Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach

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Vereinshandbuch Band 3 Stand 01.08.2012 1.1.4 Das Arbeitsbündnis: Berufliche soziale Arbeit als besonderer Beziehungstypus und widersprüchliche Einheit einer Beziehungspraxis Autonomisierung durch stellvertretende Krisenbewältigung • Das Paradox beruflicher sozialer Arbeit besteht darin, dass sie durch einen zumindest partiellen Eingriff in die Autonomie ihres Klienten/Nutzers über Akte stellvertretenden Deutens, Entscheidens und ggf. auch Handelns dessen Autonomie wiederherstellen, sicher oder unterstützen und fördern soll, ohne durch diese Eingriffe die Klienten/Nutzer zusätzlich sekundär zu deautonomisieren (und hierin ist sie ja strukturähnlich den naturwüchsigen familialen Sozialisationsprozessen). • Diese Autonomiesierung ist nur möglich, wenn es der Fachkraft innerhalb des Arbeitsbündnisses gelingt, die autonomen Entwicklungs- und Selbstheilungskräfte des Klienten zu wecken und zu mobilisieren und erfolgreich und bindend in den Prozess der stellvertretenden Krisenbewältigung einzubeziehen i. S. e. Hilfe zur Selbsthilfe. • Berufliche soziale Arbeit kann hierbei als klientenbezogene stellvertretende Krisenbewältigung charakterisiert werden. Sie setzt ein, wenn die primäre Lebenspraxis in ihrer Krisenkonstellation zur selbständigen Krisenbewältigung überfordert ist, entweder, weil sie in ihrer Autonomie beschädigt oder entwicklungsbedingt noch eingeschränkt ist oder „weil inzwischen die methodisierte Wissensentwicklung solche Fortschritte gemacht hat, dass das Beharren auf einer selbständigen, naturwüchsigen Krisenbewältigung nicht mehr ein genuiner Ausweis von Autonomie, sondern ein irrational-trotziges Verweigern von Lebenschancen wäre“ (Oevermann 2002, 27). • Der Klient fragt als Ausdruck seiner eigenen Autonomie selbst um Hilfe nach oder Dritte (z.B. Eltern, Vormund, gesetzliche Betreuer) fragen stellvertretend für ihn um Hilfe nach, da er aufgrund seiner Entwicklung (z.B. Kinder) oder einer Schädigung hierzu nicht eigenverantwortlich und selbständig in der Lage ist. • In Wahrnehmung dieser Stellvertretungsfunktion kommt beruflicher sozialer Arbeit gegenüber Alltagshandeln eine gesteigerte Begründungsverpflichtung sowie ein ggf. auch verschärfter Entscheidungszwang zu ( zum Bewährungsproblem von autonomer Lebenspraxis als Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung sowie zum Krisenbegriff vgl. weiter unten 7.1: Ein strukturtheoretisches Modell der Autonomie der Lebenspraxis). © Behindertenhilfe in Stadt und Kreis Offenbach e.V., Offenbach 2005 24

Vereinshandbuch Band 3 Stand 01.08.2012 Die Beziehungsebene • Auf der Beziehungsebene stellt sich berufliche soziale Arbeit als widersprüchliche Einheit diffuser und spezifischer Beziehungskomponenten dar (besondere personale Nähe bei fachlich geforderte Distanz). Das Arbeitsbündnis ist die fachliche Bezeichnung für diese besondere und besonders zu gestaltende Beziehungspraxis, d.h. für einen besonderen Beziehungstypus neben dem Typus rollenförmig-spezifischer und dem Typus diffus-familialer Beziehungen. • Bezüglich der Gleichzeitigkeit von Spezifität und Diffusität ist das Arbeitsbündnis symmetrisch. Bezüglich des Autonomieproblems, d.h. hinsichtlich des Hilfe- Unterstützungs- oder Erziehungsbedarfs ist das Arbeitsbündnis asymmetrisch, denn diese Asymmetrie ist ja gerade die Grundlage für das Zustandekommen des Arbeitsbündnisses. • Aufgrund des Autonomieproblems/ der Problemlage des Klienten/ Nutzers, d.h. aufgrund einer bestimmten Krisenkonstellation kommt es zu einer Vereinbarung, die die Erbringung der Hilfeleistung sowie beiderseitige Bedingungen und Voraussetzungen der Leistungserbringung regelt. Die hiermit eingerichtete soziale Beziehung ist grundsätzlich kündbar und die beteiligten Personen sind grundsätzlich austauschbar (rollenförmigspezifische Beziehungskomponente). • Alleine aufgrund des Handlungsproblems Hilfe- bzw. Unterstützungsbedürftigkeit des Klienten/ Nutzers kommt es zu einer strukturell erzwungenen praktischen Realisierung diffus-familialer Beziehungskomponenten, die situationsbedingt die Übertragung kindheitsbestimmter Haltungen und Konstellationen sowohl des Klienten/Nutzers als auch der Fachkraft fördern: • Der Klient/Nutzer wird aus seiner je besonderen Problemlage und Hilfebedürftigkeit heraus strukturell gezwungen, sich der Fachkraft in besonderer Weise anzuvertrauen, dabei nicht nur psychische, sondern ggf. auch körperliche Nähe zuzulassen oder auch zu suchen, ohne dass er die kompetente Verwirklichung des beruflichen Handelns der Fachkraft wirklich vollständig kontrollieren könnte (diffus-familiale Beziehungs-komonenet: besondere Formen der Vertrauensbildung). Diese besondere Situation im Innenraum einer spezifischen Rollenbeziehung ähnelt strukturell frühen Eltern-Kind-Beziehungen und fördert deshalb situationsbedingt die Aktualisierung und Übertragung kindheitsbestimmter Haltungen und Konstellationen des Klienten. • Die Fachkraft ihrerseits muss sich auf den Klienten als ganzen Menschen beziehen, will sie ihn nicht, schon im Ansatz inhuman, auf eine Problemlage, eine Krankheit, ein Verhaltensproblem, eine Behinderung, eine Entwicklungsstörung, einen Hilfebedarf usw. reduzieren. Hierfür muss sie sich von der Situation des Klienten anrühren lassen und sich in diesen einfühlen, sie muss, ähnlich der Gattenbeziehung oder der Beziehung der Eltern zu ihren Kindern, den anderen als ganze Person wahrnehmen, mitdenken und mitberücksichtigen (Vgl. Allert 1998, S. 227 ff). Damit wird in je unterschiedlichem Ausmaß strukturell gewissermaßen eine innerliche Verwirklichung diffus-familialer Beziehungselemente auch auf Seiten der Fachkräfte erzwungen. 25 © Behindertenhilfe in Stadt und Kreis Offenbach e.V., Offenbach 2005

<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.1.4 Das Arbeitsbündnis: Berufliche soziale Arbeit als besonderer<br />

Beziehungstypus und widersprüchliche Einheit einer Beziehungspraxis<br />

Autonomisierung durch stellvertretende Krisenbewältigung<br />

• Das Paradox beruflicher sozialer Arbeit besteht darin, dass sie durch einen zumindest<br />

partiellen Eingriff in die Autonomie ihres Klienten/Nutzers über Akte stellvertretenden<br />

Deutens, Entscheidens und ggf. auch Handelns dessen Autonomie wiederherstellen,<br />

sicher oder unterstützen und fördern soll, ohne durch diese Eingriffe die Klienten/Nutzer<br />

zusätzlich sekundär zu deautonomisieren (und hierin ist sie ja strukturähnlich<br />

den naturwüchsigen familialen Sozialisationsprozessen).<br />

• Diese Autonomiesierung ist nur möglich, wenn es der Fachkraft innerhalb des Arbeitsbündnisses<br />

gelingt, die autonomen Entwicklungs- und Selbstheilungskräfte des<br />

Klienten zu wecken und zu mobilisieren und erfolgreich und bindend in den Prozess<br />

der stellvertretenden Krisenbewältigung einzubeziehen i. S. e. Hilfe zur Selbsthilfe.<br />

• Berufliche soziale Arbeit kann hierbei als klientenbezogene stellvertretende Krisenbewältigung<br />

charakterisiert werden. Sie setzt ein, wenn die primäre Lebenspraxis in ihrer<br />

Krisenkonstellation zur selbständigen Krisenbewältigung überfordert ist, entweder,<br />

weil sie in ihrer Autonomie beschädigt oder entwicklungsbedingt noch eingeschränkt<br />

ist oder „weil inzwischen die methodisierte Wissensentwicklung solche Fortschritte<br />

gemacht hat, dass das Beharren auf einer selbständigen, naturwüchsigen Krisenbewältigung<br />

nicht mehr ein genuiner Ausweis von Autonomie, sondern ein irrational-trotziges<br />

Verweigern von Lebenschancen wäre“ (Oevermann 2002, 27).<br />

• Der Klient fragt als Ausdruck seiner eigenen Autonomie selbst um Hilfe nach oder<br />

Dritte (z.B. Eltern, Vormund, gesetzliche Betreuer) fragen stellvertretend für ihn um<br />

Hilfe nach, da er aufgrund seiner Entwicklung (z.B. Kinder) oder einer Schädigung<br />

hierzu nicht eigenverantwortlich und selbständig in der Lage ist.<br />

• In Wahrnehmung dieser Stellvertretungsfunktion kommt beruflicher sozialer Arbeit<br />

gegenüber Alltagshandeln eine gesteigerte Begründungsverpflichtung sowie ein ggf.<br />

auch verschärfter Entscheidungszwang zu ( zum Bewährungsproblem von autonomer<br />

Lebenspraxis als Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung<br />

sowie zum Krisenbegriff vgl. weiter unten 7.1: Ein strukturtheoretisches Modell der<br />

Autonomie der Lebenspraxis).<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 24

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