Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach
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<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />
Stand 01.08.2012<br />
„Je schwerer die Behinderung ist, desto mehr wird allerdings die Ergänzung der persönlichen<br />
Assistenz durch stellvertretendes Entscheiden und „fremdverantwortliches“ Handeln erforderlich<br />
sein. Dennoch muss in jeder Situation geprüft werden, wie viel Selbstbestimmungspotential<br />
vorhanden ist und wie weit es entwickelt werden kann. Die Umsetzung von<br />
Selbstbestimmung insbesondere von Menschen mit schweren Behinderungen setzt bei allen<br />
eine hohe Sensibilität und die Fähigkeit zu nonverbaler und basaler Kommunikation voraus.<br />
Selbstbestimmung und Assistenz fordern eine Form von Verantwortung, die nicht als pädagogisch<br />
verbrämte Teilnahmslosigkeit missverstanden werden darf.<br />
Ist ein Mensch (noch) nicht in der Lage, zwischen Alternativen zu wählen, wird man ihn verunsichern<br />
und überfordern, wenn man ihn auffordert, selbst zu entscheiden. Das heißt, für die<br />
Verwirklichung von Selbstbestimmung müssen die Voraussetzungen geschaffen werden. Es<br />
wird deutlich, dass man Wahrnehmung von Selbstbestimmung erst erwarten kann, wenn<br />
die individuellen Voraussetzungen erworben worden sind. Diese müssen gemeinsam erarbeitet<br />
und entwickelt werden, sie sind ein Ergebnis von Erziehung und Bildung (Bundesarbeitsgemeinschaften<br />
und Fachverbände des Deutschen Caritasverbandes 2001, 8). (9)<br />
Endlichkeitsbewusstsein, Bewährungsproblem und Bewährungsmythos<br />
• Das der Bewährungsdynamik zugrundeliegende eigentliche Bewährungsproblem menschlicher<br />
Lebenspraxis resultiert zwingend aus dem grundsätzlich gegebenen Endlichkeitsbewusstsein<br />
menschlichen Lebens, d.h. im Hinblick auf den Tod aber auch im Hinblick auf<br />
die grundsätzliche Irreversibilität von alltäglichen Entscheidungen. Aus dem Endlichkeitsbewusstsein<br />
ergeben sich Zeitknappheit, grundsätzlich offene Zukunft und Riskanz der<br />
„diesseitigen“ Lebensführung als Bewährungsproblem in jeder Entscheidungskrise. (10)<br />
_____________________________<br />
(9) Zum Autonomieproblem in Betreuungsinstitutionen und im Alter sowie zu den fachlichen Modellen von<br />
Regression, erlernter Hilflosigkeit und gelernter Abhängigkeit vgl. Zank/ Baltes 1999, In: Oerter/ v.Hagen/ Röper/<br />
Noam.<br />
(10) „Stellt man sich den biographischen Verlauf in dieser Weise als eine Kette von Entscheidungskrisen vor,<br />
dann wird sofort deutlich, dass mit den bewusst wahrgenommenen Entscheidungen in eine offene Zukunft natürlich<br />
nicht nur diese Zukunft gewonnen oder erobert worden ist, sondern zugleich im Sinne der unerbittlichen<br />
Logik des „point of no return“, der Endgültigkeit von Festlegungen und der Unwiederbringlichkeit von verworfenen<br />
Möglichkeiten, Weichen gestellt und potentielle Verluste in Kauf genommen worden sind. Ihnen gegenüber<br />
steht die Konturierung der im Vollzug sich bildenden Fallstrukturgesetzlichkeit als Zeichenkonfiguration,<br />
Charakteristik oder Charakter“ (Oevermann 1995, 40).<br />
In der Logik des „point of no return“ ist der Tod „gewissermaßen die Endgültigkeit in der Verkettung von Endgültigkeiten.<br />
Spätestens in der gedanklichen Vorwegnahme des eigenen sicheren Todes muss jedem Subjekt die<br />
unerbittliche Logik des „point of no return“ und die darin liegende Dialektik von Wahlfreiheit und Verantwortung,<br />
„das „Zur Autonomie-Verurteilt-Sein“ zu Bewusstsein kommen. Dass die daraus resultierende Zeitknappheit<br />
und Riskanz der diesseitigen Lebensführung dann analog für jede Entscheidungskrise gilt, ist daraufhin nur<br />
ein kleiner Reflexionsschritt“ (Oevermann 1995, 40-41).<br />
63 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005