Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach
Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach
Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />
Stand 01.08.2012<br />
• Individuelle Lebenspraxen entwickeln sich in einem je individuierenden Bildungsprozeß<br />
und bilden eine Identität aus. In der Phase der Kindheit und Jugend sind sie<br />
zunächst auf eine angemessene, ihr Autonomiepotential unterstützende und fördernde<br />
Begleitung und Stellvertretung durch Eltern und andere Dritte angewiesen. Sie bereiten<br />
sich dabei in mehr oder weniger gelingender Weise innerhalb bestimmter Schutz-<br />
und Erprobungsräume/ Moratorien auf den Ernst der eigenverantwortlichen Übernahme<br />
von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung eines Erwachsenenlebens<br />
vor.<br />
• Auf der Basis der von Geburt an gegebenen spezifischen Autonomiepotentiale und ihrer<br />
krisenhaften Entfaltung in den Polen von Bindung und Ablösung bildet, bewährt<br />
und entwickelt sich die Autonomie der Lebenspraxis in der eigenverantwortlichen<br />
Übernahme von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung in eine grundsätzlich<br />
offene Zukunft hinein. In der damit gegebenen widersprüchlichen Einheit von<br />
Wahlmöglichkeit und Verantwortung, im „Zur-Autonomie-Verurteilt-Sein“ liegt das<br />
Spezifikum und die Herausforderung menschlicher Autonomie.<br />
• Aus dem Vorgegebenen, den vorgegebenen Möglichkeiten, wird durch Auswahl und<br />
Entscheidung das Aufgegebene (vgl. Welter-Enderlin 1999). Der Doppelsinn des<br />
Hauptwortes Aufgabe wird deutlich, es kann verstanden werden als ein Aufgeben, ein<br />
nicht Wählen von bestimmten Optionen und zugleich als eine sich mit diesem Aufgeben<br />
von Optionen ergebenden Option, die dann lebenspraktisch eine gewählte Aufgabe<br />
wird.<br />
• Für Grundbegriffe wie Autonomie, Individuierung, Bewährung und Authentizität gilt,<br />
dass sie notwendig einen zugleich deskriptiv-analytischen als auch einen normativen<br />
Charakter besitzen. „Deskriptiv-analytisch bezeichnen solche Begriffe je ein universales<br />
Strukturproblem, vor das jede Lebenspraxis in ihrem Bildungsprozess gestellt ist<br />
und das sie, ob sie will oder nicht, zu bewältigen hat. Normativ hingegen bezeichnen<br />
diese Begriffe zugleich den Grad des Gelingens in dieser Problem-bewältigung“, der<br />
grundsätzlich nur im Hinblick auf ein contrafaktisch geltendes, idealisiertes Gelingen<br />
darstellbar ist (Oevermann 2002a, 25-26).<br />
Grundsätzliche Bedeutung für die Praxis beruflicher sozialer Arbeit<br />
Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung bedeutet in dieser Sichtweise die Ermöglichung<br />
eines Höchstmaßes von Wahlmöglichkeiten und Verantwortung für die Gesamtheit<br />
der eigenen Belange, ohne dabei die besondere Verantwortung der Stellvertretung durch die<br />
Fachkräfte zu vernachlässigen. Selbstbestimmung i.S.v. Autonomisierung bedeutet aber auch,<br />
im Rahmen eines jeweils neu zu bestimmenden Schutzraumes Bewährung als durchaus riskante<br />
Entscheidung in eine offene Zukunft zu ermöglichen und zuzulassen.<br />
„Zu einem lebendig gelebten Leben, auch für Menschen mit Behinderungen, gehört nicht nur<br />
Sicherheit, sondern auch Risiko! Weiter bestehende Aufsichts- und Fürsorgepflicht dürfen<br />
kein Vorwand dafür sein, Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Selbstbestimmung vorzuenthalten“<br />
(Bundesarbeitsgemeinschaften und Fachverbände des Deutschen Caritasverbandes<br />
2001, 15).<br />
© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 62