Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach
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<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />
Stand 01.08.2012<br />
Fam ilien-<br />
Entwicklungs-<br />
Aufgaben<br />
G em einsam es<br />
Handeln<br />
Fam ilien-<br />
Kom petenz<br />
Verbundenheit<br />
G egenseitigkeit<br />
Individuelle<br />
Entwicklungs-<br />
Aufgaben<br />
Individuelles<br />
Handeln<br />
Individuelle<br />
Kom petenz<br />
Zugestandene Autonom ie<br />
Metaentwicklungsaufgaben im Familienentwicklungsprozess<br />
Nicht immer führen jedoch familiär-gemeinschaftliches und individuelles Handeln zu einer problemlosen wechselseitigen<br />
Ergänzung. Im Wechselspiel von Individualität und Gemeinschaftlichkeit können sich vielmehr auch<br />
mehr oder minder schwerwiegende Konflikte ergeben. Die Folge ist, dass die im bisherigen Beziehungs-prozess<br />
des Familiensystems eingepegelte relative Balance von Verbundenheit und zugestandener Autonomie auf eine<br />
harte Probe gestellt wird und gegebenenfalls ein neues Austarieren dieser beiden Familiensystem-variablen erforderlich<br />
macht.<br />
Wynne (1985, p. 131f.) bezeichnet den hierfür erforderlichen Prozess als Gegenseitigkeit und meint, Gegenseitigkeit<br />
beginnt „mit dem Erkennen von Schwierigkeiten, die nicht im Rahmen des bisherigen Beziehungsmuster<br />
gelöst werden können, sondern vielmehr eine Umarbeitung derselben und manchmal einen Übergang zu<br />
neuen Mustern bedingen... Dies verlangt eine offene Bestandsaufnahme der vorhandenen Beziehungsqualität<br />
und der Umstände, die diese beeinflussen, z.B. Krankheit, Wachstum, Älterwerden der Familienmitglieder, Veränderungen<br />
im familiären Lebenszyklus, Engagement in anderen Systemen (Beruf, erweiterte Familie, Freunde<br />
usw.)“ Gegenseitigkeit gewinnt damit – neben Verbundenheit und zugestandener Autonomie – den Status einer<br />
dritten zentralen Metaentwicklungsaufgabe im Familienentwicklungsprozess.<br />
Neue Gegenseitigkeit kann sich abrupt oder als Konsequenz eines mehr oder minder langfristigen Aushandelns<br />
neuer Prioritäten im Sinne einer veränderten Balance von Verbundenheit und zugestandener Autonomie einstellen.<br />
Auch die Beendigung des bisherigen Beziehungssystems (z.B. bei einer Scheidung) führt zu einem neuen<br />
Arrangement von Gegenseitigkeit, was sich – wenn auch nicht selten mit erheblichen Schwierigkeiten – auf<br />
lange Dauer in geringer Verbundenheit und größerer zugestandener Autonomie äußert.<br />
Im Hinblick auf die in Abschnitt 3 dargestellte These, wonach in unserem Kulturbereich gesellschaftlicher Wandel<br />
zu einer Optionserweiterung der menschlichen Lebensgestaltung geführt hat, die sich auch im partnerschaftlichen<br />
und familiären Bereich äußert, gewinnt das Aushandeln von Gegenseitigkeit im Sinne eines Austarierens<br />
von Verbundenheit und zugestandener Autonomie für die Entwicklung familiärer Beziehungs-systeme<br />
besondere Bedeutung. Hierzu stehen der familienentwicklungspsychologischen Forschung und Anwendungspraxis<br />
zwei strategisch unterschiedliche Zugangsweisen offen: zum einen ein nicht-interventiver Ansatz, in dem<br />
durch eine längsschnittliche Begleitung von Familiensystemen die Veränderungen in der Balance von Verbundenheit<br />
und zugestandener Autonomie für die Persönlichkeitsentwicklung der einzelnen Familien-mitglieder<br />
erkennbar gemacht werden; zum anderen ein interventiver Ansatz bei dem es darum geht, auf dem Wege wissenschaftlich<br />
kontrollierter Prävention, Beratung und Therapie die Familie als Ganzes, einzelne Subsysteme oder<br />
auch einzelne Familienmitglieder in ihrem Bemühen um neue Formen von Gegenseitigkeit zu unterstützen. Für<br />
beide strategische Zugangsweisen kann das in Abschnitt 2 dargestellte Familiensystemmodell mit entwicklungsbezogenen<br />
Stressoren und Ressourcen ein theoretischer Orientierungsrahmen sein, der für die Forschung wie für<br />
die Anwendungspraxis gleichermaßen hilfreich ist.<br />
© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 5