Laguz - Within The Lake“ von Nebelhexe (aus dem Album „Laguz<br />
- Within The Lake“, 2004)<br />
Beide Titel führten zu dem Einfall, Findus einen<br />
Abstecher bei seinen alten Bekannten Bewok und Snofork<br />
machen zu lassen. Hinsichtlich der ‚Nebelhexe‘ gilt der o. e.<br />
Hagazussa wieder mein spezieller Dank.<br />
„Indian Reservation“ von Paul Revere & The Raiders (aus dem<br />
Sampler „Nur No. 1 Hits“, 1996)<br />
Dem Stück entnahm ich die Anregungen für die<br />
Schilderung der miesen Lebensverhältnisse in Torboog.<br />
„Exxon Valdez“ von Achim Reichel (aus dem Album „100%<br />
Leben“, 2004)<br />
Dieser Titel lieferte die Vorlage zur Beschreibung der<br />
Mannschaft auf der ‚Königin von Fucunor‘.<br />
„Das Narrenschiff“ von Karat (aus dem Album „Schwanenkönig“,<br />
1980)<br />
„Das Narrenschiff“ von Reinhard Mey (aus dem Album<br />
„Flaschenpost“, 1998)<br />
252
„Rat Race“ von Bob Marley & The Wailers (aus dem Album<br />
„Babylon By Bus“, 1978)<br />
Die beiden Narrenschiff-Stücke, die absolut gar nichts<br />
miteinander zu tun haben, und Bob Marley´s Ausführungen<br />
- das waren die Aufhänger zur Beschreibung des Systems der<br />
Kaufleute; ergänzt um das, was ich im Laufe meiner<br />
Berufstätigkeit so von verschiedenen deutschen<br />
Handelsketten mitbekommen habe (insbesondere vom<br />
Hochfinanzbereich) und was vom deutschen<br />
Gesundheitswesen bekannt ist.<br />
„Soltwind“ von Speelwark (aus dem Album „Freut Euch Des<br />
Nordens“, 1993)<br />
Musik zum Rekapitulieren synästhetischer Erfahrungen<br />
- hier flossen meine Empfindungen eines Spätwinters auf<br />
Norderney mit ein.<br />
„Hamborger Veermaster“ von Achim Reichel (aus dem Album „Dat<br />
Shanty Alb´m“, 1976)<br />
„Das Störtebekerlied“ von Achim Reichel (aus dem Album<br />
„Klabautermann“, 1977)<br />
„Herren der Winde“ von Schandmaul (aus dem Album „Kunststück“,<br />
2005)<br />
Das waren die ‚Aufhänger‘ für die Seereise und für das<br />
Zusammentreffen von Kaufleuten und Piraten.<br />
„Twischen Twee Meer´n“ von Godewind (aus dem Album<br />
„Schattenspiele“, 2001)<br />
Das Lied beeinflusste mich bei der Beschreibung der Insel<br />
Fucunor.<br />
„Drachenreiter“ von Furunkulus (aus dem Album „Furunkulus –<br />
Live“, 2005)<br />
„Flug auf dem Glücksdrachen“ von Klaus Doldinger (aus dem Album<br />
„Die unendliche Geschichte“, 1984)<br />
Zuerst wollte ich Findus so Nibelungen-Siegfried-mäßig<br />
den Drachen von Fucunor besiegen lassen, obwohl mir das<br />
ziemlich banal erschien. Beim Hören der beiden Titel fiel mir<br />
dann aber der Film ‚Dragonheart‘ ein - und warum eigentlich<br />
nicht? Lassen wir Findus doch einen Pakt mit dem Drachen<br />
schließen. Den Drachen würde ich bestimmt später noch<br />
irgendwo verwenden können.<br />
253
Sonstiges:<br />
Für die Darstellung der Wüste griff ich auf meine<br />
Reiseerfahrungen in der Sonora-Wüste im Süden Arizona´s<br />
zurück. Bei der Insel Fucunor gibt´s Anklänge an Island. Hier<br />
habe ich eigene Reiseerfahrungen vergangener Zeiten mit<br />
einfließen lassen. Einerseits hat die Wüste es mir angetan und<br />
andererseits muss ich selbst mindestens einmal im Jahr<br />
Schiffsplanken unter den Füßen haben. Wüste und See sind<br />
mir daher beide vertraut - und einander trotz aller Gegensätze<br />
in gewisser Hinsicht auch irgendwo ähnlich. Bei der<br />
unrühmlichen Rolle der Kaufleute habe ich mich an sehr<br />
realen Gegebenheiten - nämlich am Vorgehen großer<br />
deutscher Handelsketten und an der Struktur des deutschen<br />
Gesundheitssystems, gestützt durch die Tagespolitik<br />
- orientiert. Beides gemischt war es das perfekte und über<br />
allen Gesetzen stehende Syndikat, welches nur noch auf die<br />
<strong>Norgast</strong>-Gegebenheiten umgeschrieben werden musste. Das,<br />
was als ‚Stein des Lebens‘ bezeichnet wird, symbolisiert auf<br />
eine gewisse Weise die Everett´sche Many-Worlds-<br />
Hypothese, welche auch das von mir persönlich bevorzugte<br />
Weltbild darstellt. Die Folgerungen daraus sind die<br />
Informationen, die Findus bekommt.<br />
Kapitel 9: Forst der Entscheidung<br />
„In Perfect Harmony“ von Within Temptation (aus dem Album<br />
„Mother Earth“, 2003)<br />
Um Findus´ weiteren Weg nachvollziehbar zu machen,<br />
musste zuerst das Rätsel seiner Herkunft gelöst werden: ‚A<br />
little child was born and raised deep in the forest on a hidden<br />
place. Mother never saw his face.‘ Exakt das passte auf<br />
Findus.<br />
„Wat Jeht Uns Die Sintflut Ahn?“ von BAP (aus dem Album<br />
„Comics & Pin-Ups“, 1999)<br />
Es fehlte noch die Information, wie Baldur zu dem wurde,<br />
was er ist. Der Song von BAP lieferte die Begründung: Die<br />
Alles-Nur-Für-Uns-Einstellung der Baldur beeinflussenden<br />
Finanzmächte im Hintergrund.<br />
„Comandante Che Guevara“ von Wolf Biermann (nur als Vinyl-Single<br />
erschienen, 1973)<br />
254
Findus als Gegenpart von Baldur sollte gerechter als<br />
Baldur sein. Ein offener Kampf schied aber aus, um<br />
<strong>Norgast</strong>´s ohnehin schon arg gebeutelte Bevölkerung nicht<br />
noch mehr in Mitleidenschaft zu ziehen. Dennoch schwebte<br />
mir irgend so etwas Robin-Hood-Ähnliches vor. Die Vorlage<br />
zum Guerillakrieg lieferte schließlich der Song, der den von<br />
US-Amerikanern erschossenen Arzt Ernesto Guevara de la<br />
Serna, genannt ‚Che‘, zum Inhalt hat.<br />
„Vogelfrei“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“, 2002)<br />
„Die zwei Brüder“ von Schandmaul (aus dem Album „Narrenkönig“,<br />
2002)<br />
„Free The People“ von den Dubliners (aus dem Album „The Wild<br />
Rover“, 1998)<br />
Drei Songs inspirierten das, was daraufhin im Forst des<br />
Bomenhau ablaufen sollte. Nun sollte Findus allerdings nicht<br />
zur billigen Robin-Hood-Kopie verkommen. Als Vorbild für<br />
sein Handeln nahm ich deshalb die positiven Aspekte des<br />
Walisers Henry Morgan, eines ziemlich blutrünstigen,<br />
früheren Karibik-Piraten. Der war daneben aber auch ein<br />
genialer Stratege und in gewisser Weise seiner Zeit weit<br />
voraus: War er doch trotz aller Brutalität der Erste überhaupt,<br />
der für seine Leute so etwas wie ein allgemein gültiges<br />
Prämiensystem und eine Art von Sozialversicherung<br />
einführte.<br />
„Self Portrait“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Under A<br />
Violet Moon, 1999)<br />
Die düstere Stimmung des Songs bestimmte den doch<br />
recht traurigen Showdown im Bomenhau.<br />
Sonstiges:<br />
Für die Macht im Hintergrund standen der politische<br />
Lobbyismus und die Realitätsferne einiger heutiger<br />
Großindustrien Pate. Berufsverbote haben in Deutschland<br />
eine jahrzehntelange Tradition. Früher offen, heutzutage in<br />
verdeckter Form zugunsten der o. e. Großindustrien. Immer<br />
getreu dem Motto, dass drittklassige Vorgesetzte nur<br />
fünftklassige Untergebene einstellen und dass nur offizielle<br />
Papiere die Fähigkeiten eines Menschen beschreiben können<br />
– und völlig ignorant bezüglich etwaiger bisheriger Erfolge<br />
der Betroffenen. Der Versuch, so etwas zu installieren und die<br />
seltsamen Blüten hinsichtlich des sehr realen und lukrativen<br />
255
Handels mit gefälschten Dokumenten spiegeln sich hier<br />
wieder. Auch der typisch deutsche - oder sollte ich besser<br />
sagen eurokratische? - Verwaltungswahnsinn wird auf´s Korn<br />
genommen und liefert die Vorlage dafür, wie Baldur <strong>Norgast</strong><br />
‚totverwaltet‘. Das Kriminalisieren der Bevölkerung mit dem<br />
sich anschließenden ganz legalen ‚Abkassieren‘ ist bei den<br />
Praktiken einiger Stadtverwaltungen abgeschaut worden,<br />
welche zu wenig Parkraum in den Innenstädten schaffen und<br />
statt dessen lieber Gebühren über Strafmandate einziehen<br />
- weil das mehr Einnahmen bringt.<br />
Kapitel 10: Das magische Geflecht<br />
„Creek Mary´s Blood“ von Nightwish (aus dem Album „Once“,<br />
2004)<br />
Obgleich der Song mit dem ‚Trail Of Tears‘ ja eigentlich<br />
ein gern verschwiegenes und äußerst trauriges Stück<br />
amerikanischer Geschichte behandelt, vermittelt er am Ende<br />
doch Hoffnung: ‚Our spirit was here long before you. Long<br />
before us. And long will it be after your pride brings you to<br />
your end.‘ Dabei fiel mir der Ausspruch Winston Churchills<br />
ein, dass Politiker auf die nächste Wahl und Staatsmänner auf<br />
die nächste Generation schauen. Ich beschloss, Findus zum<br />
Staatsmann zu machen und <strong>Norgast</strong> umkrempeln zu lassen.<br />
„Jim Bridger“ von Johnny Horton (aus dem Album „Johnny Horton‘s<br />
Greatest Hits“, 1987)<br />
„Leb!“ von Schandmaul (aus dem Album „Wie Pech & Schwefel“,<br />
2004)<br />
Beide Lieder beschreiben, wie auch ‚kleine‘ Leute nur<br />
aufgrund ihrer Erfahrung und ohne besondere Qualifikation<br />
große Aufgaben zu meistern in der Lage sind. Findus sollte es<br />
genauso ergehen...<br />
„Die Freie Republik“ von Hannes Wader (aus dem Album<br />
„Volkssänger“, 1975)<br />
...aber er würde hart und mit anderen zusammen darum<br />
kämpfen müssen, denn von nichts kommt nichts.<br />
„Sally-Mary“ von Hans Hartz und Dan McCafferty (aus dem Album<br />
„Neuland Suite“, 1985)<br />
Das war der Aufhänger für das leicht abgekühlte<br />
Verhältnis zwischen Findus und der Bônday.<br />
256
„Home Again“ von Blackmore´s Night (aus dem Album „Fires At<br />
Midnight“, 2001)<br />
Bei dieser Musik kam ich auf den Gedanken, Findus durch<br />
Draconis nach Helgenor fliegen zu lassen.<br />
„Crowning Of The King“ von Blackmore´s Night (aus dem Album<br />
„Fires At Midnight“, 2001)<br />
Eine formelle Krönung des Königs schwebte mir zwar<br />
nicht vor, aber um <strong>Norgast</strong> umzukrempeln, musste Findus<br />
schon der oberste Herrscher werden. Dazu bedurfte es der<br />
Anerkennung aller und die erlangte er, indem er das Attentat<br />
überlebte.<br />
„Mother Earth“ von Within Temptation (aus dem Album „Mother<br />
Earth“, 2003)<br />
Der Text dieses Songs veranlasste mich, Findus und die<br />
Bônday das magische Geflecht ‚reparieren‘ zu lassen – mit<br />
den entsprechenden Auswirkungen auf alle Anderswelten.<br />
„Sonne“ von Letzte Instanz (aus dem Album „Ins Licht“, 2005)<br />
Und diesem Stück entnahm ich die Anregungen für den<br />
Verlauf der ‚Reparatur’.<br />
Sonstiges:<br />
Zur Beschreibung von Helgeboog beschäftigte ich mich<br />
mit den überaus funktionellen Bauprinzipien mittelalterlicher<br />
Städte. Helgeboog wurde auf diese Weise zu einer Art<br />
‚Schnittmenge’ der Altstädte von Freiburg i. B., Frankfurt/M.,<br />
Nürnberg und Brügge. Fehlte noch der politische Teil. Was<br />
macht man mit einem Zwei-Klassen-Staat, in dem alle<br />
Besitztümer ungerecht verteilt sind? Für den Roman machte<br />
ich mir die Sache einfach. Ich blickte mal über Deutschland´s<br />
Grenzen hinaus. Und ich nahm mir ein paar Punkte aus den<br />
Wahlprogrammen der diversen Politiker – ungeachtet ihrer<br />
Parteizugehörigkeit. Und ich sah mir das kroatische<br />
Steuersystem an. Dann rechnete ich etwas mit den Zahlen, die<br />
das ‚Statistische Bundesamt‘ zur Verfügung stellt. Was soll ich<br />
groß sagen – es rechnete sich... Daraus wurde dann<br />
(vereinfacht) das <strong>Norgast</strong>-System. Natürlich gibt es bei einem<br />
solchen System Verlierer und Gewinner, nämlich Verlierer in<br />
der Oberschicht und Gewinner beim einfachen Volk. Und<br />
natürlich werden die Verlierer über ihre Rolle nicht gerade<br />
erbaut sein. Doch im Roman war ja jemand an der Regierung,<br />
der die Interessen des ‚kleinen Mannes von der Straße‘ vertrat.<br />
257
Gewissermaßen unterscheidet das unsere so genannte Realität<br />
von der Fiktion. Bleibt schließlich noch die ‚Reparatur’ des<br />
magischen Geflechts. Ihr liegen Schilderungen des Erlebens<br />
der metaphorischen Synästhesie zu Grunde.<br />
Kapitel 11: Anderswelt<br />
„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ von Franz Josef Degenhardt<br />
(aus dem Album „Liederbuch“, 1978)<br />
Das uralte Schmuddelkinder-Lied war der Aufhänger für<br />
die Kindheit des Jungen, der Baldur´s Geist in der Anderswelt<br />
beherbergen sollte – und auch der Rest des Songs war in<br />
gewisser Weise richtungsweisend.<br />
„Boss Man” von Gordon Lightfoot (aus dem Album „Did She<br />
Mention My Name“, 1968)<br />
Dieses Lied zeigt, wie Chefs Arbeitnehmer behandeln<br />
können. Ich verwendete es als Gedankenstütze, um das<br />
Bernd/Baldur-Regime zu verdeutlichen.<br />
„Leben so wie ich es mag“ von Volker Lechtenbrink (aus dem Album<br />
„Leben so wie ich es mag“, 1980)<br />
„Reasons To Quit” von Merle Haggard und Willie Nelson (aus dem<br />
Sampler „Country Trucker Songs“, 1993)<br />
Zwei Tracks, die das Aufbegehren von Otto<br />
Normalverbraucher symbolisieren. Im Roman erfolgte dieses<br />
Aufbegehren in der Anderswelt als Folge der Reparatur des<br />
magischen Geflechts und war der Anlass dafür, Bernd/Baldur<br />
aus der Arbeitswelt heraus zu nehmen.<br />
„We Are Going To Ibiza“ von Vengaboys (aus dem Sampler „Summer<br />
Dreams“, 2001)<br />
Normalerweise höre ich mir die Pop-Kommerz-<br />
Einheitsware gar nicht an. Über den Song bin ich daher auch<br />
eher zufällig ‚gestolpert’ und dabei kam mir die Idee,<br />
Bernd/Baldur seinen Lebensabend auf einer Sonneninsel<br />
verbringen zu lassen.<br />
„The System Of Doctor Tarr And Professor Feather” von Alan<br />
Parsons Project (aus dem Album „Tales Of Mystery And Imagination<br />
By Edgar Allan Poe”, 1975)<br />
Diesem Stück entnahm ich die Idee, Bernd/Baldur sein<br />
Leben mit zerrüttetem Geist beenden zu lassen – wobei aber<br />
absichtlich offen gelassen wird, ob er im Moment des Todes<br />
noch dem Shâgun zum Opfer fällt. Denn wer weiß<br />
258
– vielleicht wird ‚<strong>Norgast</strong>’ ja wider Erwarten zum Erfolg und<br />
dann brauche ich die Figur möglicherweise noch einmal...<br />
Sonstiges:<br />
Das Schlusskapitel ist in vielerlei Hinsicht authentisch. Da<br />
ist noch mal mein eigenes Nahtod-Erlebnis vom Juni 1988.<br />
Mit dem beschrieb ich Baldur´s Ende in <strong>Norgast</strong>. Die Art des<br />
Aufstiegs von Bernd/Baldur ist usus in der Arbeitswelt. Sehr<br />
viele Unternehmen – mir selbst sind auch einige bekannt –<br />
kultivieren geradezu ein Klima, in dem dissoziale<br />
Persönlichkeiten gefördert werden. Mit den Folgen, dass man<br />
verdiente Mitarbeiter wegekelt und dass drittklassige<br />
Vorgesetzte fünftklassige Untergebene neu einstellen:<br />
Hauptsache, der Untergebene kann mit seinem Wissen dem<br />
Chef nicht gefährlich werden. Die beschriebenen Mobbingund<br />
Bespitzelungs-Aktivitäten habe ich selbst erlebt<br />
– deutsches Antiarbeitnehmerrecht macht´s möglich. Zudem<br />
wurde mir das Mobbing-Tagebuch eines der Opfer von<br />
Bernd/Baldur´s realer Vorlage zur Verfügung gestellt:<br />
Material im Überfluss. Die Vorlagen für die Sonneninsel im<br />
blauen Meer waren Ibiza und Mallorca. Die Erwähnung des<br />
Déjà-vu´s ist wieder ein kleiner synästhetisch geprägter<br />
‚Seitenhieb’, denn Déjà-vu´s scheinen bei uns Synästhetikern<br />
überdurchschnittlich häufig aufzutreten. Schließlich bleibt<br />
noch die Tatsache zu erwähnen, dass viele Mobbing- und<br />
Bossing-Opfer in psychischer Behandlung enden. Hier kehrte<br />
ich das um, so dass es völlig realitätsfremd mal auf den<br />
Verursacher zurück fällt. Und zu allerletzt wird mit dem<br />
Auslöser des Ganzen – nämlich dem von Bernd/Baldur<br />
erblickten Buchtitel – noch der Kreis zu den<br />
Eingangsbemerkungen über Hugh Everett´s<br />
quantenmechanische Many-Worlds-Hypothese geschlossen.<br />
259
Anhang II: Kleine Runenkunde<br />
260<br />
Weißt du zu ritzen?<br />
Weißt du zu raten?<br />
Weißt du zu färben?<br />
Weißt du zu fragen?<br />
Weißt du zu wünschen?<br />
Weißt du zu weihen?<br />
Weißt du zu schicken?<br />
Weißt du zu schlachten?<br />
(Runenweissagung aus „Die Edda: Götterdichtung,<br />
Spruchweisheit und Heldengesänge der Gemanen“)<br />
Runen sind eines der zentralen Elemente in ‚<strong>Norgast</strong>’. Die im<br />
Roman dargestellte Magie wird durch Runen ausgeübt. Bei<br />
den im Text angeführten Zaubersprüchen steht der Name der<br />
Rune für ihre ‚normale’ Bedeutung, während die Bezeichnung<br />
rückwärts ausgesprochen die Bedeutung der umgekehrten<br />
Rune (der Sturz- oder Wenderune) symbolisieren soll. Um<br />
dem Leser diesbezüglich den Einstieg und das Verständnis<br />
der seitens der Romanfiguren eingesetzten Magie zu<br />
erleichtern, sei hier eine kleine, rudimentäre Runenkunde<br />
angeführt. Diese mag vielleicht nicht ganz exakt den<br />
historischen Tatsachen entsprechen (einige stilistische<br />
Ausschmückungen waren unumgänglich), doch habe ich mich<br />
bemüht, so authentisch wie irgend möglich zu bleiben. Runen<br />
müssen lt. der nordischen Überlieferungen vor ihrer<br />
Verwendung magisch aufgeladen werden, um wirksam zu<br />
sein. Dazu gibt es verschiedene Verfahren. Eine noch heute<br />
tatsächlich gebräuchliche Methode wurde im Kapitel ‚Der<br />
weiße Rabe’ von Dayla angewandt.<br />
Normalerweise werden Runen in das entsprechende Holz<br />
oder in den zugehörigen Stein, notfalls auch in einen<br />
Knochen, geritzt. Alternativ dazu ist aber auch überliefert,<br />
dass Runen bspw. mit (dem eigenen) Blut auf Leder gemalt<br />
worden sind. Runen wurden sowohl zur Divination<br />
(Weissagung) eingesetzt wie auch als Amulett oder als<br />
Talisman, u. a. im Rahmen von Ritualen, verwendet. Unter<br />
einem Amulett versteht man einen unmittelbar am Körper (z.
B. als Kette oder Schmuckstück direkt auf der Haut)<br />
getragenen Gegenstand. Talismane hingegen sind als<br />
Schmuckstücke an der Kleidung befestigt oder aber als<br />
Zierrat von Wohnräumen zu finden (wie bspw. das Hufeisen<br />
als Glücksbringer). Sie können allerdings auch auf der Haut<br />
getragen werden. Talismane verwendet der Träger meist, um<br />
etwas (z. B. Glück oder Schutz) anzuziehen, während<br />
Amulette häufig der Abwehr (bspw. von Schaden) dienen. Bei<br />
der Divination wurden bzw. werden mit Runen verzierte<br />
Gegenstände (Ritualstäbe, Knochen, Steine) geworfen.<br />
Beim Runenwurf können drei Zustände erreicht werden,<br />
nämlich die korrekt liegende Rune (Begriffsrune), die mit der<br />
Bildseite nach unten liegende oder lageunabhängig gleich<br />
aussehende Rune (Spiegelrune) und lageverkehrte Runen<br />
(Sturz- bzw. Wenderunen). Die Symbolik richtet sich dann<br />
nach der Lage. Spiegelrunen bleiben unbeachtet, wenn ihre<br />
Bildseite nicht zu sehen ist. Begriffsrunen entsprechen der<br />
ursprünglichen, ‚magischen’ Bedeutung (s. u.), während bei<br />
Lageabweichungen durch Sturz- und Wenderunen auch eine<br />
umgekehrte Symbolik auftreten kann. Auf diese Weise<br />
gestattet der Runenwurf einen recht breiten<br />
Interpretationsspielraum. Daneben gibt es noch die so<br />
genannten Binderunen, welche die Kräfte von zwei oder<br />
mehr Runen miteinander kombinieren sollen. Um eine<br />
Binderune zu erstellen, wird üblicherweise ein (ggf.<br />
mehrachsiges) Kreuz gezeichnet, dessen Achsen mit den<br />
einzelnen Runensymbolen zu versehen sind. Eine zu trauriger<br />
Berühmtheit gelangte Binderune war bspw. das Hakenkreuz<br />
der Nazis, welches zwei Sowelu-Runen in einer Binderune<br />
vereinte.<br />
Das Runenalphabet selbst wird – abgeleitet von seinen<br />
Anfangsbuchstaben - als Futhork oder Uthork bezeichnet.<br />
Überliefert sind verschiedene Runenalphabete, nämlich die<br />
bei einschließlich Gibor endenden und die etwas<br />
umfangreicheren Formen. Man differenziert heute<br />
herkunftsbedingt zwischen mindestens sieben (mitunter auch<br />
mehr) Futhorks. Die Futhorks unterteilen sich selbst wieder<br />
in die Runenfamilien, die Aettir, bei denen i. d. R. meist<br />
sieben bis neun Runen ähnlicher oder einander ergänzender<br />
Bedeutungen zusammen gefasst sind. Der Zahl Neun kommt<br />
261
dabei noch eine besondere Bedeutung seitens der<br />
germanischen Mythologie zu.<br />
Nachfolgend ist eine umfangreichere, historisch jedoch<br />
nicht gesicherte Form vom Runenalphabet dargestellt, ergänzt<br />
um die naturreligiösen bzw. ‚magischen’ Symboliken (soweit<br />
bekannt). Bei dem assoziierten Baum und der assoziierten<br />
Pflanze dürften die pharmakologischen Wirkungen dieser<br />
Naturstoffe bzw. die Tauglichkeit für Werkzeuge u. ä. eine<br />
entscheidende Rolle gespielt haben. Für die Symboliken und<br />
Bedeutungen gibt es verschiedene Interpretationen. Hier sind<br />
die wohl Gängigsten davon aufgeführt.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Far, Fehu, Feoh.<br />
Herkunft: Das Rind als Symbol des Wohlstands; nach einer<br />
anderen Deutung das Feuer als Symbol für Wärme.<br />
Geburtszeitraum: 22.12. – 12.1.<br />
Assoziierter Baum: Holunder (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Fieber eingesetzt) und Erle (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Entzündungen eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Brennessel (volksmedizinisch u. a.<br />
gegen Schwäche eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Moosachat (ayurvedisch zur Förderung<br />
der Aufnahmebereitschaft) und Feuergranat (ayurvedisch zur<br />
Stärkung der köpereigenen Abwehr).<br />
Assoziierte Farbe: Hellrot.<br />
Sprachliche Entsprechung: F<br />
Begriffsrune: Spiritueller Reichtum, Selbstlosigkeit, Weisheit,<br />
Nächstenliebe.<br />
Weitergehende Bedeutung: Alles ist im Fließen. Die Feuer-<br />
Rune neutralisiert die Furcht vor Veränderung. Sie bringt<br />
Gelassenheit und Mut zur Beständigkeit. Soll als Amulett vor<br />
Krankheit und Leid schützen und als Talisman zu<br />
finanziellem Erfolg verhelfen.<br />
Wenderune: Seelische Störungen und fehlende<br />
Ausgeglichenheit.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Ur, Uruz.<br />
262
Herkunft: Der Auerochse als Symbol freier, ungebundener<br />
Stärke.<br />
Geburtszeitraum: 13.1. – 3.2.<br />
Assoziierter Baum: Birke (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Entzündungen eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Sumpfmoos (volksmedizinisch u. a.<br />
zur Desinfektion und gegen Fäulnis eingesetzt) und<br />
Kapuzinerkresse (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Gelenkbeschwerden eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Karfunkel (keltogermanisch zur Stärkung<br />
von Körper und Geist) und Bergkristall (soll die Harmonie<br />
verstärken, Bedeutungsherkunft unbekannt).<br />
Assoziierte Farbe: Dunkelgrün.<br />
Sprachliche Entsprechung: U<br />
Begriffsrune: Ausgeglichene, gerechte Stärke in Kenntnis<br />
eigener Schwächen.<br />
Weitergehende Bedeutung: Erkenne Dich selbst. Die Rune<br />
stärkt die Selbsterkenntnis und schützt vor falschen<br />
Entscheidungen. Soll als Talisman die Intuition verbessern<br />
und als Amulett vor Fehlentscheidungen schützen.<br />
Wenderune: Unausgeglichenheit durch Unkenntnis der<br />
(eigenen) Schwächen.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Thorn, Thurisaz, Dorn, Turisaz.<br />
Herkunft: Der Dornbusch als Schutzsymbol. Nach einer<br />
anderen Deutung auf die Riesen (Thursen) aus der nordischen<br />
Mythologie zurück gehend.<br />
Geburtszeitraum: 4.2. – 25.2.<br />
Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für<br />
besonders widerstandsfähiges Holz).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Schwarzdorn, Weißdorn (beide<br />
volksmedizinisch u. a. gegen Verdauungsbeschwerden und<br />
zur innerlichen Desinfektion eingesetzt), Lauch bzw.<br />
Knoblauch (volksmedizinisch u. a. als Tonikum eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Saphir (ayurvedisch zur Nervenstärkung).<br />
Assoziierte Farbe: Hellrot.<br />
Sprachliche Entsprechung: Th<br />
263
Begriffsrune: Macht durch innere Kraft, Wahrheitssuche<br />
durch spirituelle Autorität.<br />
Weitergehende Bedeutung: Bleibe Dir treu. Die Rune weist<br />
den richtigen Weg, indem sie Willen und Tatkraft stärkt. Als<br />
Amulett dient sie dem Schutz vor Diebstahl und materiellen<br />
Verlusten. Als Talisman lässt sie gute Chancen sofort<br />
erkennen und steigert die Antriebskraft.<br />
Wenderune: Angst und Feigheit, naive Gutgläubig- und<br />
Obrigkeitshörigkeit.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Os, Othila, Othel, Othala, Opala, Opila.<br />
Herkunft: Die Verwaltung eines (Erb-) Besitzes.<br />
Geburtszeitraum: 26.2. – 20.3.<br />
Assoziierter Baum: Weißdorn (volksmedizinisch u. a. als<br />
Tonikum eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Klee (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Infektionen eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Rubin (ayurvedisch zur Stärkung von<br />
Körper und Geist).<br />
Assoziierte Farbe: Tiefgelb.<br />
Sprachliche Entsprechung: O<br />
Begriffsrune: Konzentration auf die Freiheit, ein Ziel zu<br />
erreichen.<br />
Weitergehende Bedeutung: Erkenntnisse durch geistige<br />
Kraft. Sollte daher bevorzugt bei wichtigen Besprechungen<br />
mit geführt werden. Dient darüber hinaus dem Schutz der<br />
Gesundheit vor Krankheit, insbesondere in Bezug auf die<br />
Atemwege. Dient als Amulett dem Schutz des Körpers und<br />
verhilft als Talisman zu überzeugenden Argumenten.<br />
Wenderune: Sinnloses (materielles) Streben; Fehler bei<br />
anderen suchen.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Rit, Raido, Rad.<br />
Herkunft: Das Wagenrad als Symbol für alles Zyklische im<br />
Leben.<br />
Geburtszeitraum: 21.3. – 12.4.<br />
Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für<br />
264
esonders widerstandsfähiges Holz) und Holunder<br />
(volksmedizinisch u. a. gegen Infektionen eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Beifuß bzw. Wermut<br />
(volksmedizinisch u. a. gegen Verdauungsbeschwerden<br />
eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Chrysopras (keltogermanisch zur Abwehr<br />
böser Träume und gegen Kummer) und Malachit (als Mittel<br />
gegen rheumatische Erkrankungen, Bedeutungsherkunft<br />
unbekannt).<br />
Assoziierte Farbe: Glänzendes Rot.<br />
Sprachliche Entsprechung: R<br />
Begriffsrune: Annehmen der Herausforderungen durch den<br />
Kreislauf des Lebens.<br />
Weitergehende Bedeutung: Vertraue Deinem Schicksal.<br />
Bewahrt vor Streitigkeiten und versöhnt durch offene<br />
Kommunikation. Soll heimtückische Angriffe bzw. Intrigen<br />
und Ränkespiele abwehren. Talisman und Amulett sollen vor<br />
Unrecht und Schicksalsschlägen schützen.<br />
Wenderune: Sinnlose und furchtsame Abwehr durch<br />
Uneinsichtigkeit; Angst vor Neuem und vor Veränderung<br />
(verbitterte Stagnation).<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Kaun, Keno, Ken, Kenaz, Kaunan.<br />
Herkunft: Die Fackel als Symbol des Lichtes und der<br />
Erleuchtung.<br />
Geburtszeitraum: 13.4. – 5.5.<br />
Assoziierter Baum: Kiefer (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Hauterkrankungen eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Schlüsselblume (volksmedizinisch u.<br />
a. gegen Erkältung eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Blutjaspis (keltogermanisch zur<br />
Kreislaufstärkung).<br />
Assoziierte Farbe: Hellrot.<br />
Sprachliche Entsprechung: K<br />
Begriffsrune: Verständnis durch neue Einsichten im Rahmen<br />
eines Lernprozesses; verantwortungsbewusste Macht durch<br />
Wissen.<br />
Weitergehende Bedeutung: Ausgleichende Gerechtigkeit.<br />
Fördert alle kreativen Fähigkeiten, verfeinert die Intuition und<br />
265
dient dadurch der Weiterentwicklung. Schützt als Amulett vor<br />
Geschäftsbetrug und dient als Talisman der Ideenfindung.<br />
Wenderune: Uneinsichtigkeit und Verantwortungslosigkeit.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Hagal, Hagalaz, Haegl, Hagla.<br />
Herkunft: Das Hagelkorn als Symbol einer Herausforderung.<br />
Geburtszeitraum: 6.5. – 28.5.<br />
Assoziierter Baum: Eibe oder Esche, je nach Quelle (Eibe in<br />
Vorzeiten als Pfeilgift und Esche volksmedizinisch u. a. als<br />
Wundheilmittel eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Maiglöckchen (volksmedizinisch u.<br />
a. bei Herzerkrankungen eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Onyx (keltogermanisch für ein klares<br />
Denken).<br />
Assoziierte Farbe: Hellblau.<br />
Sprachliche Entsprechung: H<br />
Begriffsrune: Herausforderungen annehmen und daraus<br />
lernen.<br />
Weitergehende Bedeutung: Das große Glück. Kraftvollstes<br />
Runenzeichen überhaupt, da es die Bedeutungen aller anderen<br />
Runen beinhaltet. Als Amulett oder Talisman öffnet es den<br />
Weg zu spiritueller Erkenntnis.<br />
Wenderune: Lernunfähigkeit und das Zurückweichen vor<br />
Herausforderungen.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Noth, Nauthiz, Nyd, Naudiz.<br />
Herkunft: Die Not und daraus resultierend das Bedürfnis,<br />
Geschehenes zu akzeptieren.<br />
Geburtszeitraum: 29.5. – 20.6.<br />
Assoziierter Baum: Buche (bekannt für besonders<br />
widerstandsfähiges Holz).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Wiesenknöterich (volksmedizinisch<br />
u. a. gegen Verdauungsbeschwerden eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Lapislazuli (ayurvedisch zum Erlangen<br />
von Inspiration und Weisheit).<br />
Assoziierte Farbe: Schwarz.<br />
Sprachliche Entsprechung: N<br />
266
Begriffsrune: Man bekommt nicht unbedingt das<br />
Erwünschte, sondern das, dessen man bedarf, um daraus zu<br />
lernen.<br />
Weitergehende Bedeutung: Die große Not. Fordert zur<br />
Überwindung des eigenen Schicksals auf. Da die Bedeutung<br />
dieser Rune überwiegend negativ ist, wird sie weder als<br />
Amulett noch als Talisman verwendet.<br />
Wenderune: Ablehnung durch Uneinsichtigkeit;<br />
eingeschränkte Sichtweise.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Is, Isa, Eisaz, Isaz.<br />
Herkunft: Eis, Symbol für Stillstand durch ein<br />
unüberwindliches Hindernis.<br />
Geburtszeitraum: 21.6. – 14.7.<br />
Assoziierter Baum: Erle (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Entzündungen eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Bilsen (volksmedizinisch u. a. als<br />
Schmerzmittel und als Halluzinogen eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Katzenauge (keltogermanisch gegen<br />
Erschöpfung).<br />
Assoziierte Farbe: Schwarz.<br />
Sprachliche Entsprechung: I<br />
Begriffsrune: Die Notwendigkeit, sich in Geduld zu üben,<br />
bis sich die äußeren Umstände verändern – aber auch ein<br />
Bollwerk gegen andere.<br />
Weitergehende Bedeutung: Gewinne Macht über Dich<br />
selbst. Dient einerseits der Besinnung, indem Vorhaben und<br />
Pläne zunächst ‚auf Eis’ (Is) gelegt werden, hilft andererseits<br />
aber auch beim Abschütteln von Passivität und Trägheit. Da<br />
die Rune den Stillstand symbolisiert, wird sie häufig als Rune<br />
von negativer Symbolik angesehen. Dennoch findet sie<br />
Verwendung als Amulett oder Talisman. Der Talisman<br />
verleiht großes Selbstbewusstsein und das Amulett schützt<br />
vor einem Schaden durch Stillstand.<br />
Wenderune: Spiegelrune. Eine um 90° verdrehte Lage<br />
vermittelt lediglich die abgeschwächte Symbolik.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Ar, Ansuz, Ansur, Ansuz.<br />
267
Herkunft: Durch einen Mund symbolisierte<br />
Kommunikation, möglicherweise dem Friedensschluss von<br />
Asen und Wanen entstammend.<br />
Geburtszeitraum: 15.7. – 7.8.<br />
Assoziierter Baum: Esche (volksmedizinisch u. a. als<br />
Wundheilmittel eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Fliegenpilz (volksmedizinisch u. a.<br />
als Tonikum und als Halluzinogen eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Smaragd (keltogermanisch<br />
gerechtigkeitsfördernd).<br />
Assoziierte Farbe: Dunkelblau.<br />
Sprachliche Entsprechung: A<br />
Begriffsrune: Erkennen der Wahrheit durch das Verstehen<br />
einer Botschaft.<br />
Weitergehende Bedeutung: Geduldiges Entwickeln. Der<br />
Einsatz für die Arbeit an sich selbst ohne die Hilfe anderer<br />
wird belohnt werden. Amulett sowie Talisman verleihen<br />
große Ausdauer und wandeln Disharmonie in Harmonie um.<br />
Wenderune: Keine Antworten durch falsche Fragen und<br />
Verblendung.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Sig, Sowelu, Sigel, Sowilo, Sowelo.<br />
Herkunft: Lebensspendender Sonnenstrahl, Dunkelheit und<br />
Eis vertreibend.<br />
Geburtszeitraum: 8.8. – 30.8.<br />
Assoziierter Baum: Wacholder (volksmedizinisch u. a. als<br />
Allheilmittel eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Mistel (volksmedizinisch u. a. als<br />
Allheilmittel eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Rubin (ayurvedisch zur Stärkung von<br />
Körper und Geist).<br />
Assoziierte Farbe: Silberweiß.<br />
Sprachliche Entsprechung: S<br />
Begriffsrune: Glück durch Erleuchtung und das<br />
Durchschauen von Täuschung.<br />
Weitergehende Bedeutung: Lebenskraft. Gegenpol zur Is-<br />
Rune. Sig verheißt Erfolge, Schöpfungskraft und das<br />
Erreichen von Zielen. Das Amulett hilft bei Überlegungen<br />
268
zur Lösung von Problemen, indem es einen klaren Kopf<br />
bewirkt. Der Talisman wirkt physisch wie psychisch stärkend.<br />
Wenderune: Schaden durch Täuschung.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Tyr, Teiwaz, Tir, Tiwaz.<br />
Herkunft: Der Kriegsgott, symbolisiert durch einen Speer.<br />
Geburtszeitraum: 31.8. – 22.9.<br />
Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für<br />
besonders widerstandsfähiges Holz).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Salbei (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Infektionen eingesetzt; einige Arten auch als Halluzinogen).<br />
Assoziierter Stein: Koralle (ayurvedisch zum Besänftigen<br />
negativer Gefühle).<br />
Assoziierte Farbe: Glänzendes Rot.<br />
Sprachliche Entsprechung: T<br />
Begriffsrune: Sieg durch Einsicht, überzeugtes Lernen und<br />
Wahrheit.<br />
Weitergehende Bedeutung: Wiedergeburt. Bedeutete bei<br />
den germanischen Kriegern ‚Fürchte nicht den Tod, er kann<br />
Dich nicht töten’. Verhilft demjenigen, der gute Absichten<br />
hegt, zu Wohlstand und guten Gaben. Dient als Amulett zur<br />
Abwehr von bösem Blick, schwarzer Magie und Kampfmagie.<br />
Als Talisman verschafft es auch unter schwierigsten<br />
Bedingungen Glück und Erfolg.<br />
Wenderune: Herausforderungen aus dem Weg gehender,<br />
verbohrter alter Narr.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Bar, Berkana, Beorc, Berkanan.<br />
Herkunft: Der Busen, Energie, Aktivität und Abenteuer<br />
symbolisierend; nach einer anderen Deutung ein Birkenreis.<br />
Geburtszeitraum: 23.9. – 15.10.<br />
Assoziierter Baum: Birke (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Entzündungen eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Wiesenfrauenmantel<br />
(volksmedizinisch u. a. als Mittel bei der Geburtsvor- und<br />
–nachsorge eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Mondstein (ayurvedisch beruhigend).<br />
269
Assoziierte Farbe: Dunkelgrün.<br />
Sprachliche Entsprechung: B<br />
Begriffsrune: Neubeginn durch Vertreibung des Alten und<br />
Bösen.<br />
Weitergehende Bedeutung: Sein und Vergehen. Die Rune<br />
symbolisiert das Entstehen von etwas Neuem, was aber noch<br />
nicht ausgereift ist – weshalb man lieber erst einmal alles<br />
Weitere abwarten sollte. Daraus können sich dann neue<br />
(bessere) Situationen oder neue Bewusstseinsebenen ergeben.<br />
Zunächst jedoch heißt es, das Schicksal anzunehmen. Um die<br />
positiven Aspekte der Bedeutung dieser Rune wirksam<br />
werden zu lassen, ist sie als Amulett oder Talisman immer mit<br />
Hagal zu kombinieren.<br />
Wenderune: Böse Gedanken; Stillstand durch das Festhalten<br />
an überkommenen Werten.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Laf, Laguz, Lagu, Laukaz.<br />
Herkunft: Welle für Wasser und Meer, Symbol für<br />
Harmonie, nach einer anderen Deutung der Lauch als<br />
Aphrodisiakum.<br />
Geburtszeitraum: 16.10. – 7.11.<br />
Assoziierter Baum: Weide (volksmedizinisch u. a. als<br />
Schmerzmittel eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Lauch (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Infektionen und als Tonikum eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Perle (ayurvedisch als Allheilmittel).<br />
Assoziierte Farbe: Tiefes Grün.<br />
Sprachliche Entsprechung: L<br />
Begriffsrune: Harmonie mit der Schöpfung durch seelische<br />
Ausgeglichenheit.<br />
Weitergehende Bedeutung: Das große Wasser. Laf<br />
symbolisiert den Lauf des Leben mit Höhen und Tiefen,<br />
wobei die Tiefpunkte als Prüfungen zu verstehen sind. Diese<br />
Prüfungen dienen der Reifung und zeigen, welcher Kurs im<br />
‚Meer des Lebens’ einzuschlagen ist, um das richtige Ziel zu<br />
erreichen. Wird aufgrund der potenziell negativen Bedeutung<br />
nicht als Amulett verwendet. Der Talisman soll Erfolg,<br />
glückliche Fügungen und Ansehen anziehen.<br />
270
Wenderune: Unausgeglichene Stagnation durch ignorante<br />
Inaktivität.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Man, Manaz, Mannaz.<br />
Herkunft: Das Verwobene als Schicksalssymbol bzw. die<br />
Stellung des Menschen in dem von den Nornen gewobenen<br />
Geflecht.<br />
Geburtszeitraum: 8.11. – 29.11.<br />
Assoziierter Baum: Stechpalme (volksmedizinisch u. a. als<br />
Stärkungsmittel bei Infektionen eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Krapp bzw. Färberröte<br />
(volksmedizinisch u. a. gegen Harnwegsleiden eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Granat (ayurvedisch zur Stärkung der<br />
köpereigenen Abwehr).<br />
Assoziierte Farbe: Blutrot.<br />
Sprachliche Entsprechung: M<br />
Begriffsrune: Die Entscheidung und das Recht, sein eigenes<br />
Schicksal optimistisch in die Hand zu nehmen.<br />
Weitergehende Bedeutung: Mehrung. Rücksicht auf andere<br />
führt zu Einsichten und Lösungen, welche niemandem<br />
schaden und dennoch das eigene Wohl fördern. Schützt als<br />
Amulett vor Feinden, Krankheit und negativen Einflüssen.<br />
Dient als Talisman der Bewältigung von beruflichen oder<br />
partnerschaftlichen Problemen.<br />
Wenderune: Verzagen bei Rückschlägen und kraftloser<br />
Pessimismus.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Yr, Algiz, Eolx.<br />
Herkunft: Elchgeweih, mit dem Elch als kraftvollschützendem<br />
Tier.<br />
Geburtszeitraum: 30.11. – 21.12.<br />
Assoziierter Baum: Eibe (in Vorzeiten u. a. als Pfeilgift<br />
verwendet).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Angelika (volksmedizinisch u. a. als<br />
Allheilmittel eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Amethyst (ayurvedisch<br />
gefühlsregulierend).<br />
Assoziierte Farbe: Gold.<br />
271
Sprachliche Entsprechung: Z<br />
Begriffsrune: Überstehen von Gefahren durch<br />
Selbstsicherheit.<br />
Weitergehende Bedeutung: Täuschung. Yr weist auf<br />
gefährliche Irrwege hin, welche sich nur umgehen lassen,<br />
wenn man sich seines Lebensweges voll und ganz bewusst ist.<br />
Aufgrund des großen Risikos einer eher negativen Bedeutung<br />
als Amulett oder Talisman ungeeignet.<br />
Wenderune: Fehleinschätzung, übereilte Hast und negative<br />
Einflüsse. Man sollte alle Wagnisse meiden.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Ehu, Ehwaz, Eh.<br />
Herkunft: Das Pferd als vielseitiger treuer Gefährte.<br />
Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />
Assoziierter Baum: Esche und Eiche (bekannt für<br />
besonders widerstandsfähiges Holz).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Jacobskraut (volksmedizinisch u. a.<br />
als Tonikum eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Doppelspat bzw. Eisspat<br />
(keltogermanisch zur Schmerzlinderung).<br />
Assoziierte Farbe: Weiß.<br />
Sprachliche Entsprechung: E<br />
Begriffsrune: Überwindung von Hindernissen durch<br />
Loyalität gegenüber anderen.<br />
Weitergehende Bedeutung: Große Weihe. Gemeinsamkeit<br />
macht stark und Positives wird durch Gemeinsamkeit (Ehe,<br />
Partnerschaft, Freundschaft) erreicht. Bewahrt als Amulett<br />
vor Irrtümern und stärkt Liebe sowie Freundschaft. Als<br />
Talisman lässt die Rune instinktiv die richtige Entscheidung<br />
treffen, indem Freunde und Feinde offensichtlich werden.<br />
Wenderune: Langfristig Erfolglosigkeit durch das Hören auf<br />
die falschen Freunde.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Gibor, Gebo, Gyfu.<br />
Herkunft: Gekreuzte Schnüre eines Geschenks.<br />
Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />
Assoziierter Baum: Ulme und Esche (volksmedizinisch u. a.<br />
gegen Hauterkrankungen eingesetzt).<br />
272
Assoziierte Pflanze(n): Stiefmütterchen (volksmedizinisch<br />
u. a. als Liebestrank eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Opal (ayurvedisch harmoniefördernd).<br />
Assoziierte Farbe: Tiefes Blau.<br />
Sprachliche Entsprechung: G<br />
Begriffsrune: Gegenseitigkeit auf der Grundlage von Geben<br />
und Nehmen, gerade auch in spiritueller Hinsicht – d. h.<br />
Mitgefühl, Verständnis und Liebe zeigen.<br />
Weitergehende Bedeutung: Erfüllung. Verhilft dem zu<br />
Glück, der selbstlos gibt und schließt dadurch den Kreis von<br />
Geben und Nehmen. Stärkt als Amulett die Widerstandskraft<br />
gegenüber falschen Freunden und bewahrt vor Ausnutzung.<br />
Als Talisman vertreibt die Rune Zweifel und Unsicherheit,<br />
indem sie das Selbstbewusstsein stärkt.<br />
Wenderune: Spiegelrune von immer gleichbleibender<br />
Bedeutung.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Dagaz, Daeg.<br />
Herkunft: Stilisiert Mittag und Sommermitte; Symbol für Tag<br />
und Licht.<br />
Geburtszeitraum: (Keine Zuordnung, wird aber mitunter für<br />
den Monat Oktober verwendet.)<br />
Assoziierter Baum: Fichte (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Infektionen eingesetzt) und Eiche (volksmedizinisch u. a.<br />
gegen Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt<br />
für besonders widerstandsfähiges Holz).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Muskatellersalbei (volksmedizinisch<br />
u. a. zur Beruhigung eingesetzt), Majoran (volksmedizinisch u.<br />
a. gegen rheumatische Beschwerden eingesetzt) und<br />
Wegwarte (volksmedizinisch u. a. gegen Erschöpfung<br />
eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Diamant (ayurvedisch verjüngend und<br />
öffnend), ersatzweise auch Chrysolit (steht für die Anregung<br />
des Immunsystems, Bedeutungsherkunft unbekannt) und<br />
Tigerauge (keltogermanisch gegen Erschöpfung).<br />
Assoziierte Farbe: Hellblau.<br />
Sprachliche Entsprechung: D<br />
Begriffsrune: Schutz, Erfolg und Weiterentwicklung durch<br />
die Macht des Lichtes.<br />
273
Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />
Wenderune: Spiegelrune. Eine um 90° verdrehte Lage<br />
vermittelt lediglich die abgeschwächte Symbolik.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Eiwaz, Eoh, Eihwaz, Iwaz, Ihwaz.<br />
Herkunft: Die Eibe als Symbol für Langlebigkeit bzw.<br />
Unsterblichkeit.<br />
Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />
Assoziierter Baum: Eibe (in Vorzeiten u. a. als Pfeilgift<br />
verwendet).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Alraune (volksmedizinisch u. a. als<br />
Schmerzmittel und als Halluzinogen eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Topas (ayurvedisch<br />
entspannungsfördernd).<br />
Assoziierte Farbe: Dunkelblau.<br />
Sprachliche Entsprechung: Y<br />
Begriffsrune: Veränderung durch Abwerfen von Ballast und<br />
Akzeptieren von Neuem.<br />
Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />
Wenderune: Realitätsferne Ignoranz sich selbst und anderen<br />
gegenüber.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Ingwaz, Ing, Inguz<br />
Herkunft: Die Vagina als Fruchtbarkeitssymbol.<br />
Geburtszeitraum: (Keine Zuordnung, aber mitunter für den<br />
Monat September verwendet.)<br />
Assoziierter Baum: Primär Apfelbaum (volksmedizinisch u.<br />
a. gegen Infektionen und als Potenzmittel eingesetzt), aber<br />
ersatzweise auch andere Obstbäume.<br />
Assoziierte Pflanze(n): Brunelle (volksmedizinisch u. a.<br />
gegen Infektionen eingesetzt) und Farnkraut<br />
(volksmedizinisch u. a. gegen Rheumatismus und<br />
Wurmerkrankungen eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Bernstein (keltogermanisch<br />
vertrauensfördernd), Granit (keltogermanisch als Symbol für<br />
Härte und Widerstand) und Jaspis (keltogermanisch zur<br />
Kreislaufstärkung).<br />
Assoziierte Farbe: Gelb.<br />
274
Sprachliche Entsprechung: Ng<br />
Begriffsrune: Zielgerichtete geistige Kraft durch Kreativität<br />
und Inspiration.<br />
Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />
Wenderune: Spiegelrune. Eine um 90° verdrehte Lage<br />
vermittelt lediglich die abgeschwächte Symbolik.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Jera, Jara, Jeran.<br />
Herkunft: Die Kornähre als Erntesymbol, ein gutes Jahr<br />
symbolisierend.<br />
Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />
Assoziierter Baum: Eiche (volksmedizinisch u. a. gegen<br />
Entzündungen und Vergiftungen eingesetzt; bekannt für<br />
besonders widerstandsfähiges Holz).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Rosmarin (volksmedizinisch u. a. als<br />
Mittel gegen Schwäche eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Karneol (ayurvedisch gegen Blutarmut<br />
und gegen Blutungen).<br />
Assoziierte Farbe: Helles Blau.<br />
Sprachliche Entsprechung: J<br />
Begriffsrune: Sammeln von Wissen und Weisheit als Lohn<br />
harter Arbeit – aber auch die Gewissheit, dass noch weitere<br />
Arbeit vor einem liegt.<br />
Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />
Wenderune: Das Pflegen von Vorurteilen.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Perth, Peord, Pertho, Perpo.<br />
Herkunft: Stilisierter Würfelbecher als Entscheidungssymbol.<br />
Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />
Assoziierter Baum: Buche (bekannt u. a. für besonders<br />
widerstandsfähiges Holz).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Eisenhut (in Vorzeiten u. a. als<br />
Pfeilgift eingesetzt).<br />
Assoziierter Stein: Aquamarin (keltogermanisch<br />
gesundheitsfördernd).<br />
Assoziierte Farbe: Schwarz.<br />
Sprachliche Entsprechung: P<br />
275
Begriffsrune: Von niemandem einzuschränkendes Recht auf<br />
freie Entscheidung über das eigene Schicksal.<br />
Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />
Wenderune: Kraftlosigkeit durch ein Sich-Fügen in das<br />
Schicksal, indem unkritisch einem Führer nachgelaufen wird.<br />
Runenzeichen:<br />
Bezeichnung(en): Wunjo, Wynn<br />
Herkunft: Wonnegefühl, steht für Glück und<br />
Ausgewogenheit.<br />
Geburtszeitraum: (keine Zuordnung)<br />
Assoziierter Baum: Esche (volksmedizinisch u. a. als<br />
Wundheilmittel eingesetzt).<br />
Assoziierte Pflanze(n): Flachs (in Vorzeiten Faserlieferant<br />
für Kleidung).<br />
Assoziierter Stein: Diamant (ayurvedisch verjüngend und<br />
öffnend).<br />
Assoziierte Farbe: Gelb.<br />
Sprachliche Entsprechung: W<br />
Begriffsrune: Glück und Harmonie durch Ausgewogenheit,<br />
indem man Probleme löst.<br />
Weitergehende Bedeutung: Nicht bekannt.<br />
Wenderune: Blindheit für das eigene Glück aufgrund von<br />
Vorurteilen oder eingeschränkter Denk- bzw. Sichtweise.<br />
Sowohl bei der Verwendung als Glücksbringer (Amulett,<br />
Talisman) wie auch bei den sichtbar daliegenden Runen nach<br />
einem Runenwurf kommt den Kombinationen der einzelnen<br />
Zeichen mitunter noch eine besondere Bedeutung zu. So hebt<br />
bspw. ein sichtbares Hagalaz immer die positiven Aspekte der<br />
anderen Runen hervor, während ein Noth oder Is die<br />
negativen Bedeutungen verstärkt. Negative Is-Einflüsse<br />
können durch ein gleichzeitig präsentes Sig wieder<br />
aufgehoben werden. Far steht in Kombination mit Ar für<br />
Erfolg, Glück und Gesundheit, in Kombination mit Yr für<br />
das Freisetzen mentaler Kraft und in Kombination mit Bar als<br />
Schutz vor Erschöpfung. Far zusammen mit Hagal soll<br />
glückliche Zufälle begünstigen. Überlieferungen zufolge sind<br />
Runen nur dann wirksam, wenn sie von keinem Fremden<br />
berührt und ausschließlich in einem Lederbeutel aufbewahrt<br />
werden. Als Amulett sollen sie nur an einem Lederband oder<br />
276
aber an einer Silberkette auf der nackten Haut getragen eine<br />
Wirkung zeigen.<br />
Die Runen an sich und die mit ihnen assoziierten Bäume<br />
und Pflanzen sind rein nordischen Ursprungs. Sie gehen auf<br />
die Bronzezeit zurück (etwa 1000 – 500 v. Chr.). Die<br />
assoziierten Steine sind überwiegend auf ayurvedische<br />
Einflüsse zurück zu führen, da durch die weitreichenden<br />
Handelsbeziehungen der Kelten und Germanen auch indische<br />
Glaubensrichtungen mit eingetragen worden sind. Bei den<br />
assoziierten Farben (und in Einzelfällen auch Metallen)<br />
kommt noch persisches, griechisches, ägyptisches u. a.<br />
Glaubensgut hinzu. Alle diese letztgenannten Assoziationen<br />
sind jüngeren Ursprungs.<br />
Jüngeren Ursprungs sind auch die Verbindungen<br />
zwischen Runen und Tarot. So gibt es heute zwischen Runen<br />
und Tarotkarten einige Entsprechungen, bspw. Uruz – die<br />
Hohepriesterin, Laguz – der Mond, Fehu – der Magier,<br />
Ingwaz – der Herrscher usw. Tarot tauchte in Mitteleuropa<br />
jedoch erstmals im Jahre 1377 auf und kann daher durchaus<br />
als eine Art von Nachfolger des Runenwurfs angesehen<br />
werden. Dafür spricht auch, dass die Interpretation eines<br />
Runenwurfs und das Tarot-Neunerspiel einander frappierend<br />
ähneln.<br />
277
278
<strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong>: Vernetzte Sinne - Über Synästhesie<br />
und Verhalten<br />
ISBN 3-8334-1474-X; Books on Demand GmbH<br />
Norderstedt<br />
Inhalt:<br />
- Vorwort<br />
- Grundsätzliches zur Synästhesie<br />
- Medizin und Synästhesieforschung<br />
- Berühmte Synästhetiker<br />
- Formen und Empfindungen synästhetischer Wahrnehmung<br />
- Vor- und Nachteile der Synästhesie<br />
- Synästhetische Verhaltensweisen<br />
- Synästhetiker im Berufsleben<br />
- Synästhetische Parallelen: Linkshändigkeit<br />
- Synästhetische Parallelen: Migräne<br />
- Synästhetische Parallelen: Hochbegabung<br />
- Synästhetische Parallelen: ASW<br />
- Synästhetisches Mitteilungsbedürfnis<br />
- Synästhetische Visualisierung<br />
- Schlusswort<br />
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<strong>Eckhard</strong> <strong>Freuwört</strong>: Böse Hexen gibt es nicht. Versuch<br />
einer interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens.<br />
ISBN 3-8334-3183-0; Books on Demand GmbH<br />
Norderstedt<br />
Inhalt:<br />
- Einleitung<br />
- Zeittafel: Früher und Heute<br />
- Die Aufgaben einer Hagazussa<br />
- Rituale, Zaubersprüche und der Placebo-Effekt<br />
- Verbreitete „Hexen“-Naturstoffe und ihre Wirkungen<br />
- Hexen heute<br />
- Hexenlaboratorium Küche?<br />
- Schlusswort<br />
- Danksagung<br />
- Verwendete Quellen<br />
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