Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach
Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach
Vereinshandbuch Band 3 Stand 01.08.2012 Die Leistungen der Eingliederungshilfe beziehen sich bisher auf einen Gesamtbedarf. Eine modulare Struktur der Leistungen bezogen auf einzelne Lebensbereiche existiert in der Eingliederungshilfe bis dato noch nicht. Ob durch eine angemessene Modularisierung der Leistungen in beiden Systemen und die darauf folgende Zuordnung zu den einzelnen Leistungssystemen die Frage der Abgrenzung sich künftig klären könnte, bleibt derzeit noch unbeantwortet. Offen ist grundsätzlich, ob der Bundesgesetzgeber in der Frage der Abgrenzung/Zuständigkeit anspruchsvollen fachwissenschaftlichen oder rein leistungsrechtlich definierten Grenzziehungen folgen wird/will. Eine solche Zuordnungsentscheidung betrifft zur Zeit z.B. die unterschiedliche Handhabung der Behandlungspflege in den stationären Feldern der Pflegeversicherung einerseits und der Eingliederungshilfe andererseits. Auf jeden Fall muss das Verhältnis von Pflegeleistungen und Leistungen der Eingliederungshilfe neu bestimmt werden. Augenblicklich hat (noch) Bestand, dass das für die Sozialhilfe geltende Prinzip des Nachranges gegenüber der Pflege aufgehoben ist (§13 Abs. 3 SGB XI). Da das neue Verständnis von Pflegebedürftigkeit die Lebenslage eines Menschen unabhängig von der gewählten oder benötigten Versorgungsform her betrachtet – ähnliches ist in den Reformvorschlägen zur Eingliederungshilfe erkennbar, ambulante und stationäre Formen der Hilfebedarfserfassung und Hilfegestaltung nach identischen Kriterien zu gestalten –, kann es eine Regelung wie § 43a SGBXI künftig nicht mehr geben, wo Menschen mit Behinderung der volle Anspruch auf Pflegeversicherungsleistungen nur deshalb verwehrt wird, weil sie in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe leben. Gemäß § 43a SGB XI umfassen die Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, sofern sie in einer vollstationären Einrichtung der Eingliederungshilfe gemäß § 71 Abs. 4 SGB XI untergebracht sind, auch die Pflegeleistungen in der Einrichtung. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Häuslichkeit. Um die Durchlässigkeit und Gleichheit der Systeme sicherzustellen, müssen Leistungen z.B. der Behandlungspflege/häuslichen Krankenpflege überall erbracht werden können unabhängig vom Wohn- oder Aufenthaltsort, so auch in Einrichtungen der stationären Behindertenhilfe. Zwar ist es hier durch das GKV-Wettbewerbsverstärkungsgesetz zum 01.04.2007 im Wortlaut des SGB V § 37 in Verbindung mit den Häusliche Krankenpflegerichtlinien vom Juni 2008 zu einer Aufweichung der bisherigen starren Formulierungen der „Häuslichkeit“ gekommen, da häusliche Krankenpflege künftig an jedem „sonst geeignetem Ort“ erbracht werden kann. Dennoch zeigt die Praxis, dass sich die Krankenkassen mit der dort enthaltenen rechtsunbestimmten Formulierung „betreute Wohnformen“ schwer tun und argumentieren, dass, wenn der Gesetzgeber eine weitergehende Ausdehnung des Anwendungsbereiches der häuslichen Krankenpflege über die betreuten Wohnformen hinaus auch auf Heime beabsichtigt hätte, er dies auch ausdrücklich hätte formulieren können oder wollen. Schnittstellenproblematiken zwischen Leistungen gem. SGB XI und Leistungen der GKV im Rahmen des SGB V können und sollen hier nicht ausgeführt bzw. weiter vertieft werden. Dies betrifft auch die den ambulanten Bereich tangierende Schnittstelle zwischen Leistungen als Hilfe zur Pflege gem. SGB XII und Pflegversicherungsleistungen gem. SGB XI. Der zugrunde liegende Begriff von Pflegebedürftigkeit weist hier Unterschiede auf, entsprechend unterschiedlich ist der gewährte zielgruppenbezogene Leistungsumfang. © Behindertenhilfe in Stadt und Kreis Offenbach e.V., Offenbach 2005 96
Vereinshandbuch Band 3 Stand 01.08.2012 Weitere fachlich-inhaltliche Aspekte der Abgrenzungsproblematik vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe Durch einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff kann sich - wie aufgezeigt - sowohl die Schnittstelle zwischen Pflegeversicherungsleistungen einerseits und Eingliederungshilfe andererseits vergrößern als auch die Frage notwendiger schärferer Abgrenzung vergrößern. Zu prüfen bleibt, ob es nicht sinnvoll sein kann, um ein (weiteres) Auseinanderlaufen der Systeme zu vermeiden, die Gültigkeit des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs identisch sowohl auf das SGB XI wie auch das SGB XII zu beziehen. Weiterhin ist zu prüfen, inwieweit das im Rahmen des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs vorgesehene neue Begutachtungsassessment mit den avisierten Reformvorschlägen in der Eingliederungs-/Sozialhilfe kompatibel (bzw. identisch?) sein kann/wird. Dies bezieht sich sowohl auf die Formen der Bedarfsermittlung wie auch auf die Personenzentrierung der individuellen Hilfeplanung und den damit einhergehenden Paradigmenwechsel, die Leistungsgewährung am Teilhabebedarf des Menschen mit Behinderung zu orientieren und nicht mehr auf Leistungsform, Leistungsort und Leistungsanbieter abzustellen (s. Konzept der 85. Arbeits- und Sozialministerkonferenz Nov. 2008). Diese weit reichenden fachlich-inhaltlichen Folgen gilt es jedenfalls vor der politischen Umsetzung ausreichend abzuklären. Aus Sicht des Autors ist es deshalb z.B. von besonderer Brisanz, dass im neuen Begutachtungsassessment des SGB XI künftig auf 5 leistungsrechtlich relevante Bedarfsstufen/-grade rekurriert werden soll und die Pflegeversicherung sich künftig vor allem vor dem aus dem ambulanten Bereich kommenden Vorwurf der „Minutenpflege“ schützen will, wohingegen im Vorhaben des überörtlichen Sozialhilfeträgers in Hessen mit der personenzentrierten Hilfeplanung die Zukunft in „zeitbasierten Vergütungen“ gesehen wird, weil angeblich dies der Vorstellung passgenauer Hilfen entspreche und damit genau die Abkehr von Bedarfsgruppen vollzogen werden soll .... Ein letzter, nicht weniger bedeutender Aspekt soll hier noch Erwähnung finden: Die in den unterschiedlichen Leistungssystemen derzeit arbeitenden Professionen und ihre spezifischen Standards. Zum einen muss mit der Ablösung von der rein medizinisch-somatischen Sichtweise im Pflegesektor und der Berücksichtigung der sozialen Teilhabe eine Veränderung im beruflichen Fokus auf die betroffenen Menschen als Klienten einhergehen. Zum andern stellen sich gleichsam von der anderen Seite dieselben Fragen in Diensten und Einrichtungen der Behinderten-/Eingliederungshilfe. Nicht zuletzt durch den demografischen Faktor stehen Mitarbeiter in den Diensten und Einrichtungen der Behindertenhilfe zunehmend vor der Aufgabe, neben pflegerischen auch behandlungspflegerische Leistungen in ihren Arbeitstalltag integrieren zu müssen. Die Durchführung behandlungspflegerischer Maßnahmen kann sich hierbei nur nach anerkannten fachlichen Standards richten, wie sie in der Pflege entwickelt worden sind. Diese auf beiden Seiten unter dem neuen Paradigma der leistungserbringungsrechtlich relevanten Forderung nach Teilhabe, Aktivierung, Prävention und Förderung der Selbständigkeit zu beobachtende Konvergenz der Systeme wird nachhaltige Auswirkungen auch auf Selbstverständnis, Habitus und Qualifikation der auf beiden Seiten jeweils beteiligten Professionen haben müssen und neue Kooperationsformen sowohl in inter- wie auch multidisziplinärer Sicht evozieren. 97 © Behindertenhilfe in Stadt und Kreis Offenbach e.V., Offenbach 2005
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<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />
Stand 01.08.2012<br />
Die Leistungen der Eingliederungshilfe beziehen sich bisher auf einen Gesamtbedarf. Eine<br />
modulare Struktur der Leistungen bezogen auf einzelne Lebensbereiche existiert in der Eingliederungshilfe<br />
bis dato noch nicht. Ob durch eine angemessene Modularisierung der Leistungen<br />
in beiden Systemen und die darauf folgende Zuordnung zu den einzelnen Leistungssystemen<br />
die Frage der Abgrenzung sich künftig klären könnte, bleibt derzeit noch unbeantwortet.<br />
Offen ist grundsätzlich, ob der Bundesgesetzgeber in der Frage der Abgrenzung/Zuständigkeit<br />
anspruchsvollen fachwissenschaftlichen oder rein leistungsrechtlich definierten Grenzziehungen<br />
folgen wird/will. Eine solche Zuordnungsentscheidung betrifft zur Zeit z.B. die unterschiedliche<br />
Handhabung der Behandlungspflege in den stationären Feldern der Pflegeversicherung<br />
einerseits und der Eingliederungshilfe andererseits. Auf jeden Fall muss das Verhältnis<br />
von Pflegeleistungen und Leistungen der Eingliederungshilfe neu bestimmt werden. Augenblicklich<br />
hat (noch) Bestand, dass das für die Sozialhilfe geltende Prinzip des Nachranges<br />
gegenüber der Pflege aufgehoben ist (§13 Abs. 3 SGB XI).<br />
Da das neue Verständnis von Pflegebedürftigkeit die Lebenslage eines Menschen unabhängig<br />
von der gewählten oder benötigten Versorgungsform her betrachtet – ähnliches ist in den Reformvorschlägen<br />
zur Eingliederungshilfe erkennbar, ambulante und stationäre Formen der<br />
Hilfebedarfserfassung und Hilfegestaltung nach identischen Kriterien zu gestalten –, kann es<br />
eine Regelung wie § 43a SGBXI künftig nicht mehr geben, wo Menschen mit Behinderung<br />
der volle Anspruch auf Pflegeversicherungsleistungen nur deshalb verwehrt wird, weil sie in<br />
einer stationären Einrichtung der <strong>Behindertenhilfe</strong> leben. Gemäß § 43a SGB XI umfassen die<br />
Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, sofern sie in einer vollstationären<br />
Einrichtung der Eingliederungshilfe gemäß § 71 Abs. 4 SGB XI untergebracht sind,<br />
auch die Pflegeleistungen in der Einrichtung.<br />
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Häuslichkeit. Um die Durchlässigkeit und<br />
Gleichheit der Systeme sicherzustellen, müssen Leistungen z.B. der Behandlungspflege/häuslichen<br />
Krankenpflege überall erbracht werden können unabhängig vom Wohn- oder<br />
Aufenthaltsort, so auch in Einrichtungen der stationären <strong>Behindertenhilfe</strong>. Zwar ist es hier<br />
durch das GKV-Wettbewerbsverstärkungsgesetz zum 01.04.2007 im Wortlaut des SGB V §<br />
37 in Verbindung mit den Häusliche Krankenpflegerichtlinien vom Juni 2008 zu einer Aufweichung<br />
der bisherigen starren Formulierungen der „Häuslichkeit“ gekommen, da häusliche<br />
Krankenpflege künftig an jedem „sonst geeignetem Ort“ erbracht werden kann. Dennoch<br />
zeigt die Praxis, dass sich die Krankenkassen mit der dort enthaltenen rechtsunbestimmten<br />
Formulierung „betreute Wohnformen“ schwer tun und argumentieren, dass, wenn der Gesetzgeber<br />
eine weitergehende Ausdehnung des Anwendungsbereiches der häuslichen Krankenpflege<br />
über die betreuten Wohnformen hinaus auch auf Heime beabsichtigt hätte, er dies auch<br />
ausdrücklich hätte formulieren können oder wollen.<br />
Schnittstellenproblematiken zwischen Leistungen gem. SGB XI und Leistungen der GKV im<br />
Rahmen des SGB V können und sollen hier nicht ausgeführt bzw. weiter vertieft werden. Dies<br />
betrifft auch die den ambulanten Bereich tangierende Schnittstelle zwischen Leistungen als<br />
Hilfe zur Pflege gem. SGB XII und Pflegversicherungsleistungen gem. SGB XI. Der zugrunde<br />
liegende Begriff von Pflegebedürftigkeit weist hier Unterschiede auf, entsprechend unterschiedlich<br />
ist der gewährte zielgruppenbezogene Leistungsumfang.<br />
© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 96