Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach
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<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />
Stand 01.08.2012<br />
Die Wissensebene<br />
• Auf der Wissensebene stellt sich berufliche soziale Arbeit als widersprüchliche Einheit<br />
von fachlich-wissensmäßiger und/oder fachlich-wissenschaftlicher Kompetenz im<br />
engeren Sinne (Erklären) und hermeneutischer Kompetenz des Fallverstehens (Verstehen)<br />
andererseits dar. Beim Erklären geht es um die Anwendung von Wissensbeständen,<br />
die allgemeine Gültigkeit besitzen, um die Problemlage eines Klienten/Nutzers<br />
anzugehen. Beim Fallverstehen geht es jedoch nicht um das Einordnen<br />
des Falles, einer Problemlage unter allgemeine Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten,<br />
sondern um das Verständnis des einzelnen „Falles“ in seiner Eigenart und geschichtlichen<br />
Gewordenheit, in seinen besonderen Möglichkeiten und Einschränkungen<br />
und d.h. auch in seiner je besonderen Zukunftsoffenheit.<br />
• Die widersprüchliche Einheit von Erklären und Fallverstehen lässt sich am Modell<br />
ärztlich-therapeutischer Praxis beispielhaft verdeutlichen: Für eine therapeutische<br />
Praxis muss neben dem Erklären, d.h. der Einordnung von Symptomen unter theoretische<br />
Modelle, das Fallverstehen einer konkreten Lebenspraxis in ihrer lebensgeschichtlichen<br />
Einbettung und Gewordenheit hinzutreten, in der die Krankheit selbst<br />
dann eine motivierte Stellung und Funktion einnimmt. „In dieser Auffassung ist die<br />
Krankheit nicht nur negativer Fremdkörper oder Störung, sondern darüber hinaus<br />
auch motivierter Bestandteil des konkreten Lebens in seiner Totalität. Krankheit erscheint<br />
so in ihrer einzig angemessenen Konzeptualisierung: nicht einfach platt als<br />
das klassifikatorische Gegenteil von Gesundheit, sondern als das Maximum an Gesundheit,<br />
das ein konkretes Leben in seiner Traumatisierungsgeschichte und in seinem<br />
Überlebenskampf unter seinen je konkreten Lebensbedingungen zu erreichen in der<br />
Lage war.<br />
Korrelativ dazu ist Gesundheit nicht einfach als normativ als eine standardisierte Konfiguration<br />
von Messdaten oder Kriterien zu fassen. Die Diagnose besteht also nicht<br />
einfach in einem Prozess der normativen Abgleichung von Messwerten, sondern ist<br />
vor allem eine Rekonstruktion einer Fallstruktur, so dass Symptomatik, Krankheit und<br />
Möglichkeiten der Gesundheit gewissermaßen „in einem Atemzuge“ in Begriffen dieser<br />
rekonstruierten Fallstruktur zu explizieren sind“ (Oevermann 1997, 127).<br />
(Zum analogen Problem einer normativen bzw. nicht-normativen Bewertung von Ergebnissen/<br />
Unterstützungsprozessen vgl. weiter unten <strong>Kapitel</strong> 10: Zur Problematik<br />
der Bewertung von Ergebnissen im Bereich beruflicher sozialer Arbeit).<br />
• Dieser widersprüchlichen Einheit von Erklären und Verstehen liegt als objektives<br />
Handlungsproblems zugrunde, dass es im Bereich beruflicher sozialer Arbeit um die<br />
Anwendung fachlichen und fachlich-wissenschaftliche Wissens im Kontext einer Lebenspraxis,<br />
d.h. eines je besonderen biopsychosozialen Lebenszusammenhanges geht<br />
und nicht etwa um die Anwendung fachlichen und wissenschaftlichen Wissens auf<br />
ausschließlich instrumentell-technische Probleme wie z.B. im Handwerk oder den Ingenieurberufen.<br />
Hierin liegt auch der Grund für die grundsätzliche Nicht-Standardisierbarkeit<br />
beruflicher sozialer Arbeit (vgl. hierzu detailliert Oevermann 2002).<br />
© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 28