Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach
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<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />
Stand 01.08.2012<br />
1.1.5 Fallverstehen und Hilfen im Fallverstehen<br />
Dem Fallverstehen als dem rekonstruktiven Nachvollzug einer konkreten Lebenspraxis in<br />
ihrer lebensgeschichtlichen Gewordenheit, ihrer Eigenlogik und ihrer je besonderen Zukunftsoffenheit<br />
(Möglichkeiten und Einschränkungen) kommt i.R. beruflicher sozialer Arbeit<br />
eine hervorgehobene Bedeutung zu.<br />
Fallverstehen verweist auf die Lebenspraxis eines einzelnen Menschen, eines Paares, einer<br />
Familie als Prozess der Krisenbewältigung und d.h. als widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang<br />
und Begründungsverpflichtung, die auch als Bewährungsdynamik von Lebenspraxis<br />
bezeichnet werden kann (vgl. hierzu weiter unter: Ein strukturtheoretisches Modell<br />
der Autonomie der Lebenspraxis).<br />
In dieser Sicht entwickelt sich, zeigt sich und bewährt sich die Autonomie einer Lebenspraxis<br />
in der Bewältigung von Krisen, d.h. in der je besonderen Abfolge von Entscheidungen und<br />
Begründungen. Hierauf bezogen stellt die Sequenzanalyse das geeignete praktische Verfahren<br />
der Rekonstruktion von Krisen und ihrer Bewältigung dar (vgl. Oevermann 2000 e).<br />
„ In dem Maße, in dem Autonomie eines Individuums, eines Paares, einer Familie sich in der<br />
Bewältigung von Krisen zeigt, ist die sequenzanalytische Rekonstruktion solcher Prozesse das<br />
geeignete verfahren zur Analyse von Individualität einer konkreten Lebenspraxis. Wichtig ist,<br />
dass unter einer Abfolge von Sequenzen nicht ein einfaches nebeneinander von Entscheidungen<br />
gemeint ist. Sequenzen und ihre Abfolgen entfalten sich als sinnstrukturierte Prozesse,<br />
die ein Muster erzeugen, reproduzieren oder transformieren, indem Möglichkeiten wahrgenommen,<br />
gegeneinander abgewogen, verworfen bzw. gewählt werden. Struktur und Prozess<br />
‚fallen in eins’ (Oevermann 2000 e, 71). Sequenzanalysen beziehen sich somit auf Ausschnitte<br />
aus Abfolgen lebenspraktischer Entscheidungsprozesse“ (Welter-Enderlin / Hildenbrand<br />
2004, 35).<br />
Gegenüber der von unmittelbarem praktischen Handlungsdruck entlasteten Praxis wissenschaftlicher<br />
Fallrekonstruktionen steht das Fallverstehen in der beruflichen sozialen Arbeit<br />
aber unter einem mehr oder minder stark ausgeprägten praktischen Handlungsdruck i.V.m.<br />
dem Hilfebedarf/ der Krisenkonstellation eines konkreten Klienten ( Fallverstehen „off-line“<br />
gegenüber Fallverstehen „on-line“, vgl. Wolf 1995). Es ist deshalb wesentlich angewiesen<br />
auf abkürzende Verfahren des Fallverstehens und die Schulung eines intuitiv gestaltrichtigen<br />
Erschließens von Fallstrukturen (vgl. Oevermann 2000 e).<br />
Orte der Schulung und Entwicklung von Fallverstehen sind zunächst die klientenbezogene<br />
berufliche Aus- und Weiterbildung, die Supervision, kollegiale Intervision und fachliche<br />
Selbstreflexion.<br />
Fallverstehen „off-line“, d.h. i.R. v. wissenschaftlichem Handeln, besteht in expliziten, methodisch<br />
kontrollierten und sequenzanalytisch verfahrenden Fallrekonstruktionen, die sowohl<br />
auf die Problemlage des Klienten, den Interventionsverlauf als auch die fachlichen und organisatorischen<br />
Routinen und Rahmenbedingungen fokussieren können ( vgl. z.B. Oevermann<br />
2000e, 2002a).<br />
Die Einführung und Einübung in solche wissenschaftlich expliziten, ausführlichen und sequenzanalytisch<br />
verfahrenden Fallrekonstruktionen im Kontext einer Methodologie der Objektiven<br />
Hermeneutik kann als Element fallbezogener Aus- und Weiterbildung die<br />
© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 36