11.08.2013 Aufrufe

Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach

Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach

Vereinshandbuch Band 3 Kapitel 1 - Behindertenhilfe Offenbach

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

WIR BEGLEITEN LEBENSWEGE<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005<br />

DAS VEREINSHANDBUCH<br />

Die Rahmenkonzeption<br />

der Dienste und Einrichtungen<br />

des Vereins<br />

BAND 3


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

I N H A L T S V E R Z E I C H N I S<br />

3 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005<br />

<strong>Vereinshandbuch</strong><br />

<strong>Band</strong> 3 Seite<br />

Vorwort 11<br />

1. Wir begleiten Lebenswege: 13<br />

Herausforderungen in den Handlungsfeldern beruflich sozialer Arbeit<br />

1.1 Grundlegende Handlungsprobleme und Handlungslogik beruflicher 13<br />

sozialer Arbeit<br />

1.1.1 Einleitung 13<br />

1.1.2 Berufliche soziale Arbeit und zugrundeliegende gesellschaftliche 15<br />

Problembereiche<br />

1.1.3 Rollenförmig-spezifische und diffus-familiale soziale Beziehungen 16<br />

1.1.4 Das Arbeitsbündnis: Berufliche soziale Arbeit als besonderer 24<br />

Beziehungstypus und als widersprüchliche Einheit einer<br />

Beziehungspraxis<br />

1.1.5 Fallverstehen und Hilfen im Fallverstehen 36<br />

1.2. Zum Begriff der Professionalisierung 38<br />

1.2.1 Das Professionalisierungserfordernis beruflicher sozialer Arbeit 38<br />

1.2.2 Typische Spannungspole und Vereinseitigungsgefahren beruflicher 40<br />

sozialer Arbeit<br />

1.3. Die Einbettung von Arbeitsbündnissen 44<br />

1.3.1 Das klientenbezogene Arbeitsbündnis und seine mögliche Einbettung 44<br />

in ein Arbeitsbündnis mit Eltern oder gesetzlichen Betreuern<br />

1.3.2 Das klientenbezogene Arbeitsbündnis und seine mögliche Einbettung 47<br />

in ein Arbeitsbündnis mit einer Klientengruppe<br />

1.3.3 Arbeitsbündnis und Kooperation der Fachkräfte beruflicher sozialer 47<br />

Arbeit untereinander<br />

1.4. Eine phasenbezogene Betrachtungsweise von Arbeitsbündnissen 49<br />

1.5. Das Arbeitsbündnis und seine soziale Rahmung 50<br />

1.5.1 Grundbestimmungen von Rahmen und Rahmenarbeit 50<br />

1.5.2 Elemente und Funktionen des Rahmens 50<br />

1.5.3 Diagnostisches Arbeitsbündnis und Einrichtung von Arbeitsbündnissen 52<br />

1.5.4 Prozess und Funktionen individueller Hilfeplanung 54


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.6 Aspekte der Leiter/innen-Mitarbeiter/innen-Beziehungen, ihrer 57<br />

sozialen Rahmung und ihrer Bedeutung für das Arbeitsbündnis<br />

1.7 Das Arbeitsbündnis und die Autonomie der Lebenspraxis 61<br />

1.7.1 Ein strukturtheoretisches Modell der Autonomie der Lebenspraxis 61<br />

1.7.2 Autonomieentwicklung, lebenszyklische Entwicklungsaufgaben und 69<br />

kritische Lebensereignisse<br />

1.7.3 Die Dimensionen des Kohärenzgefühls im salutogenetischen Ansatz 73<br />

als Bedingungen der Möglichkeit autonomer Lebenspraxis<br />

1.7.4 Zur Bedeutung erzählter Lebensgeschichte für die Lebenspraxis und 75<br />

für die Praxis beruflicher sozialer Arbeit<br />

1.7.5 Sozialer Wandel, Enttraditionalisierung und Auswirkungen auf die 77<br />

Lebenspraxis<br />

1.8 Resümee: Das Arbeitsbündnis als zentrales berufsübergreifendes 78<br />

Wesensmerkmal beruflicher sozialer Arbeit im Focus von Therapie<br />

1.9 Die Evaluation beruflicher sozialer Arbeit im Focus des Arbeitsbünd- 80<br />

nisses als Möglichkeit einer Qualitätsbeurteilung nach internen Kriterien<br />

beruflicher sozialer Arbeit<br />

1.10 Zur Problematik der Bewertung von Ergebnissen im Bereich 84<br />

beruflicher sozialer Arbeit<br />

1.10.1 Die Ermittlung von Zufriedenheitsurteilen der Klienten 84<br />

1.10.2 Vorher-nachher-Vergleich 84<br />

1.10.3 Die indirekte Bewertung der Ergebnisqualität beruflicher sozialer 86<br />

Arbeit über die Bewertung der Qualität ihrer Abläufe und Strukturen<br />

im Focus des Arbeitsbündnisses<br />

1.11 Aktuelle gesellschaftliche Rahmenbedingungen und 86<br />

Entwicklungstendenzen beruflicher sozialer Arbeit<br />

1.11.1 Veränderungen und Tendenzen in Leistungsverwaltung und 86<br />

Sozialrecht<br />

1.11.2 Grenzen der Ausweitung des psychosozialen Hilfesystems und seine 88<br />

immanenten Ambivalenzen<br />

1.11.3 Selektive Professionalisierung und Laisierung 88<br />

1.11.4 Das zunehmende öffentliche Interesse am ehrenamtlichen und 89<br />

bürgerschaftlichen Engagement und die Notwendigkeit einer Standortbestimmung<br />

beruflicher sozialer Arbeit<br />

1.11.5 Das Verhältnis von Pflege und Eingliederungshilfe/Pädagogik 91<br />

1.11.6 Inklusion als Leitkategorie beruflicher sozialer Arbeit 98<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 4


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Anhang <strong>Kapitel</strong> 1<br />

1. Das Stadien- und Krisenmodell des Lebenslaufes nach Erikson<br />

1. Systematisierung von Entwicklungsaufgaben nach Havighurst<br />

3. Systematisierung von Entwicklungsaufgaben nach ihrem zeitlichen Umfang nach Oerter<br />

4. Die Stadien des Familienzyklus und Familienentwicklungsaufgaben<br />

nach Carter/McGoldrick<br />

5. Metaentwicklungsaufgaben im Familienentwicklungsprozess nach Schneewind<br />

6. Aufgabenbereiche in der frühen Entwicklung nach Waters & Sroufe<br />

7. Arbeitshilfe Esofab<br />

5 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

2. Grundlegende Themen, Fragestellungen und<br />

Regelungsbereiche in den Arbeitsbereichen der Dienste<br />

und Einrichtungen des Vereins<br />

2.1. Die Arbeitsbereiche für Kinder und Jugendliche<br />

2.1.1 Die Entwicklung und Entfaltung von Autonomie in der biographischen<br />

Entwicklung<br />

2.1.2 Die eingeschränkte Autonomieentfaltung der Kinder und Jugendlichen<br />

mit Behinderung und das Prinzip der Stellvertretung<br />

2.1.3 Lebensfelder und -bedingungen der Kinder und Jugendlichen mit<br />

Behinderung im Spannungsfeld von Autonomie und Stellvertretender<br />

Krisenbewältigung<br />

2.1.4 Begleitung, Unterstützung und Therapie von Kindern mit Behinderung<br />

als berufliches Handeln im Feld sozialer Arbeit der Frühförder-<br />

und Frühberatungsstelle des Vereins und die spezifischen Heraus-<br />

forderungen im Arbeitsbündnis<br />

2.1.5 Gemeinsame Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern mit und<br />

ohne Behinderung als berufliches Handeln im Feld sozialer Arbeit<br />

der Kindertagesstätten des Vereins und die spezifischen Heraus-<br />

forderungen im Arbeitsbündnis<br />

2.1.6 Begleitung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit<br />

Behinderung als berufliches Handeln im Feld sozialer Arbeit der<br />

Schulsozialarbeit des Vereins und die spezifischen Herausforderungen<br />

im Arbeitsbündnis<br />

2.1.7 Begleitung und Unterstützung von Kinder und Jugendlichen mit<br />

Behinderung als berufliches Handeln im Feld sozialer Arbeit des<br />

Ambulanten Dienstes des Vereins mit den Leistungsbereichen<br />

Familienunterstützung und Schulassistenz und die spezifischen<br />

Herausforderungen im Arbeitsbündnis<br />

2.2 Die Arbeitsbereiche für erwachsene Menschen mit geistiger oder<br />

mehrfacher Behinderung<br />

2.2.1 Die Entwicklung und Entfaltung von Autonomie in der biographischen Entwicklung<br />

2.2.2 Die eingeschränkte Autonomieentfaltung des erwachsenen Menschen<br />

mit Behinderung und das Prinzip der Stellvertretung<br />

2.2.3 Lebensfelder und -bedingungen erwachsener Menschen mit<br />

Behinderung im Spannungsfeld von Autonomie und Stellvertretender<br />

Krisenbewältigung<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 6


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

2.2.4 Begleitung und Unterstützung von erwachsenen Menschen mit<br />

Behinderung als berufliches Handeln im Feld sozialer Arbeit in den<br />

Wohnverbünden des Vereins und die spezifischen Herausforderungen<br />

im Arbeitsbündnis<br />

2.2.5 Begleitung und Unterstützung von erwachsenen Menschen mit<br />

Behinderung als berufliches Handeln im Feld sozialer Arbeit des<br />

Ambulanten Dienstes mit dem Leistungsbereich Familienunter-<br />

stützung und die spezifischen Herausforderungen im Arbeitsbündnis<br />

2.2.6 Interdisziplinarität und Multiprofessionalität als Voraussetzung einer<br />

angemessenen, ganzheitlichen und komplexen Begleitung von<br />

erwachsenen Menschen mit Behinderung<br />

2.3 Die Arbeitsbereiche für erwachsene Menschen mit körperlicher<br />

Behinderung<br />

2.3.1 Hinführung und Zielsetzung<br />

2.3.2 Verstehensweise von körperlicher Behinderung aus verschiedenen<br />

Perspektiven<br />

2.3.2.1 Die sozialrechtliche Definition im Überblick<br />

2.3.2.2 Körperliche Behinderung aus Sicht der ICF<br />

2.3.2.3 Das inhaltliche Grundkonzept der ICF<br />

2.3.3 Die Formen der Krankheiten/Gesundheitsstörungen im Kontext<br />

einer Körperbehinderung aus medizinischer Sicht<br />

2.3.4 Einschränkungen der Aktivitäten und der Partipation<br />

2.3.4.1 Direkte/unmittelbare Aktivitätseinschränkungen<br />

2.3.4.2 Partizipationseinschränkungen durch erschwerte Selbstfindung in<br />

sozialer Interaktion<br />

2.3.4.3 Fortgang der Überlegungen und Klärungen<br />

2.3.5 Selbsthilfeorganisationen der Betroffenen<br />

„Nichts über uns ohne uns“<br />

2.3.6 Die aktuellen politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen und<br />

ihre konkrete Relevanz für das System der Hilfen<br />

2.3.7 Das bisher entwickelte Hilfesystem für erwachsene Menschen mit<br />

körperlicher Behinderung und seine Auswirkung auf die Neuorien-<br />

tierung für das berufliche/professionelle Handeln<br />

7 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

2.3.8. Begleitung und Unterstützung von erwachsenen Menschen mit<br />

körperlicher Behinderung als berufliches Handeln im Feld<br />

sozialer Arbeit des Ambulanten Dienstes in den Leistungs-<br />

bereichen Assistenz und Pflege sowie Betreutes Wohnen<br />

2.3.8.1 Zum gegenwärtigen Stand des Unterstützungsangebotes des<br />

Vereins für erwachsene Menschen mit einer körperlichen<br />

Behinderung<br />

- ein Überblick<br />

2.3.8.2 Regelungsbereiche und –aufgaben hinsichtlich der aktuellen<br />

Angebote<br />

des Vereins<br />

2.3.8.3 Perspektiven zukünftiger Angebotsmodule<br />

2.3.9 Literaturangaben<br />

2.4. Die Arbeitsbereiche für Menschen mit Autismus<br />

2.4.1 Die eingeschränkte Autonomieentwicklung der Menschen mit<br />

Autismus und das Prinzip der Stellvertretung<br />

2.4.2 Lebensfelder und -bedingungen der Menschen mit Autismus im<br />

Spannungsfeld von Autonomie und Stellvertretender Krisenbewältigung<br />

2.4.3 Begleitung und Therapie von erwachsenen Menschen mit<br />

Behinderung<br />

als berufliches Handeln im Feld sozialer Arbeit des Autismus<br />

Therapieinstitutes und die spezifischen Herausforderungen im<br />

Arbeitsbündnis<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 8


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

3. Geschichte, Entwicklungsstand, Rahmenbedingungen und<br />

Perspektiven der Dienste und Einrichtungen des Vereins<br />

3.1 Frühförderung und Kindertagesstätten<br />

3.1.1 Allgemeine historische Entwicklung, aktuelle Situation und Herausforderungen<br />

sowie Perspektiven im Bereich Frühförderung/Kindertagesstätten<br />

3.1.1.1 Historische Entwicklung der Vorschulerziehung in Kindertagesstätten<br />

3.1.1.2 Exkurs: Die Geschichte der Integration, insbesondere im Elementarbereich<br />

3.1.2 Geschichte und Entwicklungsstand von Frühförderung und<br />

Kindertagesstätten des Vereins<br />

3.1.2.1 Kindertagesstätte Tabaluga<br />

3.1.2.2 Kindertagesstätte Martin-Luther-Park<br />

3.1.2.3 Ambulanter Sprachheildienst<br />

3.1.2.4 Frühförder- und Frühberatungsstelle – Die Geschichte<br />

3.2 Schulsozialarbeit<br />

3.3 Autismus-Therapieinstitut<br />

3.3.1 Geschichte und Entwicklungsstand des Autismus-Therapieinstituts<br />

3.4 Ambulanter Dienst<br />

3.5 Wohnen (Koordinationsstelle, Wohneinrichtungen, Betreutes Wohnen)<br />

3.5.1 Allgemeine historische Entwicklungen, aktuelle Situation und Herausforderungen<br />

sowie Perspektiven im Arbeitsfeld Wohnen für erwachsene<br />

Menschen mit Behinderung<br />

3.5.2 Geschichte und Entwicklungsstand des Vereins <strong>Behindertenhilfe</strong> im<br />

Arbeitsfeld „Wohnen“<br />

3.6 Sozialen Wandel als Chance nutzen: Das Bewährte weiterentwickeln,<br />

Neues integrieren<br />

- Perspektiven, Strategien und Anforderungen an die Weiterentwicklung<br />

der Angebote des Vereins im Jahr 2010<br />

Anhang <strong>Band</strong> 3<br />

1. Thematisch gegliedertes Literaturverzeichnis<br />

9 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 10


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

11 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005<br />

Vorwort<br />

Die Rahmenkonzeptionen der Betriebseinheiten des Vereins <strong>Behindertenhilfe</strong> bilden einen<br />

fachlichen Brückenschlag zwischen den Leitlinien des Vereins und den Konzeptionen der<br />

einzelnen Dienste und Einrichtungen. Ihr Schwergewicht liegt auf einer fachlichen Fundierung<br />

der Konzeptionen und der praktischen nutzerbezogenen sozialen Arbeit.<br />

Demgegenüber formulieren <strong>Band</strong> 1 und <strong>Band</strong> 2 des <strong>Vereinshandbuch</strong>es auf der Grundlage<br />

von Leitlinien und Satzung übergreifende Wertentscheidungen, Rahmenbedingungen und<br />

Regelungen für die Zweckbetriebe des Vereins als soziale Organisationen, innerhalb und<br />

vermittels deren die Leistungen für die Nutzer erbracht werden.<br />

Die Rahmenkonzeptionen tragen auch der Tatsache Rechnung, dass die Entwicklung innovativer<br />

Maßnahmen und Projekte sowie die Entwicklung und Fortschreibung von Einzelkonzeptionen<br />

zunehmend nur noch in wechselseitiger Koordination und Vernetzung nach innen und<br />

außen sinnvoll gedacht und praktisch realisiert werden kann. Die Rahmen-konzeptionen liefern<br />

hierfür einen orientierenden und das gemeinsame Selbstverständnis konkretisierenden<br />

Rahmen.<br />

Den Rahmenkonzeptionen kommen im einzelnen folgende Funktionen zu:<br />

• Sie konkretisieren die Leitlinien im Sinne eines wertemäßigen, sozialpolitischen und fachlichen<br />

Selbstverständnisses der Betriebseinheiten und übernehmen damit eine geistige Integrationsfunktion.<br />

• Die Rahmenkonzeptionen stellen als Konkretisierungen der handlungsleitenden Prinzipien<br />

der Leitlinien in den je besonderen Praxisfeldern eine Grundlage für die Formulierung von<br />

Qualitätsstandards und Erfolgskriterien dar. Sie besitzen eine qualitätssichernde Funktion.<br />

• Sie konkretisieren die Leitlinien des Vereins im Hinblick auf die typischen und grundlegenden<br />

Handlungserfordernisse in den Praxisfeldern der Betriebseinheiten und berücksichtigen<br />

dabei die historisch-aktuellen Tendenzen und Gegebenheiten. Den Rahmenkonzeptionen<br />

kommt damit eine richtungsweisende und rahmengebende Orientierungsfunktion<br />

für die weiteren Entwicklungen und Planungen zu.<br />

• Die Rahmenkonzeptionen bieten den Mitarbeiter/innen Interpretations- und Entscheidungshilfen<br />

an und können zur Selbstkontrolle der Arbeit beitragen. Insbesondere<br />

diese Funktion setzt Information und Aneignung durch die Mitarbeiter/innen sowie deren<br />

Einbeziehung bei Entwurfsdiskussion sowie ggf. Fortschreibung der Rahmenkonzeptionen<br />

voraus.<br />

• Die Rahmenkonzeptionen stellen ein wichtiges Instrument der Selbstdarstellung dar und<br />

dienen zugleich der fachlichen Information der Öffentlichkeit.


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• Die Rahmenkonzeptionen versuchen als Instrumente der Organisationsentwicklung<br />

diese fachlich zu fundieren und zu unterstützen und sind zugleich als Elemente dieses<br />

Prozesses weiterzuentwickeln und fortzuschreiben.<br />

Der Teil 1 der Rahmenkonzeption wurde i. S. e. übergreifenden gemeinsamen fachlichen<br />

Fundierung in der Gesamtbetriebsleitung erarbeitet, diskutiert und für die Betriebseinheiten<br />

einheitlich formuliert. Er wurde in verschiedenen Veranstaltungen, z.T. einrichtungs- und<br />

dienstübergreifend den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorgestellt, mit ihnen gemeinsam<br />

diskutiert, fachlich-kritische Rückmeldungen und Anmerkungen fanden Berücksichtigung.<br />

Die beiden besonderen Teile 2 und 3 der Rahmenkonzeption beziehen sich aus schwerpunktmäßig<br />

fachlicher Perspektive auf die besonderen Gegebenheiten der jeweiligen Betriebseinheit<br />

und wurden innerhalb der jeweiligen Betriebseinheit erarbeitet und formuliert.<br />

Im Teil 2 geht es jeweils in einem ersten Abschnitt um grundlegende gemeinsame Themen,<br />

Fragestellungen und Regelungsbereiche der jeweiligen Dienste und Einrichtungen. Zum anderen<br />

geht es jeweils im Teil 3 um Geschichte, Entwicklungsstand, Rahmenbedingungen und<br />

Perspektiven der Dienste und Einrichtungen der jeweiligen Betriebseinheit.<br />

Der Teil 2.1 ist als offene „Bausteinreihe“ angelegt. Hier können in einem offenen Prozess<br />

Beiträge aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu den entsprechenden thematisch gegliederten<br />

Bausteinreihen aufgenommen werden. Dies setzt dann jeweils eine Prüfung und Freigabe<br />

durch die Betriebsleitung voraus.<br />

Der Teil 1 der Rahmenkonzeption wurde von der GBL am 18.11.2005 in Kraft gesetzt. Die<br />

einzelnen <strong>Kapitel</strong> der Teile 2 und 3 treten jeweils nach Fertigstellung und Einfügung in das<br />

<strong>Vereinshandbuch</strong> in Kraft.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 12


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1. Wir begleiten Lebenswege: Herausforderungen in den<br />

Handlungsfeldern beruflicher sozialer Arbeit<br />

1.1 Grundlegende Handlungsprobleme und Handlungslogik beruflicher sozialer<br />

Arbeit<br />

1.1.1 Einleitung<br />

In den Leitlinien des Vereins <strong>Behindertenhilfe</strong> werden als Grundlage aller beruflichen sozialen<br />

Arbeit sowohl Fachkompetenz als auch die personale Begegnung und Beziehungsgestaltung<br />

herausgestellt.<br />

Berufliches Handeln in der sozialen Arbeit vollzieht sich aus dieser Sichtweise notwendig in<br />

einem Spannungsverhältnis von entstehender personaler Nähe und geforderter beruflicher<br />

Distanz.<br />

Die in den verschiedenen Feldern beruflicher sozialer Arbeit tätigen Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter stehen zugleich in einem Spannungsverhältnis zwischen der Vertretung der Interessen<br />

der Nutzerinnen und Nutzer einerseits und Erwartungen, Wertorientierungen und Interessen<br />

der Gesellschaft andererseits (vgl. <strong>Vereinshandbuch</strong> Bd. 1, Leitlinien).<br />

Diese zentralen Merkmale und Herausforderungen beruflicher sozialer Arbeit werden in älteren,<br />

vor allem funktionalistisch orientierten Ansätzen sowie im neueren system-theoretischen<br />

und im neueren strukturtheoretischen Ansatz einer soziologischen Professionalisierungstheorie<br />

in unterschiedlicher Deutlichkeit herausgestellt. (1)<br />

Sie können in Orientierung am strukturtheoretischen Ansatz, d.h. einer strukturtheoretischen<br />

Professionalisierungstheorie, als grundlegende Bestimmungen nicht nur bestimmter akademischer<br />

Berufe, sondern grundsätzlich aller Formen beruflicher sozialer Arbeit im Focus von<br />

Therapie (Therapie, Erziehung, Sozialisation, Pflege, institutionalisierte Hilfe) angesehen<br />

werden (Oevermann 1997).<br />

______________________________<br />

(1) Vgl. hierzu auch die thematisch gegliederte Literaturliste zum Allgemeinen Teil der Rahmenkonzeptionen der Betriebseinheiten<br />

I und II.<br />

13 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Aus diesem Grund wird in einem ersten Schritt gerade der Ansatz einer strukturtheoretischen<br />

Professionalisierungstheorie herangezogen, um vor allem auf der Mikroebene sozialer Beziehungen<br />

die Besonderheiten beruflicher sozialer Arbeit noch genauer und differenzierter zu<br />

bestimmen und um dabei auch deren Rückbezüge zum gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang<br />

sowie zu naturwüchsigen familialen Sozialisationsprozessen deutlich werden zu lassen.<br />

(2)<br />

Einen weiteren thematischen Schwerpunkt bildet die Frage nach einer angemessenen Vorstellung<br />

der Lebenspraxis und ihrer Autonomie, die zu respektieren, zu fördern und zu unterstützen<br />

ja die zentrale Aufgabe beruflicher sozialer Arbeit darstellt. Hierzu wird ein der strukturtheoretischen<br />

Professionalisierungstheorie korrespondierendes strukturtheoretisches Modell<br />

der Autonomie der Lebenspraxis herangezogen. (3)<br />

Schließlich geht es im Lichte einer strukturtheoretisch-professionalisierungstheoretische orientierten<br />

Sichtweise um die Besonderheiten beruflicher sozialer Arbeit unter den Gesichtspunkten<br />

von phasenbezogener Betrachtungsweise, sozialer Rahmung und Hilfeplanung, LeiterInnen-MitarbeiterInnen-Beziehungen<br />

sowie Evaluation.<br />

Abschließend werden die aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Entwicklungstendenzen<br />

beruflicher sozialer Arbeit im Sinne einer selbstreflexiven Fachlichkeit näher<br />

in den Blick genommen.<br />

______________________________<br />

(2) Der spezifische Ansatz einer strukturtheoretischen Professionalisierungstheorie ist von U. Oevermann in die sozialwissenschaftliche<br />

Diskussion eingeführt und weiterentwickelt worden. Die hier vorgenommene Darstellung dieses komplexen<br />

Ansatzes fasst in enger Anlehnung an den Text der explizit professionalisierungstheoretischen Schriften von 1978, 1997,<br />

2000a, 2001 und 2002 zentrale Aussagen und Zusammenhänge in thesenhafter Form zusammen, um ihn i. R. v. fachlichen<br />

und konzeptionellen Diskussionsprozessen verfügbar zu machen. Diese thesenhaften Zusammenfassungen sind<br />

im Text jeweils durch schwarz ausgefüllte Spiegelstriche kenntlich gemacht. Weiterführungen, Modifikationen und Explikationen<br />

strukturtheoretischer Oevermannscher Argumente werden dagegen mit nicht schwarz ausgefüllten Spiegelstrichen<br />

gekennzeichnet. Auf die Angabe jeweiliger Belegstellen aus den angeführten professionalisierungs-theoretischen<br />

Schriften wird aus Gründen der Darstellung und Lesbarkeit verzichtet. Eingearbeitete Bezüge zu anderen Oevermannschen<br />

Schriften sowie Zitate oder der Verweis auf andere Autoren erfolgen dagegen mit entsprechender Quellenangabe.<br />

(3) Die thesenhafte Darstellung des von U. Oevermann vorgeschlagenen strukturtheoretischen Modells der Autonomie<br />

der Lebenspraxis erfolgt in gleicher Weise wie die des professionalisierungstheoretischen Ansatzes. Bezug sind<br />

hierbei U. Oevermann 1995, 1997 c, 2001 a.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 14


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.1.2 Berufliche soziale Arbeit und zugrundeliegende gesellschaftliche Problembereiche<br />

• Die besondere Handlungslogik beruflicher sozialer Arbeit kann aus der besonderen<br />

Art dreier zentraler gesellschaftlicher Problembereiche erklärt werden, die ihr zugrunde<br />

liegen und die sie in ihren verschiedenen Praxisfeldern zu bearbeiten hat. Diese<br />

drei zentralen gesellschaftlichen Problembereiche, die zugleich individuelle wie gesellschaft-liche<br />

Dauerprobleme darstellen, sind der Bereich der Therapiebeschaffung,<br />

der Bereich der Konsensbeschaffung sowie der Bereich der Wahrheitsbeschaffung.<br />

• Im Bereich der Therapiebeschaffung geht es um Therapie in einem umfassenden Sinne:<br />

Es handelt sich um die Bereitstellung therapeutischer und prophylaktischtherapeutischer,<br />

d.h. sozialisatorisch-erzieherischer Leistungen zur Wiederherstellung<br />

bzw. Herstellung einer körperlichen und psychosozialen Integrität (Gesundheit in einem<br />

umfassenden Sinne) oder auch zur Sicherung und Unterstützung eingeschränkter<br />

Integrität (z.B. im Bereich von Pflege und Betreuung). Dies geschieht in Orientierung<br />

an einem jeweils geltenden Entwurf von menschlicher Würde.<br />

• Im Bereich der Konsensbeschaffung geht es um die Aufrechterhaltung und Gewährleistung<br />

einer kollektiven Praxis von Recht und Gerechtigkeit bei immer möglichen<br />

Verletzungen und Geltungskrisen der normativen Ordnung. Dies geschieht in Orientierung<br />

an einem jeweils geltenden Entwurf von Gerechtigkeit.<br />

• Im Bereich der Wahrheitsbeschaffung geht es um die kritische Prüfung von Wahrheitsbehauptungen.<br />

In entwickelten Gesellschaften geschieht dies durch die universitären<br />

Wissenschaften in Orientierung an einer prozesshaft-regulativen Idee<br />

von Wahrheit, d.h. unter Verzicht auf substanzialistische Vorstellungen von Wahrheit.<br />

• In entwickelten Gesellschaften erfolgt eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung<br />

bestimmter Berufe und Berufsbereiche zur Bearbeitung dieser drei Problembereiche,<br />

wobei die verschiedenen beruflichen Praxisformen sich schwerpunktmäßig auf einen<br />

Bereich beziehen, die anderen Problembereiche aber in unterschiedlichem Mischungsverhältnis<br />

und Gewichtung mitzubearbeiten sind.<br />

Im folgenden werden i. S. e. gegenstandsbezogenen Eingrenzung und Präzisierung unter beruflicher<br />

sozialer Arbeit im engeren Sinne alle Tätigkeiten im Focus von Therapie verstanden,<br />

d.h. alle therapeutischen und im weiteren Sinne prophylaktisch-therapeutischen Tätigkeiten,<br />

die es mit Erziehung, Sozialisation, Pflege und institutionalisierten Hilfen zu tun haben.<br />

15 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Zentrale, zugleich individuelle<br />

und gesellschaftliche Problembereiche:<br />

Therapiebeschaffung<br />

Konsensbeschaffung<br />

Wahrheitsbeschaffung<br />

Abb.1: Historische Ausdifferenzierung beruflicher Praxisfelder<br />

Historische Ausdifferenzierung<br />

beruflicher Praxisfelder:<br />

Berufliche Tätigkeiten aus den<br />

Bereichen Therapie, Erziehung,<br />

Sozialisation, Pflege und institutionalisierter<br />

Hilfe<br />

(berufliche soziale Arbeit im<br />

engeren Sinne)<br />

Berufliche Tätigkeiten aus dem<br />

Bereich rechtspflegerischen<br />

Handelns<br />

Berufliche Tätigkeiten aus dem<br />

Bereich universitärwissenschaftlichen<br />

Handelns<br />

1.1.3 Rollenförmig-spezifische und diffus-familiale soziale Beziehungen<br />

Die Gleichzeitigkeit rollenförmig-spezifischer und diffus-familialer Beziehungskomponenten<br />

• Ein zentrales Strukturmerkmal beruflicher sozialer Tätigkeit ist die Gleichzeitigkeit<br />

diffuser, quasi-familialer Beziehungskomponenten und rollenförmig-spezifischer Beziehungskomponenten,<br />

die in einem klientenbezogenen Arbeitsbündnis als einem eigenen<br />

Typus sozialer Beziehungen angemessen zu handhaben und zu gestalten sind.<br />

Dieses Strukturmerkmal kommt in dem für berufliches soziales Handeln typischen<br />

Spannungsverhältnis von besonderer personaler Nähe (diffuse Beziehungskomponente)<br />

und beruflich geforderter Distanz (rollenförmig-spezifische Beziehungskomponente)<br />

zum Ausdruck.<br />

• Ein genaueres Verständnis beruflicher sozialer Arbeit i. S. e. Gleichzeitigkeit diffuser<br />

und spezifischer Beziehungskomponenten setzt eine genauere Charakterisierung und<br />

Abgrenzung von rollenförmig-spezifischen gegenüber diffus-familialen Beziehungen<br />

voraus.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 16


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Rollenförmig-spezifische soziale Beziehungen<br />

• Rollenförmige Beziehungen sind durch aufeinander bezogene Rollendefinitionen gekennzeichnet.<br />

In diesen Rollendefinitionen sind institutionalisierte Verhaltens-erwartungen<br />

festgelegt und damit auch die Themen, die in dieser Beziehung möglich<br />

oder gerade nicht möglich sind. Dabei erfordert Rollenhandeln ein jeweiliges „role-<br />

taking“ (Rollenübernahme) und ein „role-making“ (Ausgestaltung der Rolle).<br />

• In rollenförmigen Beziehungen beziehen sich die Menschen nicht „diffus“ als ganze Menschen<br />

aufeinander, sondern als soziale Rollenträger, d.h. eben nur hinsichtlich spezifischer<br />

Rollendefinitionen. Es herrscht die „Bedingung der Austauschbarkeit des Personals“:<br />

Rollenförmig–spezifische Sozialbeziehungen behalten ihre strukturelle Identität<br />

auch dann, wenn das konkrete Personal wechselt. Damit unterscheiden sie<br />

sich deutlich von diffus-familialen Sozialbeziehungen (Gattenbeziehung und Eltern-Kind<br />

Beziehung), deren jeweils besondere und an besondere konkrete Personen gebundene Praxis<br />

beendet ist, wenn eine der sie bildenden Personen nicht mehr vorhanden ist<br />

(Bedingung der Nicht-Austauschbarkeit des Personals.)<br />

• Dennoch scheint durch die Rolle auch der ganze Mensch hindurch, der sie ja übernehmen<br />

und ausgestalten muss. Hierdurch erhalten Rollenbeziehungen eine mehr oder weniger<br />

ausgeprägte personale Einfärbung, entsprechend sind im Rollenhandeln auch soziale und<br />

personale Identität auszubalancieren und zur Darstellung zu bringen (vgl. Krappmann<br />

1971).<br />

• Im primären familialen Sozialisationssystem eignen sich die Subjekte die elementaren<br />

Strukturen der Sozialität an, hier erfahren sie ihre soziale Geburt. Hier erwerben sie diejenigen<br />

Grundqualifikationen und Grundprägungen sozialer Handlungs- und Beziehungsfähigkeit,<br />

die als Grundlage erwachsenen Rollenhandelns und einer autonomen eigenverantwortlichen<br />

Existenz immer vorhanden sind und erhalten bleiben.<br />

• In diesem Zusammenhang liegt letztlich die Universalität von sogenannten Übertragungsprozessen<br />

begründet, d.h. die Art und Weise, in der sich diese soziale Geburt des<br />

Subjektes im primären Sozialisationssystem vollzog, formt und motiviert seine späteren<br />

Beziehungen als sozialer Rollenträger (transfamiliäre Übertragung) sowie seine späteren<br />

rollenfreien familialen Beziehungen (familiäre Übertragungen) unbewusst mit und gibt<br />

ihnen eine bestimmte affektive Tönung (Vgl. Oevermann 1993, Stierlin 1976, Wolf<br />

2000).<br />

• Übertragungsprozesse sind damit als grundlegende soziale Tatsache in sozialen Beziehungen<br />

in zweifacher Hinsicht zu unterscheiden: Zum einen in einem nichtpathologischen<br />

Sinne als grundsätzlich nicht unangemessenes und überall vorkommendes<br />

psychisches und psychosoziales Geschehen i. S. e. Verbindung (vgl. Wolf 2000). Zum<br />

anderen in einem pathologischen Sinne als Reproduktion und Übertragung kindheitsbestimmter<br />

psychischer und psychosozialer Strukturen in einem hierfür unangemessenen aktuellen<br />

Kontext.<br />

17 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• Pathologische Übertragungsprozesse in rollenförmig-spezifischen Beziehungen: Befindet<br />

sich ein Subjekt als Rollenträger in einem konfliktträchtigen Beziehungsfeld und kann die<br />

Konflikte jedoch nicht mit den vorgesehenen Mitteln des Rollenhandelns rational bearbeiten<br />

und bewältigen, so greift es gewissermaßen hilfsweise auf Haltungen und Konstellationen<br />

aus dem primären Sozialisationssystem zurück. Hierbei fällt es gewissermaßen „aus<br />

der Rolle“ und überträgt diese Emotionen, Haltungen und Konstellationen aus dem primären<br />

Sozialisationssystem (mit seinen diffus-familialen Beziehungsstrukturen) in einem<br />

unbewussten Prozess in letztlich unangemessener Weise auf den aktuellen konfliktträchtigen<br />

Kontext (vgl. Oevermann 1993).<br />

Legende:<br />

Ganzer Mensch scheint<br />

Ganzer Mensch, rollenfrei durch Rolle hindurch:<br />

Er trägt Rolle, gestaltet<br />

sie aus und stellt sich<br />

als besonderer innerhalb<br />

einer Rolle dar (Verbindung)<br />

Soziale Rolle Soziale Beziehung<br />

Ganzer Mensch als Soziale Rahmung/<br />

sozialer Rollenträger sozialer Kontext<br />

Abb. 2: Rollenförmig-spezifische Beziehungen<br />

Zentrales Element der sozialen<br />

Rahmung: Die Bedingung der Austauschbarkeit<br />

des Personals<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 18


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Diffus-familiale soziale Beziehungen<br />

• Als diffus-familiale soziale Beziehungen gelten zum einen die Gattenbeziehung, zum<br />

anderen die Eltern-Kind-Beziehung. Die Gattenbeziehung sowie die beiden Eltern-<br />

Kind-Beziehungen bilden zugleich die triadische Grundstruktur primärer familialer<br />

Sozialisation.<br />

• In diffus-familialen Beziehungen beziehen sich die Partner als ganze Menschen aufeinander<br />

und nicht lediglich hinsichtlich spezifischer Rollendefinitionen, wie in rollenförmig-spezifischen<br />

Beziehungen. Es gilt die Bedingung der „Nicht-Austausch-barkeit<br />

des Personals“, d.h. ihre je besondere Praxis ist an die Existenz einer je besonderen<br />

konkreten Person gebunden.<br />

• Die Nicht-Austauschbarkeit des Personals lässt sich mit einer strukturtheoretischen<br />

Sozialisationstheorie in vier typische Strukturmerkmale zerlegen (vgl. hierzu auch<br />

Allert 1998 sowie Oevermann 1976, 1976a, 1979)<br />

1. Für diffuse Beziehungen ist eine Körperbasis grundlegend, d.h. sie werden<br />

wesentlich durch die Beteiligung der Körper bestimmt.<br />

2. Sie werden als unkündbare Beziehungen eingegangen. Eine Trennung ist immer<br />

ein Scheitern, die Voreinstellung einer zeitlichen Begrenzung eine Täuschung<br />

oder Instrumentalisierung.<br />

3. Es gelten besondere Formen der Vertrauensbildung. Vertrauen gilt in diffusen<br />

Beziehungen als bedingungslos und wird durch bedingungslosen Vollzug hergestellt.<br />

Vertrauensbildung durch formalisierte abstrakte Kriterien wie in Vertragsbeziehungen<br />

wäre schon eine Pervertierung dieser Beziehung.<br />

4. Diffuse Sozialbeziehungen zeichnen sich durch eine umfassende und bedingungslose<br />

gefühlsmäßige Bindung aus.<br />

Abb. 3: Diffus-familiale soziale Beziehung,<br />

rollenfrei zwischen ganzen Menschen<br />

19 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005<br />

Zentrales Element der sozialen<br />

Rahmung: Die Bedingung der<br />

Nicht-Austauschbarkeit des Personals


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• Bei allen Gemeinsamkeiten gegenüber spezifischen Sozialbeziehungen unterscheidet sich<br />

die Gattenbeziehung von der Eltern-Kind-Beziehung in einem wesentlichen Merkmal: Die<br />

Mutter-Kind-Beziehung und die Vater-Kind-Beziehung sind als inzestuöse sexuell tabu,<br />

während für die Gattenbeziehung umgekehrt die Sexualität konstitutiv ist.<br />

• Gattenbeziehungen und Eltern-Kind-Beziehungen bilden eine widersprüchliche Einheit:<br />

In allen drei Dyaden gilt die Bedingung der „Nicht-Austauschbarkeit“, also ein Ausschließlichkeitsanspruch<br />

auf den jeweiligen Partner. Die Doppelmitgliedschaft in einer<br />

weiteren Beziehung dieses Typs kann im Grunde nicht zugelassen werden und anders<br />

könnten es auch nicht Beziehungen zwischen ganzen Menschen sein.<br />

• Für die entfaltete familiale Triade ergibt sich daraus zwingend, „dass in ihr jedes Strukturelement,<br />

also jede beteiligte Person (a) den Ausschließlichkeitsanspruch auf einen<br />

Partner einer Dyade mit einem Dritten teilen muss, in sich eine Widersprüchlich-keit, (b)<br />

diese Teilung mit einem Dritten sich bei zwei verschiedenen Personen gefallen lassen<br />

muss und (c) sich selbst reziprok ebenfalls zwischen zwei Personen teilen muss. Daraus<br />

resultiert als normaler Dauerzustand die Eifersucht,... (Oevermann 1997, S. 113). (4 )<br />

• Kommunikation in der Familie ist wesentlich der Umgang mit dem eingeschlossenen<br />

ausgeschlossenen Dritten, d.h. mit dyadischen Vereinseitigungen der Triade, ihren jeweiligen<br />

Transformationen und damit mit der jeweils wechselnden Position des eingeschlossenen<br />

ausgeschlossenen Dritten. Hierin besteht die Grundlage des Erwerbs von Sozialkompetenz<br />

für späteres Rollenhandeln, indem erste Erfahrungen mit der Spannung von<br />

Gemeinsamkeit und Unterschied, von allgemeiner und besonderer Perspektive der Selbst-<br />

und Weltwahrnehmung gemacht werden<br />

• In der Besonderheit und Widersprüchlichkeit dieser sich entfaltenden triadischen Grundstruktur<br />

liegt die zentrale soziale Bedingung für die Dynamik von Entwicklungs- und Bildungsprozessen<br />

des Kindes und von Transformationsprozessen der Struktur insgesamt.<br />

______________________________<br />

(4) Zur genaueren strukturtheoretischen Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Dyaden vgl.<br />

Oevermann 2001, 2.<strong>Kapitel</strong>: Die Strukturlogik und –dynamik der ödipalen Triade und die Generationen-<br />

Differenz<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 20


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

V M<br />

V Vater M Mutter K Kind<br />

Abb. 4: Triadische Grundstruktur familialer sozialisatorischer Interaktion<br />

• Der gesamte Bildungsprozess des einzelnen Menschen, seine soziale Geburt als autonom<br />

handlungsfähigem, mit sich selbst identischen Subjekt, kann als Abfolge von zentralen<br />

Ablösekrisen im Rahmen der sich entfaltenden triadischen Grundstruktur dargestellt werden:<br />

„Die mit der Geburt erfolgende Ablösung aus der primären organischen Symbiose<br />

aus dem Mutterleib; die Ablösung aus der Mutter-Kind-Symbiose; die Ablösung aus der<br />

manifesten ödipalen Triade; die Ablösung aus der Herkunftsfamilie in der Bewältigung<br />

der Adoleszenzkrise“ (Oevermann 1997, S.114).<br />

• In dem Maße, in dem diese Ablösekrisen erfolgreich durchlaufen werden, können sich<br />

Autonomie und Identität entfalten in den Polen von Bindung und Ablösung. In der Ablösekrise<br />

spitzen sich typische Entwicklungskonflikte zu; die Art ihrer Bewältigung entscheidet,<br />

ob sie entwicklungsförderlich wirken oder auf einer bestimmten Entwicklungsstufe<br />

festhalten oder gar zurückwerfen.<br />

• Innerhalb der triadischen Grundstruktur diffus-familialer Beziehungen erwerben die Kinder<br />

die basalen Strukturen von Sozialität und damit auch besondere Übertragungsdispositionen<br />

(König, K. 1998). Die Gattenbeziehung sowie die Beziehung der Eltern zu<br />

ihren Kindern sind zugleich der Ort von möglichen nicht-pathologischen wie pathologischen<br />

Übertragungen früherer Haltungen und Konstellationen der Eltern aus ihrer jeweils<br />

eigenen familialen Sozialisation in den aktuellen familialen Kontext (Richter 1963,<br />

1970).<br />

21 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005<br />

K<br />

Phänomenal-deskriptive Fassung<br />

familialer Grenzen und Grenzregulationen<br />

(adaptiert nach Cierpka,<br />

1995):<br />

• Individuelle Selbstgrenzen der<br />

beteiligten Personen<br />

• Generationsgrenze Eltern-Kind<br />

mit Inzesttabu<br />

• Jeweilige Dyadengrenzen<br />

• Familie-Umwelt-Grenze (insbesondere<br />

auch zur väterlichen<br />

und mütterlichen Herkunftsfamilie)


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• Innerhalb einer zunächst extremen Abhängigkeitssituation des Kindes von seinen Eltern<br />

müssen diese in dialogischen Prozessen durch angemessenes stellvertretendes Deuten,<br />

Entscheiden und Handeln die sich auf der Basis von angeborenen Startbedingungen entfaltende<br />

kindliche Autonomie fördern, unterstützen und schützen, ohne dabei selbst sekundär<br />

deautonomisierend zu wirken. (Vgl. Oevermann 1976, 1995) Indem Eltern durch<br />

angemessenes stellvertretendes Deuten, Entscheiden und Handeln den immer möglichen<br />

Einschränkungen der leiblichen und psychosozialen Integrität ihres Kindes entgegenwirken,<br />

sind sie zugleich prophylaktisch-therapeutisch, d.h. vorbeugend-therapeutisch wirksam.<br />

Diese Stellvertretungsleistungen verlaufen insbesondere in der frühen Kindheit natürlich<br />

nicht „expertenhaft“, sondern auf einer intuitiven Basis (vgl. hierzu auch Papousek<br />

1996, 1999).<br />

• Naturwüchsige familiale Sozialisation innerhalb diffus-familialer Sozialbeziehungen kann<br />

somit auch als ein naturwüchsiger Prozess der Entfaltung von Autonomie verstanden<br />

werden, in dem zugleich Leistungen der Versorgung, Pflege, Wissens- und Normvermitt-<br />

lung sowie von prophylaktischer Therapie erbracht werden.<br />

• Die Betrachtung der Strukturbesonderheiten diffus-familialer Sozialbeziehungen sowie<br />

der sozialen Geburt des autonomen Subjekts in der triadischen Grundstruktur familialer<br />

Sozialisationsprozesse sind entscheidende Bezugspunkte für ein Verständnis beruflicher<br />

sozialer Arbeit:<br />

1. Berufliche soziale Arbeit enthält auf der konkreten personalisierten<br />

Beziehungsebene zwischen Fachkraft und Nutzer/Klient innerhalb spezifischrollenförmiger<br />

Beziehungskomponenten auch diffus-familiale Beziehungskomponenten,<br />

die für die verschiedenen Praxisfelder herausgearbeitet werden können.<br />

Man könnte auch sagen, bei beruflicher sozialer Arbeit handelt es sich um die<br />

rollenförmig-spezifische Veralltäglichung (spezifische Komponente) des aus der<br />

Sicht von Rollenhandeln Außeralltäglichen (diffuse Komponente).<br />

2. Berufliche soziale Arbeit im Focus von Therapie kann sich in ihren praktischen therapeutischen<br />

oder prophylaktisch-therapeutischen Interventionen normativ an diesem<br />

genetischen Modell von Autonomie orientieren, die es zu achten gilt.<br />

3. Berufliche soziale Arbeit im Focus von Therapie kann sich durch die Inszenierung/<br />

Reinszenierung familialer Autonominierungsprozesse unter besonderen fachlichberuflichen<br />

Rahmenbedingungen/ sozialen Rahmungen auch handlungspraktisch an<br />

naturwüchsigen familialen Sozialisationsprozesse in ihrer triadischen Grundstruktur<br />

orientieren.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 22


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

23 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.1.4 Das Arbeitsbündnis: Berufliche soziale Arbeit als besonderer<br />

Beziehungstypus und widersprüchliche Einheit einer Beziehungspraxis<br />

Autonomisierung durch stellvertretende Krisenbewältigung<br />

• Das Paradox beruflicher sozialer Arbeit besteht darin, dass sie durch einen zumindest<br />

partiellen Eingriff in die Autonomie ihres Klienten/Nutzers über Akte stellvertretenden<br />

Deutens, Entscheidens und ggf. auch Handelns dessen Autonomie wiederherstellen,<br />

sicher oder unterstützen und fördern soll, ohne durch diese Eingriffe die Klienten/Nutzer<br />

zusätzlich sekundär zu deautonomisieren (und hierin ist sie ja strukturähnlich<br />

den naturwüchsigen familialen Sozialisationsprozessen).<br />

• Diese Autonomiesierung ist nur möglich, wenn es der Fachkraft innerhalb des Arbeitsbündnisses<br />

gelingt, die autonomen Entwicklungs- und Selbstheilungskräfte des<br />

Klienten zu wecken und zu mobilisieren und erfolgreich und bindend in den Prozess<br />

der stellvertretenden Krisenbewältigung einzubeziehen i. S. e. Hilfe zur Selbsthilfe.<br />

• Berufliche soziale Arbeit kann hierbei als klientenbezogene stellvertretende Krisenbewältigung<br />

charakterisiert werden. Sie setzt ein, wenn die primäre Lebenspraxis in ihrer<br />

Krisenkonstellation zur selbständigen Krisenbewältigung überfordert ist, entweder,<br />

weil sie in ihrer Autonomie beschädigt oder entwicklungsbedingt noch eingeschränkt<br />

ist oder „weil inzwischen die methodisierte Wissensentwicklung solche Fortschritte<br />

gemacht hat, dass das Beharren auf einer selbständigen, naturwüchsigen Krisenbewältigung<br />

nicht mehr ein genuiner Ausweis von Autonomie, sondern ein irrational-trotziges<br />

Verweigern von Lebenschancen wäre“ (Oevermann 2002, 27).<br />

• Der Klient fragt als Ausdruck seiner eigenen Autonomie selbst um Hilfe nach oder<br />

Dritte (z.B. Eltern, Vormund, gesetzliche Betreuer) fragen stellvertretend für ihn um<br />

Hilfe nach, da er aufgrund seiner Entwicklung (z.B. Kinder) oder einer Schädigung<br />

hierzu nicht eigenverantwortlich und selbständig in der Lage ist.<br />

• In Wahrnehmung dieser Stellvertretungsfunktion kommt beruflicher sozialer Arbeit<br />

gegenüber Alltagshandeln eine gesteigerte Begründungsverpflichtung sowie ein ggf.<br />

auch verschärfter Entscheidungszwang zu ( zum Bewährungsproblem von autonomer<br />

Lebenspraxis als Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung<br />

sowie zum Krisenbegriff vgl. weiter unten 7.1: Ein strukturtheoretisches Modell der<br />

Autonomie der Lebenspraxis).<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 24


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Die Beziehungsebene<br />

• Auf der Beziehungsebene stellt sich berufliche soziale Arbeit als widersprüchliche Einheit<br />

diffuser und spezifischer Beziehungskomponenten dar (besondere personale Nähe bei<br />

fachlich geforderte Distanz). Das Arbeitsbündnis ist die fachliche Bezeichnung für diese<br />

besondere und besonders zu gestaltende Beziehungspraxis, d.h. für einen besonderen Beziehungstypus<br />

neben dem Typus rollenförmig-spezifischer und dem Typus diffus-familialer<br />

Beziehungen.<br />

• Bezüglich der Gleichzeitigkeit von Spezifität und Diffusität ist das Arbeitsbündnis symmetrisch.<br />

Bezüglich des Autonomieproblems, d.h. hinsichtlich des Hilfe- Unterstützungs-<br />

oder Erziehungsbedarfs ist das Arbeitsbündnis asymmetrisch, denn diese Asymmetrie ist<br />

ja gerade die Grundlage für das Zustandekommen des Arbeitsbündnisses.<br />

• Aufgrund des Autonomieproblems/ der Problemlage des Klienten/ Nutzers, d.h. aufgrund<br />

einer bestimmten Krisenkonstellation kommt es zu einer Vereinbarung, die die Erbringung<br />

der Hilfeleistung sowie beiderseitige Bedingungen und Voraussetzungen der Leistungserbringung<br />

regelt. Die hiermit eingerichtete soziale Beziehung ist grundsätzlich<br />

kündbar und die beteiligten Personen sind grundsätzlich austauschbar (rollenförmigspezifische<br />

Beziehungskomponente).<br />

• Alleine aufgrund des Handlungsproblems Hilfe- bzw. Unterstützungsbedürftigkeit des<br />

Klienten/ Nutzers kommt es zu einer strukturell erzwungenen praktischen Realisierung<br />

diffus-familialer Beziehungskomponenten, die situationsbedingt die Übertragung kindheitsbestimmter<br />

Haltungen und Konstellationen sowohl des Klienten/Nutzers als auch der<br />

Fachkraft fördern:<br />

• Der Klient/Nutzer wird aus seiner je besonderen Problemlage und Hilfebedürftigkeit heraus<br />

strukturell gezwungen, sich der Fachkraft in besonderer Weise anzuvertrauen, dabei<br />

nicht nur psychische, sondern ggf. auch körperliche Nähe zuzulassen oder auch zu suchen,<br />

ohne dass er die kompetente Verwirklichung des beruflichen Handelns der Fachkraft<br />

wirklich vollständig kontrollieren könnte (diffus-familiale Beziehungs-komonenet:<br />

besondere Formen der Vertrauensbildung). Diese besondere Situation im Innenraum einer<br />

spezifischen Rollenbeziehung ähnelt strukturell frühen Eltern-Kind-Beziehungen und<br />

fördert deshalb situationsbedingt die Aktualisierung und Übertragung kindheitsbestimmter<br />

Haltungen und Konstellationen des Klienten.<br />

• Die Fachkraft ihrerseits muss sich auf den Klienten als ganzen Menschen beziehen, will<br />

sie ihn nicht, schon im Ansatz inhuman, auf eine Problemlage, eine Krankheit, ein Verhaltensproblem,<br />

eine Behinderung, eine Entwicklungsstörung, einen Hilfebedarf usw. reduzieren.<br />

Hierfür muss sie sich von der Situation des Klienten anrühren lassen und sich in<br />

diesen einfühlen, sie muss, ähnlich der Gattenbeziehung oder der Beziehung der Eltern zu<br />

ihren Kindern, den anderen als ganze Person wahrnehmen, mitdenken und mitberücksichtigen<br />

(Vgl. Allert 1998, S. 227 ff). Damit wird in je unterschiedlichem Ausmaß strukturell<br />

gewissermaßen eine innerliche Verwirklichung diffus-familialer Beziehungselemente<br />

auch auf Seiten der Fachkräfte erzwungen.<br />

25 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• Eine Steigerung erfährt diese innerliche Verwirklichung diffus-familialer Beziehungskomponenten<br />

noch im bewussten innerlichen Zulassen und Wahrnehmen der unbewussten<br />

Übertragungen und Beziehungsangebote des Klienten, wodurch die Fachkraft innerlich<br />

und innerhalb einer rollenförmigen Beziehung an einer diffus-familialen Beziehung teil<br />

hat.<br />

• Die Fachkraft ihrerseits gelangt aufgrund des Autonomieproblems des Klienten/Nutzers in<br />

eine Position besonderer Verantwortlichkeit, Autorität, Macht und ggf. auch Ohnmacht.<br />

Diese spezifische Situation, strukturell ähnlich frühen Eltern-Kind-Beziehungen, fördert<br />

auch auf Seiten der Fachkraft situationsbedingt die Aktualisierung und Übertagung kindheitsbestimmter<br />

Haltungen und Konstellationen<br />

Grundsätzliche Bedeutung für die Praxis beruflicher sozialer Arbeit<br />

Das Wissen um solche unbewussten Übertragungstendenzen sowie die Reflexion und der angemessene<br />

Umgang mit den eigenen Übertragungen und Übertragungstendenzen sowie denen<br />

der Klienten/Nutzer stellt ein wichtiges Element der Fachlichkeit beruflicher sozialer Arbeit<br />

dar.<br />

Ausbildung, Supervision und Selbstreflexion können der Bewusstmachung und dem Verständnis<br />

von Übertragungen, Übertragungstendenzen und typischen Beziehungsangeboten der<br />

Fachkräfte selbst i. S. e. Selbstaufklärung der Fachkräfte dienen (vgl. Völpert 1997).<br />

Das innerliche Zulassen und Wahrnehmen der unbewussten Übertragungen und typischen<br />

Beziehungsangebote des Klienten/Nutzers gegenüber der Fachkraft kann zu einem besseren<br />

Verständnis der Klienten/Nutzer sowie möglicher Konflikte und konflikthafter Verstrickungen<br />

im Berufsfeld führen. Qualifizierter Supervision, die die Übertagungen und Beziehungsangebote<br />

der Klienten zu berücksichtigen und zu verstehen sucht, kommt in diesem Zusammenhang<br />

eine besondere Bedeutung zu. (Vgl. z.B. Baumann 1987, Völpert 1985).<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 26


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Klient<br />

K Klient<br />

K<br />

F Fachkraft<br />

27 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005<br />

Gründungsvoraussetzung eines Arbeitsbündnisses<br />

• Ein Klient hat einen Hilfebedarf und ist aufgrund eingeschränkter<br />

Autonomie oder fortgeschrittenen Wissens (z.B.<br />

im Bereich der Medizin) nicht in der Lage, die Krisenkonstellation<br />

selbständig angemessen zu bewältigen.<br />

• Er fragt als Ausdruck seiner eigenen Autonomie selbst um<br />

Hilfe nach und muss sich dabei „öffnen“, ein Stück aus der<br />

Rolle heraustreten<br />

• oder Dritte fragen stellvertretend für ihn um Hilfe nach (z.B.<br />

Eltern, Vormund, gesetzlicher Betreuer, in Notfällen Hilfeleistung<br />

durch Dritte als Verpflichtung), da er aufgrund seiner<br />

Entwicklung (z.B. Kinder oder z.T. auch Menschen mit<br />

Behinderung) und/ oder einer Schädigung hierzu nicht ei-<br />

Abb.6: Gründungsvoraussetzung eines Arbeitsbündnisses<br />

Symmetrisch bez. der Gleichzeitigkeit<br />

diffuser und spezifischer Beziehungskomponenten<br />

K F<br />

Asymmetrisch bez. der Autonomie<br />

Abb.7: Das Arbeitsbündnis als besonderer Beziehungstypus<br />

Spezifische Beziehungskomponente<br />

Diffuse Beziehungskomponente


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Die Wissensebene<br />

• Auf der Wissensebene stellt sich berufliche soziale Arbeit als widersprüchliche Einheit<br />

von fachlich-wissensmäßiger und/oder fachlich-wissenschaftlicher Kompetenz im<br />

engeren Sinne (Erklären) und hermeneutischer Kompetenz des Fallverstehens (Verstehen)<br />

andererseits dar. Beim Erklären geht es um die Anwendung von Wissensbeständen,<br />

die allgemeine Gültigkeit besitzen, um die Problemlage eines Klienten/Nutzers<br />

anzugehen. Beim Fallverstehen geht es jedoch nicht um das Einordnen<br />

des Falles, einer Problemlage unter allgemeine Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten,<br />

sondern um das Verständnis des einzelnen „Falles“ in seiner Eigenart und geschichtlichen<br />

Gewordenheit, in seinen besonderen Möglichkeiten und Einschränkungen<br />

und d.h. auch in seiner je besonderen Zukunftsoffenheit.<br />

• Die widersprüchliche Einheit von Erklären und Fallverstehen lässt sich am Modell<br />

ärztlich-therapeutischer Praxis beispielhaft verdeutlichen: Für eine therapeutische<br />

Praxis muss neben dem Erklären, d.h. der Einordnung von Symptomen unter theoretische<br />

Modelle, das Fallverstehen einer konkreten Lebenspraxis in ihrer lebensgeschichtlichen<br />

Einbettung und Gewordenheit hinzutreten, in der die Krankheit selbst<br />

dann eine motivierte Stellung und Funktion einnimmt. „In dieser Auffassung ist die<br />

Krankheit nicht nur negativer Fremdkörper oder Störung, sondern darüber hinaus<br />

auch motivierter Bestandteil des konkreten Lebens in seiner Totalität. Krankheit erscheint<br />

so in ihrer einzig angemessenen Konzeptualisierung: nicht einfach platt als<br />

das klassifikatorische Gegenteil von Gesundheit, sondern als das Maximum an Gesundheit,<br />

das ein konkretes Leben in seiner Traumatisierungsgeschichte und in seinem<br />

Überlebenskampf unter seinen je konkreten Lebensbedingungen zu erreichen in der<br />

Lage war.<br />

Korrelativ dazu ist Gesundheit nicht einfach als normativ als eine standardisierte Konfiguration<br />

von Messdaten oder Kriterien zu fassen. Die Diagnose besteht also nicht<br />

einfach in einem Prozess der normativen Abgleichung von Messwerten, sondern ist<br />

vor allem eine Rekonstruktion einer Fallstruktur, so dass Symptomatik, Krankheit und<br />

Möglichkeiten der Gesundheit gewissermaßen „in einem Atemzuge“ in Begriffen dieser<br />

rekonstruierten Fallstruktur zu explizieren sind“ (Oevermann 1997, 127).<br />

(Zum analogen Problem einer normativen bzw. nicht-normativen Bewertung von Ergebnissen/<br />

Unterstützungsprozessen vgl. weiter unten <strong>Kapitel</strong> 10: Zur Problematik<br />

der Bewertung von Ergebnissen im Bereich beruflicher sozialer Arbeit).<br />

• Dieser widersprüchlichen Einheit von Erklären und Verstehen liegt als objektives<br />

Handlungsproblems zugrunde, dass es im Bereich beruflicher sozialer Arbeit um die<br />

Anwendung fachlichen und fachlich-wissenschaftliche Wissens im Kontext einer Lebenspraxis,<br />

d.h. eines je besonderen biopsychosozialen Lebenszusammenhanges geht<br />

und nicht etwa um die Anwendung fachlichen und wissenschaftlichen Wissens auf<br />

ausschließlich instrumentell-technische Probleme wie z.B. im Handwerk oder den Ingenieurberufen.<br />

Hierin liegt auch der Grund für die grundsätzliche Nicht-Standardisierbarkeit<br />

beruflicher sozialer Arbeit (vgl. hierzu detailliert Oevermann 2002).<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 28


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Nicht-Standardisierbarkeit beruflicher sozialer Arbeit bei individueller Hilfeplanung<br />

und Hilfeerbringung<br />

• Die Nicht-Standardisierbarkeit beruflicher sozialer Arbeit, die ja grundsätzlich in der je<br />

unterschiedlichen Geschichte, Eigenlogik und Zukunftsoffenheit eines Falles begründet<br />

ist, lässt sich bezüglich der individuellen Hilfeplanung, d.h. der Diagnostik/ Hilfebedarfsermittlung<br />

und der fachlich begründeten Angebotsauswahl/ Indikation sowie bezüglich der<br />

konkret-personalen Hilfeerbringung jeweils gesondert bestimmen:<br />

1. Diagnostik/ Hilfebedarfsermittlung: Eine individuell angemessene Auswahl von<br />

Angeboten/ Heil- und Hilfsmitteln setzt eine individuell angemessene Diagnostik/ Hilfebedarfsermittlung<br />

in der widersprüchlichen Einheit von Erklären und Fall-Verstehen<br />

voraus. Das Fallverstehen einer je besonderen Lebenspraxis in ihrer historischen<br />

Gewordenheit, ihrem So-Sein und ihren je besonderen Möglichkeiten<br />

und Einschränkungen (je besondere Zukunftsoffenheit) ist grundsätzlich nicht<br />

standardisierbar. Das rekonstruktive Verstehen einer je konkreten Fallstruktur „ist eine<br />

in sich nicht standardisierbare methodische Operation, die der jeweiligen Konkretion<br />

einer Fallstrukturgesetzlichkeit rekonstruktionslogisch zu folgen hat“ (Oevermann<br />

2002, 31).<br />

2. Fachlich begründete Angebotsauswahl/ Indikation: Die aus dem festgestellten<br />

Hilfebedarf/ der Diagnostik abgeleitete Problemlösung, d.h. die besondere Angebotsauswahl/<br />

Indikation sowie deren weitere Konkretisierung und Umsetzung in spezifische<br />

fachliche Handlungskonzepte erfolgt zwar nach fachlichen und organisatorischen<br />

Routinen, muss aber dennoch individualisierend fallangemessen sein und ist insofern<br />

nicht standardisierbar (mechanisierbar und automatisierbar). Eine rein mechanische<br />

Ableitung von Hilfe- und Unterstützungsangeboten aus der Hilfebedarfsermittlung/<br />

Diagnostik würde von vornherein einen Akt destruierender Fremdbestimmung bedeuten.<br />

3. Die Praxis des Arbeitsbündnisses: Die konkret-personale Beziehungspraxis eines<br />

Arbeitsbündnisses mit einem Klienten als ganzer Person, in der es um die sokratische<br />

Weckung der Eigenkräfte des Klienten i. S. e. Hilfe zur Selbsthilfe geht, ist ihrerseits<br />

nicht standardisierbar. Dies gilt sowohl für ein diagnostisches Arbeitsbündnis (vgl.<br />

weiter unten <strong>Kapitel</strong> 5.3: Diagnostisches Arbeitsbündnis und Einrichtung von Arbeitsbündnissen)<br />

wie auch für das i.e.S. hilfeerbringungsbezogene Arbeitsbündnis.<br />

29 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Doppelmitgliedschaft in Berufsverband und Organisation<br />

• In dem Maße, in dem sich in den einzelnen Bereichen beruflicher sozialer Arbeit kollektive<br />

Berufsorganisationen mit eigenen sozialen Strukturen, fachlichen Standards<br />

und berufsethischen Orientierungen entwickeln bzw. bereits etabliert haben, erwirbt die<br />

einzelne soziale Fachkraft, sofern sie innerhalb einer Organisation tätig ist, eine besondere<br />

Doppelmitgliedschaft: Sie ist zum einen Mitglied in einem beruflichen Kollektiv mit eigenen<br />

Strukturen, eigener Kultur und eigenen berufsethischen Orientierungen, sie ist zum<br />

anderen aber auch Mitglied in einer sozialen Organisation mit ebenfalls eigenen Strukturen,<br />

eigener Kultur und eigenen Orientierungen. Hieraus können sich sowohl konflikthafte<br />

als auch konstruktive Konstellationen ergeben.<br />

Ebene des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft<br />

• Im konflikthaften Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft vertritt die Fachkraft<br />

beruflicher soziale Arbeit anwaltlich die Interessen des Individuums gegenüber der Gesellschaft.<br />

Sie unterstützt die Betroffenen bei der Formulierung und Realisierung individueller<br />

Hilfebedarfe und Bedürfnisse.<br />

• Die Fachkraft beruflicher sozialer Arbeit ist zugleich Repräsentant einer verbindlichen<br />

Definition von Normen und legitimierter Ansprüche der Kollektivität gegenüber dem<br />

einzelnen. Sie hat sich bei der Formulierung und Realisierung von individuellen<br />

Hilfebedarfen und Bedürfnissen an der gültigen Definition und normativen Absicherung<br />

bestimmter Personenkreise mit bestimmten Leistungsansprüchen zu orientieren.<br />

Privatwirtschaftliche oder Arbeitnehmerinteressen der Fachkräfte und Interessen<br />

der Klienten/Nutzer<br />

• Die anwaltliche Vertretung der Interessen der Klienten/Nutzer steht in einem potentiell<br />

konflikthaften, regulierungs- und schutzbedürftigen Verhältnis gegenüber der Vertretung<br />

der ökonomischen Interessen der Fachkräfte selbst. Auf der Ebene von Berufsverbänden<br />

und gewerkschaftlicher Interessenwahrnehmung ist oftmals eine fehlende Trennschärfe<br />

und Vermischung beider Interessenbereiche festzustellen.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 30


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Das Arbeitsbündnis: Berufliche soziale Arbeit als widersprüchliche Einheit<br />

einer Beziehungspraxis<br />

Autonomisierung durch stellvertretende Krisenbewältigung<br />

• Durch Einriffe in die Autonomie durch stellvertretendes Deuten, Entscheiden und ggf.<br />

Handeln soll Autonomie hergestellt/ wiederhergestellt/ unterstützt werden, ohne sie sekundär<br />

zu deautonomisieren.<br />

• Diese Autonomiesierung ist nur möglich, wenn es gelingt, die autonomen Entwicklungs-<br />

und Selbstheilungskräfte des Klienten zu wecken und zu mobilisieren und erfolgreich<br />

und bindend in den Prozess der stellvertretenden Krisenbewältigung einzubeziehen<br />

i.S.e. Hilfe zur Selbsthilfe.<br />

• Berufliche soziale Arbeit kann als klientenbezogene stellvertretende Krisenbewältigung<br />

charakterisiert werden. Sie setzt ein, wenn die primäre Lebenspraxis eines Nutzers/ Klienten<br />

aufgrund einer Autonomieeinschränkung zur selbständigen Krisenbewältigung<br />

überfordert ist.<br />

Beziehungsebene<br />

• Gleichzeitigkeit rollenförmig-spezifischer und diffus-familialer Beziehungskomponenten,<br />

• Symmetrie bezüglich der Gleichzeitigkeit von Diffusion und Spezifizität,<br />

• Asymmetrie bezüglich des Autonomieproblems/Hilfebedarfs<br />

• Durch Handlungsproblem/Autonomieproblem/ Krisenkonstellation verursachter Zwang<br />

zur Verwirklichung diffuser Beziehungsanteile aktiviert und fördert Übertragungen.<br />

Wissensebene<br />

• Gleichzeitigkeit von Erklären (Anwendung von allgemeingültigen Wissensbeständen<br />

auf einen Fall) und Fallverstehen(Verstehen des Falles in seiner Besonderheit, seinem<br />

besonderen Gewordensein und seiner besonderen Zukunftsoffenheit).<br />

• Zugrundeliegendes Handlungsproblem: Die Anwendung von Wissensbeständen im Zusammenhang<br />

der Lebenspraxis eines Menschen und nicht im Zusammenhang ausschließlich<br />

technischer Probleme wie bei Handwerk oder Ingenieurberufen.<br />

Nicht-Standardisierbarkeit<br />

• Ist grundsätzlich in der je besonderen Geschichte, Eigenlogik und Zukunftsoffenheit eines<br />

Falles begründet<br />

• Die Nicht-Standardisierbarkeit ergibt sich im einzelnen auf den Ebenen von Diagnostik/<br />

Hilfebedarfsermittlung, fachlich begründeter Angebotsauswahl/ Indikation und Praxis<br />

des Arbeitsbündnisses.<br />

Doppelmitgliedschaft in Berufsverband und Organisation<br />

Ebene des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft:<br />

Fachkraft ist Anwalt des Klienten/Nutzers gegenüber der Gesellschaft und zugleich Repräsentant<br />

der Gesellschaft gegenüber dem Klienten/Nutzer.<br />

Ökonomische Interessen der Fachkräfte gegenüber Interessen der Klienten/Nutzer<br />

31 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Exkurs: Die Fortschritte der modernen Neurowissenschaften, neuronale und<br />

sprachliche Prädizierung und weitere Ausdifferenzierung der<br />

Dimensionen des Unbewussten<br />

Die Fortschritte der modernen Neurowissenschaften erfordern zum einen eine Neuorientierung<br />

von Grundvorstellungen über Erkenntnisprozesse und entsprechend von Erkenntnistheorie<br />

und führen zugleich zu einer Neuakzentuierung des Unbewussten und<br />

einer weiteren Ausdifferenzierung seiner Dimensionen. (5)<br />

Dies wird nicht ohne Folgen für Theorie und Praxis der verschiedenen Felder beruflicher sozialer<br />

bleiben, da sich zeigt, dass im Krisenbewältigungsprozess ein größerer Anteil, als bisher<br />

angenommen, der neuronalen, unbewusst verlaufenden Prädizierung, d.h. Bedeutungsbildung<br />

zuzurechnen ist.<br />

Als Exkurs sollen zur Verdeutlichung dieser Situation thesenartig Stellungnahmen von<br />

G. Roth, U. Oevermann sowie H. J. Wagner hierzu aufgeführt werden:<br />

• „Auf der Folie von Resultaten der modernen Neurowissenschaften müssen wir – einerseits<br />

dies bestätigend, andererseits darüber hinausgehend – von einer komplexen neuronalen<br />

Prädizierung reden. Denn:‚ Der Übergang von der physikalischen und chemischen Umwelt<br />

zu den Wahrnehmungszuständen des Gehirns stellt einen radikalen Bruch dar. Die<br />

Komplexität der Umwelt wird „vernichtet“ durch ihre Zerlegung in Erregungszu-stände<br />

von Sinnesrezeptoren. Aus diesen muss das Gehirn wiederum durch eine Vielzahl von<br />

Mechanismen die Komplexität der Umwelt, soweit sie für das Überleben relevant ist, erschließen.<br />

Dabei werden durch Kombination auf den vielen Stufen der Sinnessysteme jeweils<br />

neue Informationen, neue Bedeutungen erzeugt’ (Roth, 1997, 115).<br />

Und weiter, auf die Farbwahrnehmung bezogen: ‚ Sehen wir uns als Beispiel für eine<br />

derartige Informationserzeugung durch Kombination das Farbensehen an. Wir können<br />

mehr als eine Million Farbabstufungen (das heißt Unterschiede hinsichtlich Farbton, Sättigung<br />

und Helligkeit) unterscheiden (von Camphausen, 1981). Grundlage dieser erstaunlichen<br />

visuellen Fähigkeit ist das Vorhandensein von mindestens zwei Typen von Zapfen,<br />

die unterschiedlich auf Wellenlängen des Lichtes reagieren, also unterschiedliche spektrale<br />

Empfindlichkeiten aufweisen. Bei uns Menschen und den anderen Säugetieren gibt<br />

es entsprechend der gut bestätigten Young-Helmholtz-Theorie drei Typen von Zapfen.<br />

(...) Unser Farbempfinden kommt entsprechend der Young-Helmholtz-Theorie des triochromatischen<br />

Farbensehens durch Kombination der Aktivitäten dieser drei Farbrezeptoren<br />

zustande. ( ...) Wir sehen also, dass die Information über eine bestimmte Farbe also<br />

keineswegs in den Zapfen der Netzhaut entsteht, sondern durch Kombination der Erregung<br />

von Sinnes- und Nervenzellen und Zellverbänden in einem Prozess, der von Photorezeptoren<br />

bis zu den assoziativen visuellen Arealen der Großhirnrinde reicht. Farbwahrnehmung<br />

ist also das Ergebnis eines komplizierten informationserzeugenden Vorganges’<br />

(Roth, 1997, 115 ff., 121).“ (Wagner, 2001, 181 f.).<br />

(5) Vgl. hierzu im einzelnen: Roth, G. (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie<br />

und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt am Main. Kandel, E.P. / Schwartz, J.H. / Jessell,<br />

Th. M. (Hg.) (1996): Neurowissenschaften. Eine Einführung. Heidelberg. Rock, I. (1985): Wahrnehmung. Vom<br />

visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen. Heidelberg.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 32


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• „Es ist im Erkenntnisprozess ‚von einem neurophysiologisch naturgesetzlich gesteuerten<br />

Prozess der Vor-Prädizierung auszugehen, der eine Funktion der Wahrnehmungsorganisation<br />

ist, die ihrerseits von der vorausgehenden Erfahrung aufgrund der von ihr<br />

bewirkten Verschaltungen abhängig ist, und nicht allein eine Funktion vorprogrammierter<br />

angeborener neuronaler Schemata’ (Oevermann, 2000, 54).<br />

Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse haben zur Folge, dass wir erkenntnistheoretisch<br />

von einer veränderten Grundsituation ausgehen müssen, worin der erkennende<br />

Geist zum einen als weitgehend unbewusst Informationen verarbeitendes neuronales System<br />

thematisch wird und andererseits als sprachlich konstituiertes epistemisches Bewusstsein<br />

und in dieser Eigenschaft als wesentlicher Bestandteil einer handlungs-fähigen<br />

autonomen Lebenspraxis’ (Oevermann, 2000, 4 f). (Wagner, 2001, 182 f.)“.<br />

• „Diese Situation erfordert eine Umstellung der alten Erkenntnistheorie. Erkenntnis beginnt<br />

immer schon mit der neuronalen, unbewussten Prädizierung, bevor die bewusste<br />

sprachlich vermittelte Prädizierung einsetzt. Ja, mit der neuronalen Prädizierung geht<br />

schon eine relative oder partielle Lösung der Krise einher. In einer neuen, neurowissenschaftlich<br />

aufgeklärten Erkenntnistheorie wäre demnach der erkennende Geist der alten<br />

Erkenntnistheorie wie folgt zu konzeptualisieren. Er ‚erschließt sich die über die Wahrnehmungsorganisation<br />

auf ihn einwirkende erfahrbare Welt zunächst ähnlich wie<br />

die subhumanen Gattungen, nur differenzierter und komplexer, über die unbewusst verlaufende<br />

neuronale Prädizierung und erst dann in einem bewussten begrifflichen Erkenntnisakt<br />

über eine sprachlich angeleitete Prädizierung. Entsprechend wird die von unmittelbar<br />

gegebenen Sinneseindrücken erzeugte Unbestimmtheitskrise durch neuro-naler Bearbeitung<br />

schon immer relativ gelöst, bevor sie als krisenhafte Überraschung zum Inhalt eines<br />

manifesten Krisenbewusstseins wird, in dem ihrerseits diese Krise durch begriffliche<br />

Arbeit gelöst wird’ (Oevermann 2000, 27)“ (Wagner 2001, 184 f.).<br />

• „Die Resultate der Neurowissenschaften bezüglich der neuronalen Prädizierungen erfordern<br />

eine Ausweitung der Sphäre des Unbewussten des Subjekts. Denn das Unbewusste<br />

spielt im psychischen Leben und im Erkenntnisprozess des Subjekts eine weitaus größere<br />

Rolle als bisher angenommen. Das dynamische Unbewusste im Sinne Freuds entpuppt<br />

sich lediglich als Teil eines umfassender anzusetzenden Unbewussten. Dabei ist es nicht<br />

nötig, die verschiedenen Dimensionen des Unbewussten einander zu konfrontieren; sie<br />

sind vielmehr als aneinander anschlussfähig zu denken. ’Die neurowissenschaftliche Forschung<br />

der Gegenwart hat die Bedeutung des Unbewussten auf eine ungeahnte Weise<br />

wieder in den Mittelpunkt gerückt und uns klargemacht, dass die kompliziertesten Prozesse<br />

in unserem psychischen Leben dem Bewusstsein ver-schlossen sind und unbewusst ablaufen’<br />

(Oevermann, 2000, 51 f.) (Wagner, 2001 184 f.)“.<br />

33 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• „Wir können gegenwärtig fünf verschiedene Dimensionen des Unbewussten des Subjekts<br />

unterscheiden (Oevermann 2000, 52 ff. Oevermann führt vier Aspekte des Unbewussten<br />

des Subjekts an. Er kritisiert sowohl die Konzeption des phylogenetischen Unbewussten<br />

bei Freud als auch die Archetypenlehre Jungs. Es ist hier jedoch mit dem phylogenetischen<br />

Unbewussten eine fünfte Dimension genannt.):<br />

1. Das Freudsche Unbewusste, das aus Prozessen der Verdrängung und Nachverdrängung<br />

resultiert und mit einem Widerstand von Seiten des abwehrenden Ich<br />

behaftet dynamisch vom Bewusstsein ferngehalten wird.<br />

2. Das phylogenetische Unbewusste (unter anderem Freuds phylogenetische Erinnerungsspuren;<br />

Jungs Archetypen), das freilich gegenüber den anderen hier genannten<br />

Dimensionen des Unbewussten am umstrittensten ist.<br />

3. Das Unbewusste, das auf frühe ontogenetische Erfahrungen zurück geht. Es ist<br />

dies ein Unbewusstes, ‚das allein daraus resultiert, dass es auf frühe Erlebnisse und<br />

Erfahrungen zurückgeht, die aufgrund eines zu diesem Zeitpunkt noch nicht hinreichend<br />

entwickelten Bewusstseins bzw. einer noch nicht hinreichenden Sinninterpretationskapazität<br />

nicht erinnert werden können, aber dennoch archiviert sind<br />

und von daher Einfluss auf die Gegenwärtigkeit der Krisenbewältigung ausüben<br />

können’.<br />

4. Das Unbewusste, das die Neurowissenschaften auf der Grundlage neuronaler Informationsverarbeitung<br />

nachgewiesen haben. Es handelt sich um das Unbewusste<br />

der ‚neuronalen Vorgänge, die ständig unserem Fühlen, Wahrnehmen, Bewegen,<br />

Denken und Erinnern zugrunde liegen’.<br />

5. Das Unbewusste des impliziten „schweigenden“ Wissens (tacit knowledge), wie<br />

man es für die operative Kenntnis von sprachlichen regeln, von Regeln des logischen<br />

Schließens und anderen epistemischen Universalien annehmen muss.’<br />

Am ehesten ist von einer Überlappung und nicht von einer Trennung dieser verschiedenen<br />

Dimensionen des Unbewussten des Subjekts auszugehen“ (Wagner, 2001, 185 f.).<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 34


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Grundsätzliche Bedeutung für die Praxis beruflicher Sozialer Arbeit<br />

In Orientierung an Wagner kann die grundsätzliche Bedeutung der neueren neurowissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse für die Praxis beruflicher sozialer Arbeit wie folgt umrissen werden:<br />

• Es zeigt sich, dass im Krisenbewältigungsprozess ein größerer Anteil als bisher angenommen<br />

den neuronalen unbewusst verlaufenden Prädizierungen zuzurechnen ist. Dies<br />

bedeutet, dass in dieser Sphäre den Selbstheilungskräften des Klienten eine besondere Bedeutung<br />

zukommt. Insbesondere ist dem Entwurf erster Bilder des Klienten erhöhte Aufmerksamkeit<br />

zu schenken. Der Professionelle muss dem Klienten helfen, die in diesen latent<br />

enthaltenen Potentiale zur Krisenlösung zu entbinden. Zugleich sollten die Erkenntnisse<br />

über diese Phase des Krisenbewältigungsprozesses den Professionelle sensibel für<br />

den hohen Anteil des Unbewussten im Prozess der Krisenlösung machen.<br />

• Die sprachlichen Prädizierungen schließen immer erst an die neuronalen Prädizierungen<br />

im Krisenbewältigungsprozess an. Auch dies muss der Professionelle bedenken. Nicht im<br />

Medium der Sprache allein, sondern nur auf der Grundlage von neuronalen und sprachlichen<br />

Prädizierungen lassen sich Krisen lösen. Eine konstitutive Berücksichtigung dieser<br />

Tatsache dürfte Einstellungsänderungen nach sich ziehen“ (Wagner, 2001, 205).<br />

35 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.1.5 Fallverstehen und Hilfen im Fallverstehen<br />

Dem Fallverstehen als dem rekonstruktiven Nachvollzug einer konkreten Lebenspraxis in<br />

ihrer lebensgeschichtlichen Gewordenheit, ihrer Eigenlogik und ihrer je besonderen Zukunftsoffenheit<br />

(Möglichkeiten und Einschränkungen) kommt i.R. beruflicher sozialer Arbeit<br />

eine hervorgehobene Bedeutung zu.<br />

Fallverstehen verweist auf die Lebenspraxis eines einzelnen Menschen, eines Paares, einer<br />

Familie als Prozess der Krisenbewältigung und d.h. als widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang<br />

und Begründungsverpflichtung, die auch als Bewährungsdynamik von Lebenspraxis<br />

bezeichnet werden kann (vgl. hierzu weiter unter: Ein strukturtheoretisches Modell<br />

der Autonomie der Lebenspraxis).<br />

In dieser Sicht entwickelt sich, zeigt sich und bewährt sich die Autonomie einer Lebenspraxis<br />

in der Bewältigung von Krisen, d.h. in der je besonderen Abfolge von Entscheidungen und<br />

Begründungen. Hierauf bezogen stellt die Sequenzanalyse das geeignete praktische Verfahren<br />

der Rekonstruktion von Krisen und ihrer Bewältigung dar (vgl. Oevermann 2000 e).<br />

„ In dem Maße, in dem Autonomie eines Individuums, eines Paares, einer Familie sich in der<br />

Bewältigung von Krisen zeigt, ist die sequenzanalytische Rekonstruktion solcher Prozesse das<br />

geeignete verfahren zur Analyse von Individualität einer konkreten Lebenspraxis. Wichtig ist,<br />

dass unter einer Abfolge von Sequenzen nicht ein einfaches nebeneinander von Entscheidungen<br />

gemeint ist. Sequenzen und ihre Abfolgen entfalten sich als sinnstrukturierte Prozesse,<br />

die ein Muster erzeugen, reproduzieren oder transformieren, indem Möglichkeiten wahrgenommen,<br />

gegeneinander abgewogen, verworfen bzw. gewählt werden. Struktur und Prozess<br />

‚fallen in eins’ (Oevermann 2000 e, 71). Sequenzanalysen beziehen sich somit auf Ausschnitte<br />

aus Abfolgen lebenspraktischer Entscheidungsprozesse“ (Welter-Enderlin / Hildenbrand<br />

2004, 35).<br />

Gegenüber der von unmittelbarem praktischen Handlungsdruck entlasteten Praxis wissenschaftlicher<br />

Fallrekonstruktionen steht das Fallverstehen in der beruflichen sozialen Arbeit<br />

aber unter einem mehr oder minder stark ausgeprägten praktischen Handlungsdruck i.V.m.<br />

dem Hilfebedarf/ der Krisenkonstellation eines konkreten Klienten ( Fallverstehen „off-line“<br />

gegenüber Fallverstehen „on-line“, vgl. Wolf 1995). Es ist deshalb wesentlich angewiesen<br />

auf abkürzende Verfahren des Fallverstehens und die Schulung eines intuitiv gestaltrichtigen<br />

Erschließens von Fallstrukturen (vgl. Oevermann 2000 e).<br />

Orte der Schulung und Entwicklung von Fallverstehen sind zunächst die klientenbezogene<br />

berufliche Aus- und Weiterbildung, die Supervision, kollegiale Intervision und fachliche<br />

Selbstreflexion.<br />

Fallverstehen „off-line“, d.h. i.R. v. wissenschaftlichem Handeln, besteht in expliziten, methodisch<br />

kontrollierten und sequenzanalytisch verfahrenden Fallrekonstruktionen, die sowohl<br />

auf die Problemlage des Klienten, den Interventionsverlauf als auch die fachlichen und organisatorischen<br />

Routinen und Rahmenbedingungen fokussieren können ( vgl. z.B. Oevermann<br />

2000e, 2002a).<br />

Die Einführung und Einübung in solche wissenschaftlich expliziten, ausführlichen und sequenzanalytisch<br />

verfahrenden Fallrekonstruktionen im Kontext einer Methodologie der Objektiven<br />

Hermeneutik kann als Element fallbezogener Aus- und Weiterbildung die<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 36


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Ausbildung einer Fallverstehenskompetenz unter praktischem Handlungsdruck ( „on-line“)<br />

aber unterstützen oder bei der Klärung schwieriger Fallkonstellationen hilfreich sein (vgl.<br />

hierzu z.B. Ley 2000, Oevermann 2002a, 2000e).<br />

Die Genogrammanalyse stellt eine weitere Hilfe im Fallverstehen dar, und zwar sowohl in<br />

Prozessen der Ausbildung und Selbstevaluation (vgl. Welter-Enderlin/Hildenbrand 2004) als<br />

auch im Bereich beruflicher sozialer Arbeit (vgl. Cierpka 1996, v. Schlippe / Schweitzer 1999<br />

und Welter-Enderlin/Hildenbrand 2004) und der Forschung (vgl. Hildenbrand 2005 und<br />

Allert 1998).<br />

Das Genogramm wird der sequenzanalytischen Perspektive gerecht, indem es ein graphisches<br />

Hilfsmittel darstellt, um zentrale objektive lebens- und familiengeschichtliche Daten über<br />

mehrere Generationen hinweg zu rekonstruieren „und so zu einer Fallstrukturhypothese zu<br />

gelangen, die beschreibt, wie die jeweilige Familie in der Dialektik von Autonomie und Heteronomie<br />

immer wieder Entscheidungen als geordnete und zukunftsoffene hervorbringt“<br />

(Hildenbrand 2005, 32).<br />

Eine andere Hilfe im Fallverstehen als Ergänzung zur diachronischen Genogrammanalyse<br />

stellt die synchronische ökosoziale Kontextanalyse, die „ECO-MAP“ dar. „Eine sehr brauchbare<br />

diagnostische Methode zur Erfassung und graphischen Vergegenwärtigung des sozialen<br />

Kontextes einer Person ist die Öko-soziale Karte (Eco-Map) (Cournoyer 1996). Die Eco-Map<br />

ist ein Diagramm, das die umgebende soziale Welt einer Person repräsentiert.<br />

Sie erlaubt einen Überblick über den Kontext einer Person, einer Familie oder eines Haushaltes<br />

(kann auch auf andere soziale Institutionen bzw. Systeme übertragen werden)“ (Pauls,<br />

2004. 231).<br />

Unter vor allem interventionspraktischen und risikoabwägenden Aspekten ist schließlich auf<br />

die Vier-Felder-Matrix der Koordinaten psychosozialer Diagnostik- und Intervention hinzuweisen<br />

(vgl. Pauls, 2004, 214 ff).<br />

37 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.2. Zum Begriff der Professionalisierung<br />

1.2.1 Das Professionalisierungserfordernis beruflicher sozialer Arbeit<br />

Professionalisierung versus Spezialisierung und Expertisierung<br />

• Unabhängig von der konkreten historischen Erscheinungsform der verschiedenen Berufe<br />

und Berufsfelder liegt im Bereich beruflicher sozialer Arbeit im Focus von Therapie eine<br />

grundsätzliche Professionalisierungsbedürftigkeit i. S. e. angemessenen Handhabung des<br />

Arbeitsbündnisses mit einem Klienten und damit der Gleichzeitigkeit diffuser und spezifischer<br />

Beziehungskomponenten vor.<br />

• Im Bezugsrahmen einer strukturtheoretischen Professionalisierungstheorie liegt entsprechend<br />

bei Berufen, die tradiertes Berufswissen oder wissenschaftliches Wissen auf ausschließlich<br />

technische Probleme anwenden, wie im Handwerk oder den Ingenieur-<br />

wissenschaften, kein Professionalisierungserfordernis vor. In allen diesen Berufen und Berufsbereichen<br />

handelt es sich entsprechend um Prozesse der Verberuflichung, der Spezialisierung<br />

und Expertisierung sowie der Qualifizierung, nicht aber um Professiona-<br />

lisierungsprozesse.<br />

• Ein Professionalisierungserfordernis beruflicher sozialer Arbeit kann sich auf grundsätzlich<br />

zwei Ebenen ergeben:<br />

• Auf der Ebene des Arbeitsbündnisses als einer konkret-personalen Beziehungspraxis<br />

in der Gleichzeitigkeit diffus-spezifischer Beziehungskomponenten, die es fallverstehend<br />

und autonomisierend zu gestalten gilt. Ein Professionalisierungs-erfordernis auf<br />

der Ebene des Arbeitsbündnisses gilt grundsätzlich für alle Bereiche beruflicher sozialer<br />

Arbeit im Focus von Therapie.<br />

• Auf der Wissensebene als Notwendigkeit einer über die fachliche Ausbildung hinausgehenden<br />

wissenschaftlichen Ausbildung aufgrund einer ausgesprochenen wissenschaftlichen<br />

Begründungsnotwendigkeit. beruflichen Handelns. Dies ist zwingend<br />

nicht für alle Bereiche beruflicher sozialer Arbeit, notwendig z.B. aber für die moderne<br />

Medizin.<br />

Wissenschaftliches Handeln folgt dabei selbst der Logik eines Arbeitsbündnisses:<br />

Der Wissenschaftler, als ganze Person betroffen und engagiert, prüft, freigestellt von<br />

praktischem Handlungsdruck, stellvertretend für die Gesellschaft als ganzer die Geltung<br />

von Wahrheitsbehauptungen. Durch wissenschaftlichen Fortschritt kann er damit<br />

die Steuerungsfähigkeit/ Autonomie der Gesellschaft als ganzer erheblich erweitern<br />

und unterstützen.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 38


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Kunstlehre und professioneller Habitus<br />

Die Konzeptualisierung und Organisierung von Professionalisierungsprozessen auf der Ebene<br />

des Arbeitsbündnisses kann sich an den Prozessen beruflicher Sozialisation in voll durchprofessionalisierten<br />

Bereichen (z.B. Mediziner und Rechtsanwalt) orientieren.<br />

• Nach einer theoretischen Ausbildungsphase eignet sich das künftige Professionsmitglied<br />

in einer anwendungsbezogenen, d.h. fallorientierten praktischen Phase der beruflichen<br />

Sozialisation eine Kunstlehre als berufsspezifische Anwendungslehre fachlicher Wissensbestände<br />

an. Diese Kunstlehre umfasst neben typischen Verfahrens- und Vorgehensweisen,<br />

d.h. typischen fachlichen Routinen, auch den Erwerb eines berufsspezifischen Habitus.<br />

• Dieser Habitus beruht sowohl auf systematischem als auch auf intuitivem Wissen, er beinhaltet<br />

eine berufsspezifische, die ganze Person des Professionellen betreffende Wahrnehmungseinstellung<br />

und Haltung gegenüber seinem Klienten und unterscheidet sich damit<br />

deutlich von einer Jobmentalität gegenüber Beruf und Klientel.<br />

• Der Habitus als berufsspezifische Wahrnehmungseinstellung und Haltung betrifft also<br />

sowohl ihren Träger, d.h. die Fachkraft, als ganze Person, ist aber auch auf den Klienten<br />

als ganze Person bezogen. (diffuse Beziehungskomponente).Er hat auch die Bedeutung<br />

einer besonderen Abkürzungsstrategie des Fallverstehen im beruflichen Handeln, um unter<br />

praktischem Handlungsdruck möglichst schnell zu einer fachlich-fallbezogenen Orientierung<br />

und Strukturierung des beruflichen Handelns zu gelangen. Man könnte auch sagen,<br />

es gibt so etwas wie einen typischen „beruflichen Blick“ des Arztes, des Therapeuten,<br />

des Rechtsanwaltes, des Pädagogen, des Pflegers usw., mit dem diese möglichst<br />

schnell zu einer Orientierung ihres beruflichen Handelns zu kommen versuchen.<br />

• Angeeignet wird der Habitus in voll professionalisierten Berufen vor allem in kollegialen<br />

Lehrer-Schüler-Beziehungen, in denen der Schüler nicht infantilisiert, sondern i. S. e.<br />

„als-ob-Prinzips“ immer schon als Kollege angesprochen wird.<br />

39 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Professionalisierungserfordernis beruflicher sozialer Arbeit<br />

Es ergibt sich ein Professionalisierungserfordernis auf grundsätzlich zwei Ebenen:<br />

• Beziehungsebene/Arbeitsbündnis: Kompetenzerwerb hinsichtlich der praktischen nutzerbezogenen Handhabung<br />

eines Arbeitsbündnisses, gilt grundsätzlich für alle Bereiche beruflicher sozialer Arbeit<br />

• Kompetenzerwerb erfolgt vor allem in fallbezogener praktischer Ausbildungsphase (beruflicher Sozialisationsprozess)<br />

als Aneignung einer berufsspezifischen Kunstlehre und eines berufsspezifischen Habitus .<br />

• Kompetenzerwerb erfolgt dabei in kollegialen nicht-infantilisierenden Lehrer-Schüler-Beziehungen nach dem „alsob-Prinzip“,<br />

• Wissensebene: Wissenschaftliche Ausbildung als zweite Ebene der Professionalisierung, ist zwingend notwendig<br />

nur für bestimmte Bereiche beruflicher sozialer Arbeit,<br />

• Erwerb von Fachwissen ,gilt für grundsätzlich alle berufliche Arbeit, stellt aber Qualifizierungs-, nicht Professionalisierungserfordernis<br />

dar,<br />

• Begründung Wissenschaftlicher Ausbildung als eigener Ebene der Professionalisierung:: Wissenschaftliches Handeln<br />

folgt selbst der Logik eines Arbeitsbündnisses: Der Wissenschaftler ,als ganze Person betroffen und engagiert,<br />

prüft, freigestellt von praktischem Handlungsdruck, stellvertretend für die Gesellschaft als ganzer die Geltung<br />

von Wahrheitsaussagen. Durch wissenschaftlichen Fortschritt kann er damit die<br />

Selbststeuerungsfähigkeit/Autonomie der Gesellschaft als ganzer erheblich erweitern und unterstützen.<br />

Abb.9: Professionalisierungserfordernis beruflicher sozialer Arbeit<br />

1.2.2 Typische Spannungspole und Vereinseitigungsgefahren<br />

beruflicher sozialer Arbeit<br />

• Berufliche soziale Arbeit steht als widersprüchliche Einheit einer besonderen beruflichen<br />

Praxisform auf verschiedenen Ebenen in einem jeweils spannungsvollen Verhältnis zwischen<br />

unterschiedlichen Polen (vgl. Abb. 8 und 11). Es lassen sich deshalb auf diesen unterschiedlichen<br />

Ebenen typische Vereinseitigungsgefahren und Problemkonstellationen<br />

beruflicher sozialer Arbeit abbilden.<br />

• Ebene des Arbeitsbündnisses:<br />

• Die Vereinseitigung der Beziehung zum Pol Spezifizität/Rollenbeziehung bedeutet auf<br />

der Beziehungsebene das Vermeiden personaler Begegnung, der Klient /Nutzer wird<br />

zum Objekt von Techniken, auf der Wissensebene erfolgt entsprechend eine techno-<br />

logische Wissensanwendung, nicht aber Fallverstehen.<br />

• Die Vereinseitigung zum Pol Diffusion/familiale Beziehungen bedeutet eine<br />

Familialisierung und Intimisierung der Beziehung mit einem Verlust an beruflicher<br />

Distanz und Handlungsfähigkeit. Auf der Wissensebene kann die einseitige Präferenz<br />

von Einfühlung und Verstehen zu einer Vernachlässigung der Hilfsmöglichkeiten moderner<br />

Wissenschaft und Technik führen.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 40


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

K F<br />

Abb. 9: Technologisierung des Arbeitsbündnisses<br />

K F<br />

Abb. 10: Intimisierung des Arbeitsbündnisses<br />

• Auf der Ebene des konflikthaften Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft<br />

kann es zu einer Vereinseitigung der Interessenvertretung entweder des Einzelnen gegenüber<br />

der Gesellschaft oder der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen kommen.<br />

• Auf der Ebene der persönlichen, vor allem ökonomischen Interessen der Fachkräfte gegenüber<br />

den Interessen der Klienten/Nutzer kann es ebenfalls zu polaren Vereinseitigungen<br />

kommen.<br />

• Auf der Ebene von Zugehörigkeit zu einem Berufskollektiv und Zugehörigkeit zu einer<br />

sozialen Organisation eines Anstellungsträgers kann es ebenfalls zu polaren Vereinseitigungen<br />

kommen.<br />

41 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005<br />

Technologisierung<br />

Die Fachkraft bezieht sich nicht als ganze Person auf<br />

den Klienten/ Nutzer, sie lässt sich von ihr innerlich<br />

nicht „berühren“. Verletzung der sozialen Rahmung<br />

eines Arbeitsbündnisses.<br />

F = Fachkraft K = Klient<br />

Intimisierung<br />

Die Fachkraft bleibt nicht in ihrer Rolle, sie nimmt<br />

teilweise oder ganz diffus-familiale Beziehungen zum<br />

Klienten auf und verliert hierdurch fachliche Distanz<br />

und fachlich-autonome Handlungsfähigkeit. Verletzung<br />

der sozialen Rahmung eines Arbeitsbündnisses.


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Zum Modell pädagogischer Permissivität<br />

In einer neueren Arbeit hat A. Wernet auf der Grundlage einer strukturtheoretischprofessionalisierungstheoretischen<br />

Argumentation kritisch in Frage gestellt, inwieweit die<br />

Logik pädagogischen Handelns tatsächlich durch die Vermittlung widersprüchlicher, diffusspezifischer<br />

Beziehungskomponenten zu charakterisieren sei. (6)<br />

An die Stelle der Vermittlung und Ausbalancierung widersprüchlicher Beziehungskomponenten<br />

im beruflichen Handeln des Lehrers setzt er das Modell pädagogischer Permissivität,<br />

dessen Kern als beständige Distanzierungsleistung und Aufrechterhaltung einer unpersönlich-universalistischen<br />

Leistungsorientierung durch den Lehrer gekennzeichnet werden<br />

kann und sich gerade durch affektive Enthaltsamkeit und die Abwesenheit diffuser Beziehungskomponenten<br />

auszeichnet. Zentrale Hintergrundannahme ist hierbei die Hypothese, dass<br />

eine basale sozialiatorische Aufgabe von Schule in der Vermittlung einer unpersönlichuniversalistischen<br />

Leistungsorientierung bestehe.<br />

Ohne hier im einzelnen auf die interessanten Argumente und empirischen Befunde von<br />

Wernet eingehen zu können, sei darauf verwiesen, dass Wernets Modell der pädagogischen<br />

Permissivität durchaus im hier vorgestellten allgemeinen professionalisierdungstheoretischen<br />

Modell als Kern einer erfolgreichen Vermeidung einer Vereinseitigung zur diffusen oder<br />

spezifischen Seite der Beziehung verstanden werden kann.<br />

Um die Richtung der Argumentation anzudeuten: Erfolgreiche Realisierung pädagogischer<br />

Permissivität als das angemessene „in der Rolle halten“ der Lehrer-Schüler-Beziehung durch<br />

den Lehrer selbst setzt gerade ein inneres Wahrnehmen und Berücksichtigen des Schülers als<br />

ganze Person durch den Lehrer voraus, was wiederum an eine innere Beteiligung des Lehrers<br />

als ganze Person gebunden ist. Wie anders könnte er verhindern, Störungen und Angriffe des<br />

Schülers persönlich zu nehmen, in die Rolle eines Therapeuten zu verfallen oder autoritär und<br />

technokratisch auf Permissivität, auf ein Ab- und Zugeben innerhalb der erwarteten Schülerrolle<br />

zu verzichten.<br />

Diese gegenüber alltäglichem Rollenhandeln außeralltägliche Leistung, die auch eine beständige<br />

stellvertretende Vereindeutigungsleistung von Handlungssituationen gegenüber dem<br />

Schüler, ähnlich der primären familialen Sozialisation darstellt, macht ja auf Dauer gestellt<br />

die hohe berufliche Belastung pädagogischen Handelns mit aus. Und dies auch angesichts von<br />

schulischen Strukturen, die in nicht zwingendem Ausmaß Disziplinprobleme als notorische<br />

Dauerprobleme überhaupt erst produzieren und welche in dieser Form nicht zwingend auf<br />

den Auftrag der Vermittlung einer unpersönlich-universalistischen Leistungs-orientierung,<br />

mangelnde pädagogische Handlungskompetenz des Lehrers oder ein allgemein verändertes<br />

Schülerverhalten zurückgeführt werden können.<br />

____________________________________<br />

(6) Vgl. hierzu Wernet 2003 sowie die Kontroverse zwischen Wernet und Twardella In: Pädagogische Korrespondenz<br />

Heft 33, 2004/05 und Kaube: Wenn der Schüler aus der Rolle fällt In: Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung<br />

vom 08.05.2005.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 42


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Technologisierung<br />

Beziehungsebene: Keine personale<br />

Begegnung, Klient wird<br />

Objekt von Techniken, Jobmentalität<br />

Wissensebene: Technolo-<br />

gische Wissensanwendung,<br />

kein Fallverstehen<br />

Berufskollektiv/<br />

Profession<br />

Interessen der Klienten/<br />

Nutzer<br />

Abb.11: Spannungspole und mögliche Vereinseitigungstendenzen beruflicher sozialer Arbeit<br />

43 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005<br />

Vertretung der<br />

Interessen des<br />

Individuums<br />

Vertretung der<br />

Interessen der<br />

Gesellschaft<br />

Ökonomische Interessen<br />

der Berufsangehörigen<br />

Intimisierung:<br />

Beziehungsebene:<br />

Familialisierung der Beziehungspraxis,<br />

Verlust von Distanz und<br />

Handlungsmöglichkeiten,<br />

Wissensebene: Vernachläs-<br />

sigung der Hilfsmöglichkeiten<br />

von Technik und Wissenschaft<br />

Organisation


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.3 Die Einbettung von Arbeitsbündnissen<br />

1.3.1 Das klientenbezogene Arbeitsbündnis und seine mögliche Einbettung<br />

in ein Arbeitsbündnis mit Eltern oder gesetzlichen Betreuern<br />

In Konstellationen, in denen der Nutzer/ Klient nicht in der Lage ist, selbständig und eigenverantwortlich<br />

ein Arbeitsbündnis aufgrund eines spezifischen Hilfebedarfs zu begründen, ist<br />

das Arbeitsbündnis mit ihm in ein Arbeitsbündnis mit einem legitimierten Vertreter des Klienten/<br />

Nutzers eingebunden Die Bereiche von Pädagogik und Kinder-therapie und der Bereiche<br />

der Arbeit mit Menschen mit geistiger und/ oder seelischer Behinderung fallen unter diese<br />

Bestimmung.<br />

Hierdurch entsteht eine triadische Beziehungsstruktur zwischen der Fachkraft, dem Klienten<br />

und seinen legitimierten Vertretern, strukturähnlich der familialen Sozialisation. Im einbettenden<br />

Arbeitsbündnis zwischen Fachkraft und Eltern/ gesetzlichen Betreuern fungieren diese<br />

vom Grundsatz her nicht als Klienten, sondern i.S.v. Hilfe-, Erziehungs- oder Unterstützungspartnern<br />

mit der Gleichzeitigkeit diffus-spezifischer Beziehungskomponenten.<br />

In unterschiedlicher Art und unterschiedlichem Umfang müssen die Eltern/ gesetzlichen Betreuer<br />

strukturell erzwungen Verantwortung und Autorität partiell an die Fachkraft delegieren<br />

und ihr dabei notwendig einen gewissen Vertrauensvorschuss entgegenbringen, da sie Kompetenz<br />

und Zuverlässigkeit der Fachkraft formal nicht zureichend kontrollieren können. In<br />

dieser strukturell erzwungenen partiellen Delegation von Verantwortung und Autorität liegt<br />

zugleich die strukturelle Wurzel für die latente Konkurrenz zwischen Fachkraft und Eltern<br />

(Vgl. Oevermann 1997, 171 ff).<br />

Will die Fachkraft diese Konstellation nicht von vornherein verleugnen und das Arbeitsbündnis<br />

gefährden, so hat sie die Eltern in der Schwierigkeit der partiellen Delegation von<br />

Verantwortung und Autorität anzuerkennen und anzunehmen und die wechselseitige Vertrauensherstellung<br />

und -sicherung als wichtigen Teil ihrer beruflichen Tätigkeit einzubeziehen.<br />

Entsprechend können Eltern von den Fachkräften innerhalb ihrer spezifischen Berufsrolle<br />

erwarten, dass sie nicht nur über eine besondere fachliche Kompetenz im engeren<br />

Sinne, sondern auch über Einfühlung und Erfahrungen verfügen, wie es Eltern typischerweise<br />

in bestimmten Lebens- und Krisensituationen mit ihrem Kind geht. In diesen besonderen<br />

Formen der Vertrauensbildung und – sicherung kommt die diffuse Beziehungskomponente in<br />

der Beziehung Fachkraft – Eltern zum Ausdruck (vgl. Oevermann 1997, 171 ff).<br />

Die Behinderung oder Krankheit eines Kindes macht dessen Eltern nicht automatisch zu erziehungsinkompetenten<br />

Eltern wie auch die Inanspruchnahme ärztlicher oder heilpädagogisch-therapeutischer<br />

Leistungen für die Kinder keine grundsätzliche Infragestellung der elterlichen<br />

Erziehungskompetenz darstellt. Ebenso wenig bedeutet die Delegation von Erziehungs-,<br />

Bildungs- Betreuungs- und Förderaufgaben in entwickelten arbeitsteiligten Gesellschaften<br />

ein elterliches Autonomiedefizit, welches per se eine Klientenrolle der Eltern begründen<br />

könnte.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 44


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Die Autonomie der Eltern/ gesetzlichen Betreuern kommt ja gerade darin zum Ausdruck, dass<br />

sie sich eigenverantwortlich und selbständig stellvertretend für ihr Kind um eine angemessene<br />

Hilfeleistung oder Unterstützung bemühen.<br />

Eine Überlagerung von Unterstützungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen Fachkraft und<br />

Eltern mit einer Klientenrolle der Eltern erfolgt allerdings dann, wenn die Eltern aufgrund<br />

einer eigenen Autonomieeinschränkung ihre autonomiefördernden Stellvertretungsaufgaben<br />

für ihr Kind nicht angemessen wahrnehmen können. Umgekehrt können natürlich auch Fachkräfte<br />

mit ihren autonomiefördernden Stellvertretungsaufgaben für ihre Klienten überfordert<br />

sein, was dann ein Professionalisierungsdefizit darstellt.<br />

Mit einer Überlagerung der Erziehungs- und Unterstützungspartnerschaft durch Elemente<br />

einer Klientenrolle der Eltern ist regelmäßig dann zu rechnen, wenn ihr Kind bzw. die Krisenkonstellation<br />

ihres Kindes sie selbst in eine eigene Krisenkonstellation gebracht hat,<br />

die sie selbständig und eigenverantwortlich nicht mehr angemessen bewältigen können oder<br />

zumindest eine große Gefahr zu einer solchen Entwicklung besteht.<br />

Der fallverstehenden Diagnostik sowohl der einzelnen Familienmitglieder als auch der Familie<br />

als ganzer kommt in diesen Situationen eine entscheidende Bedeutung zu. Das Arbeitsbündnis<br />

zwischen Fachkraft und Eltern muss sich in solchen Konstellationen differenzieren,<br />

z.B. intern als Erweiterung zu einem Mehrpersonensetting auch mit speziellen Angeboten für<br />

die Eltern. Oder aber es müssen weitere Hilfe- und Unterstützungsangebote außerhalb vermittelt<br />

oder initiiert werden (vgl. hierzu beispielhaft aus dem Bereich früher Hilfen: Barth 1998,<br />

Brisch 2000, v. Hofacker 1998, Papousek 1998, Pedrina 2001).<br />

Aber selbst bei Psychotherapien der Eltern ist in einem erziehungspartnerschaftlichen Sinne<br />

an die Kinder mitzudenken und sind die möglichen Auswirkungen auf die Eltern-Kind-<br />

Interaktion mitzubedenken. Partnerschaft und gemeinsame Verantwortung wird auch gerade<br />

am Grenzfall deutlich.<br />

Der angemessene Umgang mit der Triade Fachkraft-Klient-Eltern bedeutet in einer professionalisierten<br />

Praxis auch, ihre jeweilige Funktion und Dynamik in Abhängigkeit von Alter<br />

und Problemkonstellation des Kindes und der Eltern zu verstehen und angemessen zu gestalten.<br />

Dabei stellt diese triadische Beziehungsstruktur, ähnlich der primären familialen Sozialisation,<br />

eine widersprüchliche Einheit mit spezifischen Ausschließungstendenzen und Grenzziehungsproblematiken<br />

dar. So kann es z.B. zu einer unbewussten Übernahme der Elternrolle<br />

durch die Fachkraft i. S. e. Eltern-Ersatzes kommen (vgl. z.B. Völpert 1985, Bauriedl 1994).<br />

Ebenso ist es möglich, dass sich die Eltern von sich aus oder von außen gedrängt, in eine Therapeutenrolle<br />

gegenüber ihrem Kind begeben. Schließlich können auch Kinder i. S. e. überwachenden<br />

und sanktionierenden Elternrolle von den Erwachsenen erlebt werden<br />

(Parentifizierung)( vgl. z.B. Stierlin 1984).<br />

Auf der Ebene von Paarbildungen kann es entsprechend zu einer Allianz von Fachkraft und<br />

Eltern gegen das Kind kommen, in der dessen Behinderung, Auffälligkeit oder Eigensinnigkeit<br />

ungeschehen gemacht werden soll (vgl. Milani Comparetti 1985). Ebenso sind<br />

Paarbildungen zwischen Eltern und Kindern gegen die Fachkraft wie Paarbildungsangebote<br />

der Fachkraft gegenüber den Kindern und gegen die Eltern denkbar, welche die Kinder jeweils<br />

in Loyalitätskonflikte bringen können. Oft sind viele dieser Vereinseitigungen und Verstrickungen<br />

zunächst unvermeidbar. Halten sie aber auf Dauer an und verfestigen sich, so<br />

ergeben sich Blockierungen von Entwicklung und Autonomie.<br />

45 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Werden sie hingegen erkannt und verstanden, so ergeben sich hieraus neue Möglichkeiten von<br />

Veränderung und Entwicklung und Emanzipation.<br />

K = Kind<br />

E = Eltern<br />

F = Fachkraft<br />

spezifisch<br />

F<br />

diffus<br />

K<br />

spezifisch<br />

diffus<br />

diffus<br />

Anerkenntnis und Annahme der Eltern in der Schwierigkeit<br />

der Delegation von Verantwortung und Autorität<br />

an die Fachkraft, Maßnahmen der Vertrauenssicherung<br />

Delegation von Verantwortung und Autorität an die<br />

Fachkraft, notwendiger Vertrauensvorschuss gegenüber<br />

der Fachkraft<br />

Abb. 12: Einbettung des Arbeitsbündnisses in ein Arbeitsbündnis mit den Eltern<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 46<br />

E<br />

l


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.3.2 Das klientenbezogene Arbeitsbündnis und seine mögliche Einbettung<br />

in ein Arbeitsbündnis mit einer Klientengruppe<br />

• Die Tatsache, daß sich berufliche soziale Arbeit oft im Rahmen einer Betreuungs-,<br />

Lern-, Arbeits-, Therapie- oder Wohngruppe vollzieht, erhöht die Komplexität und<br />

Schwierigkeit ihrer Aufgaben.<br />

• Das Arbeitsbündnis mit jedem einzelnen Klienten wäre in einer professionalisierten Praxis<br />

nochmals eingebettet in ein Arbeitsbündnis mit der Gruppe als einer besonderen<br />

vergemeinschafteten Praxisform. Hier verwirklichen sich situations- und handlungsproblembedingt<br />

in unterschiedlicher Ausprägung diffus-familiale Beziehungskomponenten<br />

der Gruppenmitglieder in ihren Beziehungen untereinander sowie in ihren Beziehungen<br />

zur sozialen Fachkraft/ den sozialen Fachkräften. In der Einbindung in eine<br />

Gruppe ist für das einzelne Gruppenmitglied aber zugleich die Möglichkeit gegeben, sich<br />

in Abgrenzung zur Fachkraft als sozialem Rollenträger in einer Klientenrolle zu erfahren<br />

und abzugrenzen.<br />

• Dies bedeutet für die berufliche Praxis, zum einen die Gruppe als selbständige Praxisform<br />

mit einer eigenen inneren Strukturiertheit, Dynamik und sozialisatorischen Möglichkeit<br />

wahrzunehmen und handlungspraktisch einzubeziehen und zum anderen aber<br />

auch die Stellung jedes einzelnen in der Gruppe für die fachliche Arbeit zu berücksichtigen.<br />

• Dies bedeutet also, die relative Autonomie und innere Differenziertheit der Gruppe für die<br />

fachlichen Aufgaben selbst nutzbar zu machen. Dies kann in Bereichen von Betreuung,<br />

Erziehung, Bildung und Unterstützung z.B. durch die Ausgestaltung einer besonderen<br />

„Hilfe- und Unterstützungskultur“ erfolgen, in der die Älteren, Erfahreneren oder Leistungsfähigeren<br />

Funktionen der Hilfe und Unterstützung gegenüber den weniger<br />

Leistungsfähigen übernehmen und indem eine wechselseitige Unterstützung unter Gleichen<br />

bei der Bewältigung praktischer Probleme eingeübt wird (vgl. Oevermann 1997,<br />

S.176).<br />

1.3.3 Arbeitsbündnis und Kooperation der Fachkräfte beruflicher sozialer<br />

Arbeit untereinander<br />

Die Einzelpraxis beruflicher sozialer Arbeit vollzieht sich in der Regel in verschiedenen Formen<br />

der Kooperation mit anderen Fachkräften beruflicher sozialer Arbeit. Hierbei könnte<br />

typisierend auf der einen Seite von eher additiven Formen der Kooperation gesprochen werden,<br />

auf der anderen Seite von integrierten und integrativen Formen der Kooperation.<br />

Multidisziplinarität wäre dementsprechend die eher additive Kooperation mehrerer Disziplinen<br />

beruflicher sozialer Arbeit, während Interdisziplinarität eine in sich integrierte und bezüglich<br />

des Nutzers/ Klienten integrative verfahrend Kooperation der Fachkräfte bezeichnen<br />

würde (Vgl. z.B. Pretis 2001).<br />

47 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

In dem Maße, in dem die Einzelpraxis, d.h. das einzelne Arbeitsbündnis, eingebunden ist in<br />

eine integrierte und integrative arbeitende Gesamtpraxis von Fachkräften, gewinnt das einzelne<br />

Arbeitsbündnis seine Bedeutung und seinen Stellenwert erst als Teil dieser Gesamtpraxis.<br />

In der Beziehung zum Klienten/ Nutzer bedeutet dies praktisch, dass das einzelne Arbeitsbündnis<br />

Fachkraft-Klient/ Klientengruppe eingebunden ist in ein Arbeitsbündnis mit einem<br />

Kollektiv von Fachkräften als eigenständiger Praxisform.<br />

Möglichkeiten und Formen einer kooperativen Praxis beruflicher sozialer Arbeit als eigenständiger<br />

Gesamtpraxis hängen zentral vom Professionalisierungsgrad der beteiligten Disziplinen<br />

sowie von der Existenz notwendiger organisationeller Voraussetzungen ab.<br />

Zum Professionalisierungsgrad: Mit unterschiedlichem Professionalisierungsgrad vor allem<br />

hinsichtlich der Ebene wissenschaftlicher Ausbildung sind unterschiedliche Kompetenzzuweisungen/unterschiedliche<br />

Expertise und damit verbunden unterschiedlicher sozialer Status<br />

und auch unterschiedliches Einkommen gegeben. Aus dem hieraus objektiv vorgegebenen<br />

System sozialer Ungleichheit können spezifische Konfliktlagen und Störungsquellen der Kooperation<br />

erwachsen. Dies gilt um so mehr, als die unter dem Gesichtspunkt wissenschaftlicher<br />

Ausbildung geringer professionalisierten Bereiche beruflicher sozialer Arbeit oft in stärkerem<br />

Maße in die konkret-praktische Arbeit mit Klienten eingebunden sind und dort die<br />

Herausforderungen und Widersprüchlichkeiten eines Arbeitsbündnis handhaben müssen.<br />

Sonderprobleme stellen darüber hinaus die Besetzung von Arbeitsbereichen mit nicht oder<br />

fachfremd ausgebildeten Mitarbeitern sowie die Besetzung gleicher Arbeitsbereiche mit unterschiedlich<br />

professionalisierten Mitarbeitern dar.<br />

Kollektive Praxis von<br />

Fachkräften/ Interdisziplinarität<br />

Einzelne<br />

Fachkraft<br />

Eltern/<br />

Gesetzliche<br />

Betreuer<br />

Abb. 13: Konstellationen von Arbeitsbündnissen<br />

Kollektive Praxis von<br />

Klienten<br />

Einzelner<br />

Klient<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 48


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.4 Eine phasenbezogene Betrachtungsweise von Arbeitsbündnissen<br />

Arbeitsbündnisse können unter dem Gesichtspunkt ihrer Entwicklung und Gestaltung auch<br />

einer phasenbezogenen Betrachtung unterzogen werden. Auch wenn von arbeitsfeldspezifisch<br />

oft erhebliche Unterschieden in der Ausgestaltung der einzelnen Phasen ausgegangen werden<br />

muss, kann grob typisierend zwischen den Phasen der Einrichtung, der Entfaltung und der<br />

Beendigung von Arbeitsbündnissen unterschieden werden. Bezogen auf die Hilfe- bzw.<br />

Unterstützungsmaßnahme insgesamt, d.h. den Interventionsverlauf, kommt diesen Phasen<br />

eine jeweils besondere Bedeutung zu, die in der Rahmenarbeit angemessen zu berücksichtigen<br />

und zu gestalten ist (vgl. Allert 1994).<br />

Eine besondere Bedeutung kommt der Phase der Einrichtung von Arbeitsbündnissen zu, da<br />

sie den Charakter einer folgenreichen Weichenstellung für den weiteren Interventionsverlauf<br />

besitzt. Hier geht es nach einer mehr oder weniger ausdifferenzierten und spezialisierten Phase<br />

der Diagnostik um die fachlich begründete Angebotsauswahl und die fallspezifische Übersetzung<br />

der Angebotsauswahl in konkrete Arbeits- und Hilfekonzepte. Zugleich ist diese Phase<br />

auf der Beziehungsebene entscheidend für den Beziehungsaufbau und die Herstellung und<br />

Sicherung einer notwendigen Vertrauensbasis.<br />

Die Phase der Entfaltung von Arbeitsbündnissen kann als Phase der Bewährung charakterisiert<br />

werden. Zentrale Fragestellungen sind hier, ob und inwieweit die individuelle Hilfeplanung<br />

nach den Regeln der jeweiligen Fachlichkeit und Konzeption fallangemessen und<br />

im Sinne einer „Hilfe zur Selbsthilfe“ verwirklicht werden kann, ob es dabei zu einer prozessbezogenen<br />

Evaluation der Hilfeerbringung und ggf. Anpassung des individuellen Hilfeplanes<br />

kommt oder ob als Gegenpol hierzu eine unangemessenen Anpassung des Klienten an die<br />

Routinen der Hilfeerbringung erfolgt.<br />

Auch entscheidet sich hier, ob den Anforderungen und Ansprüchen interdisziplinärer Kooperation<br />

der Fachkräfte einerseits und einbettender Arbeitsbündnisse mit Eltern und gesetzlichen<br />

Vertretern andererseits angemessen Rechnung getragen werden kann.<br />

Schließlich stellt sich die Frage der fallangemessenen Beendigung des Hilfe- und Unterstützungsprozesses<br />

nicht nur antizipierend schon bei der individuellen Hilfeplanung<br />

in der Einrichtungsphase sondern i.d.R. pointiert und entscheidungsrelevant in der Phase<br />

der Entfaltung, aus der heraus die Beendigungsphase fachlich begründet einzuleiten ist.<br />

Zentrale Thematiken in der Beendigungsphase sind die angemessene Auflösung des Arbeitsbündnisses,<br />

die innerfachliche sowie die mit dem Klienten bzw. seiner Stellvertretung durchgeführte<br />

Reflexion und Bilanzierung des Prozesses sowie Aktivitäten zur Gestaltung des<br />

Überganges und ggf. Weiterleitung.<br />

49 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.5 Das Arbeitsbündnis und seine soziale Rahmung<br />

1.5.1 Grundbestimmungen von Rahmen und Rahmenarbeit<br />

Das Arbeitsbündnis bezeichnet in Abgrenzung zu rollenförmig-spezifischen und diffusfamilialen<br />

Beziehungen einen besonderen Beziehungstypus mit der Gleichzeitigkeit diffusfamilialer<br />

und rollenförmig-spezifischer Beziehungskomponenten in einer konkreten personalisierten<br />

beruflichen Praxis.<br />

Die Einrichtung, Entfaltung und Beendigung von Arbeitsbündnissen verweist auf die Herstellung,<br />

Sicherung und ggf. Veränderung eines Rahmens als des spezifischen sozialen Kontextes,<br />

innerhalb dessen sich dieser Beziehungstypus entfalten kann (Becker 1996, Deserno<br />

2000, Goffman 1974, Müller 2000, aus systemischer Sicht v. Schlippe/ Schweitzer 1999,<br />

Welter-Enderlin/Hildenbrand 2004).<br />

Das Arbeitsbündnis gründet dabei sowohl auf vorgegebenen Rahmenbedingungen als auch<br />

auf konkreten Vereinbarungen zwischen Klient und Fachkraft/ Fachkräften, die insgesamt als<br />

Rahmen bezeichnet werden können.<br />

Allgemein regelt der Rahmen das Zustandekommen, die Aufrechterhaltung und die Beendigung<br />

eines Arbeitsbündnisses als einer konkreten personalisierten beruflichen Beziehungspraxis<br />

(Müller 2000). Die Herstellung, Sicherung, ggf. Modifikation und Aufhebung der<br />

Rahmenbedingungen eines Arbeitsbündnisses soll hier als Rahmenarbeit bezeichnet werden.<br />

Rahmenarbeit in diesem Sinne stellt deshalb auch als ein wichtiges Element der Kunstlehren<br />

beruflicher sozialer Arbeit in ihren jeweiligen Praxisfeldern dar. Dabei ist die Rahmenarbeit<br />

als Herstellung und Aufrechterhaltung der Rahmenbedingungen des Arbeitsbündnisses immer<br />

essenzieller Teil dieser besonderen Beziehungspraxis selbst und geht ihr nicht etwa einfach<br />

voraus.<br />

1.5.2 Elemente und Funktionen des Rahmens<br />

Wichtige Elemente des Rahmens im engeren Sinne sind u.a.:<br />

• Rechtliche Rahmenbedingungen, insbesondere Anspruchsgrundlagen und Leistungsverpflichtungen<br />

• Hilfepläne, Förder- und Behandlungspläne unterschiedlicher Reichweite und Konkretion<br />

• Verfahren der Hilfeplanung und Evaluation/ Kontrolle<br />

• Konzeptionen, Einrichtungsverträge, dienst- und einrichtungsspezifische Strukturen und<br />

Vorgehensweisen<br />

• Fachliche Standards, Verfahren, Vorgehensweisen<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 50


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Wichtige Elemente des Rahmens im weiteren Sinne sind u.a.:<br />

• Fachlichkeit und Persönlichkeit der Fachkraft<br />

• Sozialräumliche Bedingungen, psychosoziale Versorgungsstrukturen einer Region<br />

• Allgemeinpolitische und sozialpolitische Rahmenbedingungen<br />

• Finanzielle Rahmenbedingungen<br />

Dem Rahmen kommen verschiedene Funktionen zu, die wiederum unterschiedlichen Ebenen<br />

zuzuordnen sind (Becker 1996, Müller 2000)<br />

Die kontraktuelle Ebene<br />

Auf einer kontraktuellen Ebene reguliert der Rahmen das Arbeitsbündnis unter der Perspektive<br />

einer rollenförmig-spezifischen Beziehung und hat vor allem auf folgende Fragen eine<br />

Antwort zu geben:<br />

• Welche Hilfe- bzw. Unterstützungsleistung soll erbracht werden?<br />

• Wer soll die Hilfeleistung erbringen?<br />

• In welcher Frequenz und an welchem Ort soll die Hilfeleistung erbracht werden?<br />

• Für welchen Zeitraum ist die Hilfeleistung vorgesehen?<br />

• Wie, wann und warum und unter wessen Beteiligung kann die Hilfeleistung verlängert,<br />

modifiziert oder beendet werden?<br />

• Wie wird die Hilfeleistung finanziert?<br />

• Welche Vereinbarungen bestehen für den Umgang mit Krisen und Konflikten?<br />

Die fachliche Ebene<br />

Auf einer fachlichen Ebene reguliert der Rahmen das Arbeitsbündnis unter fachlichen Gesichtspunkten<br />

und berücksichtigt den Klienten dabei als ganze Person mit seinen besonderen<br />

Einschränkungen aber auch Ressourcen und Möglichkeiten.<br />

Hierbei geht es vor allem um die Frage, ob und wie die konkreten Rahmenbedingungen des<br />

Arbeitsbündnisses auf die individuellen Belange eines Klienten abgestimmt werden können.<br />

Mit der fachlichen Bezugnahme auf den Klienten als ganze Person in einer lebenspraktischen<br />

Krisensituation wird über die fachliche Ebene auch auf Seiten der Fachkraft (und nicht alleine<br />

auf Seiten des Klienten durch seinen Hilfebedarf) eine nicht-rollenförmige, sondern vielmehr<br />

diffus-familiale Beziehungskomponente in die Beziehungspraxis eingeführt.<br />

Die sozialisatorisch und resozialisatorisch-therapeutische Ebene<br />

Auf einer sozialisatorischen und resozialisatorisch-therapeutischen Ebene hat der Rahmen die<br />

Funktion der bewussten fachlichen Herstellung eines eigenen Schutz- und Entwicklungsraumes,<br />

innerhalb dessen notwendig diffus-familiale Beziehungskomponente zur Entfaltung<br />

gelangen.<br />

51 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Der Rahmen etabliert in Abgrenzung nach außen gegenüber anderen Beziehungen einen sozialen<br />

Ort, der durch Merkmale der Besonderheit und Sicherheit, der Zuverlässigkeit,<br />

der Kontinuität und Berechenbarkeit gekennzeichnet ist und besitzt hierdurch besondere<br />

sozialisatorische Qualitäten i. S. e tragenden, haltenden, schützenden und versorgenden „mütterlichen<br />

Funktion“ (Becker 1996, Müller 2000,Lazar 2000, Welter-Enderlin/<br />

Hildenbrand 2004).<br />

Nach innen reguliert der Rahmen dagegen die Beziehung zwischen Fachkraft und Klient, er<br />

ist gemeinsamer Bezugspunkt ihrer Beziehungspraxis. Als solcher schützt er vor Vereinseitigungen<br />

der Hilfebeziehung in Richtung Intimisierung oder Technologisierung und in dieser<br />

triangulierenden Funktion kommen ihm sozialisatorische Qualitäten i. S. e. „väterlichen<br />

Funktion“ zu (Becker 1996, Bürgin 1998, Schon 1995, Schon 2000, Welter-Enderlin, 2004).<br />

Rahmen<br />

außen<br />

K F<br />

innen<br />

Abb. 14: Die soziale Rahmung von Arbeitsbündnissen<br />

F = Fachkraft<br />

K = Klient<br />

1.5.3 Diagnostisches Arbeitsbündnis und Einrichtung von Arbeitsbündnissen<br />

In sehr unterschiedlichen, z.T. wenig differenzierten, z.T. aber auch hochspezialisierten und<br />

komplexen Erscheinungsformen basieren Arbeitsbündnisse auf einer vorgängigen Phase der<br />

Hilfebedarfsermittlung/ Diagnostik und Angebotsauswahl/ Indikation, d.h. auf einer Phase<br />

der Hilfeplanung.<br />

Dieser Prozess der Hilfeplanung folgt selbst schon der Logik eines Arbeitsbündnisses und<br />

soll hier als diagnostisches Arbeitsbündnis bezeichnet werden. Gerade in der Praxisform des<br />

diagnostischen Arbeitsbündnisses wird die Autonomieproblematik des Klienten zum zentralen<br />

Thema, hier muss er sich erstmals öffnen, der Fachkraft notwendig einen gewissen Vertrauensvorschuss<br />

entgegenbringen und seinen Hilfebedarf artikulieren.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 52


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Das diagnostische Arbeitsbündnis bedarf hierzu ebenso wie das auf die tatsächliche Hilfeerbringung<br />

bezogene Arbeitsbündnis eines besonderen Rahmens und einer besonderen Rahmenarbeit<br />

auf Seiten der Fachkraft. Auf der fachlichen Ebene kommt der Fachkraft dabei die<br />

letzte Verantwortung für die Herstellung, Gestaltung und Beendigung des Arbeits-bündnisses<br />

zu (Oevermann 1997, S.121 f). Mit der Qualität der Rahmenarbeit, insbesondere bei der Einrichtung<br />

von Arbeitsbündnissen, (sowohl diagnostischen als auch hilfeerbringungsbezogenen)<br />

entscheidet sich oftmals schon sehr früh, ob und inwieweit dem Hilfeanliegen des<br />

Klienten angemessen entsprochen werden kann (Allert/ Bieback-Diel, Oberle, Seyfarth 1994,<br />

S.216 ff).<br />

Auf der Beziehungsebene geht es ja folgenreich um die Herstellung einer vertrauensvollen<br />

Beziehung zwischen Fachkraft und Klient als Grundlage der Hilfeerbringung. Auf der Wissensebene<br />

geht es ja folgenreiche um ein angemessenes Verständnis der Problemlage des<br />

Klienten sowie seine besonderen Ressourcen und Möglichkeiten.<br />

Auch aus neuerer bindungstheoretischer Sicht wird deutlich, wie bedeutungsvoll eine fallorientierte<br />

und individualisierende Handhabung der Rahmenbedingungen gerade in der Phase<br />

der Einrichtung von Arbeitsbündnissen ist. Die Bindungsforschung hat eindrücklich nachweisen<br />

können, wie die Qualität von Bindungsmustern und damit von Beziehungen Grundlage<br />

und Voraussetzung für gelingende Entwicklungs- und Lernprozesse ist. Die Sicherheit der<br />

Bindung einerseits und die Lust am Lernen sowie das Lernvermögen andererseits stehen in<br />

engster Wechselwirkung zueinander (zum Überblick: Brisch 1999, Brisch/ Grossmann/<br />

Grossmann/ Köhler 2002, Dornes 2000, Strauß 2000, Suess/ Pfeifer 1999, Suess/ Scheuerer-<br />

Englisch/ Pfeifer 2002).<br />

Die Einrichtung eines Arbeitsbündnisses stellt für den Klienten eine aufgrund einer lebenspraktischen<br />

Krise eingetretene Handlungssituation dar, die verunsichert und ängstigend sein<br />

kann. Aus bindungstheoretischer Sicht ist sie damit eine typische Auslösesituation für typische<br />

Bindungsmuster und damit Beziehungsangebote des Klienten, die in Krisen-situationen<br />

aktiviert werden und die Beziehungsgestaltung und Möglichkeiten von Entwicklungs- und<br />

Lernprozessen im Arbeitsbündnis nachhaltig beeinflussen.<br />

In solchen Situationen kann es für die Fachkraft/ die Fachkräfte hilfreich sein,<br />

• die von der Bindungstheorie beschriebenen typischen Bindungs- und Beziehungsmuster<br />

zu kennen, die in solchen Belastungssituationen beim Klienten typischerweise aktiviert<br />

werden können<br />

• dabei die besonderen Bindungs- und Beziehungsmuster des jeweiligen Klienten zu erkennen<br />

und zu verstehen<br />

• und individualisierend fallverstehend im Prozess der Hilfeplanung und Hilfeerbringung zu<br />

berücksichtigen (Bisch 1999).<br />

53 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.5.4 Prozess und Funktionen individueller Hilfeplanung<br />

Übergeordnete Funktionen individueller Hilfeplanung<br />

Der Prozess der Hilfeplanung erfolgt aus professionalisierungstheoretischer Sicht grundsätzlich<br />

innerhalb der Rahmung und der Eigenlogik eines oder mehrerer Arbeitsbündnisse.<br />

In komplexen und hochgradig arbeitsteiligen Sozial- und Gesundheitssystemen wird der Prozess<br />

der Hilfeplanung in unterschiedlichen Formen ausdifferenziert und personell und institutionell-organisatorisch<br />

in vielfältiger und oft unübersichtlicher Weise spezialisiert.<br />

Dies führt zu den bekannten Problemen der Desintegration und Diskontinuität des Leistungsgeschehens<br />

und unter der Perspektive des Arbeitsbündnisses zu einer möglichen „Inflation“<br />

diagnostischer Arbeitsbündnisse mit entsprechenden Belastungen und Überlastungen sowohl<br />

der Klienten als auch der Fachkräfte (Ewers/ Schaeffer 2000. 7 ff).<br />

In Orientierung an der neueren Diskussion zum Case Management und Unterstützungsmanagement<br />

lassen sich in komplexen Sozial- und Gesundheitssystemen dem Prozess der<br />

individuellen Hilfeplanung drei übergeordnete Funktionen zuordnen (Ewers/ Schaeffer 2000,<br />

Raiff/ Shore 1997, Wendt 2001):<br />

• Eine anwaltschaftliche Funktion der Vertretung der Interessen des Klienten (Advocacy-<br />

Funktion),<br />

• eine Vermittler- oder Makler-Funktion i. S. e. Information und Beratung hinsichtlich der<br />

verschiedenen möglichen Unterstützungs- und Hilfeangebote (Broker-Funktion) und<br />

• eine Funktion der Zugangssteuerung zu den verschiedenen Dienstleistungsbereichen (Gate-Keeper-Funktion)<br />

(Ewers 2000).<br />

Diese Funktionen können insgesamt oder auch einzeln an verschiedenen Stellen angesiedelt<br />

sein. Je nachdem, ob diese Funktionen durch<br />

• neutrale Instanzen (z.B. Koordinations- oder Beratungsstellen),<br />

• durch die Leistungserbringer selbst (Einrichtung, Dienst, Einzelpraxis) oder<br />

• durch die Kosten- bzw. Leistungsträger (z.B. Sozialämter, Jugendämter, Krankenkassen)<br />

wahrgenommen werden, werden die anwaltschaftliche Vertretung des Klienten, seine Beratung-<br />

und Vermittlung und die Kontrolle seines Zuganges zu bestimmten Leistungs-bereichen<br />

eine andere Akzentuierung erfahren.<br />

Weiterhin kann danach unterschieden werden, ob und ggf. in welcher Form die Stelle, die in<br />

letzter Instanz die Funktion der Zugangssteuerung übernimmt,<br />

a) an der Umsetzung/ Implementierung des Hilfeplanes beteiligt ist und<br />

b) an der weiteren Begleitung, Evaluation und Kontrolle der Leistungserbringung<br />

beteiligt ist.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 54


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Zuweisungsdiagnostik und Angebotskonkretisierung im Prozess der individuellen Hilfeplanung<br />

In komplexen und arbeitsteilig ausdifferenzierten Gesundheits- und Sozial- und Bildungssystemen<br />

kommt der Hilfebedarfsermittlung/ Diagnostik die Funktion einer Zuweisungs- oder<br />

Begründungsdiagnostik zu. Als solche hat sie die Aufgabe, aus einer basalen, alle relevanten<br />

Bereiche umfassenden Diagnostik, eine fachlich begründete Auswahl von Hilfe- und Unterstützungsangeboten<br />

abzuleiten. Der individuelle Hilfeplan besteht dann in dieser fachlich begründeten<br />

Angebotsauswahl mit mehr oder weniger konkreten und differenzierten Zielvorgaben<br />

für die tatsächliche Leistungserbringung.<br />

Mit dieser fachlich begründeten Angebots- oder Programmauswahl wird zugleich die Funktion<br />

der Zugangssteuerung (gate-keeper-Funktion) der individuellen Hilfeplanung realisiert.<br />

Kostenträger behalten es sich deshalb allermeist vor, letztinstanzlich durch eigene fachliche<br />

Begutachtung die fachliche Begründetheit der Angebotsauswahl zu prüfen oder prüfen zu<br />

können (z.B. das Sozialamt durch das Gesundheitsamt oder spezielle Stabsstellen oder die<br />

Krankenkassen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen).<br />

Beispiele für solche fachlich begründeten Angebotsauswahlen auf der Grundlage einer Zuweisungsdiagnostik<br />

sind:<br />

• die medizinische Indikation für ein bestimmtes Heilmittel<br />

• die Indikation für eine Komplexleistungsmaßnahme im Bereich interdisziplinärer<br />

Frühförderstellen und Sozialpädiatrischer Zentren<br />

• die Feststellung eines behinderungsbedingten Mehraufwandes als Grundlage für eine<br />

Integrationsmaßnahme im Bereich der Kindertagesstätten<br />

• die Feststellung der Schulreife/ Schulfähigkeit<br />

• die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfes als Grundlage für eine<br />

Sonderbeschulung<br />

• die Ermittlung von Hilfebedarfsgruppen im Wohnheimbereich<br />

• die Eingruppierung in Pflegestufen<br />

Diese Angebots- oder „Programmauswahlen“ bedürfen dann im Prozess der individuellen<br />

Hilfeplanung in den Einrichtungen, Diensten und ggf. Einzelpraxen einer auf den einzelnen<br />

Klienten bezogenen, d.h. fallspezifischen Konkretisierung und Übersetzung (Oevermann<br />

1993 a, 2000d, 2002). Diese Konkretisierung und Umsetzung der Angebotsauswahl in konkrete<br />

fachliche Handlungsansätze und Konzepte erfolgt in den Einrichtungen und Diensten auf<br />

der Grundlage der je besonderen fachlichen und organisatorischen Routinen sowie der je<br />

besonderen konzeptionellen und ggf. gesetzlichen Vorgaben und hat besitzt auch eine je besondere<br />

bereichsspezifische Form. Bereichsspezifisch kann diese Konkretisierung und Umsetzung<br />

auch auf Basis einer expliziten fachlichen Förderdiagnostik erfolgen, die ihrerseits<br />

auf der basalen Zuweisungsdiagnostik aufruht und diese differenziert, fortführt und zugleich<br />

überprüft.<br />

Die Funktion der prozessbezogenen Evaluation der Leistungserbringung<br />

55 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Diese prozessbezogene Funktion sichert die Rückkoppelung des tatsächlichen Prozesses der<br />

Leistungserbringung mit der individuellen Hilfeplanung und dem Hilfeplan.<br />

Die prozessbezogene Evaluation der Leistungserbringung ist notwenig i. S. e. fachlich fundierten<br />

und reflektierten Leistungserbringung. Sie kann durch bestimmte Formen bürokratischer<br />

Formalisierung und bestimmte Auflagen aber auch eher behindert als unterstützt<br />

werden und dient dann oft vorrangig einer Bedarfs- und Kostensteuerung durch Leistungserbringer<br />

und/ oder Kostenträger oder schlicht als formalisierter Leistungsnachweis.<br />

Gerade im Prozess der Hilfeplanung kommt die grundsätzlich widersprüchliche und paradoxale<br />

Struktur beruflicher sozialer Arbeit zum Ausdruck: Zum einen vollzieht sich die Hilfeplanung<br />

selbst in einem Arbeitsbündnis mit der Gleichzeitigkeit diffuser und spezifischer Beziehungskomponenten.<br />

Zum anderen hat die Fachkraft bei der Hilfeplanung anwaltschaft-lich<br />

sowohl die Interessen des Klienten gegenüber der Gesellschaft wahrzunehmen, wie sie auch<br />

die Interessen der Gesellschaft gegenüber dem Klienten z.B. durch die Planung effizienten<br />

Mitteleinsatzes zu berücksichtigen hat. Schließlich besteht bei der Hilfeplanung auch noch ein<br />

spannungsvolles Verhältnis zwischen den ökonomischen Eigeninteressen der Fachkräfte, Praxen,<br />

Einrichtungen und Dienste einerseits (z.B. Stichwort Verweildauer) und den Interessen<br />

der Klienten und Kostenträger andererseits.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 56


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.6 Aspekte der Leiter/innen-Mitarbeiter/innen-Beziehungen, ihrer sozialen<br />

Rahmung und ihrer Bedeutung für das Arbeitsbündnis<br />

Leistungsgemeinschaft und Personengemeinschaft und soziale Rahmung<br />

Dienste und Einrichtungen im Bereich beruflicher sozialer Arbeit sind soziale Organisationen<br />

mit einer mehr oder weniger ausgeprägten arbeitsteiligen und hierarchischen Struktur zur Erbringung<br />

sozialer Dienstleistungen für bestimmte Klienten/ Nutzern. Sie können insofern als<br />

Leistungsgemeinschaften gekennzeichnet werden. Unter dem Gesichtspunkt der Leistungsgemeinschaft<br />

beziehen sich die Organisationsmitglieder als Rollenträger aufeinander unter der<br />

Bedingung der Austauschbarkeit des Personals.<br />

Die Organisationsmitglieder sind als Rollenträger innerhalb ihrer Rolle zugleich ganze Personen<br />

mit bestimmten besonderen Wünschen, Bedürfnissen, Vorlieben, Erwartungen, Schwierigkeiten,<br />

Eigenheiten etc. . Unter diesem Gesichtpunkt bildet die soziale Organisation zugleich<br />

eine Personengemeinschaft, in welcher die Rollenbeziehungen auch eine je besondere<br />

personale und gruppenspezifische Ausgestaltung und Einfärbung erhalten (zum Spannungsfeld<br />

von Leistungsgemeinschaft und Personengemeinschaft vgl. Lotmar/ Tondeur 1996). (7)<br />

Die LeiterInnen-MitarbeiterInnen-Beziehungen sind bezüglich der Dimensionen von<br />

Einflußnahmemöglichkeiten, Macht und Verantwortung asymmetrisch. Dies befördert strukturell<br />

die Tendenz einer gefühlsmäßigen Einfärbung der Rollenbeziehungen sowohl auf Seiten<br />

der Mitarbeiter/innen wie der Leitung nach den jeweiligen Mustern früherer familialer<br />

Beziehungserfahrungen.<br />

Will Leitungshandeln der Gleichzeitigkeit von Leistungs- und Personengemeinschaft gerecht<br />

werden, dann hat es sich auf die Mitarbeiter/innen immer als Rollenträger und zugleich als<br />

ganzer Personen innerhalb einer Rolle zu beziehen. Leitungshandeln setzt sich aus dieser<br />

Sicht deshalb immer aus aufgabenorientierten und beziehungsorientierten Interventionen zusammen<br />

(vgl. Weigand 1994).<br />

(7) Eine Besonderheit in den Feldern beruflicher sozialer Arbeit kann zudem darin bestehen, dass sich die MitarbeiterInnen<br />

der Einrichtungen und Dienste gleichzeitig als Mitglieder der Organisation und als Mitglieder einer<br />

mehr oder weniger organisierten kollektiven beruflichen Praxis, d.h. z.B. als therapeutische oder pädagogische<br />

KollegInnen aufeinander beziehen. Dieser gleichzeitige kollegiale Bezug ist auch von erheblicher Bedeutung für<br />

die LeiterInnen-MitarbeiterInnen-Beziehungen (vgl. Oevermann 1993).<br />

Eine weitere Besonderheit im Bereich beruflicher sozialer Arbeit ist eine oftmals festzustellende Entkoppelung<br />

von sozialem Status und fachlicher Qualifikation, anders als z.B. im Bereich der Industrieproduktion. Zwar gilt,<br />

dass mit fallendem sozialen Status die formale Verantwortung abnimmt, nicht aber die im Arbeitsbündnis praktisch<br />

abgeforderte Problemlösungskompetenz in der stellvertretenden Bewältigung von Krisenkostellationen<br />

(vgl. Oevermann 2000a, 63 f).<br />

Die Rahmenarbeit der Leitung i. S. d. Einrichtung, Aufrechterhaltung und ggf. Beendigung<br />

der Rahmenbedingungen für die Arbeit des einzelnen Mitarbeiters und der sozialen Organisa-<br />

57 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

tion insgesamt hat Strukturähnlichkeiten mit der Rahmung und Rahmenarbeit in der primären<br />

familialen Sozialisation:<br />

Nach außen sichern der Rahmen und die Rahmenarbeit der Leitung die Existenz und Entwicklung<br />

eines Arbeitsplatzes für einen einzelnen Mitarbeiter oder Bestand und Entwicklung<br />

der Organisation insgesamt. Hierdurch kommt Leitungshandeln eine sichernde, sorgende und<br />

vorsorgende „mütterliche“ Funktion zu.<br />

Nach innen sichern der Rahmen und die Rahmenarbeit der Leitung die Regulierung der Mitarbeiter/innenbeziehungen<br />

untereinander sowie die Grundsätze der Beziehungsgestaltung mit<br />

Dienstleistungsempfängern und anderen Dritten, und insofern kommt Leitungshandeln eine<br />

ordnende und triangulierende „väterliche“ Funktion zu.<br />

Bezogen auf den Bereich beruflicher sozialer Arbeit, innerhalb dessen der Dienstleistungsempfänger<br />

oder „Kunde“ ja Klient/ Nutzer innerhalb der konkret-personalisierten Praxis eines<br />

Arbeitsbündnisses ist, lässt sich dies noch deutlicher akzentuieren:<br />

Nach außen ist der Leiter Sicherer der allgemeinen Rahmenbedingungen für die Möglichkeit<br />

einer angemessene fallspezifische Rahmung von Arbeitsbündnissen durch die Fachkräfte<br />

selbst und nach innen ist er zugleich Hüter und Wächter einer fallangemessenen Rahmenarbeit<br />

der einzelnen Fachkräfte.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 58


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Mitarbeiterin/ Mitarbeiter spezifische soziale<br />

Beziehung<br />

Leitung Beteiligung und<br />

Darstellung der ganzen<br />

Person innerhalb<br />

einer Rollenbeziehung,<br />

Abb. 15: Aspekte der Leiter/innen-Mitarbeiter/innen-Beziehungen<br />

59 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005<br />

Symmetrisch bezüglich der Spezifizität der Beziehung<br />

Asymmetrisch bezüglich Einflußnahmemöglichkeiten, Macht<br />

und Verantwortung i.V.m. der jeweiligen Rolle


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Mögliche Vereinseitigungen der Leiter/innen-Mitarbeiter/innen-Beziehungen<br />

Bezüglich der Leiter/innen-Mitarbeiter/innen-Beziehungen sind typisierend Vereinseitigungen<br />

in Richtung Intimisierung und Technologisierung sowohl auf Seiten der Mitarbeiterin/ des<br />

Mitarbeiters wie auf Seiten der Leitung darstellbar.<br />

L<br />

L<br />

L<br />

Auf Seiten der Mitarbeiterin/ des Mitarbeiters<br />

• Der Mitarbeiter fällt aus der Rolle, er kann Herausforderungen und<br />

Konflikte nicht angemessen i.R.v. Rollenhandeln handhaben und<br />

lösen und greift statt dessen „ersatzweise“ auf Haltungen und Konstellationen<br />

aus dem familialen Sozialisationssystem zurück, was zu<br />

einer unangemessenen Übertragung primärer familialer Reaktionsweisen<br />

führt (Intimisierung/ Familialisierung).<br />

• Der Mitarbeiter zieht sich in Rolle zurück, lässt sich nichts zu<br />

Schulden kommen, macht aber „Dienst nach Vorschrift“, ist als<br />

Person nicht erreichbar, z.B. „innere Kündigung“<br />

(Technologisierung)<br />

Auf Seiten der Leitung<br />

• Die Leitung fällt aus der Rolle, sie kann Herausforderungen und<br />

Konflikte nicht angemessen innerhalb der Leitungsrolle handhaben<br />

und lösen und greift statt dessen ersatzweise auf Haltungen und<br />

Konstellationen aus dem familialen Sozialisationssystem zurück,<br />

was zu einer unangemessenen Übertragung primärer familialer<br />

Reaktionsweisen führt (Intimisierung/ Familialisierung).<br />

• Die Leitung stellt innerhalb ihrer Leitungsrolle keine Verbindung<br />

zum Mitarbeiter als ganzer Person her, d.h. sie kann oder will sich<br />

nicht in die Situation des Mitarbeiters als ganze Person innerhalb<br />

seiner Mitarbeiterrolle hineinversetzen (Technologisierung)<br />

• oder sie bezieht sich in einer nur äußerlichen Weise auf den Mitarbeiter<br />

als ganze Person innerhalb einer Mitarbeiterrolle. D.h., die<br />

Leitung bezieht sich auf den Mitarbeiter als ganze Person, aber ohne<br />

eigene innere Anteilnahme und Beteiligung als ganze Person<br />

(manipulative Formen der Mitarbeiterführung- und<br />

–entwicklung, Psycho-Technologie ).<br />

Abb. 16: Vereinseitigungen der LeiterInnen-MitarbeiterInnen-Beziehungen<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 60


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.7 Das Arbeitsbündnis und die Autonomie der Lebenspraxis<br />

1.7.1 Ein strukturtheoretisches Modell der Autonomie der Lebenspraxis<br />

Der Ansatz einer strukturtheoretischen Professionalisierungstheorie verweist auf ein strukturtheoretisches<br />

Modell von Lebenspraxis und ihrer Autonomie (Oevermann 1995, 1997c,<br />

2001a, 2001b).<br />

Autonomie und Bewährungsdynamik menschlichen Lebens als widersprüchliche Einheit<br />

von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung<br />

• Die stellvertretende Übernahme von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung<br />

in der Praxis beruflicher sozialer Arbeit wie in der primären familialen Sozialisation verweist<br />

auf strukturelle Grundbestimmungen, die für jede Lebenspraxis, sei es die Lebenspraxis<br />

eines einzelnen Individuums, die einer Familie, einer sozialen Gemeinschaft oder<br />

einer ganzen Gesellschaft gelten: Angesichts knapper materieller und psychosozialer Ressourcen<br />

und einer Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Zeit ist jede Lebenspraxis<br />

beständig und dauerhaft unter einen lebenspraktischen Entscheidungszwang gestellt.<br />

• Nicht-Entscheidung kann diesen Entscheidungszwang nicht grundsätzlich unterlaufen, da<br />

sich damit gleichsam automatisch bestimmte Konsequenzen und damit die Selektion von<br />

Handlungsmöglichkeiten einstellen. In den handlungspraktischen Routinen des Alltags<br />

verbirgt sich dieser Entscheidungszwang praktisch meist unbemerkt, dramatisch zum<br />

Ausdruck kommt er dagegen in lebenspraktischen Krisensituationen, in denen als Bestandteil<br />

der Krisensituation gerade nicht auf Entscheidungsregeln zurückgegriffen werden<br />

kann.(8)<br />

• Die Autonomie einer Lebenspraxis erweist, bewährt und entwickelt sich nun gerade darin,<br />

dass sie in einer praktischen Krisensituation, in der ja bestimmte Entscheidungsregeln<br />

nicht mehr greifen, dennoch eine Entscheidung trifft und dabei den Anspruch auf<br />

Begründbarkeit, auch wenn er zeitgleich gerade nicht einlösbar ist, grundsätzlich nicht<br />

aufgibt. Diese widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung,<br />

im Bereich z.B. ärztlichen professionalisierten Handelns noch deutlich gesteigert,<br />

macht die Bewährungsdynamik einer jeden Lebenspraxis aus.<br />

______________________________<br />

(8) „In diesem Modell ist natürlich auch eine Entscheidung durch Zufall ausgeschlossen. Sie wäre in zentralen<br />

Fragen der Lebensführung nicht nur explizit irrational im Sinne der Verleugnung der Autonomie als Lebensaufgabe,<br />

sondern auch die Sittlichkeit der Sozialität zerstörend. Würde man z.B. einem Ehepartner nachträglich<br />

eröffnen, man habe über die Heiratsentscheidung letztlich gewürfelt, so würde man der gemeinsamen Lebenspraxis<br />

damit ihren bindenden Grund entziehen und zugleich den Partner entwürdigen. Dieser könnte dann über<br />

ein daraus folgendes Scheidungsbegehren, sollte er darüber noch im Zweifel sein, seinerseits nicht würfeln,<br />

wenn er nicht die Verletzung seiner Würde und der Sittlichkeit der Sozialität als solche reproduzieren will. Einfacher<br />

formuliert: Der in seiner Würde verletzte Partner kann nicht zurückwürfeln, sondern nur zurück-schlagen“<br />

(Oevermann 1995, S.39.)<br />

61 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• Individuelle Lebenspraxen entwickeln sich in einem je individuierenden Bildungsprozeß<br />

und bilden eine Identität aus. In der Phase der Kindheit und Jugend sind sie<br />

zunächst auf eine angemessene, ihr Autonomiepotential unterstützende und fördernde<br />

Begleitung und Stellvertretung durch Eltern und andere Dritte angewiesen. Sie bereiten<br />

sich dabei in mehr oder weniger gelingender Weise innerhalb bestimmter Schutz-<br />

und Erprobungsräume/ Moratorien auf den Ernst der eigenverantwortlichen Übernahme<br />

von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung eines Erwachsenenlebens<br />

vor.<br />

• Auf der Basis der von Geburt an gegebenen spezifischen Autonomiepotentiale und ihrer<br />

krisenhaften Entfaltung in den Polen von Bindung und Ablösung bildet, bewährt<br />

und entwickelt sich die Autonomie der Lebenspraxis in der eigenverantwortlichen<br />

Übernahme von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung in eine grundsätzlich<br />

offene Zukunft hinein. In der damit gegebenen widersprüchlichen Einheit von<br />

Wahlmöglichkeit und Verantwortung, im „Zur-Autonomie-Verurteilt-Sein“ liegt das<br />

Spezifikum und die Herausforderung menschlicher Autonomie.<br />

• Aus dem Vorgegebenen, den vorgegebenen Möglichkeiten, wird durch Auswahl und<br />

Entscheidung das Aufgegebene (vgl. Welter-Enderlin 1999). Der Doppelsinn des<br />

Hauptwortes Aufgabe wird deutlich, es kann verstanden werden als ein Aufgeben, ein<br />

nicht Wählen von bestimmten Optionen und zugleich als eine sich mit diesem Aufgeben<br />

von Optionen ergebenden Option, die dann lebenspraktisch eine gewählte Aufgabe<br />

wird.<br />

• Für Grundbegriffe wie Autonomie, Individuierung, Bewährung und Authentizität gilt,<br />

dass sie notwendig einen zugleich deskriptiv-analytischen als auch einen normativen<br />

Charakter besitzen. „Deskriptiv-analytisch bezeichnen solche Begriffe je ein universales<br />

Strukturproblem, vor das jede Lebenspraxis in ihrem Bildungsprozess gestellt ist<br />

und das sie, ob sie will oder nicht, zu bewältigen hat. Normativ hingegen bezeichnen<br />

diese Begriffe zugleich den Grad des Gelingens in dieser Problem-bewältigung“, der<br />

grundsätzlich nur im Hinblick auf ein contrafaktisch geltendes, idealisiertes Gelingen<br />

darstellbar ist (Oevermann 2002a, 25-26).<br />

Grundsätzliche Bedeutung für die Praxis beruflicher sozialer Arbeit<br />

Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung bedeutet in dieser Sichtweise die Ermöglichung<br />

eines Höchstmaßes von Wahlmöglichkeiten und Verantwortung für die Gesamtheit<br />

der eigenen Belange, ohne dabei die besondere Verantwortung der Stellvertretung durch die<br />

Fachkräfte zu vernachlässigen. Selbstbestimmung i.S.v. Autonomisierung bedeutet aber auch,<br />

im Rahmen eines jeweils neu zu bestimmenden Schutzraumes Bewährung als durchaus riskante<br />

Entscheidung in eine offene Zukunft zu ermöglichen und zuzulassen.<br />

„Zu einem lebendig gelebten Leben, auch für Menschen mit Behinderungen, gehört nicht nur<br />

Sicherheit, sondern auch Risiko! Weiter bestehende Aufsichts- und Fürsorgepflicht dürfen<br />

kein Vorwand dafür sein, Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Selbstbestimmung vorzuenthalten“<br />

(Bundesarbeitsgemeinschaften und Fachverbände des Deutschen Caritasverbandes<br />

2001, 15).<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 62


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

„Je schwerer die Behinderung ist, desto mehr wird allerdings die Ergänzung der persönlichen<br />

Assistenz durch stellvertretendes Entscheiden und „fremdverantwortliches“ Handeln erforderlich<br />

sein. Dennoch muss in jeder Situation geprüft werden, wie viel Selbstbestimmungspotential<br />

vorhanden ist und wie weit es entwickelt werden kann. Die Umsetzung von<br />

Selbstbestimmung insbesondere von Menschen mit schweren Behinderungen setzt bei allen<br />

eine hohe Sensibilität und die Fähigkeit zu nonverbaler und basaler Kommunikation voraus.<br />

Selbstbestimmung und Assistenz fordern eine Form von Verantwortung, die nicht als pädagogisch<br />

verbrämte Teilnahmslosigkeit missverstanden werden darf.<br />

Ist ein Mensch (noch) nicht in der Lage, zwischen Alternativen zu wählen, wird man ihn verunsichern<br />

und überfordern, wenn man ihn auffordert, selbst zu entscheiden. Das heißt, für die<br />

Verwirklichung von Selbstbestimmung müssen die Voraussetzungen geschaffen werden. Es<br />

wird deutlich, dass man Wahrnehmung von Selbstbestimmung erst erwarten kann, wenn<br />

die individuellen Voraussetzungen erworben worden sind. Diese müssen gemeinsam erarbeitet<br />

und entwickelt werden, sie sind ein Ergebnis von Erziehung und Bildung (Bundesarbeitsgemeinschaften<br />

und Fachverbände des Deutschen Caritasverbandes 2001, 8). (9)<br />

Endlichkeitsbewusstsein, Bewährungsproblem und Bewährungsmythos<br />

• Das der Bewährungsdynamik zugrundeliegende eigentliche Bewährungsproblem menschlicher<br />

Lebenspraxis resultiert zwingend aus dem grundsätzlich gegebenen Endlichkeitsbewusstsein<br />

menschlichen Lebens, d.h. im Hinblick auf den Tod aber auch im Hinblick auf<br />

die grundsätzliche Irreversibilität von alltäglichen Entscheidungen. Aus dem Endlichkeitsbewusstsein<br />

ergeben sich Zeitknappheit, grundsätzlich offene Zukunft und Riskanz der<br />

„diesseitigen“ Lebensführung als Bewährungsproblem in jeder Entscheidungskrise. (10)<br />

_____________________________<br />

(9) Zum Autonomieproblem in Betreuungsinstitutionen und im Alter sowie zu den fachlichen Modellen von<br />

Regression, erlernter Hilflosigkeit und gelernter Abhängigkeit vgl. Zank/ Baltes 1999, In: Oerter/ v.Hagen/ Röper/<br />

Noam.<br />

(10) „Stellt man sich den biographischen Verlauf in dieser Weise als eine Kette von Entscheidungskrisen vor,<br />

dann wird sofort deutlich, dass mit den bewusst wahrgenommenen Entscheidungen in eine offene Zukunft natürlich<br />

nicht nur diese Zukunft gewonnen oder erobert worden ist, sondern zugleich im Sinne der unerbittlichen<br />

Logik des „point of no return“, der Endgültigkeit von Festlegungen und der Unwiederbringlichkeit von verworfenen<br />

Möglichkeiten, Weichen gestellt und potentielle Verluste in Kauf genommen worden sind. Ihnen gegenüber<br />

steht die Konturierung der im Vollzug sich bildenden Fallstrukturgesetzlichkeit als Zeichenkonfiguration,<br />

Charakteristik oder Charakter“ (Oevermann 1995, 40).<br />

In der Logik des „point of no return“ ist der Tod „gewissermaßen die Endgültigkeit in der Verkettung von Endgültigkeiten.<br />

Spätestens in der gedanklichen Vorwegnahme des eigenen sicheren Todes muss jedem Subjekt die<br />

unerbittliche Logik des „point of no return“ und die darin liegende Dialektik von Wahlfreiheit und Verantwortung,<br />

„das „Zur Autonomie-Verurteilt-Sein“ zu Bewusstsein kommen. Dass die daraus resultierende Zeitknappheit<br />

und Riskanz der diesseitigen Lebensführung dann analog für jede Entscheidungskrise gilt, ist daraufhin nur<br />

ein kleiner Reflexionsschritt“ (Oevermann 1995, 40-41).<br />

63 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• Die Bewährungsdynamik von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung ist<br />

grundsätzlich nicht stillstellbar, d.h. ein für alle mal zu bewältigen. Das Bewährungsproblem<br />

stellt sich immer wieder von neuem, da zur Routine gewordene Krisenlösungen<br />

angesichts der sich im Lebensvollzug ergebenden neuen Handlungsprobleme<br />

immer wieder der Möglichkeit des Scheiterns ausgesetzt sind und zu neuen<br />

Entscheidungskrisen führen.<br />

• Der Mensch kann, „je radikaler ihm die Paradoxie der Bewährungsproblematik zu<br />

Bewusstsein kommt, diese praktisch lebbar nur aushalten, wenn ihm positive Kriterien<br />

der Bewältigung und praktisch wirksame Anzeichen davon zur Verfügung stehen,<br />

wenn er sich rückblickend und vorblickend auf einen „record“ bzw. eine Agenda von<br />

Bewährungen verbindlich berufen kann. Die nicht stillstellbare Bewährungsdynamik<br />

erfordert also eine Bewährungsmythos, der grundsätzlich über Herkunft und Zukunft<br />

sowie die aktuelle Identität der eigenen Lebenspraxis verbindlich so Auskunft geben<br />

kann, dass darin die Unverwechselbarkeit der eigenen Lebenspraxis verbürgt ist. Der<br />

(Bewährungs-) Mythos muss also die berühmten drei Fragen – Wer bin ich (sind wir)?<br />

Woher komme ich (kommen wir)? Wohin gehe ich (gehen wir)? – verbindlich und unverwechselbar<br />

für eine konkrete Lebenspraxis beantworten.<br />

Darin besteht seine universelle Funktion. ... Für magische Kulturen sind die verschiedenen<br />

Typen konkreter Herkunftserzählungen bekannt. Dogmatisch ausgestaltete Religionen<br />

gründen zwingend auf systematisierte Schöpfungs- und Erlösungsmythen,<br />

und a-religiöse, säkularisierte Kulturen stellen an die Stelle solcher Mythen“ Ethiken,<br />

die auf eine diesseitige Autonomie bezogen sind, wie z.B. Leistungsethiken. ... „ Mit<br />

den Antworten des Bewährungsmythos ist die Bewährungsdynamik zwar nicht stillgestellt,<br />

aber der Umgang mit ihr praktisch lebbar gemacht worden“ (Oevermann 1995,<br />

64-65).<br />

• Damit der Mythos die Kraft einer glaubwürdigen Beruhigung des Lebens angesichts<br />

der Bewährungsdynamik besitzt, bedarf der Mythos einer suggestiven Einsichtigkeit<br />

und Überzeugungskraft. Diese suggestive Evidenz, die aus der Sache heraus ja primär<br />

nicht argumentativ und begründend sein kann, sondern eben „Glaubenssache“ ist, ist<br />

an ein kollektives Verbürgt-Sein, an überzeugungssichernde Vergemeinschaftungsformen<br />

gebunden. Dies gilt sowohl für religiöse Bewährungsmythen als auch für säkularisierte<br />

Bewährungsmythen wie etwa Leistungsethiken, die auf die Autonomie des<br />

einzelnen bezogen sind und die Hingabe an eine Sache oder Aufgabe erfordern. (11)<br />

______________________________<br />

(11) „Von einer Person, die mutig der offenen Zukunft zugewandt Krisenkonstellationen auf sich nimmt, ihnen<br />

nicht ausweicht und sie zu meistern sucht, kann man sagen, dass sie in Selbstvertrauen, also in Vertrauen auf ihr<br />

eigenes Problemlösungscharisma, ihr Leben vollzieht. Wenn sie über dieses Selbstvertrauen in religiöser Glaubenshaltung<br />

verfügt, kann man eben so gut sagen, dass sie von Gottvertrauen beseelt ist. ... Gemeinsam liegt<br />

ihnen zu Grunde, was sich soziologisch als die grundlegendste aller Habitusformationen bezeichnen lässt: ein<br />

struktureller Optimismus nach der Formel “Im Zweifelsfalle wird es gut gehen“, dem der strukturelle Pessimismus<br />

„Im Zweifelsfalle wird es schief gehen“ als allgemeinste Formel der Verhinderung von neuen Erfahrungen<br />

und der Vermeidung von Chancen für Neues entgegenstünde. Die allgemeinste Bedingung für die Aneignung<br />

einer solchen, einen strukturellen Optimismus der Lebensführung ausmachenden Habitusformation ist in der mit<br />

einer erfolgreichen Geburt abgeschlossenen Embryogenese und Schwangerschaft zu sehen. Denn dem Organismus,<br />

der diese Häufung von zu bewältigenden Krisen, wovon der Geburtsvorgang selbst gewissermaßen einen<br />

Höhepunkt darstellt, bewältigt hat, ist damit die Formel des strukturellen Optimismus ins Körpergedächtnis<br />

eingeschrieben worden. Es ist dies gewissermaßen die Formel der ursprünglichen Positivität des Lebens selbst“<br />

(Oevermann 2001a, 295).<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 64


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• Mit dem Zusammenhang von Endlichkeitsbewusstsein, Krise und Bewährungsdynamik<br />

und einer so verstandenen Sinnfrage ist in einem strukturtheoretischen Sinne, d. h. unabhängig<br />

von den konkreten historischen Erscheinungsformen, die universelle Struktur von<br />

Religiosität gegeben, die gerade auch mit der Auflösung religiöser Deutungsmuster nicht<br />

unterlaufen werden kann. (12)<br />

• Die Krise der modernen Arbeitsgesellschaft mit ihrer strukturellen Arbeitslosigkeit stellt<br />

sich im Kontext des Bewährungsproblems vor allem als eine Krise der Leistungsethik als<br />

einem säkularisierten Bewährungsmythos dar: Ein stetig zunehmender Teil der erwerbsfähigen<br />

Bevölkerung der modernen säkularisierten Gesellschaften muss sich ohne die<br />

Möglichkeit einkommenssichernder Erwerbsarbeit selbst verwirklichen. Damit benötigt<br />

dieser Anteil der Bevölkerung einen anderen Bewährungsmythos als den einer Leistungsethik,<br />

in der die Vorstellung von Arbeit als Normalform von Selbstverwirklichung zentral<br />

ist. Gleichwohl bleibt diese Leistungsethik für die immer höher zu qualifizierende verbleibende<br />

notwendige Arbeitskräfte weiterhin unverzichtbar.<br />

• Es erscheint offensichtlich zu sein, „dass mit einer bloßen Negation der Leistungsethik,<br />

also einer bloßen Verweigerungshaltung, ein Bewährungsmythos für diejenigen, die am<br />

arbeitsvermittelten Leistungssystem nicht mehr partizipieren, nicht gewährleistet ist, auch<br />

nicht mit einer wie auch immer gearteten Feier des hedonistischen Lebensgenusses. Vielmehr<br />

muss dieser neue Bewährungsmythos an das Prinzip der Selbstverwirklichung anschließen<br />

und es über die Gestalt der Leistungsethik hinaus verallgemeinern“<br />

(Oevermann 2001c, 37).<br />

• Bei den damit notwendig werdenden gesellschaftlichen Entwicklungs- und Transformationsprozessen,<br />

bei denen es zentral immer zugleich um die Frage der Entkoppelung von<br />

Sozialsicherheit und Erwerbsstatus geht, konvergieren Fragestellungen, Probleme, Erfahrungen<br />

und Herausforderungen aus dem Bereich arbeitsloser Bürgerinnen und Bürger mit<br />

denen von Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderung: Gleichermaßen stellt sich nicht nur<br />

die Frage nach sozialer Sicherheit und Teilhabe, sondern vor allem auch die Frage nach<br />

einem Bewährungsmythos, einem positivierten Entwurf von Selbstverwirklichung, der an<br />

die Stelle von Beschämung, Selbstzweifel und permanent lauernden Stigmatisierungs- und<br />

Ausgrenzungsprozessen treten kann.<br />

65 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Inhaltliche Dimensionen des Bewährungsproblems<br />

• Das Bewährungsproblem des eigenen Lebens stellt sich inhaltlich für jeden bezüglich<br />

dreier eigenlogischer Dimensionen von Bewährung, die auch als Bewährungskarrieren<br />

bezeichnet werden können:<br />

1. Berufs- und Erwerbstätigkeit: Die Selbstverwirklichung in Berufs- und<br />

Erwerbstätigkeit ist für die Bewältigung des Bewährungsproblems des<br />

eigenen Lebens entscheidend. Ihr entspricht eine Karriere der Berufs-<br />

und Erwerbstätigkeit. (Mit der Krise der Arbeitsgesellschaft hat sich das<br />

Bewährungsproblem in dieser Dimension nicht etwa aufgelöst, sondern<br />

hat sich im Gegenteil noch weiter zugespitzt.)<br />

2. Sexuelle Reproduktion und partnerschaftliche private Lebensform: Die<br />

eigene Stellungnahme zur familialen Bewährungskarriere, d.h. die Frage<br />

der Selbstverwirklichung in i. R. v. partnerschaftlicher privater Lebensform<br />

und Kindererziehung, unabhängig von je besonderen historischen<br />

Erscheinungsformen von privater Partnerschaftlichkeit und Kindererziehung,<br />

ist nach wie vor entscheidend für die Bewältigung des Bewährungsproblems.<br />

3. Übergeordnete abstrakte Vergemeinschaftungsformen wie Gemeinde,<br />

Nationalstaat, Schicksalsgemeinschaft der Gattung, öffentliche Institutionen:<br />

Die Bewährungsfrage stellt sich für jeden grundsätzlich und<br />

unhintergehbar auch bezüglich seiner Funktion in den übergeord-neter<br />

Vergemeinschaftungsformen und in diesem Sinne als Frage einer staatsbürgerlichen<br />

Bewährungskarriere (vgl. Oevermann 2001, 112).<br />

Der bekannte Satz, dass jeder in seinem Leben ein Häuschen bauen, eine Familie gründen und<br />

ein Bäumchen pflanzen bzw. ein Buch schreiben müsse, bezieht sich sehr prägnant auf diese<br />

drei inhaltlichen Dimensionen des Bewährungsproblems und die damit verbundenen Bewährungskarrieren.<br />

Grundsätzliche Bedeutung für die Praxis beruflicher sozialer Arbeit<br />

Unter dem Aspekt des Bewährungsproblems muss sich berufliche soziale Arbeit als stellvertretende<br />

Krisenbewältigung immer auch mit der zukünftigen oder aktuellen Selbstverwirklichung<br />

ihrer Klienten/ Nutzer in den Bereichen Berufs- und Erwerbstätigkeit, Partnerschaft<br />

und Familie sowie übergeordneten Vergemeinschaftungsformen auseinander-setzen, sie hat<br />

hierzu implizit oder explizit inhaltlich Stellung zu beziehen und praktische Schritte der Vorbereitung,<br />

Begleitung und Unterstützung zu unternehmen.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 66


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Pädagogik hat z.B. immer mit der Vorbereitung auf und Ermutigung zu Selbstverwirklichung<br />

in den Dimensionen von Berufs- und Erwerbstätigkeit, Familie sowie Gemeinwesen zu tun.<br />

Pädagogik hat sich dabei m Bereich der Arbeit mit erwachsenen Menschen mit Behinderung<br />

aber auch mit der Frage der konkreten Ermöglichung und Unterstützung einer Berufs- und<br />

Erwerbskarriere oder bei erwachsenen Menschen mit einer geistigen Behinderung mit der<br />

Frage der Möglichkeiten und Einschränkungen einer familialen Bewährungskarriere auseinander<br />

zusetzen und begründet praktisch Stellung zu beziehen.<br />

Berufliche soziale Arbeit als „Begleiterin von Lebenswegen“ ist in Wahrnehmung ihrer Aufgaben<br />

immer wieder dazu aufgefordert, sich über die impliziten und expliziten Vorstellungen<br />

von Selbstverwirklichung und Bewährung und ihrer normativen Implikate, die sie ihren Klienten<br />

entgegenbringt, Rechenschaft abzulegen (vgl. z.B. Brisch, K.H./ Kächele, H. 1999). Mit<br />

anderen Worten: Sie hat immer wieder die Entwicklungsaufgaben, die sie ihren Klienten und<br />

deren Angehörigen sowohl zutraut als auch zumutet, reflexiv in den Blick zu nehmen und mit<br />

Klienten und Angehörigen zu besprechen und zu bestimmen.<br />

Überzeugungen, Glauben und Schuldverstrickung als Momente der Bewährungsdynamik<br />

und ihre Entstehung in den frühen Phasen der Bildung des Subjektes<br />

• Überzeugungen geben dem Subjekt Halt und Orientierung bei der Krisenlösung, sie sind<br />

tiefsitzende Habitusformationen, deren allgemeinste Form im strukturellen Optimismus,<br />

„Im Zweifelsfalle wird es gut gehen“ zum Ausdruck kommt (vgl. Oevermann 2001 a,<br />

295). „Überzeugungen sind Grundlagen im Krisenbewältigungsprozess, die von dem in<br />

die Krise geratenen Wissen nicht betroffen sind. „Die Krise des Wissens, die zu einer<br />

neuen Erfahrung führen muss, lässt sich nun ihrerseits nicht bewältigen ohne die Grundlagen<br />

von Überzeugungen, die von der Krise als solcher unberührt bleiben. Wenn nämlich<br />

alle eine Lebenspraxis habitualisirenden Überzeugungen gewissermaßen auf einmal in eine<br />

Krise gerieten, dann läge nicht mehr nur die Situation des berechtigten Zweifels an einem<br />

bislang bewährten Wissen vor, sondern dann wäre die tödliche Situation der Verzweiflung<br />

eingetreten“ (Oevermann, Überlegungen zur Integration und Synthesis der begrifflichen<br />

und methodischen Instrumentarien der Forschungen im Sonderforschungsbereich/FK<br />

435 „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“, unveröffentlichtes Manuskript,<br />

Frankfurt am Main, 2000)“ (Wagner 2001, 194 f.).<br />

• Die Überzeugungen bilden sich grundlegend in den frühen und frühesten Mutter-Kind-<br />

Beziehungen, d.h. im Zusammenhang mit dem symbiotischem Formenkreis und den Vorgängen<br />

bei Schwangerschaft und Geburt und differenzieren sich dann im weiteren Verlauf<br />

des Lebens aus. Eine gelingende Symbiose und ein gelingender Geburtsvorgang führen<br />

dabei zur Entwicklung von Urvertrauen und Selbstvertrauen. (Vgl. Wagner, 2001, 195).<br />

• Das Kind erreicht das Ziel der Sozialisation, seine Autonomie, nur, wenn es sich aus der<br />

Symbiose löst. „Das Kind muss sich gleichsam, um Autonomie zu erlangen, aus der<br />

schützenden Symbiose heraustransformieren.“ Deshalb muss der Bildungsprozess an dem<br />

anderen, gegenüberliegenden Pol die Symbiosen und Schutzräume immer wieder durch<br />

Ablösung in Richtung eigener Unabhängigkeit und Autonomie aufbrechen und hinter sich<br />

lassen. Das sich bildende Leben muss dabei notwendig die ursprünglich schützenden Instanzen<br />

als hinderliche Fesseln durchschneiden, sich von den geliebten Instanzen, die sich<br />

für es aufgeopfert haben, als lästigen „Hemmschuhen“ trennen.<br />

67 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• Diese paradoxale Dynamik kommt erst im ödipalen Drei-Generationen-Zusammenhang<br />

deutlich zum Ausdruck: Damit Nachkommen in dieser paradoxalen Dynamik aufwachsen<br />

können, also auf dem Boden einer symbiotischen Verschmelzung wachsen und durch Ablösung<br />

daraus ihre Autonomie erwerben können, müssen ihre Eltern selbst Kinder mit einem<br />

solchen Entwicklungsprozess gewesen sein, die sich an dessen Ende erfolgreich von<br />

ihren Eltern, den Großeltern der dritten Generation, abgelöst haben und auf dem Boden<br />

dieser Ablösung eine autonome Gattenbeziehung mit der von ihr abhängigen<br />

sozialisatorischen Leistung gründen konnten’ (Oevermann, Vorläufiges Resümee über:<br />

Gemeinsamkeiten und Differenzen von religiöser, ästhetischer, Natur- und Leiberfahrung,<br />

unveröffentlichtes Manuskript, Frankfurt am Main, 12 f.)<br />

• In diesen Zusammenhängen wird deutlich, dass der objektiven Hermeneutik als vollständiges<br />

Sozialisationsmodell das realdialektische Strukturmodell der ödipalen Heptade gilt.<br />

Dieses Modell umfasst sieben Positionen (4 Großeltern, 2 Eltern, 1 Ego)<br />

und drei ödipale Triaden (Wagner, 2001, 198 f.)“.<br />

• Mit der Ablösung aus der Symbiose verstrickt sich das sich bildende Subjekt jedoch objektiv<br />

in Schuld. Der Ablöseprozess ist mit Schuldverstrickung verbunden. Denn:‚<br />

dass man sich aus der Symbiose und den Schutzräumen ablöst, bedeutet aus einer nachträglichen<br />

Perspektive immer auch einen Akt der Undankbarkeit und der Herbeiführung<br />

einer Trennung, eines Verlustes. .... Die Ablösung gelingt gerade dann am besten, wenn<br />

die vorausgehende Symbiose besonders gelungen war. Wenn sie problematisch war, haben<br />

die Kinder mit der Ablösung große Probleme, und Probleme der Ablösung liegen so<br />

gut wie allen späteren Störungen zugrunde. Damit hängt zusammen, dass man Beziehungen<br />

und Bezugspersonen, wenn die Zeit es erfordert, um so eher und besser aufgeben<br />

kann, je erfüllter sie zuvor waren. Mit dieser „Wegbewegung in Undankbarkeit“ macht<br />

sich das sich bildende Subjekt objektiv schuldig.<br />

• Diese objektive Schuld muss in ihrer Unausweichlichkeit nachträglich als von einem<br />

selbst verursachte subjektiv übernommen werden. Damit ist dynamisch die Quelle des<br />

nicht stillstellbaren Strebens nach Versöhnung eröffnet. In der Ablösung fügen sich also<br />

Schuldverstrickung und Autonomisierung sich wechselseitig bedingend zusammen.<br />

• Die Schuldverstrickung ist nicht etwa die Folge einer moralisch zuschreibbaren Fehlleitung<br />

der Sozialisation, sondern die unvermeidbare Folge des „Weggehens“ als einer notwendigen<br />

Bewegung in der Sozialisation. Sie entspricht im übrigen jenem allgemeinen<br />

Mechanismus der Schuldverstricktheit, die sich aus einer subjektiven Verantwortlichkeit<br />

nicht zuschreibbaren objektiven Schuld ergibt, die man nachträglich als Folge der Ergebnisse<br />

dieser objektiven Verschuldung subjektiv dennoch übernehmen muss, wie er uns<br />

schon im jüdischen Schöpfungsmythos und im griechischen Ödipus-Mythos in je anderer<br />

Konstellierung begegnet... .<br />

• Das zweite Moment von Ablösung verweist auf die Notwendigkeit, in das Ungewisse einer<br />

offenen Zukunft gehen zu müssen. Sie zieht das Problem nach sich, dass man dazu eine<br />

berechtigte Hoffnung haben können muss. Aber mehr als eine Hoffnung kann die Zukunftserwartung<br />

bezeichnenderweise nicht sein. ... .<br />

• Die Folgen bzw. Implikationen beider Momente von Ablösung: Schuldverstrickung und<br />

die Notwendigkeit einer begründeten Hoffnung, fügen sich zusammen zur Notwendigkeit<br />

eines Glaubens an eine übergeordnete Instanz, die man als Macht des Geistes bezeichnen<br />

könnte, so dass die Loyalität zu ihr, wie immer sie auch konkret inhaltlich ausgelegt werden<br />

mag, zugleich eine Hoffnung auf Versöhnung und Bewährung hergibt.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 68


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• Dieser Glaube ist das polare Pendant zur Überzeugung und für die Krisenbewältigung<br />

ebenso unverzichtbar wie die Überzeugung’ (Oevermann, Überlegungen zur Integration<br />

und Synthesis der begrifflichen und methodischen Instrumentarien der Forschungen im<br />

Sonder-forschungsbereich/FK 435 Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, unveröffentlichtes<br />

Manuskript, Frankfurt am Main 2000, 75 ff.) (Wagner, 2001, 199)“.<br />

• „Der Glaube bezieht sich im Unterschied zur Überzeugung auf eine übergeordnete Macht<br />

und erfordert Hingabe. Auch sind die Auswirkungen von Glaube und Überzeugungen auf<br />

das Subjekt verschieden.’ Überzeugungen, die sich im Leben bewährt haben, bestärken<br />

das Vertrauen in die Möglichkeit, Krisen erfolgreich bewältigen zu können. Sie führen zu<br />

Souveränität, Selbstvertrauen und Gelassenheit. Glaube an das Angenommen-Sein durch<br />

eine übergeordnete Macht, die Hingabe verlangt, vervollkommnet sich in Übereinstimmung<br />

mit sich selbst, innerem Frieden und dem Zurücktreten eigener Bedürfnisse hinter<br />

die Ver-pflichtung, für andere dazusein und für das Wohl des Ganzen.’ (Oevermann, Vorläufiges<br />

Resümee über: Gemeinsamkeiten und Differenzen von religiöser, ästhetischer<br />

Natur- und Leiberfahrung, unveröffentlichtes Manuskript, Frankfurt am Main 1998, 3 f.)“<br />

(Wagner 2001, 196).<br />

1.7.2 Autonomieentwicklung, lebenszyklische Entwicklungsaufgaben und kritische<br />

Lebensereignisse<br />

Die vier großen Ablösekrisen in der sozialen Geburt des autonomen Subjektes<br />

• Die soziale Geburt des Subjektes als einem autonom handlungsfähigen, mit sich identischen<br />

Subjekt, kann als Abfolge von zentralen Ablösekrisen i. R. d. sich entfaltenden<br />

triadischen Grundstruktur familialer Sozialisation dargestellt werden. Diesen vier großen<br />

Ablösungs-krisen gehen jeweils entwicklungsstandspezifische Symbiosen oder Schonräume<br />

voraus. Es können unterschieden werden:<br />

1. Die biologische Geburt als die Krise der Ablösung aus der ursprünglichen Symbiose<br />

in der Schwangerschaft<br />

2. die Ablösung von der primären Mutter-Kind-Symbiose, die schon mehr ist als nur eine<br />

biologische und den Eintritt in die phallische Phase mit der nachfolgenden ödipalen<br />

Vergemeinschaftungsform und damit in die spätere ödipale Krise mit sich bringt<br />

3. die Ablösung von der Vergemeinschaftung in der ödipalen Triade nach der ödipalen<br />

Krise mit dem Eintritt in die Latenzphase und die damit verbundene Vergemein-<br />

schaftung der „peer-group“<br />

4. die Ablösung aus der Herkunftsfamilie in der Adoleszenzkrise mit dem nachfolgenden<br />

endgültigen Eintritt in das Erwachsenenalter.<br />

Diese vier Krisen sind naturgemäß in der Folge ihrer Nennung und ihrer ontogenetischen Sequenz<br />

zunehmend beeinflusst von und sensitiv gegenüber der historisch konkreten gesellschaftlichen<br />

Lage“ (Oevermann 2001b, 107). (13)<br />

______________________________<br />

(13) „Die Adoleszenzkrise unterscheidet sich von allen vier Ablösungskrisen zwischen den verschiedenen Kulturen<br />

und gesellschaftlichen Entwicklungsstufen am meisten. Sie beendet die Phase des Übergangs von der<br />

Kindheit zum Erwachsen-Sein. In archaischen Gesellschaften mit zyklisch-stationärem Charakter, also noch<br />

ohne eigentliche geschichtliche Entwicklung, kann dieser Übergang punktuell sich an einem Tag mit einem<br />

einzigen kurzen Initiationsritus vollziehen. In diesen Gesellschaften gibt es praktische keine Adoleszenz mit<br />

einem ihr eigenen Moratorium der Vorbereitung auf das Erwachsenen-Leben. Je entwickelter und rationalisierter<br />

eine Kultur, desto länger das Moratorium der Jugend nach der Geschlechtsreife mit seinen eigenen Phasen der<br />

Ausbildung, Berufsvorbereitung und Ableistung von Bürgerdiensten (Oevermann 2001b, 108).<br />

69 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

In dem Maße, in dem diese vier großen Ablösekrisen in der sozialen Geburt des Subjektes<br />

erfolgreich bewältigt werden, entfalten sich Autonomie und Identität in den Polen von Bindung<br />

und Ablösung. In dem Maße, indem die Bewältigung dieser Krisen erschwert, behindert<br />

oder verunmöglicht wird, werden auch die Entfaltung von Autonomie und Identität erschwert,<br />

behindert oder verunmöglicht.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 70


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Ein strukturtheoretisches Modell der Autonomie der Lebenspraxis<br />

• Die einzelne Lebenspraxis steht in einer Bewährungsdynamik als widersprüchlicher Einheit von<br />

Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung.<br />

• Autonomie beweist, bewährt und entwickelt sich in lebenspraktischen Krisensituationen, in denen<br />

gerade nicht auf Entscheidungsregeln zurückgegriffen werden kann, aber dennoch entschieden werden<br />

muss, ohne dabei auf den Anspruch auf zumindest nachträgliche Begründbarkeit zu verzichten.<br />

• Autonomie als Besonderheit menschlicher Praxis besteht also in der widersprüchlichen Einheit von<br />

Wahlmöglichkeit und Verantwortungszumutung, in einem zur „Autonomie-Verurteilt-Sein“.<br />

• Die Voraussetzungen für eine autonome Lebensführung werden auf der Grundlage angeborener Autonomiepotentiale<br />

als soziale Geburt des Subjektes in den triadischen Strukturen der primären familialen<br />

Sozialisation erworben<br />

• Mit der letzten der vier großen Ablösekrisen, der Adoleszenzkrise, vollzieht sich die Ablösung aus<br />

der Herkunftsfamilie und mit dem nachfolgenden endgültigen Eintritt in das Erwachsenenalte die<br />

Chance und Zumutung der eigenverantwortlichen Übernahme von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung.<br />

• Das der Bewährungsdynamik zugrunde liegende Bewährungsproblem resultiert letztlich aus dem<br />

grundsätzlich gegebenen Endlichkeitsbewusstsein menschlichen Lebens, d.h. angesichts der Antizipation<br />

des Todes aber auch der grundsätzlichen Irreversibilität alltäglicher Entscheidungen.<br />

• Die Bewährungsdynamik ist nicht stillstellbar, jede Krisenlösung kann als Routine ihrerseits wieder<br />

scheitern und zu einer neuen Krise führen. Bewährungsproblem und Nichtstillstellbarkeit der Bewährungsdynamik<br />

sind lebenspraktisch nur aushaltbar auf der Grundlage eines identitätsverbürgenden<br />

Bewährungsmythos, der auf die berühmte dreifache Frage eine verbindliche Antwort zu geben vermag:<br />

Wer bin ich (sind wir)?, woher komme ich (kommen wir)? und wohin gehe ich (gehen wir)?<br />

• Überzeugungen als tiefgreifende Haltungen dem Leben gegenüber, z.B. als Haltung „Im Zweifelsfalle<br />

wird es gut gehen“ sowie Glaubenshaltungen als Glauben an die Macht einer übergeordneten Instanz,<br />

unabhängig von ihrer konkret inhaltlichen Bestimmung, bezeichnen zentrale Momente und<br />

Grundlagen von Krisenbewältigung.<br />

• Überzeugungen bilden sich aus der Positivität des dialogisch-symbiotischen Wachstums, Glauben<br />

bzw. Glaubenshaltungen bilden sich aus Ablöseprozessen aus Symbiose und Schutz- und Schonräumen.<br />

• Das „Weggehen in Undankbarkeit“ ist eine Notwendigkeit in Ablöseprozessen, mit der das sich bildende<br />

Subjekt objektiv schuldig macht und diese Schuld muss in ihrer Unausweichlichkeit nachträglich<br />

als selbst verursachte subjektiv übernommen werden (Vgl. jüdisch-christlicher Schöpfungsmythos<br />

und griechischer Ödipus-Mythos).<br />

• Schuldverstrickung und die Notwendigkeit einer begründeten Hoffnung auf Versöhnung und Bewährung<br />

sind notwendige Momente von Ablösung.<br />

• Implikation von Schuldverstrickung und Notwendigkeit einer begründeten Hoffnung auf Bewährung<br />

und Versöhnung ist die Notwendigkeit eines Glaubens an eine übergeordnete Instanz, so dass die Loyalität<br />

zu ihr, wie auch immer sie inhaltlich bestimmt wird, eine Hoffnung auf Versöhnung und Bewährung<br />

ermöglicht.<br />

• Das Bewährungsproblem stellt sich inhaltlich bezüglich dreier Dimensionen von Bewährung bzw.<br />

Bewährungskarrieren:<br />

1. Die Frage der Selbstverwirklichung im Bereich von Berufs- und Erwerbstätigkeit<br />

2. Die Frage der Selbstverwirklichung im Bereich privater partnerschaftlicher Lebensformen<br />

und sexueller Reproduktion/ Kinderaufzucht<br />

3. Die Frage der Selbstverwirklichung in übergeordneten Vergemeinschaftungsformen von<br />

Gemeinde, Nationalstaat, Schicksalsgemeinschaft der Gattung oder im Dienste öffentlicher<br />

Institutionen<br />

Abb. 17: Ein strukturtheoretisches Modell der Autonomie der Lebenspraxis<br />

71 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Typische Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse im Lebenszyklus<br />

von Einzelnem und Familie<br />

Im Lebenszyklus einer personalen oder familialen Lebenspraxis stellen sich über die vier großen<br />

Ablösekrisen der sozialen Geburt des Subjektes hinaus eine Vielzahl von phasentypischen<br />

Entwicklungsaufgaben. Diese Entwicklungsaufgaben ergebne sich aus einem Zusammenspiel<br />

von individueller, auch körperlicher Entwicklung, soziokulturellen Normen sowie<br />

eigenen Normbildungen und Zielsetzungen der jeweiligen Lebenspraxis (vgl. Montada<br />

1998, 66, Oerter,/ Noam, 1999, 60). Entsprechend kann zwischen Entwicklungsaufgaben eines<br />

einzelnen und sogenannten Familienentwicklungsaufgaben unterschieden werden<br />

(vgl. Cierpka 1996, Schneewind 1998, Rollett/ Werneck 2002).<br />

(Nicht-normative) kritische Lebensereignisse stellen demgegenüber unerwartete Belastungen<br />

und Krisen der Lebenspraxis dar, die sich z.B. durch Krankheit, Behinderung, Partnerverlust<br />

Verlust des Arbeitsplatzes, Migration, Krieg usw. ergeben und oftmals traumatischen Charakter<br />

besitzen (vgl. Oerter/ Noam 199, 61).<br />

Im Rahmen von Entwicklungspsychologie und psychologisch-pädagogischer klinischer Praxis<br />

wurden verschiedene Systematisierungen von Entwicklungsaufgaben versucht, in<br />

die natürlich in unterschiedlicher Form und Gewichtung soziokulturelle Normvorstellungen<br />

eingegangen sind. Beispielhaft hierfür können aufgeführt werden:<br />

• Das Stadien- und Krisenmodell des Lebenslaufes nach Erikson (vgl. Anhang zur Rahmenkonzeption<br />

(<strong>Kapitel</strong> 1, AH 1)<br />

• die Systematisierung von Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (vgl. Anhang zur Rahmenkonzeption<br />

(<strong>Kapitel</strong> 1, AH 2)<br />

• die Systematisierung von Entwicklungsaufgaben nach ihrem zeitlichen Umfang nach Oerter<br />

(vgl. Anhang zur Rahmenkonzeption <strong>Kapitel</strong> 1, AH 3)<br />

• die Stadien des Familienlebenszyklus und Familienentwicklungsaufgaben nach Carter/<br />

McGoldrick (vgl. Anhang zur Rahmenkonzeption <strong>Kapitel</strong> 1, AH 4)<br />

• sowie die Systematisierung von Metaentwicklungsaufgaben im Familienentwicklungsprozess<br />

nach Schneewind (vgl. Anhang zur Rahmenkonzeption <strong>Kapitel</strong> 1, AH 5).<br />

• sowie die Aufgabenbereiche in der frühen Entwicklung nach Waters & Sroufe<br />

(vgl. Anhang zur Rahmenkonzeption <strong>Kapitel</strong> 1, AH 6)<br />

Grundsätzliche Bedeutung für die Praxis beruflicher sozialer Arbeit<br />

Berufliche soziale Arbeit hat es in der stellvertretenden und zugleich Autonomie fördernden<br />

Krisenbewältigung mit der Begleitung von Lebenswegen von Klienten und deren Angehörigen<br />

zu tun. Sie ist dabei einerseits auf angemessenes Fallverstehen, andererseits aber auch<br />

feldspezifisch auf praktisch-normative Stellungnahmen zum Bewährungsproblem ihrer Klienten<br />

in den Sphären von Arbeit, Intimität und Familien und Gemeinschaft verwiesen.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 72


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Die Beschäftigung mit Systematisierungen lebenszyklischen Entwicklungsaufgaben (sowie<br />

die Berücksichtigung kritischer Lebensereignisse) kann für die Praxis beruflicher sozialer<br />

Arbeit eine hilfreiche Strukturierungshilfe bieten, um bei Fallverstehen und normativpraktischer<br />

Stellungnahme möglichst schnell Schwerpunkte und Konflikte im individuellen<br />

oder familialen Entwicklungsgeschehen zu identifizieren. Die Kenntnis von und Auseinandersetzung<br />

mit lebenszyklischen Entwicklungsaufgaben ist zudem zentrale Voraussetzung<br />

von Entwicklungsberatung und Prävention in den verschiedenen Bereichen beruflicher sozialer<br />

Arbeit.<br />

Exkurs: Unterschiedliche Krisentypen und Erfahrungsmodi im strukturtheoretischen<br />

Ansatz<br />

Im strukturtheoretischen Zusammenhang können drei Krisentypen und vier korrespondierende<br />

Erfahrungstypen unterschieden werden, wobei der erste Krisentypus den kritischen<br />

Lebensereignissen der Entwicklungspsychologie und der zweite Typus den normativen<br />

Entwicklungsaufgaben der Entwicklungspsychologie und Stressforschung nahe kommt:<br />

1. „Die Krise durch Überraschungen, die negativ oder positiv als „brute facts“<br />

über einen hereinbrechen, als Schmerz oder Glück, als Scheitern oder Erfüllung.<br />

Diesem elementaren Krisentyp, den wir mit den subhumanen Gattungen am ehesten<br />

teilen, und der dem animalischen Stress nahe kommt, ordne ich die Konstitution von<br />

Natur und Leiberfahrung zu und bezeichne ihn als Traumatisierungskrise.<br />

2. Die Entscheidungskrise, die wir schon, auch mit Beispielen kennen gelernt haben.<br />

Ihr entspricht der Typ der religiösen Erfahrung, denn in Entscheidungskrisen muss<br />

die Lebenspraxis sich bewähren“ (Oevermann, 2001 a, 312 f.)<br />

3. „Der Krisentypus der Muße. Dieser ist selbsterzeugt. Ihm zuzuordnen ist der Modus<br />

der ästhetischen Erfahrung und der methodisierten Erkenntnis, Wesentlich ist für diesen<br />

Erfahrungsmodus die Erfahrung von Unbekanntem und Unerwartetem“ (Wagner,<br />

2001, 204).<br />

1.7.3 Die Dimensionen des Kohärenzgefühls im salutogenetischen Ansatz<br />

als Bedingungen der Möglichkeit autonomer Lebenspraxis<br />

Von seinen theoretischen Grundannahmen zur Lebenspraxis sowie vom Krankheits – und<br />

Gesundheitsbegriff her ist der von Antonovsky entwickelte salutogenetische Ansatz anschlussfähig<br />

an das strukturtheoretische Modell der Lebenspraxis und seine sozialiationstheoretischen<br />

und professionalisierungstheoretischen Implikationen. (14)<br />

Antonovsky stellt die zentrale Frage, warum Menschen trotz gleichermaßen wirksamer schädlicher<br />

Einflüsse gesund bleiben. „Antonovsky baut seine Überlegungen auf Erkenntnisse der<br />

Stressforschung u.a. von Lazarus (1981) auf (siehe dazu auch Franke 2001). Im Mittel-punkt<br />

der Überlegungen steht die Frage nach den Kompetenzen des Einzelnen, auf innere und äußere<br />

Anforderungen zu reagieren. Auch im Denkansatz der Salutogenese werden belastende<br />

Situationen und Schwierigkeiten zur Kenntnis genommen; diese erzeugen sog. Spannungszustände.<br />

Wichtig ist nun, wie die Spannung gelöst wird. Antonovsky unterstellt in seiner<br />

Hypothese des Kontinuums von Gesundheit und Krankheit, dass derjenige wieder eher das<br />

Pendel in Richtung Gesundheit bewegen kann, der auf einen Stressor erfolgreiche Reaktionsmechanismen<br />

zur Verfügung hat“ (Mathe, 2003, 124).<br />

_____________________________________<br />

(14) Vgl. hierzu insbesondere: Antonovsky 1979, 1991, 1997 sowie zusammenfassend BZgA<br />

1999, 2001, Lorenz 2004, Mathe 2003.<br />

73 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Dabei spielen zum einen die sog. generalisierten Widerstandsressourcen und zum anderen<br />

das sog. Kohärenzgefühl (SOC / sense of coherence) eine entscheidende Rolle, das für das<br />

Wirksamwerden, die Aktivierung dieser Widerstandsressourcen verantwortlich ist.<br />

Zu den generalisierten Widerstandsressourcen zählen als innere und äußere Ressourcen z.B.:<br />

• Ich-Stärke (Selbstvertrauen, optimistische Grundhaltung)<br />

• Kognitive Faktoren (Intelligenz, Bildung)<br />

• Fähigkeiten zur Problemlösung (aktive Handlungsressourcen)<br />

• Konstitution (Immunsystem) (Vgl. Mathe 2003, 124).<br />

„Die Widerstandsressourcen stehen in enger Verknüpfung mit einer Überzeugung des Einzelnen,<br />

dass das Leben insgesamt sinnvoll, überschaubar oder nachvollziehbar und damit belastende<br />

Ereignisse auch eine bewältigbare Hürde darstellen; dies kommt in einer „inneren<br />

Grundhaltung“ zum Ausdruck, die Antonovsky als Kohärenzgefühl (SOC /sense of<br />

coherence) bezeichnet.<br />

Dieses Kohärenzgefühl fördert salutogene Wirkungen und beinhaltet Elemente aus drei Ebenen<br />

eines „Überbaus“ salutogenetischer Grundbedingungen:<br />

• Die Sinnebene (Bedeutsamkeit)<br />

Die Umstände des Lebens fördern Motivation, Einsatz, Kreativität; eigene Aktivitäten<br />

besitzen einen positiven Bedeutungsgehalt und soziale Akzeptanz.<br />

• Die Verstehensebene (Verstehbarkeit)<br />

Die Lebensereignisse sind verständlich und soziale Interaktionen erweisen sich als berechenbar<br />

und vertrauenswürdig. Der Kontext wird auf dem Boden ausreichender Informationen<br />

erfasst.<br />

• Bewältigungsebene (Handhabbarkeit)<br />

Die Schwierigkeiten des Lebens werden als überwindbar erkannt, die eigenen Handlungsmechanismen<br />

vermitteln ein Gefühl der Selbstwirksamkeit, positive Erfahrungen<br />

werden gemacht. Flexible Antwortmöglichkeiten stehen zur Verfügung“ (Mathe, 2004,<br />

126).<br />

Mit dieser Denkweise steht der Weg offen, den Klienten als aktiven Partner im Handeln in<br />

den verschiedenen Feldern beruflicher sozialer Arbeit zu begreifen. „Die negative Defizitorientierung<br />

wandelt sich zu einer positiven präventiven oder gesundheitsförderlichen Ressourcenaktivierung;<br />

die Biographie des Menschen, seine Lebenskonzepte werden berücksichtigt.<br />

Wir entdecken und fördern damit auch Kräfte der „Selbstheilung“ eines Menschen“ (Mathe,<br />

2004, 126).<br />

Die drei Ebenen des Kohärenzgefühls können vor dem Hintergrund des strukturtheoretischen<br />

Modells der autonomen Lebenspraxis interpretiert werden als Bedingungen der Möglichkeit<br />

gelingender Krisenbewältigung und damit zugleich als Ansatzpunkte für die Praxis beruflicher<br />

sozialer Arbeit.<br />

Die Verstehbarkeit der Lebensumstände und die Verfügbarkeit von Informationen stellen<br />

wichtige Momente im Krisenbewältigungsprozess dar und unterstützen die mutige Entscheidung<br />

in eine offene und unsichere Zukunft einer Entscheidungskrise oder die<br />

Bewältigung einer Traumatisierungskrise. Die Handhabbarkeit im Sinne von Graden tatsächlicher<br />

Selbstwirksamkeit kann ebenfalls als ein zentrales Moment von Entscheidungs-<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 74


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

und Traumatisierungskrisen verstanden werden, das Krisenbewältigungsprozesse unterstützt<br />

oder auch behindert und einschränkt. Bedeutsamkeit verweist auf die Angewiesenheit und<br />

Rückgebundenheit auf einen Bewährungsmythos und entsprechende Glaubenhaltungen im<br />

Prozess der Krisenbewältigung, seien diese nun religiöser oder säkularisierter Art wie z.B. bei<br />

Leistungsethiken. Bedeutsamkeit gründet letztlich in der Begründungsverpflichtung von Lebenspraxis<br />

für ihre Krisenbewältigungen.<br />

Grundsätzliche Bedeutung für die Praxis beruflicher sozialer Arbeit<br />

Hilfen und Unterstützungen auf den Ebenen von Verstehbarkeit (z.B. gute Information),<br />

Handhabbarkeit (z.B. Ermutigung zu Selbsthilfegruppen, Verständnis und Akzeptanz von<br />

eigenständigen Klientenaktivitäten) sowie Bedeutsamkeit (z.B. Interesse für Lebensgeschichte<br />

und aktuelle Situation von Klienten) stellen wichtige Beiträge beruflicher sozialer<br />

Arbeit zur Stärkung und Unterstützung der Selbstheilungskräfte von Klienten dar.<br />

Der zur Verfügung Stellung von Raum und Zeit im Rahmen beruflicher sozialer Arbeit zur<br />

Ermöglichung des Erzählens von eigener Lebensgeschichte durch die Klienten selbst, kommt<br />

hierbei eine besondere Bedeutung zu.<br />

1.7.4 Zur Bedeutung erzählter Lebensgeschichte für die Lebenspraxis und<br />

für die Praxis beruflicher sozialer Arbeit<br />

In Anlehnung an die Ergebnisse der Erzählforschung (Schapp 1976, Stierle 1979) kann davon<br />

ausgegangen werden, „dass Sinnzusammenhänge des menschlichen Lebens in Geschichten<br />

organisiert sind und dass sie eine doppelte Struktur enthalten: Sie bewahren, indem sie Erlebtes<br />

in einen sinnhaften Zusammenhang bringen, und sie schaffen Neues, indem sie die Tendenz<br />

haben, über das Bewahrende hinauszuweisen“ (Welter-Enderlin/Hildenbrand 2004, 43).<br />

Die erzählte Erfahrung kann dem Menschen damit ein Gefühl von Kontinuität in der Zeit und<br />

damit von Identität, Kohärenz und Bedeutung verleihen. Dies gilt entsprechend nicht nur für<br />

die Lebenspraxis eines einzelnen Menschen, sondern auch für die eines Paares, einer Familie<br />

oder einer anderen vergemeinschafteten kollektiven Lebenspraxis.<br />

In dem Maße, in dem Vergangenes erzählt werden kann, nimmt die Chance zu, es als Vergangenes<br />

zu verstehen und zu integrieren und für die Zukunft neue Handlungsmög-lichkeiten<br />

zu erkennen. Das Unerkannte, Nichtverstandene und Nicht- integrierte in der Geschichte beinhaltet<br />

dagegen die Tendenz der Wiederholung in der Zukunft, die zu keiner Weiterentwicklung<br />

von Handlungsmöglichkeiten führt.<br />

Geheimnisse, Verschwiegenes, Nichterzähltes können aber auch ein sinnvoller Schutz sein,<br />

weil das Erzählen und Verstehen aktuell eine Überforderung wäre, welche die Lebenspraxis<br />

in ihrer Handlungsfähigkeit zusätzlich gefährden würde (vgl. z.B. Welter-Enderlin 1999, 91<br />

f., Cierpka 1996, 240 ff.).<br />

75 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Erzählen hat aber nicht nur eine individuierende, bedeutungsstiftende Funktion und eine zukunftsbezogene<br />

Funktion der Eröffnung und des Entwurfes zukünftiger Handlungsmöglichkeiten.<br />

„Erzählen besitzt auch eine resozialisierende Funktion. Es verleiht dem Individuellen<br />

Bedeutung in der Gemeinschaft, es bringt es in die Gemeinschaft zurück. Damit<br />

kann die erzählte Erfahrung zugleich Nähe und Beziehung stiften.“ (Hildenbrand, zitiert nach<br />

einem Tonbandprotokoll eines Vortrages von Welter-Enderlin auf den 47. Lindauer Psychotherapiewochen<br />

1997).<br />

Grundsätzliche Bedeutung für die Praxis beruflicher sozialer Arbeit<br />

Erzählte Erfahrung kann Klienten unterstützen, Bedeutung, Kontinuität und Identität zu sichern,<br />

Optionen für die Zukunft zu finden, schwierige und auch schmerzliche Erfahrungen zu<br />

verarbeiten und soziale Nähe und Beziehung herzustellen.<br />

Damit erhält das aufmerksame und interessierte Zuhören und das interessierte, aber auch behutsame<br />

und achtsame Fragen seine eigene Begründung, Bedeutung und Würde als wichtiger<br />

fachlicher Routine in den Feldern beruflicher sozialer Arbeit.<br />

Erzählte Erfahrung kann dabei auch auf die Ebenen des Kohärenzgefühls, d.h. auf zentrale<br />

Momente in Krisenbewältigungsprozessen bezogen werden:<br />

• Sie kann Erfahrungen konsistent und zusammenhängend machen als Basis von<br />

Verstehbarkeit.<br />

• Sie kann durch die Klärung neuer Handlungsmöglichkeiten die Handhabbarkeit unterstützen<br />

und<br />

• sie kann durch ihre individuierende und bedeutungsstiftende Funktion Bedeutsamkeit<br />

sichern und fortschreiben.<br />

In jedem Feld beruflicher sozialer Arbeit wäre dementsprechend besonders zu prüfen, welche<br />

Bedeutung hier erzählter Erfahrung zukommen kann, wie viel Raum und Zeit erzählter Erfahrung<br />

tatsächlich eingeräumt wird, in welchen Formen und settings dies erfolgt und welche<br />

möglichen Entwicklungsbedarfe fachlicher Routinen sich hieraus ggf. ergeben können.<br />

Zur Verdeutlichung seine mögliche Arbeitsfelder aufgeführt:<br />

• Die Arbeit mit Migranten,<br />

• die Arbeit mit Kindern,<br />

• die Arbeit mit behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern,<br />

• die Arbeit mit deren Eltern und Geschwistern,<br />

• die Arbeit mit Menschen mit Behinderung im Bereich Wohnen und ambulante Dienste.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 76


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.7.5 Sozialer Wandel, Enttraditionalisierung und Auswirkungen<br />

auf die Lebenspraxis<br />

• In einer funktional differenzierten Gesellschaft mit ihrer Rationalisierung und Entzauberung<br />

religiöser Deutungsmuster können Religion und Kirche keinen “Gesamtsinn“<br />

und keine Lebensordnung mehr repräsentieren, die verbindlich und unproblematisch<br />

für alle Geltung besitzen könnte.<br />

• Es wird zunehmend mehr die Aufgabe jedes Einzelnen, in der Reflexion auf seine Biographie<br />

Deutungsmuster für das eigene Leben zu finden, die unterschiedliche Erfahrungen,<br />

Krisen und Brüche zu integrieren vermögen. (Beck/Beck-Gernsheim 1994,<br />

Oevermann 1995). Es gibt nicht mehr ein verbindliches Konzept eines „guten gottgefälligen<br />

Lebens“ nach klar definierbaren Kriterien „christlicher Lebensführung“ i. S.<br />

e. Bewährungs- und Erlösungsmythos, das wie selbstverständlich Sicherheit, Trost<br />

und Erlösung garantieren könnte.<br />

• Sozialer Wandel und die Rationalisierung und Entzauberung traditionaler Deutungsmuster<br />

haben traditionale Lebensformen und traditionale Sinnstiftungen zerstört und<br />

dem Einzelnen größere Freiheiten und Handlungsspielräume eröffnet. Zugleich muten<br />

diese Prozesse dem einzelnen aber auch eine erhöhte individuelle Verantwortlichkeit<br />

für seine Belange sowie eine erhöhte individuelle Sinnstiftungs-notwendigkeit zu.<br />

Dies gilt sowohl für die individuelle Lebenspraxis wie auch für die kollektive Lebenspraxis<br />

privater partnerschaftliche Lebensformen, von denen die Erscheinungsform der<br />

traditionellen Familie nur noch eine unter vielen ist.<br />

• Mit der Enttraditionalisierung des gesellschaftlichen Lebens sind auch die Entlastungen<br />

in der Bewältigung des Bewährungsproblems entfallen, „die früher mit einer<br />

stabilen familialen Herkunft mehr oder weniger automatisch gegeben waren, indem<br />

durch sie die Wege ins Berufs- und Familienleben doch mehr oder weniger vorgeprägt<br />

waren. Immer mehr ist heute der Einzelne in seiner Lebensplanung vergleichsweise<br />

früh auf sich selbst gestellt, während auf der anderen Seite die funktionalen Verknüpfungen<br />

von Ausbildung und Berufschance immer lockerer geworden sind, gleichzeitig<br />

aber auch bei aller Durchlässigkeit des gegliederten Bildungssystems die verpassten<br />

Chancen immer weniger sich institutionell kompensieren lassen angesichts des enormen<br />

Zeitdrucks, der auf den Karrieren lastet“ (Oevermann 2001b, 112).<br />

Dieser Auflösung von Lebensformen und Deutungsmustern ist bezüglich der verschiedenen<br />

Bereichen und Phasen des sozialen Lebens kein zureichender positiver Entwurf einer entsprechenden<br />

neuen Kultur gefolgt, die durch sozialen Wandel induzierten Folgeprobleme<br />

werden den einzelnen Individuen und Familien vielmehr weitgehend individualisierend angelastet.<br />

Entsprechend mangelt es an einer neuen und einbettenden Kultur des Umganges mit Kindheit,<br />

d.h. einer Kultur des Aufwachsens und Erziehens und des bewusst gestalteten Verhältnisses<br />

von Kinderwelten und Erwachsenenwelten (Krappmann 1996). Ebenso mangelt es auch an<br />

einer Kultur des Umganges mit Krankheit und Behinderung sowie vor allem an einer Kultur<br />

des Umganges mit Alter, Sterben und Tod.<br />

77 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Das christliche Menschenbild kann angesichts der mit dem Bewährungsproblem gegebenen<br />

typischen menschlichen Ängste Beruhigung und Trost spenden: Der einzelne Mensch erhält<br />

als Geschöpf und Ebenbild Gottes eine deutliche Bestätigung und Erhöhung seines Selbstwertes<br />

und wird so vor der Angst vor Beschämung geschützt. Indem Gott auch ein gnädiger<br />

und verzeihender Gott ist, kann er zugleich Schutz vor Schuld- bzw. Über-Ich-Angst gewähren.<br />

Mit der Überwindung des Todes und dem Erlösungsversprechen in einem Jenseits wird<br />

schließlich Schutz vor Trennungsangst und Angst vor dem Tod als letzter Trennung möglich.<br />

Mit der Auflösung traditionaler christlicher Deutungsmuster und Vergemeinschaftungsformen<br />

geht auch ihre Kraft einer glaubwürdigen Beruhigung des Lebens, ihre mögliche Schutzfunktion<br />

vor den menschlichen Grundängsten verloren. Die Rede vom Klienten als Kunden<br />

könnte vor diesem Hintergrund, wenn sie nicht von vorne herein zynisch ist, sowohl Ausdruck<br />

der Verleugnung dieser Grundängste sein als auch gleichzeitig Ausdruck des Versuches,<br />

diesen wenigstens in der Rolle eines Kunden zu begegnen, die Nichtausge-liefertheit<br />

und Wirkmächtigkeit verheißt.<br />

Sozialer Wandel und Auswirkungen auf die Lebenspraxis<br />

• Sozialer Wandel bewirkt die Auflösung traditionaler Lebensformen und traditionaler Deutungs- und<br />

Sinnstiftungsmuster.<br />

• Hierdurch erfolgt eine Autonomisierung der Lebenspraxis und die Ermöglichung neuer Freiheitsräume.<br />

• Zugleich resultiert eine gesteigerte Belastung des einzelnen mit neuen individuellen Entscheidungs-<br />

und Sinnstiftungsnotwendigkeiten, da traditionale Entlastungen in der Bewältigung des Bewährungsproblems<br />

durch „vorgezeichnete“ Lebenswege und Bewährungskarrieren entfallen.<br />

• Die gesellschaftlich bedingten Folgeprobleme sozialen Wandels werden der einzelnen Lebenspraxis<br />

individualisierend angelastet.<br />

• Dabei mangelt es in unterschiedlichem Ausmaß an positiven Entwürfen neuer Kulturen des bewusst<br />

und kollektiv gestalteten Umganges mit Erziehung, Krankheit, Behinderung, Alter, Sterben und Tod.<br />

Abb. 18: Sozialer Wandel und Auswirkungen auf die Lebenspraxis<br />

1.8 Resümee: Das Arbeitsbündnis als zentrales berufsübergreifendes Wesensmerkmal<br />

beruflicher sozialer Arbeit im Focus von Therapie<br />

Berufliche soziale Arbeit in den Bereichen Erziehung, Sozialisation, Therapie, Pflege und<br />

institutionellen Hilfen hat es wesentlich mit der Begegnung ganzer Menschen innerhalb einer<br />

rollenförmigen beruflichen Hilfebeziehung zu tun. Im Kontext einer strukturtheoretischen<br />

Professionalisierungstheorie lässt sich dieses zentrale Merkmal beruflicher sozialer Arbeit<br />

näher als Arbeitsbündnis charakterisieren.<br />

Das Arbeitsbündnis stellt dabei eine eigenlogische Praxisform, einen eigenständigen Beziehungstypus<br />

dar, der durch die Gleichzeitigkeit diffus-familialer und rollenförmig-spezifischer<br />

Beziehungskomponenten gekennzeichnet ist.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 78


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Innerhalb dieser Praxisform geht es einerseits um eine stellvertretende Bewältigung lebenspraktischer<br />

Krisen eines Klienten durch eine Fachkraft oder Fachkräfte, da der Klient aufgrund<br />

einer Einschränkung seiner Autonomie oder aufgrund fortgeschrittener spezialisierter<br />

Wissensbestände (wie z.B. im Bereich der Medizin) zu einer selbständigen Krisenbewältigung<br />

nicht oder nicht angemessen in der Lage ist (vgl. Oevermann 2002, 22 ff).<br />

Andererseits geht es im Arbeitsbündnis aber auch darum, fallangemessen und grundsätzlich<br />

nicht-standardisierbar an den je besonderen Möglichkeiten und Ressourcen des Klienten anzuknüpfen<br />

und seine autonomen Entwicklungs- und Selbstheilungskräfte zu respektieren und<br />

bindend in das Arbeitsbündnis i. S. e. Hilfe zur Selbsthilfe einzubeziehen, damit die Hilfestellung<br />

nicht zu einer weiteren Deautonomisierung führt (vgl. Oevermann 2002, 25 ff). Dieser<br />

Zusammenhang stellt ja das grundlegende Paradoxon beruflicher sozialer Arbeit als stellvertretender<br />

Bewältigung lebenspraktischer Krisen dar.<br />

Voraussetzung für eine angemessene autonomiefördernde Handhabung des Arbeitsbündnisses<br />

ist eine möglichst umfassende und differenzierte Erfassung der Problemlage des Klienten als<br />

ganzer Person, d.h. als einer biopsychosozialen Einheit mit einer je eigenen Geschichte und je<br />

besonderen Möglichkeiten und Ressourcen.<br />

Das Arbeitsbündnis bedarf zu seiner Einrichtung, Aufrechterhaltung und Gestaltung eines<br />

Rahmens, einer sozialen Rahmung, die sich gleichzeitig auf mindestens drei Ebenen bezieht:<br />

1. Die kontraktuelle Ebene (Vereinbarungen und Absprachen)<br />

2. Die fachliche Ebene (fachliche Überlegungen und Standards)<br />

3. Die sozialisatorische und resozialisatorisch- therapeutischeEbene (Herstellung<br />

eines Schutz- und Entwicklungsraumes strukturähnlich der primären<br />

familialen Sozialisation und deshalb mit entsprechenden sozialisatorischen<br />

und symbolischen Qualitäten)<br />

Eine solchermaßen professionalisierungstheoretisch geleitete Sichtweise sozialer<br />

Dienstleistungen stellt konsequent den einzelnen Klienten als ganzen Menschen mit seinem je<br />

individuellen Hilfe- und Unterstützungsbedarf sowie die Besonderheiten, Dynamiken und<br />

Paradoxien von Hilfebeziehungen in den Mittelpunkt der Bestimmung dessen, was im Kern<br />

die besondere Qualität beruflicher sozialer Arbeit ausmacht.<br />

Diese Sichtweise grenzt sich einerseits deutlich von sogenannten „Kundenmodellen“ ab, die<br />

die Besonderheiten beruflicher sozialer Arbeit von vorne herein begrifflich unterlaufen und<br />

angesichts immer knapper werdender Ressourcen im Sozial- , Gesundheits- und Bildungsbereich<br />

einen zynischen Beigeschmack erhalten. Sie grenzt sich andererseits von eher<br />

organisationslastigen Konzeptualisierungen der Qualität sozialer Dienstleistungen ab, die an<br />

der Struktur- und Prozessqualität sozialer Dienstleistungen ansetzen, ohne einen zureichenden<br />

Begriff beruflicher sozialer Arbeit auch auf der Mikroebene entwickelt zu haben (vgl. Schädler,<br />

1999, 16).<br />

„Von einem professionalisierungstheoretischen Standpunkt aus sind solche Konzepte, die<br />

nicht aus der Profession selbst kommen, sondern ihr aufgezwungen werden, wie das mit der<br />

79 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ISO-Norm 9000 ff. geschehen ist, sehr schädlich, weil sie den Kern der Selbstkontrolle einer<br />

Profession, ihre Autonomie, beschädigen. Die Kontrollen darüber, was als gute und was als<br />

schlechte Arbeit zu gelten hat, muss durch die Profession selbst erfolgen“ (Becker 2002, 4).<br />

1.9 Die Evaluation beruflicher sozialer Arbeit im Focus des Arbeitsbündnisses<br />

als Möglichkeit einer Qualitätsbeurteilung nach internen<br />

Kriterien beruflicher sozialer Arbeit<br />

Mit dem Konzept des Arbeitsbündnisses und dem damit verbundenem Konzept der stellvertretenden<br />

Bewältigung lebenspraktischer Krisen wird es möglich, das konkrete Handeln der<br />

Fachkräfte wie auch die arbeitsfeldspezifischen fachlichen Handlungs-routinen und Rahmenbedingungen<br />

sowie ganze Angebotstypen im Focus des Arbeitsbündnisses zu evaluieren,<br />

d.h. zu bewerten. Damit wird es zugleich möglich, zu qualitätsbezogenen Aussagen gegenüber<br />

diesen verschiedenen Gegenstandsbereichen zu gelangen, die nicht externe, etwa<br />

betriebswirtschaftliche, sondern interne, aus der Praxis beruflicher sozialer Arbeit gewonnene<br />

Kriterien zur Bewertung heranziehen. Die fachliche Qualität von Interventionen, Routinen,<br />

Angeboten und Rahmenbedingungen wird im Focus des Arbeitsbündnisses bewertbar.<br />

Gleich ob es sich um die Evaluation eines einzelnen Interventionsverlaufes oder um die Evaluation<br />

fachlicher und einrichtungs- und dienstspezifischer Handlungsroutinen und Rahmenbedingungen<br />

handelt, setzt eine Evaluation im Focus des Arbeitsbündnisses immer<br />

eine gründliche Bestimmung der Handlungsproblematik und d.h. der lebenspraktischen Krisensituation<br />

voraus, für die die konkrete Intervention oder aber ein ganzes Angebot oder Projekt<br />

oder die zur Anwendung kommenden Routinen und Rahmenbedingungen eine Lösung<br />

bzw. Unterstützung bieten sollen.<br />

Eine Evaluation einzelfallbezogener Interventionsverläufe oder fach- und feldspezifischer<br />

Routinen und Rahmenbedingungen im Focus des Arbeitsbündnisses erfordert in einem ersten<br />

Schritt also eine gründliche Analyse der zentralen, den Hilfebedarf begründenden Handlungsproblematik<br />

des Einzelfalles oder eines Falltypus oder mehrerer Falltypen.<br />

In einem zweiten Schritt kann dann untersucht werden, ob und inwieweit der Fachkraft/ den<br />

Fachkräften die angemessene Handhabung von acht zentralen fachlichen Handlungsproblematiken<br />

gelungen ist und/ oder die fachlichen Routinen und Rahmenbedingungen eine<br />

solche ermöglichen.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 80


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1. Übergeordnete fachliche Handlungsproblematik der fallangemessenen sozialen<br />

Rahmung<br />

Es kann gefragt werden, ob und inwieweit die Notwendigkeiten und Möglichkeiten der<br />

Rahmung als Schaffung, Aufrechterhaltung, Gestaltung und Beendigung eines besonderen<br />

Schutz- und Entwicklungsraumes auf einer kontraktuellen, fachlichen sowie sozialisatorisch-<br />

symbolischen Ebene angemessen berücksichtigt wurden und/ oder strukturell berücksichtigt<br />

werden konnten.<br />

2. Fachliche Handlungsproblematik einer ganzheitlichen Problem- bzw. Krisenerfassung<br />

in der widersprüchlichen Einheit von Erklären und Verstehen unter praktischem<br />

Handlungsdruck<br />

Es kann gefragt werden, ob und inwieweit der Fachkraft/den Fachkräften eine ganzheitliche,<br />

sowohl prozessbegründende als auch prozessbegleitende und beendende Problemerfassung/<br />

Diagnostik in der widersprüchlichen Einheit von Erklären und Einordnen des Falles einerseits<br />

und Verstehen des Einzellfalles in seiner Besonderheit und Gewordenheit andererseits gelungen<br />

ist, und/ oder die Routinen und Rahmenbedingungen eine solche ermöglichen, und<br />

dies unter dem gleichzeitigen praktischen Handlungsdruck einer angemessenen Beziehungsgestaltung.<br />

3. Fachliche Handlungsproblematik der Ermittlung des geeigneten Leistungsangebotes/<br />

der Indikation<br />

Es kann gefragt werden, ob und inwieweit es gelungen ist und/ oder strukturell möglich ist,<br />

bei der Ermittlung des geeigneten Leistungsangebotes/ der Indikation die besondere<br />

Problemlage des Klienten/ Nutzers zu berücksichtigen.<br />

4. Fachliche Handlungsproblematik einer fallangemessenen Konkretisierung und Umsetzung<br />

der Angebotsauswahl in fallspezifische fachliche Hilfe- und Arbeitskonzepte<br />

Es kann gefragt werden, ob und inwieweit es gelungen ist und / oder strukturell möglich ist,<br />

fachliche Handlungskonzepte fallangemessen in fallspezifische Hilfe- und Arbeitskonzepte zu<br />

übersetzen.<br />

5. Fachliche Handlungsproblematik einer bindenden Einbeziehung der autonomen<br />

Entwicklungs- und Selbstheilungskräfte des Klienten<br />

Es kann gefragt werden, ob und inwieweit es gelungen ist oder strukturell möglich ist, die<br />

autonomen Entwicklungs- und Selbstheilungskräfte des Klienten/ Nutzers zu erkennen, zu<br />

respektieren und für Klient und Fachkraft bindend in die konkret-praktische Hilfebeziehung<br />

einzubeziehen i. S. e. Hilfe zur Selbsthilfe.<br />

81 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

6. Fachliche Handlungsproblematik der Ausbalancierung widersprüchlicher Beziehungselemente<br />

auch als Dauerleistung<br />

Es kann gefragt werden, ob und inwieweit es gelungen ist und/ oder strukturell (als Dauerleistung)<br />

möglich ist, die besondere Eigenart und Dynamik von Hilfebeziehungen als<br />

Spannungsfeld widersprüchlicher Momente aufrechtzuerhalten und auszubalancieren und<br />

damit Vereinseitigungen insbesondere in der Dimension Technologisierung versus<br />

Intimisierung der Hilfeerbringung zu vermeiden und ggf. ein vertrauensvolles Verhältnis<br />

zu Eltern und gesetzlichen Betreuern herzustellen und zu sichern.<br />

7. Fachliche Handlungsproblematik einer angemessenen Berücksichtigung und Nutzung<br />

der Klientengruppe als eigenständiger Praxisform<br />

Es kann gefragt werden, ob und inwieweit es im Falle der Einbindung des klientenbezogenen<br />

Arbeitsbündnisses in ein Arbeitsbündnis mit einer Klientengruppe zu einer bewussten fachlichen<br />

Wahrnehmung und Einbeziehung der Gruppe als eigenständiger Praxisform gekommen<br />

ist oder strukturell kommen kann.<br />

8. Fachliche Handlungsproblematik der Kooperation mehrerer Fachkräfte<br />

Es kann gefragt werden, ob und inwieweit im Falle der Kooperation mehrerer Fachkräfte, ggf.<br />

auch unterschiedlicher Profession und Zuständigkeit, diese Kooperation einer fallorientierten<br />

ganzheitlichen Vorgehensweise Rechnung trägt und/ oder strukturell Rechnung tragen kann<br />

oder kehrseitig hierzu auf Austausch, Gesamtschau und Absprache verzichtet und zu einer<br />

Fragmentierung des Klienten in unterschiedliche fachliche Sichtweisen und Hilfebereiche<br />

beiträgt.<br />

Die so umrissenen acht Handlungsproblematiken stellen einen Kernbereich allgemeiner und<br />

berufsübergreifender Strukturprobleme dar, mit denen jede Form klientenbezogener stellvertretende<br />

Krisenbewältigung sich notwendig auseinandersetzen muss. Als rekonstru-ierbare<br />

Strukturproblematiken besitzen sie einen deskriptiv-analytischen Charakter.<br />

Diese Strukturproblematiken können aber auch i.S.v. Evaluationskriterien zur Bewertung der<br />

Qualität von Interventionen sowie von Routinen und Rahmenbedingungen herangezogen werden:<br />

Der Grad ihrer praktischen Bewältigung bzw. strukturellen möglichen Bewältigbarkeit<br />

ist zugleich ein Maßstab für die Qualität der sozialen Arbeit und insofern kommt diesen Strukturproblematiken<br />

gleichzeitig ein normativer Charakter zu.<br />

Im Rahmen von Supervision und Selbstevaluation der Fachkräfte können die aufgeführten<br />

Strukturproblematiken als wichtige erkenntnisleitende und hypothesenbildende Strukturierungshilfen<br />

bei der einzelfallbezogenen Reflexion von Interventionen herangezogen werden<br />

und damit einem abkürzenden, unter praktischem Handlungsdruck stehenden intuitivem Fallverstehen<br />

dienen. (15)<br />

Mit dem Arbeitsinstrument ESOFAB (Evaluation beruflicher sozialer Arbeit im Focus des<br />

Arbeitsbündnisses) ist zudem eine Möglichkeit gegeben, die fachlichen und organisatorischen<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 82


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Routinen in den verschiedenen Feldern beruflicher sozialer Arbeit einer systematischen Bewertung<br />

im Lichte der Anforderungen und Herausforderungen des Arbeitsbündnísses zu unterziehen<br />

(vgl. Anhang zur Rahmenkonzeption, Allgemeiner Teil, AH 6).<br />

Vorhandene Qualitätssicherungs- und –entwicklungsinstrumente können zudem daraufhin<br />

befragt werden, inwieweit sie sich auf die Handhabung bzw. Handhabbarkeit der zentralen<br />

Handlungsproblematiken stellvertretender Krisenbewältigung beziehen und hierüber Angemessenheitsurteile<br />

gestatten. Soweit dieser Zusammenhang gegeben ist, können diese Instrumente<br />

oder Teile von ihnen zu einer Evaluation beruflicher sozialer Arbeit im Focus des Arbeitsbündnisses<br />

begründet herangezogen werden.<br />

______________________________<br />

(15) Ergänzend zum in den entsprechenden Grundausbildungen und in der beruflichen Praxis erworbenen intuitiven<br />

Fallverstehen besteht die Möglichkeit expliziter, methodisch kontrollierter und sequenzanalytisch verfahrender<br />

Fallrekonstruktionen, die sowohl auf die Problemlage des Klienten, den Interventionsverlauf als auch die<br />

fachlichen Routinen und institutionellen Rahmenbedingungen fokussieren können (vgl. Oevermann 2000 e,<br />

2002). Der Einführung und Einübung in solche sequenzanalytisch verfahrenden expliziten Fallrekonstruktionen<br />

im Kontext der Methodologie der Objektiven Hermeneutik kommt im Rahmen von fallbezogener Aus- und Weiterbildung<br />

eine zunehmende Bedeutung zu( vgl. Ley, 2000, Oevermann 2002).<br />

1.10 Zur Problematik der Bewertung von Ergebnissen im Bereich beruflicher<br />

sozialer Arbeit<br />

83 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Die hier vorgestellte Möglichkeit einer Qualitätsbeurteilung mit Hilfe von Angemessenheitsurteilen<br />

bezüglich der Handhabung/ Handhabbarkeit zentraler Strukturproblematiken<br />

bezieht sich auf Interventionsverläufe, Routinen und Rahmenbedingungen, d.h. auf Prozesse<br />

und Strukturen. Wie verhält es sich aber mit der Bewertung der Ergebnisse beruflicher sozialer<br />

Arbeit, die ja als Produkt einer gemeinsamen Anstrengung von Klient und Fachkraft angesehen<br />

werden müssen? Die Ergebnisse bestehen ja in Entwicklungs-, Bildungs- Heilungs-<br />

Begleitungs- und Unterstützungsprozessen beim Klienten, die zu einer Lösung oder Entschärfung<br />

seiner Krise/ Problematik führen sollen.<br />

1.10.1 Die Ermittlung von Zufriedenheitsurteilen der Klienten<br />

Die oftmals vorgenommene Bewertung der Ergebnisse beruflicher sozialer Arbeit anhand von<br />

Zufriedenheitsurteilen der Klienten erscheint ein wenig hilfreicher Weg. „Das Problem ist,<br />

dass der Klient sein Produkt selbst mitproduziert und deshalb mit seiner Zufriedenheit auch<br />

ein Urteil über sich selbst fällt, nicht nur über den Anbieter einer Hilfe. Dies birgt zwei Gefahren:<br />

Der Klient neigt dazu, das, was er mitproduziert hat, auf jeden Fall auch gut zu finden,<br />

weil er ja daran mitgearbeitet hat. Die andere Gefahr ist, dass er, wenn er dennoch unzufrieden<br />

mit dem Verlauf und dem Ergebnis ist, seine eigene Beteiligung am Misserfolg für irrelevant<br />

erklärt und die Schuld nur bei dem Anbieter bzw. Helfer sucht. Die Qualitäts-beurteilung<br />

steht also ständig in der Gefahr nach zwei Seiten zu driften. Es wird etwas schön-geredet oder<br />

schlecht gemacht. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass das nichts macht,<br />

weil es doch nur um den Verkauf des Produktes geht, und wenn der Klient eben eine schlechte<br />

Meinung über das Produkt hat, dann ist es auch ein schlechtes Produkt, einfach deshalb,<br />

weil es nicht gekauft wird. Damit steckt man aber in anderen Schwierigkeiten, die für die<br />

nachfrageorientierte Qualitätsbeurteilung gelten: In der Regel bezahlen die Klienten nichts für<br />

die Dienste, die ihnen die soziale Arbeit bietet, entweder, weil sie nicht können, oder weil<br />

eine Gemeinschaft von Staatsbürgern beschlossen hat, dass für bestimmte Dienstleistungen<br />

kein Nutzerentgelt verlangt wird. Was den Klienten also ein Produkt wert ist, weiß man nicht<br />

genau“ (Becker, 2002, 2).<br />

Die Zufriedenheitsbeurteilung durch die Klienten ist insgesamt also ein sehr unsicherer Weg,<br />

Qualität und Erfolg einer Intervention zu bestimmen. Sie könnte eher als ein Maßstab für die<br />

Akzeptanz einer Intervention herangezogen werden. Die Bewertung von Leistungen aus Sicht<br />

der Klienten bzw. ihrer gesetzlichen Vertreter kann gleichwohl ein wichtiges Element der<br />

Prozessreflexion und Prozesssteuerung darstellen, indem sie die Autonomie des Klienten fordert,<br />

sichert und entwickeln hilft und damit zugleich zur Vertrauenssicherung im Arbeitsbündnis<br />

beiträgt.<br />

1.10.2 Vorher-nachher-Vergleich<br />

Für die Bewertung von Erfolg und Qualität einer Intervention besteht des weiteren die Möglichkeit<br />

eines Vorher-nachher-Vergleiches bezüglich des Umganges mit einem Problem und/<br />

oder bezüglich der Auflösung bzw. Entschärfung einer Problemsituation als solcher.<br />

Relativ unproblematisch erscheint auf den ersten Blick dieser Vergleich noch in den Bereichen<br />

ärztlichen Handelns, die primär auf somatische eingrenzbare Problemsituationen abzielen.<br />

Beim Vorher-nachher-Vergleich z.B. im Bereich pädagogischen, medizinischtherapeutischen<br />

und psychotherapeutischen Handelns ist allerdings auf den zwiespältigen<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 84


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Charakter normativer Vorstellungen und Entwicklungsmodelle hinzuweisen, die schon notwendig<br />

in die Problemerfassung/ Diagnostik und Indikation Eingang finden, zur Formulierung<br />

von individuellem Hilfeplan und entsprechenden Zielen beitragen und dann auch bei der<br />

Ergebnisbeurteilung herangezogen werden(vgl. z.B. Brisch/ Kächele 1999).<br />

Die Erhebung und Auswertung solcher Daten mit Bezug auf normative Vorstellungen z.B. in<br />

Form von Entwicklungsbeurteilungen oder standardisierten Tests ist insofern bedeutungsvoll,<br />

als z.B. im Bereich der Pädagogik, Entwicklungsrehabilitation und Psychotherapie damit die<br />

gesellschaftlichen Erwartungen an die Klienten und damit ihre Chancen und Risiken in der<br />

Gesellschaft deutlich werden und damit auch die Maßnahmeergebnisse im Lichte dieser gesellschaftlichen<br />

Erwartungen bewertbar werden.<br />

Zwiespältig und alleine nicht ausreichend ist eine solche normorientierte Beurteilung der Ergebnisqualität<br />

aber, weil man bei Problemerfassung wie auch Ergebnisbewertung nicht alleine<br />

äußere Normierungen als Maßstab heranziehen kann, sondern Problemlage wie mögliche<br />

Entwicklungsfortschritte immer auch i. R. d. besonderen Möglichkeiten, Einschränkungen<br />

und der besonderen Geschichte des einzelnen Falles verstanden und be-wertet werden müssen.<br />

In diesem fallbezogenen Verständnis kann dann ein bezogen auf gesellschaftliche Erwartungen<br />

„geringer“ Entwicklungsfortschritt im inneren Kontext eines Falles ein durchaus „großer“,<br />

bedeutsamer und folgenreicher Entwicklungsschritt sein. Umge-kehrt kann aber auch<br />

ein „großer“ Fortschritt in bezug auf gesellschaftliche Normalitäts-vorstellungen im inneren<br />

Kontext eines Falles, d.h. in bezug auf die Autonomie und Authentizität einer Lebenspraxis,<br />

als Entwicklungsgefährdung z.B. durch Überforderung und erzwungene Anpassung an übermächtige<br />

Anforderungen zu bewerten sein (vgl. z.B. Winni-cott 1984, Noam 2001 34-37).<br />

Man sieht es einem Klienten oder einem Klientensystem nicht sofort an, ob ein bestimmter<br />

Entwicklungsschritt das Ergebnis einer primären Anpassung an und Unterwerfung unter äußere<br />

Erwartungen und Bedingungen ist, oder das Ergebnis eines autonom motivierten und authentischen<br />

Erprobens, Variierens, Innehaltens, Wiederholens und Auswählens, in dem das<br />

letztlich als Anpassung Erzwungene doch zugleich auch Aspekte des Eigenen enthält.<br />

Ergänzend zu einem normorientierten Vorher-nachher-Vergleich wäre also auf einen Vorhernachher-Vergleich<br />

wertzulegen, der sich dafür interessiert, ob und in welcher Art und Weise<br />

sich Veränderungen hinsichtlich des Ausdrucks und Wirksamwerdens der autonomen und<br />

authentischen Entwicklungskräfte des Klienten ergeben haben (vgl. v. Lüpke 2000). „Identität<br />

ist von vorne herein möglich, ihre Entwicklung verläuft quer zu den geläufigen Entwicklungsstufen:<br />

nicht die Frage. „Ob“ etwas geleistet wird, stellt sich hier, sondern die Frage „wie“.<br />

An die Stelle des mehr oder weniger mühsamen und verzichtsreichen Lernens tritt das Spiel,<br />

das Ausprobieren. Das Spiel mit den unterschiedlichen Möglichkeiten von Bewegung etwa<br />

lässt die Varianten herausfinden, die als spezifisch eigene empfunden werden und damit Identität<br />

wahrnehmbar machen “ (v. Lüpke, 2000, 87). Damit werden normorientierte Bewertungen<br />

von Entwicklungsergebnissen als niedrig, hoch, primitive, differenziert, einfach<br />

85 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

oder entwickelt relativiert und die Fragen nach Autonomie, Authentizität und Identität der<br />

Lebenspraxis gerade angesichts der jeweils besonderen Möglichkeiten und Einschränkungen<br />

treten als Bewertungskriterien für die Ergebnisqualität hinzu. Dieser Modus eines nichtnormativen<br />

Vorher-nachher-Vergleiches ist notwendig an die Operation individuellen Fallverstehens<br />

gebunden.<br />

1.10.3 Die indirekte Bewertung der Ergebnisqualität beruflicher sozialer<br />

Arbeit über die Bewertung der Qualität ihrer Abläufen und Strukturen<br />

im Focus des Arbeitsbündnisses<br />

Man kann aber auch versuchen, über einen indirekten Weg, d.h. über die Bewertung der Abläufe<br />

und Strukturen, die im Rahmen beruflicher sozialer Arbeit wirksam werden, zu einer<br />

Bewertung von Ergebnisse zu gelangen: In dem Maße, in dem diese Abläufe und Strukturen<br />

zur angemessenen Handhabung der oben umrissenen basalen Strukturproblematiken beitragen,<br />

in dem Maße ist auch von einer Qualität der Ergebnisses auszugehen: Die angemessene<br />

Handhabung dieser Strukturproblematiken bedeutet ja angemessene, Autonomie<br />

respektierende und fördernde stellvertretende Krisenbewältigung, sie signalisiert innerhalb<br />

eines geschützten Rahmens „Stimmigkeit“ im Dialog zwischen Klienten und Fachkraft als<br />

Grundlage von Entwicklung und Begleitung. (Zum Konzept der Stimmigkeit vgl. v. Lüpke,<br />

2002). „Damit verschiebt sich auch die Zuschreibung von pathologisch. Der Dialog mit einem<br />

Menschen im Koma (siehe Ziegner 1998), das Spiel mit einem Kind, ein Gespräch zwischen<br />

Erwachsenen, der Austausch mit einem Menschen im Zustand geistiger Verwirrung können<br />

unter diesen Aspekten auf einer Stufe stehen. Die Stimmigkeit innerhalb der Gesamtsituation<br />

ist entscheidend,... ( v. Lüpke 2002, 316 f).<br />

Überprüfung und Bewertung der Ergebnisse beruflicher sozialer Arbeit im Focus des Arbeitsbündnisses<br />

kann in dieser Sichtweise also auch bedeuten, in einer nachträglichen Reflexion<br />

auf den Interventionsverlauf zu prüfen, ob und inwieweit die basalen Strukturproblematiken<br />

beruflicher sozialer Arbeit angemessen gehandhabt wurden bzw. strukturell angemessen zu<br />

handhaben waren.<br />

1.11 Aktuelle gesellschaftliche Rahmenbedingungen und<br />

Entwicklungstendenzen beruflicher sozialer Arbeit<br />

1.11.1 Veränderungen und Tendenzen in Leistungsverwaltung<br />

und Sozialrecht<br />

Im Rahmen von Verwaltungsreform und New Public Management ist es zu einer zunehmenden<br />

Übernahme betriebswirtschaftlicher Modellvorstellungen in die Binnenstruktur der Leistungsverwaltungen<br />

gekommen (vgl. Naschhold/ Bogumil 1998). Dies führt zu einer folgenreichen<br />

Infragestellung des klassischen Bürokratiemodells und des traditionellen Selbstverständnisses<br />

der Leistungsverwaltung (vgl. Schütte 2001).<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 86


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Parallel hierzu ist im deutschen Sozialrecht ein Übergang von einem Regulierungs- und Fürsorgemodell<br />

zu einem Konsum-Modell festzustellen. „Der Übergang vom Regulierungs- oder<br />

Fürsorgemodell zum Konsum-Modell bringt es mit sich, dass sich der Staat auch mit seinen<br />

rechtlichen Mitteln aus der unmittelbaren Steuerung des Leistungsgeschehens zurück-zieht.<br />

Er überlässt die Feinsteuerung weitgehend der Selbstkoordinierung von Leistungs-anbietern<br />

und Nachfragern im Rahmen des Privatrechts und zieht sich auf die Kontrolle von „Ausreißern“<br />

im Ordnungsrecht zurück. Das erhöht die Flexibilität vor Ort, lässt allerdings die Genauigkeit<br />

des Leistungsanspruches eher schwinden“ (Schütte 2001, 72).<br />

Kommunale Sozialpolitik und Gesundheitsversorgung sind, in der öffentlichen Debatte meist<br />

noch nicht in der vollen Tragweite bemerkt, Vorreiter der Umgestaltung des Systems sozialer<br />

Sicherung: „ Teilweise erteilt der Gesetzgeber die Aufträge oder ermöglicht die Aktionsräume,<br />

indem er Verteilungskonflikte und Gestaltungsaufgaben nach unten weitergibt. Aufträge<br />

an die Trägerverbände, Normdelegation an die Verwaltungen und Vorgaben für Vertragskonstruktionen<br />

ersetzen zunehmend die direkte gesetzliche Definition der Leistungsansprüche.<br />

Ausgründungen von ehemals staatlichen Verwaltungsabteilungen fördern die Bildung<br />

sektoraler Dienstleistungsmärkte mit neuen Betriebsformen, neuen Konkurrenzen und<br />

neuen Angeboten. Wenn der Dienstleistungsempfänger persönlich dazu in der Lage ist, mutiert<br />

er zum Kunden, wenn nicht, ist sein Leistungsanspruch gefährdet.<br />

Noch haben die Akteure ihre neuen Rollen nicht recht gefunden. Vor allem der Bundesgesetzgeber<br />

schwankt je nach Sachbereich zwischen widerstreitenden Konzepten: Grundsicherung<br />

vs. Statussicherung; Bedarfsdeckung vs. Budgetierung; bürokratische Reglementierung<br />

vs. verbandliche Selbststeuerung; Verrechtlichung vs. Kontraktbeziehungen.<br />

Im „Neuen Sozialstaat“ werden flexible Teilmärkte die meisten Unterstützungs- und Förderbedarfe<br />

der meisten Bürger gut bedienen. Doch die Gewährleistungsfunktion des Staates als<br />

Normgeber und Ausführer wird brüchig, je mehr sich die soziale Politiken auf Finanzierungs-,<br />

Koordinierungs- und Überwachungsaufgaben zurückziehen. Agile und flexible Kunden und<br />

Dienstleister werden von diesem Rückbau des Staates profitieren. Doch wird damit eine neue<br />

Debatte nötig sein: wie der traditionelle und egalitäre Sozialstaat mit der von ihm selbst zugelassenen<br />

neuen Ungleichheit umzugehen gedenkt“ (Schütte 2001, 72).<br />

Angesichts dieser umrissenen Entwicklungen und Tendenzen auf einer gesellschaftlichen<br />

Meso- und Makroebene wird deutlich, in welchem Ausmaß die Wandlungen des Klienten und<br />

Nutzers zum Kunden im fachlichen und öffentlichen Diskurs auch den stetig zunehmenden<br />

Verteilungs-, Steuerungs- und Legitimationsproblemen im Sozial- und Gesundheitsbereich zu<br />

verdanken sind. Gerade deshalb ist es bedeutsam, aus strukturtheoretisch-professionalisierungstheoretischer<br />

Perspektive die Besonderheiten beruflicher sozialer Arbeit, d.h. vertrauensvoller<br />

beruflicher Hilfe- und Unterstützungsbeziehungen auf der Mikro-Ebene sozialer<br />

Beziehungen genauer ins Blickfeld zu nehmen, um dadurch einer Verbetriebswirtschaftlichung,<br />

fachlichen-inhaltlichen Verarmung und Entautonomisierung beruflicher sozialer<br />

Arbeit entgegenzuwirken.<br />

87 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.11.2 Grenzen der Ausweitung des Psychosozialen Hilfesystems und seine<br />

immanenten Ambivalenzen<br />

Das psychosoziale System hat sich vor allem in den 60er, 70er und 80er Jahren zu seiner gegenwärtigen<br />

Gestalt entwickelt. Ein umfassender Entwicklungsschub hat zu einer massiven<br />

Vermehrung von Einrichtungen und Diensten und entsprechend von fachlichen Helferinnen<br />

und Helfern geführt. Eine weitere Ausweitung des Hilfesystems stößt auf deutliche ökonomische-<br />

politische Grenzen. Mit dem Auf- und Ausbau des psychosozialen Hilfesystems haben<br />

sich aber zugleich in verschiedenen Bereichen eine Reihe widersprüchlicher Entwicklungstendenzen<br />

ergeben:<br />

1. „Eine wachsende Selbsthilfebewegung hat ihren kritischen Ausgangspunkt in dem<br />

nichteingelösten Versprechen der allumfassenden Wirksamkeit professioneller Lösungsangebote.<br />

Selbsthilfegruppen haben ihren Ausgangspunkt oft in Enttäuschungen,<br />

die NutzerInnen professioneller Dienstleistungen erleben und sie zeigen<br />

häufig, dass sie für sich selbst die besseren Lösungen in Selbstorganisation entwickeln<br />

können.<br />

2. Professionelle Lösungen fördern häufig eine passive KonsumentInnenhaltung durch<br />

fertig geschnürte Hilfepakete und erzeugen damit ein System der „fürsorglichen Belagerung“.<br />

Die Folge ist eine „Enteignung“ von Problemlösungskompetenzen auf der<br />

Seite der Abnehmer dieser Fertigpakete.<br />

3. Das professionelle System teilt mit allen komplexen institutionellen Geflechten ein<br />

hohes Maß an Eigenbezüglichkeit: Das Kompetenzgerangel der verschiedenen Anbieter,<br />

die Zuständigkeitskämpfe der Professionen und Träger verbraucht sehr viel mehr<br />

Ressourcen, als die Orientierung an den alltäglichen Problemlagen der potentiellen<br />

oder aktuellen Nutzer/innen.<br />

4. Unter Vorzeichen knapper werdender öffentlicher Ressourcen ist das in der Prosperitätsphase<br />

häufig praktizierte Prinzip der Qualitätsverbesserung durch Ausweitung des<br />

Hilfesystems an seine Grenzen gestoßen. Die Beantwortung der Qualitätsfrage bleibt<br />

nicht mehr in der Souveränität der professionellen Anbieter selbst und ihrer wissenschaftlichen<br />

Unterstützersysteme, sondern wird an externe Kriterien gebunden, die<br />

meist betriebswirtschaftlich ausgelegt sind“ (Keupp 2002, 33-34).<br />

1.11.3 Selektive Professionalisierung und Laiisierung<br />

In einzelnen Bereichen beruflicher sozialer Arbeit ist eine selektive Professionalisierung spezifischer<br />

Führungs- und Ausbildungseliten festzustellen wie z.B. die Etablierung von Pflegepädagogik,<br />

Pflegemanagement und Pflegewissenschaft auf Fachhochschulebene oder die<br />

Etablierung einer universitären Lehrlogopädenausbildung. Gleichzeitig verschlechtern sich<br />

aber die ökonomischen Rahmenbedingungen für die überwiegende Mehrheit der hier beruflich<br />

Tätigen, so dass sie Gefahr laufen, zwischen den erhöhten Ansprüchen der Ausbildungs-<br />

und Führungseliten und den Nutzererwartungen einerseits und gleichzeitig forciertem Organisationsstress<br />

andererseits zerrieben zu werden (vgl. Hohm 2001). Hierdurch entsteht ein deutlicher<br />

Verlust an Glaubwürdigkeit der allgemeinen Qualitätssicherungs-programmatik. „Hinzu<br />

kommt, dass die durch die Pflegeversicherung politisch intendierte selektive Laiisierung<br />

der Pflege deutlich macht, dass die Kompetenzkluft zwischen der beruflichen Pflege und der<br />

Laienpflege nicht so groß sein kann, wenn Familienmitglieder<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 88


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

oder ihre Angehörigen die Grundpflege bzw. allgemeine Pflege ohne größere Ausbildung<br />

bewältigen können.“ (Hohm 2001, 8).<br />

1.11.4 Das zunehmende öffentliche Interesse am ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen<br />

Engagement und die Notwendigkeit einer Standortbestimmung<br />

beruflicher sozialer Arbeit<br />

Bezüglich des ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen Engagements als möglicher Ergänzung<br />

und/ oder möglichem Substitut beruflicher sozialer Arbeit lässt sich eine spezifische Entwicklungstendenz<br />

feststellen. In den ausgehenden 60er und den 70er Jahren war das Interesse am<br />

ehrenamtlichen Engagement mehr „von unten“ gewachsen. „Ehrenamtliches und bürgerschaftliches<br />

Engagement wurden dabei nicht als ein separater Sektor des Versorgungssystems<br />

betrachtet, sondern als integraler Bestandteil eines psychosozialen Netzwerkes, in dem Laienhelfer,<br />

engagierte Bürger und psychosoziale Experten gemeinsam an der Veränderung der<br />

Institutionen arbeiteten (psychosozial 25.Jg. 2002, 5)“.<br />

Demgegenüber erfährt die Freiwilligenkultur in der Bundesrepublik, aber auch in anderen<br />

entwickelten Industriegesellschaften, seit einiger Zeit eine wachsende Beachtung von „oben“.<br />

„Politiker aller Parteien und Fachleute beugen sich in bemühter Aufmerksamkeit über den<br />

Freiwilligensektor unserer Gesellschaft. In dieser Haltung bündeln sich Sorge, Interesse und<br />

auch Begehrlichkeiten. Die Sorge entsteht, wenn traditionsreiche Organisationen vermelden,<br />

dass bei ihnen das Freiwilligenengagement abbröckelt, und aus solchen Indikatoren wird dann<br />

nicht selten der Schluss gezogen, dass Menschen sich zunehmend nur noch um ihre eigenen<br />

Angelegenheiten kümmern wollen und nicht mehr bereit seien, sich für Menschen in Not oder<br />

die Gemeinschaft zu engagieren. ...<br />

Das Interesse am Engagement von Freiwilligen entsteht aus der Vermutung, dass sich der<br />

gesellschaftliche Strukturwandel, der sich im Gefolge von Individualisierungs- und Globalisierungsprozessen<br />

vollzieht, nicht in klassischen Politikformen des „fürsorglichen“<br />

oder „obrigkeitlichen Staates“ bewältigen lässt, sondern mehr Eigeninitiative und<br />

Mitwirkungsformen der Bürgerinnen und Bürger erfordert. Die Fragen, die in Wissenschaft<br />

und Politik daraus resultieren, beziehen sich darauf, wie sich Menschen in Selbsthilfe und<br />

Selbsthilfeorganisation an zukunftsfähigen Lösungen für die gesellschaftlichen Folgen wachsender<br />

Flexibilisierung und Mobilität beteiligen.<br />

Und die Begehrlichkeiten entstehen aus den fiskalischen Engpässen von Politik, Verwaltungen<br />

und auch Verbänden, die nach Möglichkeiten suchen, dass Menschen Anforderungen der<br />

Daseinsbewältigung und –versorgung mehr in Eigenregie übernehmen, um darüber Spareffekte<br />

bei öffentlichen Ausgaben zu erzielen. Es ist die Hoffnung auf ein bürgerschaftliches „Notstromaggregat“.<br />

Viele öffentliche Aussagen kommen aus dieser Motivlage heraus“ (Keupp<br />

2002, 33-34).<br />

Das Interesse am Freiwilligensektor ist also deutlich gewachsen und es besteht die Notwendigkeit<br />

einer Standortbestimmung beruflicher sozialer Arbeit in ihren je besonderen Arbeitsbereichen<br />

in diesem Feld sehr unterschiedlicher und widersprüchlicher Erwartungen.<br />

Bezüglich des Verhältnisses zu Selbstorganisation und Selbsthilfegruppen hat der Verein <strong>Behindertenhilfe</strong><br />

eine klare Positionsbestimmung in seinen Leitlinien vorgenommen:<br />

89 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

„Die Ermöglichung und Unterstützung von Selbstvertretung und Selbstorganisation sowie<br />

von Partizipation bei Entscheidungsprozessen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung von Autonomie<br />

und Handlungsfähigkeit der Fachkräfte und Einrichtungen stellt eine wichtige Handlungsorientierung<br />

dar. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang Elternvertretungen<br />

und Selbsthilfegruppen zu (Leitlinien des Vereins <strong>Behindertenhilfe</strong>).<br />

Diese Positionierung wird auch gestützt durch die Befunde der Publik Health-Forschung, die<br />

in Orientierung an einer salutogenetischen Perspektive den Blick auf Bewältigungs- und Widerstandsressourcen<br />

gerichtet und dabei vor allem die Relevanz netzwerkbezogener Ressourcen<br />

herausgearbeitet haben. „Soziale Unterstützung im eigenen sozialen Beziehungs-gefüge<br />

ist von großer Bedeutung bei der Bewältigung von Krisen, Krankheiten und Behin-derungen<br />

sowie bei der Formulierung und Realisierung selbstbestimmter Lebensentwürfe. Gerade die<br />

Kräfte, die durch die Vernetzung von gleich Betroffenen entstehen können, sind von besonderer<br />

Qualität. Weil das so ist, wird die Stiftung und Unterstützung selbst-organisierter Betroffenengruppen<br />

zunehmend zu einem zentralen Aufgabenfeld profes-sioneller Praxis“ (Keupp<br />

2002, 37).<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 90


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.11.5 Das Verhältnis von Pflege und Eingliederungshilfe/Pädagogik<br />

Einleitung:<br />

Die Ausführung dieses für die berufliche soziale Arbeit in den Diensten und Einrichtungen im<br />

Verein <strong>Behindertenhilfe</strong> zukunftsträchtigen <strong>Kapitel</strong>s wurde wegen seiner Bedeutung immer<br />

wieder verschoben, um den neuesten fachlichen Sachstand und vor allem auch eine grundlegende,<br />

sozialgesetzliche Klärung im Verhältnis dieser beiden getrennt nebeneinander existierenden<br />

Leistungssysteme abzuwarten und dann angemessen, evt. sogar abschließend beschreiben<br />

und berücksichtigen zu können.<br />

Diesem Vorhaben wird - nach Auffassung des Autors - jedoch auch in absehbarer Zeit nicht<br />

entsprochen werden können. Aus diesem Grund erfolgt hier eine Ist-Beschreibung des augenblicklichen<br />

Sachstandes, die zwar Aussichten eröffnet, aber über deren gesetzgeberische Umsetzung<br />

vor Ablauf der nächsten Legislaturperiode vor 2013 kaum etwas Sicherndes zu sagen<br />

sein wird.<br />

Bereits durch das Juli 2008 in Kraft getretene Pflegeweiterentwicklungsgesetz ist es zu Verbesserungen<br />

der Leistungen für einen erweiterten Kreis der Leistungsberechtigten im SGB XI<br />

gekommen. Dennoch hat diese Teil-Reform am grundsätzlichen Verhältnis von Eingliederungshilfe<br />

nach dem SGB XII und der Pflege(-versicherung) gemäß SGB XI nichts geändert.<br />

Der bereits im Herbst 2006 von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt gemäß Koalitionsbeschluss<br />

eingesetzte Beirat aus Verbänden und Wissenschaftlern zur Überprüfung des<br />

Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Zusammenhang mit einem neuen Begutachtungsverfahren hat<br />

in der Tat relevante Ergebnisse hervorgebracht, die aus unserer Sicht entscheidende Frage<br />

jedoch nach dem zukünftigen Verhältnis beider Leistungsarten und die für unsere Arbeit mit<br />

Menschen mit Behinderung relevante Frage der leistungsrechtlichen Abgrenzung nicht beantwortet<br />

bzw. nicht beantworten können. So steht auch jetzt schon in Frage, ob mit der avisierten<br />

Reform ein Manko aus der Einführung der Pflegeversicherung behoben werden kann,<br />

nämlich, dass alle wesentlich behinderten Menschen auch die Pflegeleistungen erhalten, die<br />

sie benötigen (s. u.a. § 43a SGB XI).<br />

Ein neues, erweitertes Verständnis von Pflegebedürftigkeit<br />

Die fachwissenschaftliche Begründung und Fundierung eines neuen Verständnisses von Pflegebedürftigkeit<br />

und seine Umsetzung in einem veränderten Sozialleistungsrecht wird allgemein<br />

als notwendig angesehen und damit in der Folge auch ein neues bundesweit einheitliches<br />

und reliables Begutachtungsinstrument zur Feststellung des Pflegebedarfs. Der gegenwärtige<br />

Begriff der Pflegebedürftigkeit steht in der Kritik, weil er sich auf lebensbereichbezogene<br />

Verrichtungen konzentriert und allgemeine soziale und kommunikative Aspekte der<br />

Betreuung, Beaufsichtigung, Anleitung, aber auch der Kommunikation und sozialen Teilhabe<br />

nicht ausreichend berücksichtigt. Der spezielle Bedarf für Menschen „mit eingeschränkter<br />

Alltagskompetenz“ war auch bereits Regelungsgegenstand und Anlass zur gesetzlichen Leistungsausweitung<br />

im Rahmen des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes vom Juli 2008.<br />

Die vom Beirat vorgestellte ganzheitliche wie auch nachhaltige Weiterentwicklung des Begriffs<br />

der Pflegebedürftigkeit greift dabei die aktuellen pflegewissenschaftlichen Erkenntnisse<br />

ebenso auf wie auch die gesellschaftlichen bzw. gesellschaftspolitischen Veränderungen und<br />

Entwicklungen. Von ganz besonderer Art und Herausforderung stellt sich diese Aufgabe als<br />

Problematik in leistungsrechtlicher Hinsicht dar.<br />

91 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Eine fachwissenschaftlich gesicherte Beschreibung von Pflegebedürftigkeit geht heute vom<br />

Vorliegen eines zentralen Definitionsmerkmales aus: Der Beeinträchtigung der Selbstständigkeit<br />

und der damit in Folge einhergehenden Abhängigkeit von personeller Hilfe.<br />

Pflegebedürftig ist ein Mensch demnach, wenn er „infolge fehlender personaler Ressourcen,<br />

mit denen körperliche oder psychische Schädigungen, die Beeinträchtigung körperlicher oder<br />

kognitiver/psychischer Funktionen, gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen<br />

kompensiert oder bewältigt werden könnten, dauerhaft oder vorübergehend zu selbständigen<br />

Aktivitäten im Lebensalltag, selbstständiger Krankheitsbewältigung oder selbstständiger Gestaltung<br />

von Lebensbereichen und sozialer Teilhabe nicht in der Lage und daher auf personelle<br />

Hilfe angewiesen ist.“ 1<br />

Mit dieser Neudefinition erfolgt eine Abkehr von einem einerseits vormals stark medizinisch<br />

geprägten und andererseits sehr verrichtungsbezogenen Verständnis von Pflegebedürftigkeit.<br />

Es kommen verstärkt auch nichtsomatisch bedingte Einschränkungen der Selbstständigkeit in<br />

den Blick. Pflegebedürftigkeit bezieht sich demnach auf Lebenslagen, die spezifische Lebenswelten<br />

und Kontextfaktoren ebenso in den Fokus nimmt wie die Prüfung der gegebenen<br />

Teilhabe(-möglichkeiten) am Leben in der Gesellschaft.<br />

Dieses neue Verständnis von Pflegebedürftigkeit ist auch kennzeichnend für die Lebenslagen<br />

von Menschen mit Behinderung, die Übereinstimmung und damit auch der Überschneidungsbereich<br />

der Lebenslagen behinderter und pflegebedürftiger Menschen wird möglicherweise<br />

größer und verschärft damit die Abgrenzungsfrage, v.a. in leistungsrechtlicher Hinsicht. Zusätzlich<br />

kompliziert wird dies durch den Umstand, dass in einer Reihe von Lebenslagen Pflegebedürftigkeit<br />

Teil von Behinderung ist. Gleichwohl kann Behinderung auch ohne Merkmale<br />

der Pflegebedürftigkeit bestehen.<br />

Inwieweit die Leistungstatbestände des SGB XI und SGB XII künftig diese fachwissenschaftliche<br />

Herangehensweise auch leistungsrechtlich umsetzen bzw. umzusetzen bereit sind, bleibt<br />

eine offene Frage der politischen Realisierbarkeit.<br />

Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil mit einem neuen Verständnis von Pflegebedürftigkeit<br />

sich die bestehenden Finanzierungsfragen in der Pflegeversicherung ebenso verschärfen werden<br />

wie die Frage der leistungsrechtlichen Abgrenzung zwischen der Pflegeversicherung und<br />

der Sozialhilfe.<br />

Schnittstellenproblematik: Pflege und Eingliederungshilfe<br />

Die aus der fachlichen Weiterentwicklung zum einen, die aus den leistungsrechtlichen Abgrenzungs-<br />

und Zuständigkeitsregularien zum anderen hervorgehenden Fragen lösen neben<br />

der bestimmenden Frage nach den neuen finanziellen Ungewissheiten und wahrscheinlichen<br />

Mehrbelastungen und Kostenverschiebungen auch Fragen nach inhaltlichen Folgen und Konsequenzen<br />

für die bestehenden Sozialleistungssysteme auf. Die sozialgesetzgeberische Bearbeitung<br />

der Schnittstelle zwischen Pflege und Behinderung resp. der Eingliederungshilfe gehört<br />

hierbei zur zentralen Aufgabenstellung.<br />

1 (Diskussionspapier DV zur Abgrenzung der Begriffe und Leistungen in einem neuen Verständnis von Pflege-<br />

bedürftigkeit, Okt. 2008, S.5)<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 92


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

In der anstehenden politischen Umsetzung der vom Beirat vorgestellten Ergebnisse zur Weiterentwicklung<br />

eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs müssen die Stellung und Bedeutung<br />

der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung gewahrt werden.<br />

Von Pflegebedürftigkeit sind nicht nur alte Menschen betroffen, sondern auch Kinder, junge<br />

Menschen und auch ein großer Teil der Menschen mit Behinderung. Insofern müssen sich<br />

Reformvorhaben einbetten in ein sozialpolitisches Gesamtkonzept, das Leistungen für pflegebedürftige,<br />

behinderte und alte Menschen aufeinander beziehen lässt, Versorgungslücken<br />

schließt und Übergänge zwischen den Leistungsbereichen ermöglicht bzw. erleichtert. Dass<br />

hierbei gleichsam als Geburtsfehler der Pflegeversicherung als Teilversicherungsleistung mit<br />

auf den Weg geben wurde, im Fall der Pflegebedürftigkeit die Abhängigkeit von der Sozialhilfe<br />

möglichst zu vermeiden bzw. zu reduzieren, verschärft die beschriebene Problematik<br />

angesichts der Begehrlichkeiten der unterschiedlichen Leistungsträger.<br />

Während nach bisherigem Verständnis die Pflegeversicherungsleistung Aufwendungen für<br />

ambulante und stationäre Hilfen erstatten soll, die bei Eintritt eines bestimmten Lebensrisikos<br />

mit pflegebedingten Beeinträchtigungen bei Verrichtungen des alltäglichen Lebens entstehen,<br />

verfolgt die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung einen weitergehenden, auf die<br />

soziale Teilhabe bezogenen Ansatz.<br />

Die gemäß SGB XII definierte Aufgabe der Eingliederungshilfe besteht darin, eine drohende<br />

Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern<br />

und die Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehören<br />

die Ermöglichung oder Erleichterung der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, der Ausübung<br />

eines angemessenen Berufes oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit sowie das<br />

Unabhängigmachen von Pflege (!). Ein wesentlich behinderter Mensch soll also dazu befähigt<br />

werden, möglichst in gleicher Weise wie Menschen ohne Behinderung den Anforderungen<br />

des Lebens genügen zu können. Dies geht demnach über die Unterstützung bei Verrichtungen<br />

des täglichen Lebens hinaus, insofern kommt der Eingliederungshilfe der Charakter einer umfassenden<br />

Hilfeart zu. Die Pflege kann ein unverzichtbarer Bestandteil bei der Erfüllung der<br />

Aufgaben der Eingliederungshilfe sein.<br />

Dieses Verständnis von Behinderung wird von der ICF-Definition („Internationale Klassifikation<br />

der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“) der Weltgesundheitsorganisation<br />

bestätigt. Dieses bio-psycho-soziale Modell der ICF sieht Behinderung als Konstrukt, das sich<br />

auf transaktionale Prozesse zwischen Person und Umwelt bezieht. Mit Behinderung wird dort<br />

eine spezifische Lebenslagenproblematik verstanden, hervorgerufen durch eine Funktionsbeeinträchtigung<br />

in einer spezifischen Lebenssituation.<br />

Das dialektische Verhältnis von Pflege und Pädagogik<br />

Zunehmend wird von Vertretern der (über-)örtlichen Sozialhilfeträger z.B. bei Fragen der<br />

angemessenen Begutachtung und Berücksichtigung pflegebedingter Aufwendungen im Rahmen<br />

der Leistung Eingliederungshilfe in Frage gestellt, ob Pädagogik noch eine eigene Legitimation<br />

in Bezug auf die Menschen mit Behinderung hat, die in hohem Maße vom<br />

Gepflegtwerden durch andere abhängig sind.<br />

Deshalb sollen (im Anschluss an Theo Klauß) nachfolgend einige grundlegende Aussagen<br />

zum Verhältnis von Pflege und Pädagogik gemacht werden.<br />

93 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Wenn nachfolgend von Pflege die Rede ist, dann ist nicht der Begriff der Krankenpflege<br />

(=Behandlungspflege) damit gemeint. Alle Menschen haben, wenn sie erkranken, einen erhöhten<br />

und besonders qualifizierten Pflegebedarf. Krankenpflege begründet also immer einen<br />

eigenen, besonderen Unterstützungsbedarf, der über einen allgemeinmenschlichen Pflegebedarf<br />

hinausgeht.<br />

Pflege soll hier verstanden werden als allgemeine menschliche Notwendigkeit und Aufgabe,<br />

die Menschen umfassend und lebenslang brauchen. Sie steht eng mit körperlichem und psychischem<br />

Wohlbefinden beim Kontakt/Leben in einer Umwelt in Verbindung und sichert/<br />

befriedigt individuelle Bedürfnisse in elementaren Lebensbereichen und –fragen. Pflege wird<br />

somit verstanden als „Befriedigung organismischer Bedürfnisse mit dem Ziel der Beruhigung,<br />

Sicherheit und damit der Offenheit für Erfahrung, Be- und Erziehung und Lernen.“ Dies kann<br />

sowohl durch unmittelbare pflegerische Interaktion wie auch durch das Bereitstellen und Sichern<br />

äußerer, der Pflege des körperlichen Wohlbefindens dienlichen Voraussetzungen geschehen.<br />

Wer jedoch in diesem so verstandenen Sinne nicht mehr für sich selbst sorgen kann, muss<br />

diese sehr individuelle Selbstpflege auf andere Menschen übertragen. Um ihre Lebensqualität<br />

und ihre Entfaltungsmöglichkeiten zu sichern, sind diese Menschen dann in einem mehr oder<br />

weniger umfassenden Maße von der Hilfeleistung Dritter abhängig. Menschen mit schwersten<br />

Behinderungen benötigen hierzu qualifizierte Hilfskräfte, die diese Aufgaben teilweise oder<br />

umfassend für sie übernehmen.<br />

Menschen brauchen neben Pflege aber auch Bildung. Sie ist der Prozess, mit der sich der<br />

Mensch die Welt aneignet, ein Bild von ihr macht. Bildung ermöglicht somit individuelle<br />

Entwicklung, menschliche Individualität und Autonomie durch Aneignung der Kultur. Dieser<br />

Vermittlung stellt sich Pädagogik. Hier geht es um Erziehung und Bildung des Menschen.<br />

Pflege und Pädagogik berücksichtigen also unterschiedliche Grundbedingungen des Menschseins:<br />

das Vorhandensein körperlicher Bedürfnisse und die Notwendigkeit der Aneignung von<br />

Kultur. Eine auf die Würde des Menschen verfasste Gesellschaft muss Pflege und Bildung<br />

gleichermaßen gewährleisten. Sie sind demnach als unabdingbar aufeinanderbezogene,<br />

gleichberechtigte und gleich gewichtete Voraussetzungen menschlicher Existenz anzuerkennen.<br />

Pflege und Pädagogik stehen in einem komplexen, dialektischen Verhältnis zueinander.<br />

Pflege kann sich als Voraussetzung von Pädagogik, als möglicher Rahmen, in den pädagogische<br />

Angebote eingebettet werden, jedoch auch als Aspekt und Bestandteil der Pädagogik, als<br />

spezifischer Bildungsprozess darstellen. Pflege kann ihrerseits aber auch bereits basale Bildungsprozesse<br />

voraussetzen oder diese initiieren und der Ergänzung durch eigenständige Bildungsangebote<br />

bedürfen. In der Pflege selbst finden Bildungsprozesse statt. Eine Pflege, die<br />

keine Bildung ermöglicht und beinhaltet, enthält dem Menschen Wesentliches vor. So sind<br />

Bedürfnisse nicht einfach da, sondern bedürfen der (Aus-)Bildung. Hierbei stellt die kulturelle<br />

Vielfalt einer Gesellschaft die Möglichkeit dar, in jeder Lebensphase und -situation etwas<br />

Neues/Anderes zu entdecken, zu nutzen, neu- oder wieder anzueignen. Bildung bedeutet<br />

demnach immer auch Vielfalt, Reichtum von Formen und Variabilität, Wahlmöglichkeiten,<br />

ständig neue Realisierung von Individualität. Insofern Pflege vor diesem Hintergrund basale<br />

Bildungsprozesse mit dem Anbieten und Vermitteln der in der Kultur vorhandenen Möglichkeiten<br />

der Bedürfnisbefriedigung vermittelt und mit initiiert, wird sie auch zum pädagogischen<br />

Prozess. Bildung im Bereich der Pflege geht jedoch noch über die Bildung von Vorlieben<br />

und Geschmack hinaus und bezieht auch die Bildung von Fertigkeiten mit ein, mit denen<br />

die selbstständige Aneignung des kulturellen Erbes gelingen kann.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 94


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Ausbildung lebenspraktischer Verselbstständigung als Teil eines kombinierten Pflege-<br />

Bildungs-Prozesses fördert somit auch die individuelle Autonomie.<br />

Bildung bleibt, ohne Orientierung an anderen Menschen, ohne das Sich-auf-diese-einlassen,<br />

ohne Beziehung also, eingeschränkt auf das, was man alleine finden kann - der Reichtum der<br />

Welt erschließt sich nur sehr mühsam und beschränkt. Grundsätzlich brauchen Menschen die<br />

Chance, in der Pflege die Bedeutung anderer Menschen für sich zu erfahren und Schlüsse<br />

daraus zu ziehen.<br />

Auch wenn Pflege das ganze Leben umfasst, sind neben der Pflege weitere Bildungsangebote<br />

notwendig, damit nicht der Fokus allein auf den organisch bedingten Bedürfnissen verbleibt.<br />

Pädagogik hat deshalb einen über die Pflege hinausgehenden Auftrag. Nur Pflege allein reicht<br />

nicht aus, um ein Leben lebenswert und reichhaltig zu machen. Menschen mit schwersten<br />

Behinderungen benötigen aus diesem Grund neben einer qualifizierten medizinisch wie auch<br />

pädagogisch verstandenen Pflege zusätzlich mehr pädagogische Angebote als alle anderen. In<br />

einem arbeitsteiligen Kooperationsverhältnis mit der Pflege kommt der Pädagogik in der Beschäftigung<br />

mit den pflegerelevanten basalen Bildungsprozessen die Aufgabe zu, Auskunft zu<br />

geben über das Wie der Bildung von Bedürfnissen, Vorlieben und Geschmack, Beziehungen<br />

und Einstellungen sowie aufzuzeigen, wie basale Bildungsprozesse unterstützt und ermöglicht<br />

werden können, wenn sie durch innere (schädigungsbedingte) oder äußere (Umwelt) Faktoren<br />

beeinträchtigt sind.<br />

Aspekte der gegebenen leistungsrechtlichen Abgrenzungsproblematik<br />

Wie oben aufgezeigt wurde, entsteht durch die Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs<br />

und die damit verbundene Vergrößerung der Überschneidung der Leistungsbereiche von Pflegeversicherung<br />

und Eingliederungshilfe eine Verschärfung der Abgrenzungsfrage. Ein v.a.<br />

von Behindertenverbänden gefordertes einheitliches Leistungsrecht ist politisch derzeit nicht<br />

in Sicht und/oder politisch nicht erreichbar. Dennoch wird es gerade im Hinblick auf die gesetzgeberische<br />

Umsetzung der intendierten Reform zwingend sein, eine Schärfung der sozialleistungsrechtlichen<br />

Verantwortung und damit der sachlichen Zuständigkeiten vorzunehmen.<br />

Aus den vorangegangenen Ausführungen, v.a. zum Verhältnis von Pflege und Pädagogik,<br />

wurde deutlich, dass eine fachwissenschaftlich exakte und erschöpfende Beschreibung der<br />

Unterschiede in den Lebenslagen von Menschen mit Pflegebedürftigkeit und von Menschen<br />

mit Behinderung so ohne weiteres nicht (mehr) möglich ist. Von der zielführenden Beschreibung<br />

her wird Pflege künftig (auch nur noch) teilhabeorientiert gedacht werden. Für die bestehende<br />

Praxis kommt erschwerend hinzu, dass beide Leistungsbereiche von den Standards<br />

unterschiedlicher Professionen bestimmt werden, pflegerische und medizinische hier, überwiegend<br />

pädagogisch-therapeutische dort.<br />

Die Bestimmung der Bedarfslagen und damit der Leistungsvoraussetzungen erfolgen in der<br />

Pflege einerseits und der Eingliederungshilfe andererseits unterschiedlich. In der Sozialhilfe/Eingliederungshilfe<br />

gilt das Prinzip der individuellen Bedarfsdeckung, unter der besonderen<br />

Berücksichtigung des Einzelfalls sowie der vorhandenen eigenen Ressourcen und (finanziellen)<br />

Kräfte. Die Angemessenheit/Verhältnismäßigkeit der Wünsche des Leistungsberechtigten<br />

ist von Bedeutung für die Ausgestaltung des Hilfeprozesses.<br />

Im avisierten neuen Begutachtungsverfahren wird dagegen in der Pflegeversicherung die<br />

Pflegebedürftigkeit in einem modularen Aufbau auf einzelne Lebensbereiche bezogen. Die<br />

Module ergeben in der Gesamtschau nach eine abschließende Beschreibung der Pflegebedürftigkeit<br />

nach pflegewissenschaftlichen Kriterien: Auf 8 Modulen ruhen die Bedarfsgrade, die<br />

Grundlage der neuen leistungsrechtlichen Umsetzung sein sollen/werden. Mit Leistungen<br />

hinterlegt, ist eine Einteilung in 5 Bedarfsgrade vorgesehen.<br />

95 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Die Leistungen der Eingliederungshilfe beziehen sich bisher auf einen Gesamtbedarf. Eine<br />

modulare Struktur der Leistungen bezogen auf einzelne Lebensbereiche existiert in der Eingliederungshilfe<br />

bis dato noch nicht. Ob durch eine angemessene Modularisierung der Leistungen<br />

in beiden Systemen und die darauf folgende Zuordnung zu den einzelnen Leistungssystemen<br />

die Frage der Abgrenzung sich künftig klären könnte, bleibt derzeit noch unbeantwortet.<br />

Offen ist grundsätzlich, ob der Bundesgesetzgeber in der Frage der Abgrenzung/Zuständigkeit<br />

anspruchsvollen fachwissenschaftlichen oder rein leistungsrechtlich definierten Grenzziehungen<br />

folgen wird/will. Eine solche Zuordnungsentscheidung betrifft zur Zeit z.B. die unterschiedliche<br />

Handhabung der Behandlungspflege in den stationären Feldern der Pflegeversicherung<br />

einerseits und der Eingliederungshilfe andererseits. Auf jeden Fall muss das Verhältnis<br />

von Pflegeleistungen und Leistungen der Eingliederungshilfe neu bestimmt werden. Augenblicklich<br />

hat (noch) Bestand, dass das für die Sozialhilfe geltende Prinzip des Nachranges<br />

gegenüber der Pflege aufgehoben ist (§13 Abs. 3 SGB XI).<br />

Da das neue Verständnis von Pflegebedürftigkeit die Lebenslage eines Menschen unabhängig<br />

von der gewählten oder benötigten Versorgungsform her betrachtet – ähnliches ist in den Reformvorschlägen<br />

zur Eingliederungshilfe erkennbar, ambulante und stationäre Formen der<br />

Hilfebedarfserfassung und Hilfegestaltung nach identischen Kriterien zu gestalten –, kann es<br />

eine Regelung wie § 43a SGBXI künftig nicht mehr geben, wo Menschen mit Behinderung<br />

der volle Anspruch auf Pflegeversicherungsleistungen nur deshalb verwehrt wird, weil sie in<br />

einer stationären Einrichtung der <strong>Behindertenhilfe</strong> leben. Gemäß § 43a SGB XI umfassen die<br />

Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, sofern sie in einer vollstationären<br />

Einrichtung der Eingliederungshilfe gemäß § 71 Abs. 4 SGB XI untergebracht sind,<br />

auch die Pflegeleistungen in der Einrichtung.<br />

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Häuslichkeit. Um die Durchlässigkeit und<br />

Gleichheit der Systeme sicherzustellen, müssen Leistungen z.B. der Behandlungspflege/häuslichen<br />

Krankenpflege überall erbracht werden können unabhängig vom Wohn- oder<br />

Aufenthaltsort, so auch in Einrichtungen der stationären <strong>Behindertenhilfe</strong>. Zwar ist es hier<br />

durch das GKV-Wettbewerbsverstärkungsgesetz zum 01.04.2007 im Wortlaut des SGB V §<br />

37 in Verbindung mit den Häusliche Krankenpflegerichtlinien vom Juni 2008 zu einer Aufweichung<br />

der bisherigen starren Formulierungen der „Häuslichkeit“ gekommen, da häusliche<br />

Krankenpflege künftig an jedem „sonst geeignetem Ort“ erbracht werden kann. Dennoch<br />

zeigt die Praxis, dass sich die Krankenkassen mit der dort enthaltenen rechtsunbestimmten<br />

Formulierung „betreute Wohnformen“ schwer tun und argumentieren, dass, wenn der Gesetzgeber<br />

eine weitergehende Ausdehnung des Anwendungsbereiches der häuslichen Krankenpflege<br />

über die betreuten Wohnformen hinaus auch auf Heime beabsichtigt hätte, er dies auch<br />

ausdrücklich hätte formulieren können oder wollen.<br />

Schnittstellenproblematiken zwischen Leistungen gem. SGB XI und Leistungen der GKV im<br />

Rahmen des SGB V können und sollen hier nicht ausgeführt bzw. weiter vertieft werden. Dies<br />

betrifft auch die den ambulanten Bereich tangierende Schnittstelle zwischen Leistungen als<br />

Hilfe zur Pflege gem. SGB XII und Pflegversicherungsleistungen gem. SGB XI. Der zugrunde<br />

liegende Begriff von Pflegebedürftigkeit weist hier Unterschiede auf, entsprechend unterschiedlich<br />

ist der gewährte zielgruppenbezogene Leistungsumfang.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 96


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Weitere fachlich-inhaltliche Aspekte der Abgrenzungsproblematik vor dem Hintergrund<br />

der Überlegungen zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe<br />

Durch einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff kann sich - wie aufgezeigt - sowohl die<br />

Schnittstelle zwischen Pflegeversicherungsleistungen einerseits und Eingliederungshilfe andererseits<br />

vergrößern als auch die Frage notwendiger schärferer Abgrenzung vergrößern. Zu<br />

prüfen bleibt, ob es nicht sinnvoll sein kann, um ein (weiteres) Auseinanderlaufen der Systeme<br />

zu vermeiden, die Gültigkeit des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs identisch sowohl auf<br />

das SGB XI wie auch das SGB XII zu beziehen.<br />

Weiterhin ist zu prüfen, inwieweit das im Rahmen des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs<br />

vorgesehene neue Begutachtungsassessment mit den avisierten Reformvorschlägen in der<br />

Eingliederungs-/Sozialhilfe kompatibel (bzw. identisch?) sein kann/wird. Dies bezieht sich<br />

sowohl auf die Formen der Bedarfsermittlung wie auch auf die Personenzentrierung der individuellen<br />

Hilfeplanung und den damit einhergehenden Paradigmenwechsel, die Leistungsgewährung<br />

am Teilhabebedarf des Menschen mit Behinderung zu orientieren und nicht mehr<br />

auf Leistungsform, Leistungsort und Leistungsanbieter abzustellen (s. Konzept der 85. Arbeits-<br />

und Sozialministerkonferenz Nov. 2008).<br />

Diese weit reichenden fachlich-inhaltlichen Folgen gilt es jedenfalls vor der politischen Umsetzung<br />

ausreichend abzuklären.<br />

Aus Sicht des Autors ist es deshalb z.B. von besonderer Brisanz, dass im neuen<br />

Begutachtungsassessment des SGB XI künftig auf 5 leistungsrechtlich relevante Bedarfsstufen/-grade<br />

rekurriert werden soll und die Pflegeversicherung sich künftig vor allem vor dem<br />

aus dem ambulanten Bereich kommenden Vorwurf der „Minutenpflege“ schützen will, wohingegen<br />

im Vorhaben des überörtlichen Sozialhilfeträgers in Hessen mit der personenzentrierten<br />

Hilfeplanung die Zukunft in „zeitbasierten Vergütungen“ gesehen wird, weil angeblich<br />

dies der Vorstellung passgenauer Hilfen entspreche und damit genau die Abkehr von Bedarfsgruppen<br />

vollzogen werden soll ....<br />

Ein letzter, nicht weniger bedeutender Aspekt soll hier noch Erwähnung finden: Die in den<br />

unterschiedlichen Leistungssystemen derzeit arbeitenden Professionen und ihre spezifischen<br />

Standards. Zum einen muss mit der Ablösung von der rein medizinisch-somatischen Sichtweise<br />

im Pflegesektor und der Berücksichtigung der sozialen Teilhabe eine Veränderung im<br />

beruflichen Fokus auf die betroffenen Menschen als Klienten einhergehen. Zum andern stellen<br />

sich gleichsam von der anderen Seite dieselben Fragen in Diensten und Einrichtungen der<br />

Behinderten-/Eingliederungshilfe. Nicht zuletzt durch den demografischen Faktor stehen Mitarbeiter<br />

in den Diensten und Einrichtungen der <strong>Behindertenhilfe</strong> zunehmend vor der Aufgabe,<br />

neben pflegerischen auch behandlungspflegerische Leistungen in ihren Arbeitstalltag integrieren<br />

zu müssen. Die Durchführung behandlungspflegerischer Maßnahmen kann sich hierbei<br />

nur nach anerkannten fachlichen Standards richten, wie sie in der Pflege entwickelt worden<br />

sind.<br />

Diese auf beiden Seiten unter dem neuen Paradigma der leistungserbringungsrechtlich relevanten<br />

Forderung nach Teilhabe, Aktivierung, Prävention und Förderung der Selbständigkeit<br />

zu beobachtende Konvergenz der Systeme wird nachhaltige Auswirkungen auch auf Selbstverständnis,<br />

Habitus und Qualifikation der auf beiden Seiten jeweils beteiligten Professionen<br />

haben müssen und neue Kooperationsformen sowohl in inter- wie auch multidisziplinärer<br />

Sicht evozieren.<br />

97 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.11.6 Der Inklusionsbegriff und die Behindertenrechtskonvention als<br />

sozialethische Bezugspunkte und rechtliche Rahmenbedingungen im<br />

aktuellen gesellschaftlichen Diskussions- und Entwicklungsprozess<br />

sowie im Kontext beruflicher sozialer Arbeit<br />

Zum Abschluss der Rahmenkonzeption ist im Unterkapitel „Aktuelle gesellschaftliche Rahmenbedingungen<br />

und Entwicklungstendenzen beruflicher sozialer Arbeit“ das Thema Inklusion<br />

zu behandeln.<br />

Die Auseinandersetzung um dieses Thema hat in den letzten Jahren, insbesondere im politischen<br />

Raum „Fahrt aufgenommen“ und ist dabei, im Bereich der professionellen Arbeit besondere<br />

Relevanz zu erhalten. Es geht im Folgenden darum, diese Entwicklung inhaltlich zu<br />

skizzieren, wesentliche Gelingensbedingungen zu benennen, Widersprüche und Spannungen<br />

aufzuzeigen sowie Perspektiven für die Entwicklung des Vereins und seines professionellen<br />

Auftrages zu verdeutlichen.<br />

Die bisher behandelten Wandelphänomene (Kap. 1.11.1 – 1.11.5) werden in diesem gesellschaftlichen<br />

Entwicklungsprozess teilweise direkt oder indirekt wirksam.<br />

Das Verständnis von Inklusion im aktuellen politischen und<br />

professionellen Diskussions- und Arbeitszusammenhang<br />

Inklusion bedeutet zunächst in direkter Übersetzung des Begriffes:<br />

inclusion (engl.) -> Einschluss – Einbeziehung<br />

Die Ableitung vom mittellateinischen:<br />

Verb includere bedeutet -> einbeziehen<br />

Der Begriff Inklusion ist mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA und in anderen Ländern<br />

aufgekommen und wird seit den 1970iger Jahren im englischen Sprachraum verwendet (vgl.<br />

Hinz, A., S. 171).<br />

In Deutschland wurde der Begriff erst sehr spät - etwa seit dem Jahr 2000 - aufgegriffen. Die<br />

Diskussion hat bei uns einen deutlichen Schwerpunkt im Bereich der Bildung, der inklusiven<br />

Pädagogik, dem inklusiven Schulsystem.<br />

Auf den Punkt gebracht bedeutet das Konzept der Inklusion in der aktuellen Diskussion im<br />

Wesentlichen:<br />

• Inklusion zielt auf die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe<br />

aller Menschen.<br />

• Ein Leben mit Behinderung ist möglich innerhalb der sozialen<br />

Regelstrukturen des Gemeinwesens. Die speziellen Hilfen sind -<br />

soweit notwendig - in diesen Regelstrukturen vorhanden und<br />

gesichert, auch im Sinne des Abbaues und der Verhinderung von<br />

Barrieren (vgl. Frühauf, T., S. 101).<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 98


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

• Die vorhandene Vielfalt des sozialen Lebens und der menschlichen<br />

Existenz wird positiv als Bereicherung begriffen.<br />

Die Unterschiedlichkeit und Individualität aller Menschen wird<br />

anerkannt. Behinderung – oder reflektierter gesagt – die<br />

Beeinträchtigung eines Menschen wird als Merkmal unter vielen<br />

begriffen (vgl. Katzenbach, D.,).<br />

Behinderung wird primär als soziales Phänomen verstanden.<br />

• Kategorisierung mit oftmals trennender oder gar<br />

diskriminierender Wirkung z.B. Deutsche – nicht Deutsche,<br />

behindert – nicht behindert werden vermieden.<br />

• Der Anspruch auf inklusive Lebensbedingungen in allen<br />

relevanten Bereichen des sozialen Lebens ist als Menschenrecht<br />

begründet.<br />

Das Deutsche Institut für Menschenrechte (Berlin) unterscheidet das Konzept der Inklusion<br />

vom Verständnis der Integration in folgender Weise:<br />

„Schon jetzt lässt sich feststellen, dass die im Namen der `Inklusion` vorgetragenen Ansprüche<br />

auf eine Öffnung gesellschaftlicher Bereiche für die effektive Teilhabe von Menschen mit<br />

Behinderungen über das hinausgehen, was traditionell mit `Integration` gemeint ist: Es geht<br />

nicht nur darum, innerhalb bestehender Strukturen Raum zu schaffen auch für Behinderte,<br />

sondern gesellschaftliche Strukturen so zu gestalten und zu verändern, dass sie der realen<br />

Vielfalt menschlicher Lebenslagen – gerade auch von Menschen mit Behinderungen – von<br />

vorneherein besser gerecht werden“ (vgl. Aichele, V., S. 12).<br />

Das bisher vorgestellte Verständnis von Inklusion ist als politische und ethische Leitvorstellung<br />

auf der Wert- und Normenebene zu verorten. Katzenbach spricht in diesem Sinne von<br />

der Inklusion als „humanitärer Vision“. Viele andere Akteure sprechen von der Inklusion als<br />

Vision für das zukünftige, gesellschaftliche soziale Zusammenleben.<br />

Diese Vision ist wertvoll und folgenreich.<br />

Die Formulierung des Themas für dieses Unterkapitel verdeutlicht ebenfalls die Verortung der<br />

Inklusion als gesellschaftlich politische Ziel- und Wertvorstellung. Zugleich wird mit dieser<br />

Formulierung deutlich, dass Inklusion im Kontext der Logik beruflicher sozialer Arbeite so<br />

eher ein sozialethisches Bezugskonzept für diese darstellt und weniger eine analytische Begrifflichkeit<br />

in einem ausgewiesenen (sozial)wissenschaftlichen Theoriezusammenhang<br />

(vgl. Stein, A., S. 81 sowie Stinkes, U., S. 175 f).(2006).<br />

Solche sozialethischen Bezugskonzepte gehen zum einen in mehr expliziter oder mehr impliziter<br />

Form in die konkreten Unterstützungsprozesse im Arbeitsbündnis sowie in die (Weiter)Entwicklung<br />

von Unterstützungsangeboten ein. Zum anderen kommt beruflicher sozialer<br />

Arbeit im Spannungsfeld von Individuum / Klient und Gesellschaft ja eine anwaltschaftliche<br />

und Solidarität stiftende Funktion zu (vgl. Vereinhandbuch Bd. 3, S 40 f. und Schmid Noerr,<br />

G.).<br />

Strukturlogisch vertritt sie die Interessen ihrer Klienten gegenüber der Gesellschaft und engagiert<br />

sich damit auch als Solidaritätsstifter. Dies kann berufliche soziale Arbeit aber nur in<br />

Begriffen der geltenden Anerkennungsordnung leisten und vertritt damit diese Anerkennungsordnung<br />

zugleich auch gegenüber ihren Klienten. In der Vermittlung dieses Spannungsfeldes<br />

stellen der sozialethisch akzentuierte Inklusionsbegriff sowie die BRK (auf die<br />

im folgenden genauer eingegangen wird) wichtige normativ-ethische wie rechtliche Rahmenbedingungen<br />

und Bezugspunkte dar.<br />

99 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Allerdings sind Visionen und ethische Prinzipien nicht mit Aussagen über die tatsächliche<br />

gesellschaftliche Wirklichkeit zu verwechseln. Vielmehr ist Demokratie als unvollendeter<br />

Prozess zu verstehen, der es allen Akteuren abverlangt, kontinuierlich am Widerstreit um<br />

Ressourcen und Anerkennung zu arbeiten (vgl. Prengel, A., S. 7).<br />

Durch die Ratifizierung der UN-BRK von 2006 durch die Bundesrepublik Deutschland ist<br />

diese Vision als Menschenrecht begründet und in einem Völkerrechtsvertrag inhaltlich verbindlich<br />

ausdifferenziert worden. Durch diese Tatsachen erfährt das Thema Inklusion eine<br />

unmittelbare politische und soziale Relevanz und Aktualität.<br />

Inhaltlich betrachtet stellt die BRK einen universellen Völkerrechtsvertrag dar, der den anerkannten<br />

Katalog der Menschenrechte aus der internationalen Menschenrechtscharta auf die<br />

Situation behinderter Menschen zuschneidet. Es werden somit keine Sonderrechte geschaffen.<br />

In einer Aufteilung der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen<br />

werden die Artikel der BRK acht Themenfeldern zugeordnet. Diese Aufteilung gibt<br />

einen guten, orientierenden Überblick über den inhaltlichen Umfang der BRK.<br />

Aus: Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen S. 13<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 100


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

T. Klauß macht den Vorschlag, die Struktur der BRK folgendermaßen zu interpretieren:<br />

„Um die Menschenwürde für Menschen mit Behinderungen zu sichern, um ihre unbehinderte<br />

Teilhabe an den für sie relevanten Bereichen der Kultur und Gesellschaft zu gewährleisten<br />

(Art. 1 BRK), hält die UN-Konvention inklusive Strukturen für erforderlich. Inklusion ist in<br />

der Konvention kein eigenständiges Ziel, sondern vor allem ein Mittel, um „die volle und<br />

wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ (Art. 3, c<br />

BRK), ihre Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung (Art. 5 BRK), ihre Würde und ihr<br />

Selbstbestimmungsrecht zu gewährleisten (Klauß, T., S. 342).“<br />

Es gilt festzuhalten, dass hier Inklusion in erster Linie als Mittel zur Erreichung der dargestellten<br />

Ziele für Menschen mit Behinderung im Kontext der Menschenrechte verstanden<br />

wird.<br />

Die BRK als Bundesgesetz und seine inhaltlichen Aussagen/Forderungen als Teil des deutschen<br />

innerstaatlichen Rechtes<br />

Die BRK ist ohne Vorbehalt vollständig am 23.03.2009 in Deutschland in Kraft getreten; sie<br />

ist seit diesem Tag Teil des deutschen innerstaatlichen Rechtes geworden.<br />

Sie hat den Rang eines einfachen Bundesgesetzes mit der Besonderheit, dass es den allgemeinen<br />

Gesetzen, wie z.B. SGB IX, XI und XII vorgeht, soweit es Menschenrechtsnormen enthält,<br />

die allgemeine Regeln des Völkerrechtes sind (vgl. Lachwitz, S., Trenk-Hinterberger, P.<br />

S45).<br />

Die Einbindung der BRK in die Deutsche Rechtsordnung führt zwangsläufig zu einer Fülle<br />

von Fragestellungen. Zu nennen sind hier beispielhaft:<br />

- Zeitpunkt der Wirksamkeit der geregelten Menschenrechte<br />

(etwa mit erfolgter Ratifizierung?)<br />

- Werden gesetzliche Regelungen die unvereinbar mit der BRK sind verdrängt?<br />

- Durch wen erfolgt die Aufhebung bzw. Veränderung? Durch den Gesetzgeber<br />

oder durch Gerichte?<br />

(vgl. Lachwitz, S., Trenk-Hinterberger, P., S45)<br />

Erste rechtswissenschaftliche Untersuchungen zeigen deutlich, dass die Deutsche Rechtsordnung<br />

vor großen Herausforderungen steht und die aufgeworfenen Fragen einer vertieften Untersuchung<br />

bedürfen. (vgl. Lachwitz, S.,Trenk-Hinterberger, P., S. 45)<br />

Es geht also um einen aufwendigen, rechtlichen Transformationsprozess dem die Deutsche<br />

Rechtsordnung durch das Inkrafttreten der BRK ausgesetzt ist.<br />

Die BRK besteht aus zwei Völkerrechtsverträgen, dem Übereinkommen mit 50 Artikeln und<br />

dem Fakultativprotokoll mit 18 Artikeln. Das Fakultativprotokoll enthält u.a. ein Individualbeschwerdeverfahren.<br />

Beide Teile sind vollständig durch die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert worden.<br />

Im Prozess der Ratifizierung jedoch gab es erhebliche Kritik. Zum einen geht es um die offizielle<br />

Übersetzung der BRK sowie um die Denkschrift der Bundesregierung, die in das Ratifizierungsgesetz<br />

eingebracht wurde.<br />

Bezüglich der Übersetzung wird moniert, dass zentrale Begriffe wie Inklusion mit dem Wort<br />

Integration übersetzt wurden. Diese Übersetzung entspricht nicht dem Paradigmenwechsel,<br />

der durch die BRK intendiert ist und wird in der internationalen Kommunikation zu Irritationen<br />

führen (vgl. Degener, T., S. 269). Eine Schattenübersetzung (vgl. Netzwerk Artikel 3)<br />

versucht diese tendenzielle „Verfälschung“ zu korrigieren.<br />

101 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Bezüglich der Denkschrift der Bundesrepublik Deutschland wird die Behauptung kritisiert,<br />

dass die Implementierung der BRK weder Gesetzesreformen noch besondere Kosten, mit<br />

Ausnahme der Errichtung des nationalen Monitoring, erfordere (vgl. Degener, T., S. 269).<br />

Außerdem wird in der Denkschrift der fälschliche Eindruck vermittelt, als ob die Bundesrepublik<br />

Deutschlang schon sehr weit auf dem Wege zu inklusiven Strukturen insbesondere<br />

zum inklusiven Schulsystem vorangeschritten sei.<br />

Der Blick auf die politischen und sozialen Realitäten zeigt, das die Bundesregierung sich in<br />

diesem Punkt (absichtlich?) irrt (vgl. Degener, T., S. 282).<br />

Beide Kritikpunkte (Übersetzung und Denkschrift) deuten darauf hin, wie kontrovers und<br />

schwierig sich die notwendigen Implementierungs- und Entwicklungsprozesse zu inklusiven<br />

gesellschaftlichen Strukturen zur Verwirklichung der Bürger- und Menschenrechte für Menschen<br />

mit Behinderung im politischen Raum gestalten werden.<br />

Wichtige Gelingensbedingungen im Prozess zu inklusiven Strukturen<br />

Der Weg zu inklusiven Strukturen in der Gesellschaft ist der Weg der Stärkung der Rechte<br />

von Menschen mit Behinderung sowie anderer von Exklusion bedrohter Menschen z.B. Kinder,<br />

Familien, Senioren, Arme.<br />

Der rechtliche Rahmen muss von der Politik auf der Grundlage der BRK geschaffen werden<br />

(siehe dazu auch der erwähnte Transformationsprozess des deutschen Rechtes).<br />

Die Funktion des Staates muss sich strukturell in Richtung Ermöglicher und Schützer des<br />

Rahmens mit den verbindlichen Spielregeln entwickeln.<br />

Diese Funktionen sind wesentlich für das Gelingen für die Entwicklung inklusiver Strukturen,<br />

weil die Beschaffung, zur Verfügungstellung und Sicherung der notwendigen und geforderten<br />

Finanzressourcen eine wesentliche Voraussetzung ist.<br />

Rechte ohne konkrete Realisierungsmöglichkeiten sind stumpf und werden zu Recht von den<br />

Betroffenen als große Missachtung empfunden.<br />

Als Kostensparmodell eignet sich der beschriebene Prozess in keiner Weise. Selbstbestimmung<br />

Kostenvorbehalten und Billiglösungen nicht einlösbar.<br />

Das Vorenthalten notwendiger Ressourcen führte dazu, dass von staatlicher Seite erste Appelle<br />

an das besondere Engagement und den guten Willen der professionellen Akteure zu hören<br />

sind. Diese Appelle können das Fehlen der Ressourcen nicht „kompensieren“; sie sind als<br />

wirklichkeitsfremd und zynisch zu bezeichnen. (vgl. Speck, O., S. 90)<br />

Eine viel beachtete Stellungnahme der Soltauer Initiative für Sozialpolitik und Ethik mit dem<br />

Titel „Moralisch Aufwärts im Abschwung?“ gibt diesen Vorbehalten eine konkrete Stimme.<br />

Die Stellungnahme bezieht sich auf die Frage, in welchen Bereichen die Absichten der BRK<br />

auf gegenläufige Tendenzen in Gesellschaft und Politik treffen und woran ihre Umsetzung<br />

prinzipiell scheitern könnte (vgl. Soltauer Initiative, Deckblatt).<br />

Im hier diskutierten Zusammenhang stellt die Soltauer Initiative heraus, dass der Zielkonflikt<br />

zwischen einer am Wettbewerb orientierten Ökonomie neoliberaler Prägung und die ethischem<br />

Forderungen der Konvention überhaupt noch nicht angemessen thematisiert ist. Notwendig<br />

ist eine Korrektur der bisherigen marktradikalen Vorgehensweise.<br />

Zum zweiten ist als Konsequenz des so genannten Umbaues des Sozialstaats die drastische<br />

Mittelkürzung zur Sanierung der Staatshaushalte nicht geeignet, die notwendigen Entwicklungsprozesse<br />

voranzubringen. Die „Marktförmigkeit des Sozialen“ ist kein Motor für eine<br />

Entwicklung im Sinne der BRK.<br />

Der Rückzug der Anbieter beruflich-sozialer Arbeit auf die reine Position eines Dienstleisters<br />

ist ein bedauernswerter Rückzug.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 102


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Bedauernswert insoweit, als die Anbieter beruflich-sozialer Arbeit zugleich als anwaltliche<br />

Fürsprecher für Menschen mit (schwerer) Behinderung wichtig sind, den gesellschaftlich politischen<br />

Entwicklungsprozess voranzubringen.<br />

Auf die Dauer ist ein erlebter permanenter Widerspruch zwischen dem gesetzlichen Auftrag<br />

und der politisch gewollten Realität nicht ohne negative Wirkung auf die politische Kultur<br />

und die beruflich-soziale Arbeit.<br />

Es stellt sich letztlich die für die demokratische Grundordnung wesentliche Frage nach der<br />

Glaubwürdigkeit staatlichen Handelns in der Wahrnehmung seiner Bürger.<br />

Die Verlagerung der Steuerung und Gestaltung des sozialen Miteinanders auf die Ebene der<br />

Kommune, auf die überschaubaren und erlebbaren Institutionen vor Ort, an das konkrete Gemeinwesen<br />

stärkt die Gestaltungsmöglichkeit des Einzelnen und von engagierten Gruppen.<br />

Ohne ausdrücklichen Bezug auf Ehrenamtlichkeit und Sozialraumorientierung ist die Entwicklung<br />

zu inklusiven Systemen und deren Wirksamkeit nicht denkbar.<br />

Eine Kultur des Miteinanders entwickelt sich nicht von selbst, selbst bei vorhandenen Ressourcen.<br />

Die verborgenen Ideologien der Abwertung in unserer Gesellschaft (vgl. Soltauer<br />

Initiative, S. 9 f) und die von einzelnen Menschen und Menschengruppen immer wieder erlebten<br />

Unrechtserfahrungen gesellschaftlicher Ausgrenzungen müssen Zug um Zug überwunden<br />

werden.<br />

An dieser Stelle ist der Einfluss beruflich-sozialer Arbeit auf die politische Kultur in den<br />

Blick zu nehmen. „Pädagogische Institutionen haben beschränkte gesellschaftliche Einflussmöglichkeiten,<br />

so können sie ökonomisches Elend nicht beseitigen. Die Möglichkeit, eine<br />

eigene „Sphäre der Gerechtigkeit“ zu schaffen aber liegt in ihrer Verantwortung. Das gesellschaftlich<br />

wertvolle Gut, das Schulen und andere pädagogische Einrichtungen aus eigener<br />

Machtbefugnis und eigenen Ressourcen zu verteilen haben heißt, „intersubjektive Anerkennung“<br />

jeder einzelnen Person in ihrer je einmaligen Lebenslage.“ (vgl. Prengel, A. S. 61)<br />

Eine Kultur der Anerkennung ist notwendig, wenn das in der Präambel der BRK geforderte<br />

verstärke Zugehörigkeitsgefühl (enhanced sence of belonging/Abs. m u. n) für Menschen mit<br />

Behinderung verwirklicht werden soll.<br />

Das von A. Honneth formulierte Anerkennungsparadigma (vgl. Honneth, A., 2003) könnte<br />

mit seinen Modifikationen, die im Hinblick auf die Situation von Menschen mit Behinderung<br />

notwendig sind (vgl. Schmid Noerr, G.), für die Herausbildung dieser Kultur erkenntnis- und<br />

handlungsleitend werden.<br />

Dieses Anerkennungsparadigma legt begründeter Maßen dar, dass ein menschenwürdiger<br />

Umgang mit Behinderung die ungeschmälerte Anerkennung auf drei Ebenen, auf<br />

erfordert (vgl. Schmid Noerr, G., S. 82).<br />

103 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005<br />

der Ebene der emotionalen Zuwendung (Liebe),<br />

der Ebene der kognitiven Achtung (Recht) und<br />

der Ebene der sozialen Wertschätzung (Solidarität)<br />

Durch dieses Modell wird auf die verschiedenen Dimensionen von Anerkennung aufmerksam<br />

gemacht und zugleich ein Interpretations- und Diagnoserahmen geliefert.


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

„Es bietet sich an, die Anerkennungstheorie als begriffliches Gerüst zur Analyse der gesellschaftlichen<br />

Lage von Menschen mit Behinderung zu nutzen. Institutionelle Strukturen und<br />

konkrete Interaktionen wären in allen drei Dimensionen des Anerkennungsbegriffes daraufhin<br />

zu untersuchen, welche Chancen der Anerkennung sie eröffnen bzw. welche Formen der Missachtungen<br />

sie implizit oder explizit transportieren.“ (Katzenbach, D., S. 134)<br />

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass im Kontext von Behinderung die Begründungszusammenhänge<br />

hinsichtlich der Solidarität anders, als von Honneth ursprünglich vorgetragen, begründet<br />

werden muss (vgl. Schmid Noerr, G., S. 82 f).<br />

Bei Honneth wird die Solidarität nach dem Muster der Arbeitersolidarität noch gruppenspezifisch<br />

definiert und ist an Voraussetzungen (z.B. gemeinsames Interesse und Bewusstsein, gemeinsame<br />

Fähigkeiten, soziale Kampferfahrung) gebunden (vgl. Schmid Noerr, G.,S. 88) .<br />

Das modifizierte Verständnis von Solidarität im Kontext von Behinderung hat eine universelle<br />

Begründung.<br />

„Der neue Typus der Solidarität unterscheidet sich vom hergebrachten nicht zuletzt dadurch,<br />

dass er innerhalb und zusammen mit individualisierten Lebensformen verwirklicht wird. Dieses<br />

solidarische Handeln erfolgt freiwillig, vielseitig, zeitlich und räumlich begrenzt in sozialen<br />

Netzwerken aller Art“ (vgl. Schmid Noerr, G., S. 90).<br />

In dieser universellen Begründung und Kennzeichnung des neuen Typs von Solidarität leuchtet<br />

auf, warum der Bezug zu einer sich entwickelnden zivilen Bürgergesellschaft mit seinen<br />

sozialräumlichen Netzwerken für das Gelingen des „Zukunftsprojektes Inklusion“ wesentlich<br />

ist.<br />

Bei den sozialräumlichen Netzwerken wird häufig die direkte Nachbarschaft als wesentlicher<br />

sozialgestaltender Faktor genannt. Die soziale Wirklichkeit belehrt uns, dass dieser Nachbarschaftsbegriff<br />

erweitert werden muss in Richtung „Entlokalisierung“.<br />

Denn für viele Bürger ist die Verbindung, die gleiche Absichten und gleiche Orientierungen<br />

stiftet, bedeutsamer als die räumliche Nähe, zumal die Mobilität diese Entlokalisierung auch<br />

praktisch ermöglicht.<br />

Es ist klar geworden, dass für die BRK das Zusammentreffen und Zusammenspiel der rechtlichen,<br />

ethischen und politischen Implikationen typisch ist (vgl. Lindmeier, C., S. 4).<br />

Ein abschließender Hinweis in diesem Unterkapitel betrifft die Weiterentwicklung der Institutionen<br />

der sozialen Arbeit und deren professionelles Selbstverständnis.<br />

Zugleich werden in Wissenschaft und Praxis geeignete Modelle didaktischen/ methodischen<br />

Handelns zu entwickeln sein, um in den verschiedenen Praxisfeldern beruflicher-sozialer Arbeit<br />

Inklusion als politisch gesellschaftliche Wertorientierung zu realisieren.<br />

Wie dargelegt hat der Diskurs um die in der UN-BRK (re-)formulierten Menschenrechte für<br />

Menschen mit Behinderung und der Verwirklichung Fahrt aufgenommen.<br />

„Alle reden derzeit von Inklusion – dem Heilsversprechen unserer Zeit - … der Veränderungsdruck<br />

ist enorm.“ (Fornefeld, B., S. 400)<br />

Wie bei allen Heilsversprechen gilt es achtsam zu sein und - wie es Otto Speck treffend formuliert-<br />

jeder ist aufgerufen, es nach wie vor zu wagen, sich seines eigenen Verstandes zu<br />

bedienen (vgl. Speck. O., S. 84-91).<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 104


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Es kann nicht um einen hektischen Aktionismus gehen, sondern darum, wahrzunehmen, dass<br />

Inklusion als Zukunftsprojekt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt, die ein auf Dauer<br />

gestelltes abgestimmtes Zusammenwirken aller Akteure erforderlich macht. (vgl. auch Seifert,<br />

B. S. 398). Dieser Prozess braucht Elan und zugleich Augenmaß, Klugheit und Geduld.<br />

Einer dieser Akteure ist der Verein.<br />

Auf dem Feld beruflich-sozialer Arbeit hat er sich einen festen Platz erarbeitet.<br />

Im <strong>Kapitel</strong> 3.6 des VHB werden wir näher auf die Relevanz dieser gesellschaftlichen Entwicklung<br />

für den Verein im Besonderen eingehen.<br />

Literaturangaben:<br />

Aichele, V., Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihr Fakultativprotokoll. Ein Beitrag zur Ratifikationsdebatte.<br />

Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte, 2008<br />

Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, alle inklusive!, Die neue UN-<br />

Konvention … und ihre Handlungsaufträge. Ergebnisse der Kampagne alle inklusive, Berlin, Mai<br />

2009<br />

Degener, T., Die neue UN Behindertenrechtskonvention aus der Perspektive der Disability Studies, in:<br />

Behindertenpädagogik 3/2009, S. 263 - 283<br />

Fornefeld, B., Ausschluss von Menschen mit komplexer Behinderung – Inklusion oder einfach mehr<br />

Gerechtigkeit?! in: Behindertenpädagogik Heft 4/2010, S. 400 - 416<br />

Frühauf, T., Das Ende der lebenslänglichen sonderpädagogischen „Umklammerung“ in Reichweite,<br />

in: Teilhabe Heft 3/10, S. 100 – 101<br />

Hinz, A. Inklusive Pädagogik in der Schule – veränderter Orientierungsrahmen für die schulische<br />

Sonderpädagogik!? Oder doch deren Ende?? in: Zeitschrift für Heilpädagogik Heft 5/2009 S. 171 -<br />

179<br />

Honneth, A., „Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte“, Frankfurt<br />

a.M., erweiterte Auflage 2003,<br />

Katzenbach, D., Anerkennung, Missachtung und geistige Behinderung, in: Ahrbeck, B., Rauh, B.,<br />

(Hrsg). Behinderung zwischen Autonomie und Angewiesenheit, Stuttgart, 2004, S. 127 -144<br />

Katzenbach, D., unveröffentlichtes Handout, Fachtag Inklusion Lebenshilfe Hessen, Frankfurt am<br />

Main, 1. Juli 2010, ohne Seitenangabe<br />

Klauß, T., Inklusive Bildung: Vom Recht aller, alles Wichtige über die Welt zu erfahren, in: Behindertenpädagogik<br />

Heft 4/210, S. 341-374<br />

Lachwitz, K., u. Trenk-Hinterberger, P., „Zum Einfluss der Behindertenkonventionen (BRK) der Vereinten<br />

Nationen auf die deutsche Rechtsordnung“, in: Rechtsdienste der Lebenshilfe, Nr. 2/10, S. 45 -<br />

52<br />

Lindmeier, C., Teilhabe und Inklusion, in: Teilhabe Heft 1/2009, S. 4-10<br />

Netzwerk Artikel 3 e.V. , Schattenübersetzung, Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit<br />

Behinderungen, Behindertenrechtskonvention - BRK, Berlin, 2009<br />

105 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Prengel, A., Inklusion in der Frühpädagogik, WiFF Expertisen Nr. 5, München 2010<br />

Schmid Noerr, G., Gleichheit in der Vielfalt: Zur Ethik von Anerkennungsverhältnissen im Blick auf<br />

den Umgang mit Benachteiligten, in: Kreutzer, M., und Ytterhus, B., Hg., „Dabeisein ist nicht alles“,<br />

München, 2008<br />

Soltauer Initiative für Sozialpolitik und Ethik, Moralisch Aufwärts im Abschwung? UN-Konvention<br />

über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Kontext von Sozial- und Wirtschaftspolitik,<br />

Internetfassung vom 16.08.2010, http://www.soltauer-impulse.culturebase.org<br />

Speck, O., „Wage es nach wie vor, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, Ideologische Implikationen<br />

einer Schule für alle, in: Zeitschrift für Heilpädagogik, Heft 3 2011, S. 84-91<br />

Stein, A.: Die Bedeutung des Inklusionsgedankens – Dimensionen und Handlungsperspektiven.<br />

In: Hinz, A. / Körner, I. / Niehoff, U. (Hg.)(2010): Von der Integration zur Inklusion.<br />

Grundlagen – Perspektiven – Praxis. Marburg, 2010, S.81<br />

Stinkes, U.): Skizzen zum Auseinanderdriften von ökonomischer Entwicklung und sozialer<br />

Integration – mit solidarisch-kritischen Anfragen an eine (Inklusions)Pädagogik. In: Dederich,<br />

M. / Heinrich, G. / Mürner, Ch. / Rödler, P. (Hg.): Inklusion statt Integration? Heilpädagogik<br />

als Kulturtechnik, Giessen, 2006, S.175 f.<br />

Vereinhandbuch Bd. 3, <strong>Kapitel</strong> 1.2.2, Spannungspole und Vereinseitigungsgefahren beruflicher<br />

sozialer Arbeit.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 106


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Anhang zur Rahmenkonzeption<br />

<strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 1-7<br />

AH 1: Das Stadien- und Krisenmodell des Lebenslaufes nach Erikson<br />

Adaptiert nach Montada 1998, 64-65, In: Oerter/ Montada 1998<br />

Eriksons Theorie der Persönlichkeitsentwicklung<br />

Erikson ( 1973) baut auf Freuds Entwicklungsmodell auf. Er steht in der organismischen Tradition.<br />

Er unterschied acht Hauptstadien während des Lebenslaufes, die er alle als spezifische<br />

Konflikte oder Krisen charakterisierte. Wenn es nicht gelingt, die stadientypischen Krisen zu<br />

bewältigen, endet das in bleibenden Persönlichkeitsstörungen. Erikson postuliert diese Stadien<br />

als universell, was jedoch empirisch nicht belegt ist. Er sieht die folgenden Themen dieser<br />

krisenhaften Konflikte als zentral an:<br />

(1) Vertrauen vs. Misstrauen (1. Lj.). Es geht hier um die Entwicklung eines günstigen Verhältnisses von Vertrauen<br />

und Misstrauen. Vertrauen in die Verlässlichkeit und Zuneigung der Pflegepersonen nimmt Ängste. Wird<br />

das Vertrauen bestätigt, entwickelt sich Selbstvertrauen und Sicherheit. Erikson beschreibt, was in der Bindungstheorie<br />

„sichere Bindung an die Mutter“ genannt wird (Ainsworth et al., 1978; Grossmann & Grossmann, 1991).<br />

Ein gewisses Maß an Misstrauen ist nützlich, um nicht vertrauenswürdigen Personen angemessen zu begegnen<br />

und Gefahren zu erkennen. Misstrauen im Sinne von Vorsicht ist gemeint, nicht im Sinne von generalisierten<br />

Zweifeln in die Vertrauenswürdigkeit anderer, die eine soziale Isolation zur Folge hätten.<br />

(2) Autonomie vs. Scham und Zweifel (3. Lj.). Erikson beschreibt mehrere Themen, die die Entwicklung des<br />

Selbst in Auseinandersetzung mit Autoritäten und Regeln betreffen. Das erste ist der Konflikt zwischen Autonomie<br />

(Selbstständigkeitsstreben) und Abhängigkeit. Autonomiestreben wird durch Vertrauen erleichtert, durch<br />

angemessene Unterstützung und Gewährenlassen gefördert, durch autoritäre Gehorsamsforderung gestört. Autonomie<br />

bedeutet Verfolgung der eigenen Ziele. Das kann in Konflikt geraten mit vorgegebenen Regeln. Die<br />

Sauberkeitserziehung ist ein prototypisches Beispiel. Die Entsprechung zu Freuds analer Phase ist offenkundig.<br />

Scham entsteht, wenn die Regeln des Anstandes nicht eingehalten werden können. Scham entsteht auch, wenn<br />

die eigenen Vorhaben misslingen. Zweifel tauchen auf, ob die Vorhaben gelingen, ob die Regeln eingehalten<br />

werden können, ob die Vorhaben gestattet werden können. Erikson sieht in dieser Phase die grundlegende Problemstellung,<br />

ob wir die Regeln beherrschen, mit denen wir die Welt und das Leben einfacher machen können,<br />

oder ob die Regeln uns beherrschen.<br />

(3) Initiative vs. Schuldgefühle (4. und 5. Lj.). Die Kinder haben bereits ein Ich-Bewusstsein. Es geht in diesem<br />

Stadium um die Frage, welches Ich sie sein wollen. Typischerweise sind die Eltern erste Ideale, und sie werden<br />

idealisiert wahrgenommen als mächtig, wissend schön. Die Identifikation mit den Eltern ist ein Charakteristikum<br />

dieser Phase, insofern mit Freuds phallischer oder Ödipus-Phase verwandt. Die Bildung des Gewissens durch die<br />

Identifikation mit den Eltern, die Identifikation mit geschlechtstypischen Präferenzen, die Übernahme von Einstellung<br />

sind die Entwicklungsthemen. Aber es gibt weitere bewunderte und manchmal gefürchtete Helden des<br />

realen Lebens und in der Welt der Phantasien, an denen man sich orientiert und die man in den Spielen darstellt.<br />

Erikson beschreibt dieses Stadium aber auch als Phase des Machens, der Initiativen, der Erkundung der Welt, der<br />

kreativen Phantasie, der unersättlichen Wissbegier, der Bildung sozialer Kontakte außerhalb der Familie, der<br />

Eroberung sozialer Positionen in Gemeinschaften. Die Gefahren dieses Stadiums liegen in zwei Bereichen: der<br />

Herausbildung eines ängstlichen, rigiden, heteronomen Gewissens und eines unrealistischen Ich-Ideals. Beides<br />

kann mit Initiativen zu Erlebnissen und angemessenen Erfahrungen des Ich in der Welt interferieren.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 1


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

(4) Wertsinn vs. Minderwertigkeit ( mittlere Kindheit). Dieses Stadium ist durch die Schule beherrscht, durch die<br />

systematische Einführung in das Wissens der Kultur und Zivilisation, durch<br />

Lernanforderungen und Leistungsbewertung. Entsprechend ist das zentral Entwicklungsthema Sachinteresse und<br />

Leistungsvertrauen oder Misserfolgsängstlichkeit und Minderwertigkeitsgefühle. Erikson ist in der Zeichnung<br />

dieser Phase an Freud orientiert, der bezogen auf libidinöse von einer ruhigen Latenzperiode sprach. Die Entwicklungsdynamik<br />

in bezug auf außerschulisches Lernen und soziales Lernen ist bei Erikson unterbelichtet.<br />

(5) Identität vs. Rollendiffusion ( Adoleszenz). Sehr bekannt geworden ist Eriksons Beschreibung der Krise der<br />

Adoleszenz, in der es um die Findung der Identität geht. Der Jugendliche hat Facetten eines Selbstkonzeptes<br />

aufzubauen in Hinblick auf sein Geschlecht, seine Familienherkunft, auf eine Religion, moralische Werte, Bildungs-<br />

und Berufsaspirationen und entsprechende eigene Fähigkeiten, politische Haltungen usw. Er muss diese<br />

verschiedenen Facetten in ein konsistentes persönliches Selbstbild integrieren, das seine persönliche Identität<br />

ausmacht. Versagt der jugendliche Mensch bei dieser Aufgabe, resultiert das in einer Rollendiffusion, die durch<br />

Unverträglichkeiten und Unausgewogenheiten zwischen Haltungen und Werten, zwischen Aspirationen und<br />

Möglichkeiten, durch Instabilität von Zielen, gelegentlich zu ideologischer Einseitigkeit, häufiger zu oberflächlichen<br />

und unstabilen Engagements und nicht selten zu abweichendem Verhalten wie Drogenmissbrauch und<br />

Delinquenz führt.<br />

(6) Intimität vs. Isolation ( Beginn des Erwachsenenalters). Intimität mit anderen setzt eine gut integrierte Identität<br />

voraus. Intimität meint nicht nur sexuelle Beziehungen, sondern den Aufbau von Solidarität in einer Wir-<br />

Gruppe und gleichzeitig die Abwehr von Einflüssen und Menschen, die für das eigene Wesen gefährlich sein<br />

können. Intime Beziehung stabilisieren die Identität. Isolation ist die Folge des Misslingens. Kritisch ist anzumerken,<br />

dass Erikson keine klare Abgrenzung der Intimität dieser Lebensphase zu den Freundschaftsbeziehungen<br />

in der späten Kindheit und Adoleszenz leistet.<br />

(7) Generativität vs. Stagnation ( mittleres Erwachsenenalter). Generativität ist das Entwicklungsziel dieser<br />

Phase: die Förderung der Entwicklung der nächsten Generation, der eigenen Kinder und/oder anderer junger<br />

Menschen; darüber hinaus berufliches, soziales, politisches Engagement. Fehlt dieses, sind Stagnation, Selbstabsorption<br />

und/oder Langeweile zu erwarten.<br />

(8) Ich-Integrität vs. Verzweiflung ( späteres Erwachsenenalter). Im Alter reflektiert der Mensch sein Leben,<br />

seine Biographie in ihren Bezügen zu anderen, zur Gemeinschaft, zur historischen Zeit. Gleichzeitig ist die Begrenztheit<br />

des Lebens zu akzeptieren. Zufriedenheit mit dem Leben ermöglicht Integrität. In den letzten Jahren<br />

hat Erikson auch auf die Chancen sinnstiftenden und produktiven Engagement im Alter hingewiesen<br />

(Erikson, Erikson & Kivnick, 1986). Wird Integrität nicht erreicht, droht Verzweiflung im Sinne von Trauer um<br />

das, was man mit dem eigenen Leben getan hat, drohen Furcht vor dem Tod und Vorwürfe gegen sich selbst.<br />

Erikson beschreibt wichtige Entwicklungsaufgaben. Es gibt sicher mehr. Er beschreibt sie nicht mit klar definierten<br />

Konzepten, die in empirischer Forschung leicht operationalisierbar wären. Wie häufig die Krisen vorkommen,<br />

wie häufig es gute Lösungen gibt, wie häufig die Krisen nicht bewältigt werden, von wem und in welchem<br />

Kontext sie besser oder schlechter bewältigt werden, das ist nicht empirisch fundiert. Wenn Eriksons Modell<br />

dennoch weithin bekannt geworden ist, dann wohl doch, weil die beschriebenen Entwicklungsaufgaben intuitiv<br />

überzeugen und weil es ein Beispiel für eine Entwicklungskonzeption der gesamten Lebensspanne ist.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 1


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

AH 2: Systematisierung von Entwicklungsaufgaben nach Havighurst<br />

Adaptiert nach Oerter 1998, 124. In: Oerter/ Montada 1998<br />

Entwicklungsperiode Entwicklungsaufgaben<br />

Frühe Kindheit 1. Anhänglichkeit (social attachment)<br />

(0-2 Jahre) 2. Objektpermanenz<br />

3. Sensumotorische Intelligenz und schlichte Kausalität<br />

4. Motorische Funktionen<br />

Kindheit 1. Selbstkontrolle<br />

(2-4 Jahre) 2. Sprachentwicklung<br />

3. Phantasie und Spiel<br />

4. Verfeinerung motorischer Funktionen<br />

Schulübergang und frühes Schulalter 1. Geschlechtsrollenidentifikation<br />

(5-7 Jahre) 2. Einfache moralische Unterscheidungen treffen<br />

3. Konkrete Operationen<br />

4. Spiel in Gruppen<br />

Mittleres Schulalter 1. Soziale Kooperation<br />

(6-12 Jahre) 2. Selbstbewusstsein (fleißig, tüchtig)<br />

3. Erwerb der Kulturtechniken (Lesen, Schreiben etc.)<br />

4. Spielen und arbeiten im Team<br />

Adoleszenz 1. Körperliche Reifung<br />

(13-17 Jahre) 2. Formale Operationen<br />

3. Gemeinschaft mit Gleichaltrigen<br />

4. Heterosexuelle Beziehungen<br />

Jugend 1. Autonomie von den Eltern<br />

(18-22 Jahre) 2. Identität in der Geschlechtsrolle<br />

3. Internalisiertes moralisches Bewusstsein<br />

4. Berufswahl<br />

Frühes Erwachsenenalter 1. Heirat<br />

(23- 30 Jahre) 2. Geburt von Kindern<br />

3. Arbeit/Beruf<br />

4. Lebensstil finden<br />

Mittleres Erwachsenenalter 1. Heim/Haushalt führen<br />

(31-50 Jahre) 2. Kinder aufziehen<br />

3. Berufliche Karriere<br />

Spätes Erwachsenenalter 1. Energien auf neue Rollen lenken<br />

(51 und älter) 2. Akzeptieren des eigenen Lebens<br />

3. Eine Haltung zum Sterben entwickeln<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 2


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

AH 3: Systematisierung von Entwicklungsaufgaben nach ihrem zeitlichen Umfang<br />

nach Oerter<br />

Adaptiert nach Oerter 1998, 125. In: Oerter/ Montada 1998<br />

Themen<br />

(Beispiele)<br />

Zeitdimension<br />

Erwachsenwerden bzw. -sein Aufgaben über den gesamten Lebenslauf<br />

Lebensbewältigung allgemein<br />

Integrität und Moralität<br />

körperliche und seelische Gesundheit<br />

Havighursts (1956) Entwicklungsaufgaben für unterschiedliche<br />

Altersabschnitte, Eriksons (1950) Lebenskonflikte,<br />

Stroufes (1979) Entwicklungsthemen, Einzelbeispiele:<br />

Kindergartenbesuch, Schulbesuch, Ehe<br />

breite Aufgabenbereiche innerhalb einer Altersperiode<br />

Vorbereitung auf die Geburt eines Kindes Meilensteine im Lebenslauf (antizipiert)<br />

Vom Kind antizipierter und erwarteter Schuleintritt<br />

(erwarteter) Schulabschluss<br />

Vorbereitung auf den Eintritt ins Berufsleben<br />

Antizipierte Heirat<br />

Vorbereitung auf "empty nest"<br />

Antizipierter Ruhestand<br />

Erwartung des Todes<br />

Unabhängigkeit von den Eltern gewinnen kürzere, klar umrissene Episoden<br />

Erstes Rendezvous<br />

Teilnahme an einem Tanzkurs<br />

Vorbereitung auf eine Abschlussprüfung<br />

Schwangerschaft<br />

Der tägliche Kampf mit einer feindseligen Umwelt;<br />

Planung und Bewältigung des Tagesablaufs im höheren<br />

Alter; Vorbereitung auf die Bewältigung von besonderen<br />

Ereignissen (Operation, längere Abwesenheit des<br />

Ehepartners, Urlaubsvorbereitung)<br />

Bewältigung von Aufgaben innerhalb sehr kurzer Zeitabschnitte,<br />

die zum regulären Lebenslauf unserer Kultur<br />

gehören<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 3


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

AH 4: Die Stadien des Familienlebenszyklus und Familienentwicklungsaufgaben<br />

nach Carter/ McGoldrick<br />

Adaptiert nach Schneewind 1998, 137. In: Oerter/ Montada<br />

Stadien im Familienlebenszyklus Für Weiterentwicklung erforderliche Veränderungen<br />

im Familienstatus<br />

(Wandel zweiter Ordnung)<br />

1. Verlassen des Elternhauses: alleinstehende junge<br />

Erwachsene<br />

a. Selbstdifferenzierung in Beziehung zur Herkunftsfamilie<br />

b. Entwicklung intimer Beziehungen zu Gleichaltrigen<br />

c. Eingehen eines Arbeitsverhältnisses und finanzielle<br />

Unabhängigkeit<br />

2. Die Verbindung von Familien durch Heirat a. Bildung des Ehesystems<br />

b. Neuorientierung der Beziehungen mit den erweiterten<br />

Familien und Freunden, um den Partner einzubeziehen<br />

3. Familien mit jungen Kindern a. Anpassung des Ehesystems, um Raum für ein Kind<br />

bzw. Kinder zu machen<br />

b. Koordinieren von Aufgaben der Kindererziehung,<br />

des Umgangs mit Geld und der Haushaltsführung<br />

4. Familien mit Jugendlichen a. Veränderungen der Eltern-Kind-Beziehungen, um<br />

Jugendlichen zu ermöglichen, sich innerhalb und außerhalb<br />

des Familiensystems zu bewegen<br />

b. Neue Fokussierung auf die ehelichen und beruflichen<br />

Themen der mittleren Lebensspanne<br />

c. Hinwendung auf die gemeinsame Pflege und Sorge<br />

für die ältere Generation<br />

5. Entlassen der Kinder und nachelterliche Phase a. Neuaushandeln des Ehesystems als Zweierbeziehung<br />

b. Entwicklung von Beziehungen mit Erwachsenenqualität<br />

zwischen Kindern und Eltern<br />

c. Neuorientierung der Beziehungen, um Schwiegersöhne/<br />

-töchter und Enkelkinder einzubeziehen<br />

d. Auseinandersetzung mit Behinderungen und Tod<br />

von Eltern (Großeltern)<br />

6. Familien im letzten Lebensabschnitt a. Aufrechterhalten des Funktionierens als Person und<br />

Paar angesichts körperlichen Verfalls. Erkundung neuer<br />

familiärer und sozialer Rollenoptionen<br />

b. Unterstützung einer zentraleren Rolle der mittleren<br />

Generation<br />

c. Im System Raum schaffen für die Weisheit und Erfahrung<br />

der Alten; Unterstützung der älteren Generation,<br />

ohne sich zu stark für sie zu engagieren<br />

d. Auseinandersetzung mit dem Tod des Partners, dem<br />

Tod von Geschwistern und anderen Gleichaltrigen<br />

sowie Vorbereitung auf den eigenen Tod.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 5


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

AH 5: Metaentwicklungsaufgaben im Familienentwicklungsprozess<br />

nach Schneewind<br />

Adaptiert nach Schneewind 1998, 164-165. In: Oerter/ Montada 1998<br />

Metaentwicklungsaufgaben im Familienlebenszyklus<br />

Familien bzw. familienähnliche Lebensformen sind Prototypen von Personensystemen, innerhalb derer mehr<br />

oder minder enge persönliche Beziehungen bestehen. Zum einen stellen diese Personensysteme den Kontext für<br />

das Verhalten, Erleben und die Entwicklung des einzelnen dar; zum anderen wirkt aber auch der einzelne durch<br />

seine Lebensäußerungen auf die Art der Beziehungsgestaltung dieses Personensystems zurück (vgl. White &<br />

Woolett, 1992; Schneewind, 1992).<br />

Gelebte Beziehungen äußern sich im gemeinschaftlichen Lebensvollzug, welcher im Alltag unzählige Herausforderungen<br />

der Lebensbewältigung mit sich bringt. Diese Herausforderungen werden gewöhnlich als Familienentwicklungsaufgaben<br />

bezeichnet, die an spezifische Situationen und Phasen im Familienlebenszyklus gekoppelt<br />

sind und – wenn alles gut geht – sich von der Partnerfindung über Elternschaft, Ablösung der Jugendlichen bzw.<br />

von den Jugendlichen, Partnerverlust etc. bis zum Aussterben des Partnersystems erstrecken. Abweichungen und<br />

Verzweigungen von diesem normativen Konzept des Familienlebenszyklus (z.B. durch frühzeitigen Tod, Trennung<br />

oder Scheidung) haben eine Fülle neuer Beziehungskonstellationen zur Folge (z.B. alleinerziehende Eltern,<br />

Stieffamilien), für die sich ebenfalls entsprechende Familienentwicklungsaufgaben formulieren lassen.<br />

Wie auch immer die korrekten Familienformen und zugehörigen Entwicklungsaufgaben aussehen: Dadurch, dass<br />

sich Familien diesen Aufgaben stellen, sie durch gemeinsames Handeln zu bewältigen versuchen und zugleich<br />

im Handlungsvollzug bestehende Kompetenzen konsolidieren bzw. sich neu aneignen, entsteht eine besondere<br />

Beziehungsqualität zwischen den Mitgliedern des Personensystems „Familie“. Diese kann man als Verbundenheit<br />

bezeichnen. Verbundenheit ist eine Variable, die sowohl individuelles Verhalten und Erleben als auch die<br />

Beziehungsqualität von Familiensystemen beschreibt.<br />

Nun findet innerhalb und außerhalb von Familien auch individuelle Entwicklung statt. Sie orientiert sich an individuellen<br />

Entwicklungsaufgaben, äußert sich in individuellem Handeln und führt zur Ausbildung individueller<br />

Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die sich im Lebensgang einer Person entfaltenden Handlungs-spielräume und<br />

Kompetenzmuster lassen sich unter dem Begriff Autonomie zusammenfassen. Autonomie ist somit zunächst ein<br />

personenbezogenes Konzept, das erst dann eine Systembeschreibung beinhaltet, wenn es mit der Gewährung<br />

individueller Entwicklungsmöglichkeiten im Kontext des Beziehungssystems „Familie“ in Verbindung gebracht<br />

wird. Wird Autonomie als systembeschreibender Begriff verwendet, so lässt sich genauer von zugestandener<br />

Autonomie sprechen.<br />

Die im Kontext von Verbundenheit und zugestandener Autonomie ablaufenden familiären und individuellen<br />

Entwicklungsprozesse stellen zum einem sich wechselseitig beeinflussende Größen dar (vgl. Abb. 3.9). Zum<br />

anderen sind Verbundenheit und zugestandene Autonomie zwei zentrale Metaentwicklungsaufgaben, welche<br />

die im Familienlebenszyklus alters- und situationsspezifisch auftretenden Familienentwicklungsaufgaben überlagern.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 6


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Fam ilien-<br />

Entwicklungs-<br />

Aufgaben<br />

G em einsam es<br />

Handeln<br />

Fam ilien-<br />

Kom petenz<br />

Verbundenheit<br />

G egenseitigkeit<br />

Individuelle<br />

Entwicklungs-<br />

Aufgaben<br />

Individuelles<br />

Handeln<br />

Individuelle<br />

Kom petenz<br />

Zugestandene Autonom ie<br />

Metaentwicklungsaufgaben im Familienentwicklungsprozess<br />

Nicht immer führen jedoch familiär-gemeinschaftliches und individuelles Handeln zu einer problemlosen wechselseitigen<br />

Ergänzung. Im Wechselspiel von Individualität und Gemeinschaftlichkeit können sich vielmehr auch<br />

mehr oder minder schwerwiegende Konflikte ergeben. Die Folge ist, dass die im bisherigen Beziehungs-prozess<br />

des Familiensystems eingepegelte relative Balance von Verbundenheit und zugestandener Autonomie auf eine<br />

harte Probe gestellt wird und gegebenenfalls ein neues Austarieren dieser beiden Familiensystem-variablen erforderlich<br />

macht.<br />

Wynne (1985, p. 131f.) bezeichnet den hierfür erforderlichen Prozess als Gegenseitigkeit und meint, Gegenseitigkeit<br />

beginnt „mit dem Erkennen von Schwierigkeiten, die nicht im Rahmen des bisherigen Beziehungsmuster<br />

gelöst werden können, sondern vielmehr eine Umarbeitung derselben und manchmal einen Übergang zu<br />

neuen Mustern bedingen... Dies verlangt eine offene Bestandsaufnahme der vorhandenen Beziehungsqualität<br />

und der Umstände, die diese beeinflussen, z.B. Krankheit, Wachstum, Älterwerden der Familienmitglieder, Veränderungen<br />

im familiären Lebenszyklus, Engagement in anderen Systemen (Beruf, erweiterte Familie, Freunde<br />

usw.)“ Gegenseitigkeit gewinnt damit – neben Verbundenheit und zugestandener Autonomie – den Status einer<br />

dritten zentralen Metaentwicklungsaufgabe im Familienentwicklungsprozess.<br />

Neue Gegenseitigkeit kann sich abrupt oder als Konsequenz eines mehr oder minder langfristigen Aushandelns<br />

neuer Prioritäten im Sinne einer veränderten Balance von Verbundenheit und zugestandener Autonomie einstellen.<br />

Auch die Beendigung des bisherigen Beziehungssystems (z.B. bei einer Scheidung) führt zu einem neuen<br />

Arrangement von Gegenseitigkeit, was sich – wenn auch nicht selten mit erheblichen Schwierigkeiten – auf<br />

lange Dauer in geringer Verbundenheit und größerer zugestandener Autonomie äußert.<br />

Im Hinblick auf die in Abschnitt 3 dargestellte These, wonach in unserem Kulturbereich gesellschaftlicher Wandel<br />

zu einer Optionserweiterung der menschlichen Lebensgestaltung geführt hat, die sich auch im partnerschaftlichen<br />

und familiären Bereich äußert, gewinnt das Aushandeln von Gegenseitigkeit im Sinne eines Austarierens<br />

von Verbundenheit und zugestandener Autonomie für die Entwicklung familiärer Beziehungs-systeme<br />

besondere Bedeutung. Hierzu stehen der familienentwicklungspsychologischen Forschung und Anwendungspraxis<br />

zwei strategisch unterschiedliche Zugangsweisen offen: zum einen ein nicht-interventiver Ansatz, in dem<br />

durch eine längsschnittliche Begleitung von Familiensystemen die Veränderungen in der Balance von Verbundenheit<br />

und zugestandener Autonomie für die Persönlichkeitsentwicklung der einzelnen Familien-mitglieder<br />

erkennbar gemacht werden; zum anderen ein interventiver Ansatz bei dem es darum geht, auf dem Wege wissenschaftlich<br />

kontrollierter Prävention, Beratung und Therapie die Familie als Ganzes, einzelne Subsysteme oder<br />

auch einzelne Familienmitglieder in ihrem Bemühen um neue Formen von Gegenseitigkeit zu unterstützen. Für<br />

beide strategische Zugangsweisen kann das in Abschnitt 2 dargestellte Familiensystemmodell mit entwicklungsbezogenen<br />

Stressoren und Ressourcen ein theoretischer Orientierungsrahmen sein, der für die Forschung wie für<br />

die Anwendungspraxis gleichermaßen hilfreich ist.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 5


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

AH 6: Aufgabenbereiche in der frühen Entwicklung nach Waters & Sroufe<br />

Adaptiert nach Oerter 1998, 123, in: Oerter/Montada 1998<br />

Phase Alter Thema Aufgaben der Bezugspersonen<br />

(in Monaten) (Aufgabenbereiche)<br />

1 0 – 3 physiologische Regulationen behutsame Pflegeroutinen<br />

2 3 – 6 Handhabung von Spannungen sensitive kooperative Interaktion<br />

3 6 – 12 Aufbau einer effektiven Bindung Erreichbarkeit, Bereitschaft zu antworten<br />

(attachment)<br />

4 12 – 18 erfolgreiche Exploration sicherer Bezugspunkt<br />

5 18 – 30 Individuation (Autonomie) nachhaltige Unterstützung<br />

6 30 - 54 Handhabung von impulsiven Regungen, Geschlechtsrollenidentifikation,<br />

Beziehung zu Gleichaltrigen<br />

klare Rollen und Werte, flexible Selbstkontrolle<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 6


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Anhang 7 zur Rahmenkonzeption <strong>Kapitel</strong> 1<br />

ESOFAB<br />

Eine Arbeitshilfe zur professionalisierungstheoretisch geleiteten Evaluation beruflicher<br />

sozialer Arbeit im Focus des Arbeitsbündnisses<br />

TH. Conrad<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

I Einführung in die Arbeitshilfe ESOFAB 4<br />

1. Das Arbeitsbündnis – ein Begriff zur Kennzeichnung beruflicher 4<br />

sozialer Arbeit als besondere und eigenlogische Praxisform –<br />

2. Inhaltlich-konzeptionelle Grundgedanken des Arbeitsinstrumentes 5<br />

Methodisch – didaktische Grundgedanken und Einsatzmöglichkeiten<br />

der Arbeitshilfe<br />

3. Allgemeine Hinweise zur Bearbeitung des Matrizensatzes 11<br />

II. Der ESOFAB – Matrizensatz<br />

1. Gesamtschau 16<br />

1.1.1 Matrix „Gesamtschau der wesentlichen Voraussetzungen des Arbeitsbündnisses“ 17<br />

1.1.2 Arbeitsblätter und Speicher 18<br />

1.1.3 Erläuterung zur Matrix 22<br />

1.2.1 Matrix „Gesamtschau im Arbeitsbündnis“ 24<br />

1.2.2 Arbeitsblätter zur Bearbeitung und Speicher 25<br />

1.2.3 Erläuterung zur Matrix 29<br />

2. Phasenbezogene Evaluation 30<br />

2.1. Einrichtung von Arbeitsbündnissen<br />

2.1.1 Matrix „Einrichtung von Arbeitsbündnissen“ 31<br />

2.1.2 Arbeitsblätter zur Bearbeitung und Speicher 32<br />

2.1.3 Arbeitsblatt zur weitergehenden Evaluation ausgewählter fachlicher und fachlichorganisatorischer<br />

Routinen 36<br />

2.2 Entfaltung und Differenzierung von Arbeitsbündnissen<br />

2.2.1 Matrix „Entfaltung und Differenzierung von Arbeitsbündnissen“ 37<br />

2.2.2 Arbeitsblätter zur Bearbeitung und Speicher 38<br />

2.2.3 Arbeitsblatt zur weitergehenden Evaluation ausgewählter fachlicher und fachlichorganisatorischer<br />

Routinen 42<br />

Seite<br />

© Th. Conrad / <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 Inhaltsverzeichnis


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

2.3 Beendigung von Arbeitsbündnissen<br />

2.3.1 Matrix „Beendigung von Arbeitsbündnissen“ und Arbeitsblätter 43<br />

2.3.2 Arbeitsblätter zur Bearbeitung und Speicher 44<br />

2.3.3 Arbeitsblatt zur weitergehenden Evaluation ausgewählter fachlicher<br />

und fachlich-organisatorischer Routinen 48<br />

2.4 Erläuterung zu den phasenbezogenen Matrizen 49<br />

3. Evaluation der Kooperationsstrukturen 50<br />

3.1 Matrix „Beteiligung der Gesamtorganisation (einer Einrichtung/eines 51<br />

Dienstes) bei der Gestaltung (Planung, Durchführung und Reflexion) von Hilfe-<br />

und Unterstützungsprozessen<br />

3.2. Arbeitsblätter zur Bearbeitung und Speicher 52<br />

3.3 Arbeitsblatt zur weitergehenden Evaluation ausgewählter fachlich-organisatorischer<br />

Routinen und Strukturen 56<br />

3.4 Erläuterung zur Matrix 57<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 Inhaltsverzeichnis


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

I. Einführung in die Arbeitshilfe ESOFAB<br />

1. Das Arbeitsbündnis – ein Begriff zur Kennzeichnung beruflicher sozialer Arbeit<br />

als besondere und eigenlogische Praxisform –<br />

Berufliche soziale Arbeit in den Bereichen Erziehung, Sozialisation, Therapie, Pflege und<br />

institutionellen Hilfen hat es wesentlich mit der Begegnung ganzer Menschen innerhalb einer<br />

rollenförmigen beruflichen Hilfebeziehung zu tun. Dies kommt zum Ausdruck im Spannungsverhältnis<br />

zwischen oft sehr ausgeprägter personaler (physischer und psychischer) Nähe bei<br />

gleichzeitig beruflich geforderter respektvoller Distanz. Im Kontext einer strukturtheoretischen<br />

Professionalisierungstheorie lässt sich dieses zentrale Moment beruflicher sozialer<br />

Arbeit näher als Arbeitsbündnis bestimmen.<br />

Das Arbeitsbündnis stellt dabei eine eigenlogische Praxisform, einen eigenständigen Beziehungstypus<br />

dar, der durch die Gleichzeitigkeit diffus-familialer und rollenförmig.-spezifischer<br />

Beziehungskomponenten gekennzeichnet ist (vgl. Fachliche Rahmenkonzeption des Vereins<br />

<strong>Behindertenhilfe</strong> 2003).<br />

Dieser Beziehungstypus bedarf zu seiner Einrichtung, Aufrechterhaltung und Gestaltung eines<br />

Rahmens, einer sozialen Rahmung, die sich gleichzeitig auf mindestens drei Ebenen bezieht:<br />

1. Die kontraktuelle Ebene (Vereinbarungen und Absprachen)<br />

2. Die fachliche Ebene (fachliche und fachlich-organisatorische Routinen, Verfahren<br />

und Standards)<br />

3. Die Ebene der Herstellung eines Schutz - und Entwicklungsraumes, strukturähnlich<br />

der primären familialen Sozialisation und deshalb mit entsprechenden<br />

sozialisatorischen Qualitäten und symbolischen Qualitäten<br />

(Vgl. Fachliche Rahmenkonzeption des Vereins <strong>Behindertenhilfe</strong> 2003, 44 f)<br />

Innerhalb dieser Praxisform geht es einerseits um eine stellvertretende Bewältigung lebenspraktischer<br />

Krisen eines Klienten durch eine Fachkraft oder Fachkräfte, da der Klient aufgrund<br />

einer Einschränkung seiner Autonomie oder aufgrund fortgeschrittener spezialisierter<br />

Wissensbestände (wie z.B. im Bereich der Medizin) zu einer selbständigen Krisenbewältigung<br />

nicht oder nicht angemessen in der Lage ist.<br />

Andererseits geht es im Arbeitsbündnis aber auch wesentlich darum, angemessen an den<br />

Möglichkeiten und Ressourcen des Klienten anzuknüpfen und sie in das Arbeitsbündnis i.S.e.<br />

Hilfe zur Selbsthilfe einzubeziehen, damit die Hilfestellung nicht zu einer weiteren<br />

Deautonomisierung des Klienten führt. Dieser Zusammenhang stellt das grundlegende Paradoxon<br />

beruflicher sozialer Arbeit dar.<br />

Eine solchermaßen professionalisierungstheoretisch geleitete Sichtweise sozialer Dienstleistungen<br />

stellt konsequent den einzelnen Klienten als ganzen Menschen mit seinem je individuellen<br />

Hilfe- und Unterstützungsbedarf sowie die Besonderheiten von Hilfebeziehungen in<br />

den Mittelpunkt der fachlichen und fachlich-organisatorischen<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 4


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Überlegungen. Diese Sichtweise grenzt sich deutlich von sogenannten Kundenmodellen einerseits<br />

und organisationslastigen Konzeptualisierungen der Qualität sozialer Dienstleistungen<br />

andererseits ab (Vgl. Schädler 1999, S.16).<br />

Die Eigenlogik beruflicher sozialer Arbeit bedarf aber einer genaueren Betrachtung und Untersuchung<br />

in ihren je besonderen Praxisfeldern (z.B. Frühförderung, Kindertagesstätten,<br />

Wohnen und Ambulante Hilfen), um zu einem differenzierten feldspezifischen Praxisverständnis<br />

und zu praxisrelevanten professionalisierungstheoretisch geleiteten Aussagen<br />

zu gelangen.<br />

2. Inhaltlich-konzeptionelle Grundgedanken des Arbeitsinstrumentes<br />

ESOFAB ist eine Arbeitshilfe für die berufliche Praxis, um arbeitsfeldspezifisch<br />

• eine Bestandsaufnahme und Reflexion der besonderen Herausforderungen beruflicher<br />

Hilfebeziehungen im Focus des Arbeitsbündnisses zu unterstützen und<br />

• eine Sichtung, Bewertung und ggf. Weiterentwicklung der zur Anwendung kommenden<br />

fachlichen und fachlich-organisatorischen Routinen und Verfahrens-weisen im<br />

Arbeitsbündnis zu befördern.<br />

Multipositionalität und Multiperspektivität im Arbeitsbündnis<br />

Ein inhaltlich-konzeptioneller Grundgedanke der Arbeitshilfe ist die arbeitsfeldspezifische<br />

Erfassung und Reflexion der Herausforderungen beruflicher Hilfebeziehungen in ihrer<br />

Multipositionalität und Multiperspektivität.<br />

Multipositionalität meint dabei die Untersuchung und Berücksichtigung der besonderen<br />

Handlungsproblematiken und Beziehungsaufgaben, die typischerweise und überindividuell<br />

mit der Position des Klienten, der Eltern und der Fachkraft in den Strukturen von Arbeitsbündnissen<br />

verbunden sind. Position bezeichnet dabei allgemein eine besondere Stellung in<br />

einem strukturierten Beziehungsgefüge, hier im Arbeitsbündnis, die jeweils als Schnittstelle<br />

verschiedener Teilbeziehungen darstellbar ist.<br />

Multiperspektivität meint dagegen die Untersuchung und Berücksichtigung der Ebene typischer<br />

subjektiver Thematiken, Wünsche und Gefühle, wie sie aus der besonderen Position im<br />

Arbeitsbündnis i.S.e. positionalen Perspektive einerseits und typischen zentralen Unterstützungsbedarfen<br />

und Entwicklungsaufgaben von Klient, Eltern und Fachkraft andererseits nahegelegt<br />

sind (Zum Begriff der positionalen Perspektive vgl. Oevermann 2001, 87 ff)<br />

Die besondere Position und Perspektive der Eltern wird in der Arbeitshilfe systematisch einbezogen,<br />

da die Zusammenarbeit mit den Eltern/ gesetzlichen Betreuern im Bereich der Arbeit<br />

mit Kindern und Menschen mit geistiger Behinderung immer von zentraler Bedeutung<br />

ist.<br />

5 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Dieser die Vielfalt von Positionen und Perspektiven im Arbeitsbündnis berücksichtigende<br />

Arbeitsansatz lässt sich auch durch folgende Fragestellungen veranschaulichen:<br />

• In welche typischen objektiven Handlungssituationen (Handlungsproblematiken) sind die<br />

jeweiligen Positionsinhaber (Klient, Eltern, Fachkraft) im Arbeitsbündnis gestellt?<br />

• Welche typischen Beziehungsaufgaben in Bezug auf die jeweils anderen Positionsinhaber<br />

stellen sich hierbei notwendig und überindividuell?<br />

• Wie könnte es einem Positionsinhaber mit einem typischen Unterstützungsbedarf und<br />

typischen Entwicklungsaufgaben subjektiv in einer solchen Handlungssituation typischerweise<br />

gehen? Oder anders: Welche subjektiven Themen, Vorstellungen, Wünsche<br />

und Gefühle könnten durch eine solche objektive Situation typischerweise nahegelegt<br />

werden?<br />

• Berücksichtigen und integrieren die Einzelinterventionen und die fachlichen und fachlichorganisatorischen<br />

Routinen in angemessener Weise diese verschiedenen Handlungsproblematiken<br />

und Beziehungsaufgaben im Arbeitsbündnis?<br />

Bezüglich der objektiven Handlungsproblematiken im Arbeitsbündnis kann eine weitere<br />

Differenzierung vorgenommen werden. Es lassen sich positionsspezifische objektive Handlungsproblematiken<br />

, die ein Arbeitsfeld insgesamt charakterisieren, von solchen unterscheiden,<br />

die innerhalb eines Arbeitsfeldes für die einzelnen Phasen des Arbeitsbündnisses charakteristisch<br />

sind. (Gleiches gilt dann auch für die überindividuellen Beziehungsaufgaben, die<br />

notwendig mit einer jeweiligen Position verbunden sind).<br />

Im Bereich der Wohnheime bedeutet die typische, das gesamte Arbeitsfeld charakterisierende<br />

objektive Handlungsproblematik des Klienten z.B., dass sich seine Wohnung und sein nahes<br />

Wohnumfeld als einem der zentralsten und intimsten Bereiche privater Lebensführung innerhalb<br />

einer nicht-privaten sozialen Organisation befinden, dies oft für die Dauer und Perspektive<br />

eines ganzen Erwachsenenlebens gegeben ist und der Bewohner darüber hinaus Wohnheim<br />

und ggf. auch Zimmer mit anderen Klienten/ Nutzern teilen muss.<br />

Kehrseitig bedeutet dies für die Fachkräfte, dass sie täglich, auch an Wochenenden und Feiertagen<br />

und dies ggf. für eine sehr lange Zeit, auch Alter und Krankheit begleitend, unmittelbar<br />

im Privatbereich ihres Klienten tätig sind und dabei Anforderungen und Bedürfnisse von<br />

Klient, Klientengruppe und sozialer Organisation zu berücksichtigen und<br />

zu integrieren haben.<br />

Kontrastierend hierzu stellen sich z.B. die Verhältnisse im Bereich der Kindertagesstätten dar.<br />

Hier besteht die typische, das Arbeitsfeld insgesamt charakterisierende objektive Handlungsproblematik<br />

des Erziehungsklienten darin, dass er für eine klar umrissene Zeitspanne von<br />

i.d.R. maximal drei Jahren die Kindertagesstätte als ersten Ort institutionalisierter außerfamilialer<br />

Erziehung, Bildung, Förderung und Betreuung besucht. Dabei muss er sich mit einer<br />

für ihn grundsätzlich berechenbaren täglichen räumlichen und personellen Trennung von<br />

Elternhaus und Familie auseinandersetzen, ohne dass es hierbei aber zu einer Überschneidung<br />

von privatem und nicht-privatem Raum wie im Wohnheimbereich kommt, er muss sich hier<br />

die Betreuung durch nicht-familiale Bezugspersonen gefallen lassen und dies alles in einem<br />

Gruppenzusammenhang mit anderen Kindern.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 6


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Für die Fachkräfte besteht im Bereich Kindertagesstätten kehrseitig hierzu die das Arbeitsfeld<br />

insgesamt kennzeichnende objektive Handlungsproblematik darin, dass sie innerhalb<br />

einer öffentlichen Erziehungs- , Bildungs- und Betreuungseinrichtung auf Dauer eine offene<br />

Gruppe von kleinen Erziehungsklienten zu betreuen haben, die sich potentiell jedes Jahr verändern<br />

kann und spätestens nach drei Jahren vollständig ausgewechselt ist. Dabei begegnen<br />

die Fachkräfte den Kindern und ihren Eltern nicht, wie beispielsweise auch oftmals im Bereich<br />

früher Hilfen, in einem privaten Bereich, sondern im Bereich „ihrer“ Einrichtung.<br />

In den Phasen der Einrichtung, der Entfaltung und Differenzierung sowie der Beendigung von<br />

Arbeitsbündnissen erhalten die das Arbeitsfeld insgesamt charakterisierenden objektiven<br />

Handlungsproblematiken nochmals eine phasenbezogene Ausprägung und Differenzierung.<br />

Mit den verschiedenen Positionen und positionalen Handlungsproblematiken im Arbeitsbündnis<br />

sind jeweils typische Beziehungsaufgaben verbunden, die sich im Hinblick auf die<br />

anderen Positionen ergeben und die sowohl in einem charakterisierenden Überblick über ein<br />

Arbeitsfeld als auch in ihrer phasenbezogenen Differenzierung und Ausprägung betrachtet<br />

werden können. Als erläuterndes Beispiel soll der Bereich der Kindertagesstätten im Überblick<br />

herangezogen werden.<br />

In der Position des kleinen Erziehungs- und Bildungsklienten ergeben sich hier für das Kind<br />

beispielsweise folgende typische Beziehungsaufgaben: In der Beziehung mit den Eltern muss<br />

das Kind weitere Ablöseschritte vollziehen und dabei seine Beziehung zugleich aufrechterhalten<br />

und transformieren. Hinsichtlich der Fachkräfte muss das Kind neue Beziehungen<br />

eingehen, entwickeln und erstmals auch beenden, es überträgt dabei zunächst in nichtpathologischer<br />

Weise seine familalen Beziehungserfahrungen und Beziehungsmuster auf die<br />

Fachkräfte und muss sukzessive lernen, die Fachkräfte in ihrer „Berufsrolle“ mit den anderen<br />

Kindern zu teilen. Hinsichtlich der Kindergruppe besteht die positionale Beziehungsaufgabe<br />

darin, Mitglied einer Gruppe zu werden, neue Beziehungen und Freundschaften einzugehen<br />

und dabei einer unter gleichen und dennoch besonders zu sein als Vorgriff auf späteres erwachsenes<br />

Rollenhandeln. Analog lassen sich die typischen Beziehungsaufgaben in den Positionen<br />

von Fachkraft und Eltern ausarbeiten und wie die Handlungsproblematiken auch einer<br />

phasenbezogenen Untersuchung unterziehen.<br />

Dieser Multipositionalität und Multiperspektivität berücksichtigende Arbeitsansatz entspricht<br />

der fachlichen Erfahrung und Erkenntnis, dass fachlich angemessene berufliche soziale Arbeit<br />

sowohl die Fähigkeit zur getrennten Wahrnehmung der unterschiedlichen Positionen und Perspektiven<br />

als auch zu ihrer angemessenen handlungspraktischen Einbeziehung durch die<br />

Fachkraft selbst erfordert (vgl. z.B. Baumann 1987, Baumann 1991, Wölpert 1985, Wölpert<br />

1997). Während die konkrete Arbeit im Arbeitsbündnis hierbei unter einem oftmals hohen<br />

praktischen Handlungsdruck steht, zielt die Arbeitshilfe ESOFAB auf eine Erfassung und<br />

Reflektion von Multipositionalität und Multiperspektivität in einer Situation praktischer<br />

Handlungsentlastetheit.<br />

7 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Exkurs: Abkürzende Verfahren von Perspektivenermittlung und Fallverstehen unter<br />

praktischem Handlungsdruck<br />

In der Interventionspraxis beruflicher sozialer Arbeit hat die getrennte Wahrnehmung und<br />

zugleich angemessene Berücksichtigung unterschiedlicher Positionen und Perspektiven unter<br />

praktischem Handlungsdruck zu erfolgen. Hier können z.B. auch eigene Gefühle der Fachkraft<br />

gegenüber Klient und Eltern daraufhin reflektiert werden, ob und inwieweit sie möglicherweise<br />

Auskunft über die besonderen Perspektiven und Positionen von Klient, Eltern oder<br />

Fachkraft selbst geben, inwieweit sie also im Sinne einer besonderen Reaktion und Antwort<br />

zu verstehen sind. Diese Reflexion eigener Gefühle kann in der Interventionspraxis dann einem<br />

abkürzenden Fallverstehen unter praktischem Handlungsdruck dienen, ist aber zur Kontrolle<br />

und damit als Qualitätsmerkmal notwendig an qualifizierte psychodynamisch und beziehungsdynamisch<br />

orientierte Supervision in Ausbildung und Berufspraxis gebunden (vgl.<br />

Baumann 1987, Wölpert 1997).<br />

Im Rahmen einer fachlichen Kunstlehre beruflicher sozialer Arbeit können entsprechend drei<br />

erkenntnisleitende Fragen herangezogen werden, die die Fachkräfte in ihrer Berufspraxis und<br />

die Eltern in ihrer kollektiven und individuellen Lebenspraxis hinsichtlich der Trennungsfähigkeit<br />

der Perspektiven unterstützen (vgl Baumann 1991):<br />

Für die Fachkraft:<br />

• Wie geht es mir mit dem anderen (meinem Klienten, seinen Eltern)?<br />

• Wie glaube ich, geht es dem anderen (meinem Klienten, seinen Eltern)?<br />

• Wie geht es mir mit mir selbst?<br />

Für das Elternpaar:<br />

• Wie geht es uns mit dem anderen (unserem Kind, ggf. seiner Fachkraft)?<br />

• Wie glauben wir, geht es dem anderen (unserem Kind, ggf. seiner Fachkraft)?<br />

• Wie geht es uns mit uns selbst?<br />

Für das einzelne Elternteil:<br />

• Wie geht es mir mit dem anderen (meinem Kind, meinem Gatten/ Partner)?<br />

• Wie glaube ich geht es dem anderen (meinem Kind, meinem Gatten/ Partner)?<br />

• Wie glaube ich geht es mir selbst?<br />

Die Erfassung phasentypischer Entwicklungsaufgaben<br />

Die Lebenspraxis des einzelnen Klienten sowie die Lebenspraxis der Eltern / Familie sind im<br />

individuellen Lebenszyklus bzw. Familienlebenszyklus vor phasentypische Entwicklungsaufgaben<br />

gestellt (vgl. Fachliche Rahmenkonzeption des Vereins <strong>Behindertenhilfe</strong> 2003, 62). Im<br />

Berufsleben der einzelnen Fachkraft selbst stellen sich ebenfalls phasentypische berufliche<br />

Entwicklungsaufgaben.<br />

Berufliche soziale Arbeit ist als stellvertretende Bewältigung lebenspraktischer Krisen beständig<br />

mit der Bewältigung von individuellen wie auch Familienentwicklungsaufgaben konfrontiert<br />

und hat hierzu ob implizit oder explizit immer auch normativ praktisch Stellung zu<br />

beziehen. Darüber hinaus hat sie auch zu den eigenen phasentypischen beruflichen Entwicklungsaufgaben<br />

praktisch Stellung zu beziehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 8


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Gegenüber dem außerberuflichen Handeln unterliegt berufliche soziale Arbeit dabei einer<br />

gesteigerten Begründungsverpflichtung hinsichtlich der Angemessenheit ihrer Interventionen<br />

und ihrer fachlichen und fachlich-organisatorischen Routinen und hierin liegt ein wesentlicher<br />

Grund für die Notwendigkeit einer differenzierteren und weitergehenderen Auseinandersetzung<br />

mit phasentypischen Entwicklungsaufgaben und ihnen korrespondierenden Entwicklungsmodellen.<br />

Aus diesen Gründen ist es ein inhaltlich-konzeptioneller Grundgedanke der Arbeitshilfe, in<br />

einer „Gesamtschau der wesentlichen Voraussetzungen des Arbeitsbündnisses“ zu einer<br />

Überblick verschaffenden Sichtung und Zusammenfassung wesentlicher phasentypischer und<br />

immer auch normativer Entwicklungsaufgaben anzuregen, mit denen Klient, Eltern und<br />

Fachkraft arbeitsfeldspezifisch notwendig konfrontiert werden. Zur Unterstützung können<br />

beispielhaft die Entwicklungstaxonomien im Anhang der Fachlichen Rahmenkonzeption herangezogen<br />

werden.<br />

Eine differenziertere Betrachtung der phasentypischen in einer Gesellschaft gegebenen und<br />

immer auch normativen Entwicklungsaufgaben vor allem von Klient und Eltern ist aber nicht<br />

nur wichtig unter dem Gesichtspunkt der Begründung einzelinterventionsbezogener oder angebotsbezogener<br />

Ziele, Pläne und Konzeptionen. Sie erinnert auch daran, in welchem Ausmaß<br />

eine Gesellschaft und ihre Fachkräfte angesichts bestimmter Erschwernisse und Einschränkungen<br />

der Nutzer grundsätzlich in der Lage oder auch gewillt sind, Normalität und<br />

Normalisierung zu ermöglichen und zu unterstützen oder eben auch nicht.<br />

Interne Differenzierung der arbeitsfeldspezifischen Herausforderungen beruflicher sozialer<br />

Arbeit unter prozessbezogenen und personenbezogenen Gesichtspunkten<br />

Ein inhaltlich-konzeptioneller Grundgedanke der Arbeitshilfe ist die Differenzierung der Untersuchung<br />

und Reflexion der arbeitsfeldspezifischen Herausforderungen beruflicher Hilfebeziehungen<br />

unter prozess- und personengruppenbezogenen Gesichtspunkten.<br />

Das Arbeitsbündnis als eigenlogische Beziehungspraxis stellt ein prozesshaftes Geschehen<br />

dar, das in die Phasen der Einrichtung, der Entfaltung und Differenzierung sowie der Beendigung<br />

unterteilt werden kann. Bezogen auf die Hilfe- bzw. Unterstützungsmaßnahme insgesamt,<br />

kommt diesen Phasen eine jeweils besondere Bedeutung zu und die Herausforde-rungen<br />

beruflicher Hilfebeziehungen erfahren in ihrer Multipositionalität und Multiperspekti-vität<br />

eine phasentypische Ausprägung und Akzentuierung (vgl. Fachliche Rahmenkonzeption des<br />

Vereins <strong>Behindertenhilfe</strong> 2003, 42 f).<br />

Diesem Zusammenhang entsprechend unterscheidet die Arbeitshilfe zwischen einer vorklärenden<br />

und orientierenden Gesamtschau einerseits und einer phasenbezogenen Evaluation<br />

andererseits. Die phasenbezogene Evaluation kann dann jeweils für die Einrichtungsphase,<br />

die Phase der Entfaltung und Differenzierung sowie die Beendigungsphase getrennt durchgeführt<br />

werden.<br />

Als weiteren Grundgedanken sieht die Arbeitshilfe die Möglichkeit einer differenzierten Untersuchung<br />

der arbeitsfeldspezifischen Herausforderungen von Hilfebeziehungen für typische<br />

Untergruppen von Klienten, Eltern und Fachkräften vor, die dann selbst wiederum phasenbezogen<br />

erfolgen kann.<br />

9 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Im Rahmen einer arbeitsfeldspezifischen Gesamtschau ist dabei zunächst zu klären, für welche<br />

möglichen Untergruppen eine besondere Evaluation sinnvoll oder notwendig sein könnte.<br />

So könnte es im Bereich früher Hilfen z.B. sinnvoll sein, alleine aufgrund sehr unterschiedlicher<br />

lebenszyklischer Entwicklungsaufgaben eine Differenzierung der Betrachtung für Säuglinge<br />

und sehr kleine Kinder und ihre Eltern einerseits und Kinder und ihre Eltern im Kindergartenalter<br />

andererseits vorzunehmen. Im Bereich der Kindertagesstätten z.B. sinnvoll sein,<br />

zwischen deutschen und nicht-deutschen Kindern und ihren Eltern oder zwischen „Regelkindern“<br />

und „Integrationskindern“ und ihren Eltern zu unterscheiden. Und bezogen auf die<br />

Fachkräfte selbst könnte eine Unterscheidung hinsichtlich der Berufser-fahrung, also Berufsanfänger<br />

versus Fachkraft mit langjähriger Berufserfahrung z.B. in den Bereichen Wohnen<br />

und Ambulante Hilfe aber auch in anderen Bereichen von Interesse sein.<br />

Die Evaluation fachlicher und fachlich-organisatorischer Routinen und Verfahrensweisen<br />

Fachliche und fachlich-organisatorische Routinen stellen im Bereich beruflicher sozialer Arbeit<br />

Vorgehensweisen und Verfahren da, durch die ein besonderes fachliches und fachlichorganisatorisches<br />

Krisenbewältigungswissen in der Praxis des Arbeitsbündnisses zur Anwendung<br />

kommt. Dies geschieht unter der Bedingung der grundsätzlichen Nicht-<br />

Standardisierbarkeit von Humandienstleistungen, die ja immer den besonderen Bedingungen<br />

des Einzelfall gerecht werden müssen (vgl. Fachliche Rahmenkonzeption des Vereins <strong>Behindertenhilfe</strong><br />

2003, 28, Oevermann 2000 b, 22 ff).<br />

Dieser Zusammenhang lässt sich durch die folgenden beiden Sätze charakterisieren: „In einer<br />

bestimmten Situation x verfahren wir üblicherweise im Geiste eines mehr oder weniger expliziten<br />

Modelles y“ und: „Ausnahmen bestimmen die Regel“.<br />

Die Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit fachlichen Handelns, dass also auch tatsächlich<br />

immer im Sinne eines explizierbaren Modells verfahren wird, kann nicht durch Standarddisierung<br />

der Prozessabläufe wie z.B. in der industriellen Produktion, sichergestellt werden.<br />

Angesichts dieser Situation stellt die Supervision interventionsbezogen (und die Evaluation<br />

angebotsbezogen) das Komplement für die fehlende Standardisierbarkeit dar, ein Komplement,<br />

welches nicht nur auf die Kontrolle der Angemessenheit, sondern auch die Kontrolle<br />

der Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit der Interventionen abzielt. „ An die Stelle der Sicherung<br />

von Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit durch Standardisierung tritt in der professionalisierten<br />

Praxis die Supervision als typische Form der Kontrolle darüber, ob grundsätzlich<br />

nicht-standardisierbare Dienstleistungen dennoch gemäß eines theoretisch begründeten Modells<br />

von Richtigkeit fallspezifisch verfahren. Der Supervisionsverpflichtung entspricht dann<br />

auch eine Weiterbildungsverpflichtung“ (Oevermann 2000 b, 25).<br />

In den meisten Fällen beruflicher sozialer Arbeit sind die fachlichen und fachlichorganisatorischen<br />

Routinen aus den Erfahrungen der Fachpraxis gewonnen und abgeleitet<br />

(vgl. Becker 2002). Als je besonderes Krisenbewältigungswissen oder bei den fachlichorganisatorischen<br />

Routinen auch als in besondere fachlich-organisatorische Strukturen und<br />

Abläufe geronnenes Erfahrungswissen sind sie nicht oder nur in geringem Umfang aus einer<br />

eigenständigen Grundlagenforschung oder klinischen Forschung abgeleitet, wie dies z.B. für<br />

jene Bereiche gilt, in denen die Medizin oder die Psychologie Leitprofessionen sind.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 10


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Entsprechend sind in vielen Feldern beruflicher sozialer Arbeit die fachlichen und fachlichorganisatorischen<br />

Routinen oftmals eher implizit oder es mangelt ihnen häufig an einer hinreichenden<br />

Begründetheit.<br />

Angesichts dieser Situation kann eine arbeitsfeldspezifische Evaluation der fachlichen und<br />

fachlich-organisatorischen Routinen im Focus des Arbeitsbündnisses einen wichtigen Beitrag<br />

zur Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung (Innovationssicherung) beruflicher sozialer<br />

Arbeit darstellen. Die Arbeitshilfe ESOFAB zielt deshalb auf eine Sichtung, Beschreibung<br />

und Bewertung jener vorhandenen oder auch denkbaren Routinen, die auf die vorgängig herausgearbeiteten<br />

phasentypischen Handlungsproblematiken und Beziehungsaufgaben von Klient,<br />

Eltern und Fachkräften selbst bezogen werden können.<br />

Dieses Vorgehen lässt sich durch folgende Fragestellungen veranschaulichen:<br />

• Wie gehen wir eigentlich typischerweise mit den herausgearbeiteten phasentypischen<br />

Handlungsproblematiken und Beziehungsaufgaben von Klient, Eltern und Fachkräften<br />

selbst um? Oder anders formuliert: Was tun wir eigentlich, um Klient, Eltern und uns<br />

selbst bei der Bewältigung der jeweiligen Handlungsproblematiken und Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis zu unterstützen?<br />

• Welche Begründungen haben wir für unser jeweiliges Vorgehen?<br />

• Sind unsere Routinen angemessen im Hinblick auf die Handhabung des<br />

Arbeitsbündnisses ?<br />

• Sind unsere Routinen zuverlässig im Hinblick auf ihre Einhaltung (Vorhersehbarkeit und<br />

Verlässlichkeit)?<br />

• Wie können oder müssen wir es anders machen?<br />

• Welche Voraussetzungen auf der Struktur- und Prozessebene sind hierfür notwendig?<br />

3. Methodisch-didaktisches Grundgedanken und Einsatzmöglichkeiten der Arbeitshilfe<br />

Methodisch-didaktisch versucht die Arbeitshilfe an dem fallhaltigen Erfahrungswissen und<br />

dem Fachwissen der Fachkräfte anzuknüpfen und diese Erfahrungs- und Wissensbestände in<br />

einen professionalisierungstheoretisch geleiteten Reflexions- und Bearbeitungsprozess einzubinden.<br />

Als Verfahren liegt die Arbeitshilfe zwischen Supervision einerseits und methodisch<br />

expliziter und extensiver Fallrekonstruktion andererseits. Die Arbeitshilfe stellt einen Satz<br />

thematisch gegliederter Matrizen zur Verfügung, deren Hauptkonstruktionsprinzip die Erfassung<br />

von Multipositionalität und Multiperspektivität im Arbeitsbündnis darstellt:<br />

11 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Gesamtschau<br />

• Matrix „Gesamtschau der wesentlichen Voraussetzungen des Arbeitsbündnisses“<br />

Thematischer Schwerpunkt: Vorklärung, ob und inwiefern die Voraussetzungen von Arbeitsbündnissen<br />

arbeitsfeldspezifisch gegeben sind, mit welchen phasentypischen normativen<br />

Entwicklungsaufgaben zu rechnen ist und für welche spezifischen Klienten-, Eltern-<br />

oder Fachkräftegruppen eine besondere Evaluation ggf. sinnvoll bzw. von praktischem Interesse<br />

sein könnte.<br />

• Matrix „ Gesamtschau im Arbeitsbündnis“<br />

Thematischer Schwerpunkt: Überblickshafte und orientierende Erfassung und Reflexion<br />

der ein Arbeitsfeld charakterisierenden Handlungsproblematiken und Beziehungsaufgaben<br />

von Klient, Eltern und Fachkraft und typische Spannungspole ihrer Beziehungen untereinander.<br />

Phasenbezogene Evaluation<br />

• Matrix „Einrichtung von Arbeitsbündnissen“<br />

• Matrix „Entfaltung und Differenzierung von Arbeitsbündnissen“<br />

• Matrix „Beendigung von Arbeitsbündnissen“<br />

Thematischer Schwerpunkt jeweils: Phasenspezifische Untersuchung und Reflexion der<br />

Handlungsproblematiken und Beziehungsaufgaben, typischer Vereinseitigungstendenzen<br />

und typischer subjektiver Thematiken und Gefühle im Arbeitsbündnis sowie der hierauf<br />

beziehbaren fachlichen und fachlich-organisatorische Routinen.<br />

Evaluation der Kooperationsstrukturen<br />

• Matrix „Beteiligung der Gesamtorganisation an der Gestaltung von Hilfe- und Unterstützungsprozessen“<br />

Thematischer Schwerpunkt: Beteiligung und Zusammenspiel von einzelner Fachkraft,<br />

Teilteams, Gesamtteam und Leistung bei der Planung, Durchführung und Reflexion von<br />

Hilfe- und Unterstützungsprozessen.<br />

Methodisch stellen die einzelnen Matrizen systematisierte erkenntnisleitende Frageschemata<br />

dar, mit deren Hilfe typische Fälle oder Fallkonstellationen arbeitsfeldspezifisch unterbestimmten<br />

professionalisierungstheoretisch relevanten Gesichtspunkten herangezogen<br />

und gedankenexperimentell analysiert werden können. Dabei zielt die Analyse nicht auf<br />

den Einzelfall, sondern auf eine Typologie von Handlungsproblematiken und Beziehungsaufgaben,<br />

Vereinseitigungstendenzen und subjektiven Thematiken und Gefühlen im Arbeitsbündnis,<br />

auf die dann die fachlichen und fachlich-organisatorischen Routinen bezogen werden<br />

können.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 12


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Analyse, Reflexion und Typenbildung müssen aber dennoch vom konkreten oder gedanklich<br />

konstruierten Einzelfall ausgehen, um an diesem dann auf dem Wege gedankenexperimenteller<br />

Kontrastierung i.S.v. „wie hätte es auch anders sein können?“ das Typische herausarbeiten<br />

zu können. Aus diesem Grunde können die Matrizen der Gesamtschau und der phasenbezogenen<br />

Evaluation auch als Strukturierungs- und Reflexionshilfe bei der Planung,<br />

Durchführung und Beendigung von Einzelinterventionen herangezogen werden.<br />

Aus methodisch-didaktischen Gründen empfiehlt sich eine Bearbeitung der Matrizen vor allem<br />

in einer Gruppe von Fachkräften i.S.e. professionalisierungstheoretisch geleiteten Gruppendiskussion.<br />

Hierdurch sind am ehesten Reichhaltigkeit der Erfahrung sowie Stimmigkeit<br />

und Schlüssigkeit ihrer professionalisierungstheoretisch geleiteten Reflexion sicherzustellen.<br />

Formal stellen die Matrizen ein Ordnungs- und Orientierungsschema dar, mit dessen Hilfe<br />

systematisch professionalisierungstheoretisch relevante Einzelfragen in einem jeweiligen<br />

thematischen Gesamtzusammenhang eines Arbeitsfeldes formuliert, verortet und bearbeitet<br />

werden können. Jedes Matrizenfeld repräsentiert dabei eine Einzelfrage im ausgewiesenen<br />

thematischen Gesamtzusammenhang der jeweiligen Matrix. Im Evaluationsprozess, d.h. bei<br />

der Bearbeitung der jeweiligen Fragestellungen, dienen die einzelnen Matrizenfelder zugleich<br />

als Raum zur stichwortartigen Eintragung entsprechender Ergebnisse und ihrer Darstellung im<br />

Gesamtzusammenhang.<br />

Den einzelnen Matrizen sind als Arbeitsblätter Vergrößerungen ihrer Einzelbereiche beigefügt.<br />

Hier können die im Bearbeitungsprozess notwendigen ausführlicheren Eintragungen<br />

vorgenommen werden. Das Arbeitsblatt „Speicher“ dient der Eintragung relevanter Ergebnisse<br />

und Überlegungen zur weiteren Konzeptionsentwicklung, Qualitätssicherung oder Qualitätsentwicklung.<br />

Ein weiteres Arbeitsblatt dient der weitergehenden Untersuchung und Bewertung ausgewählter<br />

Routinen aus den Matrizen zur phasenbezogenen und kooperationsbezogenen Evaluation.<br />

Hierbei können die acht zentralen fachlichen Handlungsproblematiken beruflicher<br />

sozialer Arbeit, wie sie in der Fachlichen Rahmenkonzeption herausgearbeitet wurden, als<br />

Evaluationskriterien für die Angemessenheit der in Frage stehenden fachlichen und fachlichorganisatorischen<br />

Routinen im Focus des Arbeitsbündnisses mit herangezogen werden (vgl.<br />

Fachliche Rahmenkonzeption des Vereins <strong>Behindertenhilfe</strong> 2003, 67 f). Auch kann hier die<br />

Zuverlässigkeit der Einhaltung der Routinen unter fachlich-inhaltlichen und organisatorischen<br />

Gesichtspunkten einer genaueren Prüfung unterzogen werden. Schließlich können hier auch<br />

spezifische Entwicklungsbedarfe hinsichtlich der Verbesserung von Angemessenheit und Zuverlässigkeit<br />

auf der Struktur- und Prozessebene festgehalten werden. Jeder einzelnen Matrix<br />

ist abschließend eine eigene Erläuterung beigefügt.<br />

Die Arbeitshilfe enthält weiterhin exemplarisch bearbeitete Matrizen aus verschiedenen Praxisfeldern<br />

und kann bei entsprechender Evaluationsarbeit laufend ergänzt werden. Solche<br />

bereits bearbeiteten Matrizen können dann auch zugleich als Kontrastfolien herangezogen<br />

werden, vor deren Hintergrund die Besonderheiten anderer Arbeitsfelder besonders deutlich<br />

werden.<br />

13 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Für die Arbeitshilfe ESOFAB bieten sich folgende Einsatzmöglichkeiten an:<br />

• Arbeitsfeldspezifische Evaluation beruflicher sozialer Arbeit i.V.m. Konzeptionsentwicklung,<br />

Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung.<br />

• Arbeitsfeldspezifische Evaluation beruflicher sozialer Arbeit als didaktisches Mittel<br />

i.V.m. Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen.<br />

• Strukturierungs-, Orientierungs- und Reflexionshilfe bei der Planung, Durchführung und<br />

Beendigung von individuellen Hilfen.<br />

4. Allgemeine Hinweise zur Bearbeitung des Matrizensatzes<br />

Die Form des Matrizensatzes ist so allgemein gehalten, dass er zu einer professionalisierungstheoretisch<br />

geleiteten Evaluation der verschiedenen Arbeitsfelder beruflicher sozialer<br />

Arbeit eingesetzt werden kann.<br />

Bei der Evaluation eines bestimmten Arbeitsfeldes (spezifischer Dienst / spezifische Einrichtung)<br />

empfiehlt es sich, in einem ersten Arbeitsschritt auf DIN A3 Format vergrößerte Kopien<br />

des gesamten Blanko-Matrizensatzes und der Arbeitsblätter anzufertigen und unter dem<br />

4. Abschnitt der Arbeitshilfe „Ablage vergrößerter Matrizen und Arbeitsblätter“ abzulegen. In<br />

einem weiteren Schritt wäre bei der Matrix „Beteiligung der Gesamtorganisation bei der<br />

Gestaltung von Hilfe- und Unterstützungsprozessen“ eine feldspezifische Eintragung der Prozessbeteiligten<br />

in die vorgesehenen Spalten vorzunehmen.<br />

Arbeitsfeldspezifisch bearbeitete Arbeitsblätter und Matrizen können unter dem 5.Abschnitt<br />

der Arbeitshilfe „Ablage bearbeiteter Arbeitsblätter und Matrizen aus dem Bereich ............“<br />

abgelegt werden. Bereits bearbeitete Matrizen anderer Bereiche können, wie oben<br />

daraufhingewiesen, als Bearbeitungsbeispiele und zur Kontrastierung für das zu evaluierende<br />

Arbeitsfeld herangezogen werden und werden unter Abschnitt 6 der Arbeitshilfe abgelegt.<br />

Im Verlauf der bisherigen Erprobungen der Arbeitshilfe im Rahmen von Evaluationsgruppen<br />

hat es sich bewährt, einen Protokollanten zu bestimmen, der die zu bearbeitenden Matrizen<br />

über ein Notebook und einen Beamer für alle Gruppenmitglieder sichtbar an eine Wand projiziert.<br />

Diskussionsergebnisse werden dabei vom Protokollanten sofort in die jeweilige Matrix<br />

oder das Arbeitsblatt eingetragen, sodass eine unverzügliche und mit der Gruppe abgestimmte<br />

Ergebnissicherung stattfinden kann. Auch sind bei diesem Verfahren spätere Ergänzungen<br />

oder Modifikationen problemlos einzuarbeiten. Die bearbeiteten Matrizen / Arbeitsblätter<br />

können ausgedruckt und den Mitgliedern der Evaluationsgruppe zur eigenen Ergebnissicherung,<br />

aber auch zur Nachbereitung der Sitzung oder ggf. zur Vorbereitung der nächsten Sitzung<br />

übergeben werden.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 14


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Hinsichtlich der Reihenfolge der Bearbeitung der Matrizen empfiehlt es sich, mit einer wenigstens<br />

vorläufigen Bearbeitung der Gesamtschau-Matrizen zu beginnen. Ihre Bearbeitung<br />

dient einer Vorklärung und Sichtung wesentlicher feldspezifischer Voraussetzungen und Bedingungen<br />

von Arbeitsbündnissen. Ebenso dient sie im Hinblick auf die später vorzunehmende<br />

phasenbezogene Evaluation der Entscheidungsfindung, ob hierbei ggf. typische Untergruppen<br />

von Klienten, Eltern oder Fachkräften gebildet werden sollen oder nicht.<br />

Die Bearbeitung der Matrizen der phasenbezogenen Evaluation kann dann in Auswahl und<br />

ggf. Reihenfolge je nach bestehenden Notwendigkeiten und Interessen erfolgen.<br />

15 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

II. Der ESOFAB – Matrizensatz<br />

1. Gesamtschau<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 16


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

II. ESOFAB - Matritzensatz Evaluationsbereich:<br />

I. Gesamtschau<br />

I.1.1 Matrix „Gesamtschau der wesentlichen Voraussetzungen des Arbeitsbündnisses“<br />

Personen-<br />

gruppe<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Zentrale<br />

Unterstützungs-<br />

bedarfe<br />

b) Übersicht<br />

phasen-<br />

typischer<br />

Entwicklungsaufgaben<br />

c) Mögliche<br />

Gruppen-<br />

bildungen bez.<br />

Entwicklungsaufg./<br />

Entwicklungs-<br />

erschwernissen<br />

KLIENT<br />

ELTERN / GESETZL. BETEUER<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 17<br />

FACHKRAFR / FACHKRÄFTE


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.1.2 Arbeitsblätter und Speicher<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 18


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB - Matritzensatz Evaluationsbereich:<br />

I.1. Gesamtschau<br />

I.1.2 Matrix „Gesamtschau der wesentlichen Voraussetzungen des Arbeitsbündnisses“<br />

Personen-<br />

gruppe<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Zentrale<br />

Unterstützungs-<br />

bedarfe<br />

b) Übersicht<br />

phasen-<br />

typischer<br />

Entwicklungsaufgaben<br />

c) Mögliche<br />

Gruppen-<br />

bildungen bez.<br />

Entwicklungsaufg./<br />

Entwicklungs-<br />

erschwernissen<br />

KLIENT<br />

19 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB - Matritzensatz Evaluationsbereich:<br />

I.1 Gesamtschau<br />

I.1.2 Matrix „Gesamtschau der wesentlichen Voraussetzungen des Arbeitsbündnisses“<br />

Personen-<br />

gruppe<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Zentrale<br />

Unterstützungs-<br />

bedarfe<br />

b) Übersicht<br />

phasen-<br />

typischer<br />

Entwicklungsaufgaben<br />

c) Mögliche<br />

Gruppen-<br />

bildungen bez.<br />

Entwicklungsaufg./<br />

Entwicklungs-<br />

erschwernissen<br />

(El) ELTERN / GESETZLICHE BETREUER<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 20


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB - Matritzensatz Evaluationsbereich:<br />

I.1 Gesamtschau<br />

I.1.2 Matrix „Gesamtschau der wesentlichen Voraussetzungen des Arbeitsbündnisses“<br />

Personen-<br />

gruppe<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Zentrale<br />

Unterstützungs-<br />

bedarfe<br />

b) Übersicht<br />

phasen-<br />

typischer<br />

Entwicklungsaufgaben<br />

c) Mögliche<br />

Gruppen-<br />

bildungen bez.<br />

Entwicklungsaufg./<br />

Entwicklungs-<br />

erschwernissen<br />

(F) FACHKRAFT / FACHKRÄFTE<br />

21 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.1.3 Erläuterung zur Matrix “Gesamtschau der wesentlichen Voraussetzungen<br />

des Arbeitsbündnisses“<br />

Zeile a) : Zentrale Unterstützungsbedarfe<br />

Zur Verwirklichung ihrer aufgeführten Zielsetzungen erfordert die Arbeitshilfe zunächst i.S.e<br />

professionalisierungstheoretischen Vorklärung die Untersuchung der zentralen Unterstützungsbedarfe<br />

von Nutzer, Eltern und Fachkraft, wie sie sich typischerweise in einem spezifischen<br />

Arbeitsfeld ergeben.<br />

Die Untersuchung des zentralen Unterstützungsbedarfs des Nutzers meint dabei die Klärung<br />

der Frage, ob und in welchen Hinsichten eine Einschränkung der Autonomie des Nutzers vorliegt,<br />

die dann eine stellvertretende und autonomieunterstützende Bewältigung lebenspraktischer<br />

Krisen durch eine Fachkraft bzw. Fachkräfte notwendig macht. Es geht also mit anderen<br />

Worten um die Frage, ob es sich beim Nutzer der Angebote spezifischer Einrichtungen und<br />

Dienste im Verhältnis zur Fachkraft typischerweise um einen Klienten oder eher um einen<br />

Kunden handelt.<br />

Die Untersuchung des zentralen Unterstützungsbedarfs der Fachkraft meint kehrseitig hierzu<br />

die Untersuchung der Frage, ob und in welchen Hinsichten typischerweise ein Professionalisierungserfordernis<br />

auf der Ebene des Arbeitsbündnisses gegeben ist. Im Arbeitsbündnis wird<br />

ja die angemessene stellvertretende Bewältigung lebenspraktischer Krisen als berufliche Dauerleistung<br />

gefordert und hierin ist zugleich der zentrale Unterstützungsbedarf der Fachkräfte<br />

begründet, der Professionalisierung auch als Unterstützung und Handlungsentlastung der<br />

Fachkräfte selbst erfordert.<br />

Die Untersuchung des zentralen Unterstützungsbedarfes der Eltern/ gesetzlichen Betreuer<br />

bezieht sich auf die vor allem im Bereich der Arbeit mit Kindern und Menschen mit geistiger<br />

Behinderung wesentliche Frage, ob und in welchen Hinsichten es sich bei den Eltern typischerweise<br />

• um Auftraggeber und Kunden einer sozialen Dienstleistung für ihr Kind handelt oder<br />

• um Partner in einem eigenständigen Arbeitsbündnis mit der Fachkraft, in welches das<br />

Arbeitsbündnis mit dem Kind eingebunden ist.<br />

Dies schließt die Untersuchung der Frage mit ein, ob und in welchen Hinsichten typischerweise<br />

Einschränkungen der Autonomie der Eltern selbst gegeben sein können, die neben ihrer<br />

Rolle als Partner in einem kindbezogenen gemeinsamen Arbeitsbündnis besondere fachliche<br />

Unterstützungen und Vorgehensweisen im Sinne der Berücksichtigung einer „Klientenrolle“<br />

notwendig machen.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 22


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

Die Untersuchung der zentralen Unterstützungsbedarfe in einem spezifischen Arbeitsfeld<br />

dient im Evaluationsprozess damit wichtigen Vorklärungen:<br />

1. Liegt aufgrund des zentralen Unterstützungsbedarfes des Nutzers strukturell das<br />

Erfordernis der Einrichtung und Handhabung eines Arbeitsbündnisses überhaupt<br />

vor?<br />

2. Ergeben sich mögliche typische Gruppen von Klienten,<br />

Eltern und Fachkräften, für die eine jeweils besondere Evaluation im Focus des<br />

Arbeitsbündnisses sinnvoll sein könnte?<br />

3. Können arbeitsfeldspezifisch typische Situationen vorliegen, in denen die Eltern<br />

neben ihrer „Rolle“ als Partner in einem gemeinsamen Arbeitsbündnis mit den<br />

Fachkräften fachliche Unterstützung im Sinne einer eigenen „Klientenrolle“<br />

benötigen?<br />

4. Welche fachlichen und fachlich-organisatorische Routinen kommen in solchen Situationen<br />

zur Anwendung?<br />

Zeile b) : Übersicht phasentypischer Entwicklungsaufgaben<br />

Diese Zeile dient der Sichtung und Überblickshaften Darstellung phasentypischer Entwicklungsaufgaben<br />

von Klient, Eltern und Fachkraft, wie sie typischerweise in einem bestimmten<br />

Arbeitsfeld gegeben sind. Hier können auch Hinweise zu entsprechenden weiterführenden<br />

Taxonomien, Entwicklungstheorien und Entwicklungsmodellen vermerkt werden.<br />

Zeile c) : Mögliche Gruppenbildungen in Bezug auf Entwicklungsaufgaben und/<br />

oder typischen Entwicklungserschwernissen<br />

Diese Zeile dient der Eintragung möglicher Gruppenbildungen für die phasenbezogene Evaluation<br />

unter den Gesichtspunkten von phasentypischen Entwicklungsaufgaben und / oder<br />

typischen Erschwernissen der Entwicklung.<br />

23 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

II. ESOFAB – Matrizensatz Evaluationsbereich: Gruppebildung:<br />

1. Gesamtschau<br />

1.2.1 Matrix „Gesamtschau im Arbeitsbündnis“<br />

(Kl) KLIENT (El) ELTERN /GESETZL. BETREUER (F) FACHKRAFT/FACHKRÄFTE<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Überblick :<br />

Typische Handlungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Beziehungs-<br />

komponenten<br />

diffus /<br />

spezifisch<br />

c) Typische<br />

Spannungspole<br />

in den<br />

Teilbeziehungen im<br />

Arbeitsbündnis<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

Bindung<br />

und<br />

Ablösung<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

Technologisierung<br />

und<br />

Intimisierung<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

Überanpassung<br />

und<br />

Unteranpassung<br />

(K) Klient<br />

Halten<br />

und<br />

Ablösung<br />

ermöglichen<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

Technologisierung<br />

und<br />

Intimisierung<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

Überanpassung<br />

und Unteranpassung<br />

(K) Klient<br />

Technologisierung<br />

und<br />

Intimisierung<br />

(El)Eltern<br />

gesetzl. Betreuer/<br />

Technologisierung<br />

und<br />

Intimisierung<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

Überbetonung<br />

und<br />

Vernachlässigung<br />

der Gruppe<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 24


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.2.2 Arbeitsblätter zur Bearbeitung und Speicher<br />

25 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – Matrizensatz Evaluationsbereich: Gruppebildung:<br />

1.2 Gesamtschau<br />

1.2.2 Matrix „Gesamtschau im Arbeitsbündnis“<br />

(Kl) KLIENT<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Überblick :<br />

Typische Handlungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Beziehungs-<br />

komponenten<br />

diffus /<br />

spezifisch<br />

c) Typische<br />

Spannungspole<br />

in den<br />

Teilbeziehungen im<br />

Arbeitsbündnis<br />

(El) Eltern / gesetzliche Betreuer<br />

Bindung<br />

und<br />

Ablösung<br />

(F) Fachkraft / Fachkräfte<br />

Technologisierung<br />

und<br />

Intimisierung<br />

Klienten-<br />

gruppe<br />

Überanpassung<br />

und<br />

Unteranpassung<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 26


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – Matrizensatz Evaluationsbereich: Gruppebildung:<br />

1.2 Gesamtschau<br />

1.2.2 Matrix „Gesamtschau im Arbeitsbündnis“<br />

(El) ELTERN / GESETZL. BETREUER<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Überblick :<br />

Typische Handlungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Beziehungs-<br />

komponenten<br />

diffus /<br />

spezifisch<br />

c) Typische<br />

Spannungspole<br />

in den<br />

Teilbeziehungen im<br />

Arbeitsbündnis<br />

(K) Klient<br />

Halten<br />

und<br />

Ablösung ermöglichen<br />

(F) Fachkraft / Fachkräfte<br />

Technologisierung<br />

und<br />

Intimisierung<br />

Klienten-<br />

gruppe<br />

Überanpassung<br />

und<br />

Unteranpassung<br />

27 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – Matrizensatz Evaluationsbereich: Gruppebildung:<br />

1.2 Gesamtschau<br />

1.2.2 Matrix „Gesamtschau im Arbeitsbündnis“<br />

(F) FACHKRAFT / FACHKRÄFTE<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Überblick :<br />

Typische Handlungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Beziehungs-<br />

komponenten<br />

diffus /<br />

spezifisch<br />

c) Typische<br />

Spannungspole<br />

in den<br />

Teilbeziehungen im<br />

Arbeitsbündnis<br />

(K) Klient<br />

Technologisierung<br />

und<br />

Intimisierung<br />

(El) Eltern /<br />

gesetzl. Betreuer<br />

Technologisierung<br />

und<br />

Intimisierung<br />

Klienten-<br />

gruppe<br />

Überbetonung<br />

und<br />

Vernachlässigung<br />

der Gruppe<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 28


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

1.2.3 Erläuterung zur Matrix „Gesamtschau im Arbeitsbündnis“<br />

Spalten<br />

Die Spaltenbildung der Matrix dient der Abbildung der jeweiligen Position von Klient, Eltern<br />

und Fachkraft im Arbeitsbündnis und der mit dieser Position verbundenen Perspektive auf die<br />

anderen Beteiligten unter möglicher Einbeziehung der Klientengruppe als besonderer Praxisform.<br />

Zeile a) : Überblick: Typische Handlungsproblematiken und Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

Diese Zeile dient der überblickshaften Dokumentation typischer Handlungsproblematiken und<br />

Beziehungsaufgaben, die mit der jeweiligen Position im Arbeitsbündnis verbunden sind und<br />

für ein Arbeitsfeld insgesamt charakteristisch sind.<br />

Zeile b) : Beziehungskomponenten<br />

Diese Zeile dient der Kennzeichnung der jeweiligen diffusen und spezifischen Beziehungskomponenten<br />

im Arbeitsbündnis.<br />

Zeile c) : Spannungspole der Teilbeziehungen im Arbeitsbündnis<br />

In dieser Zeile sind die Spannungspole der Teilbeziehungen im Arbeitsbündnis in ihrer je besonderen<br />

positionalen Ausgestaltung eingetragen:<br />

• Klient – Eltern Bindung und Ablösung<br />

• Eltern – Klient Halten und Ablösung ermöglichen<br />

• Klient – Fachkraft Technologisierung und Intimisierung<br />

• Fachkraft – Klient Technologisierung und Intimisierung<br />

• Fachkraft – Eltern: Technologisierung und Intimisierung<br />

• Eltern – Fachkraft Technologisierung und Intimisierung<br />

• Klient – Gruppe Überanpassung und Unteranpassung<br />

• Fachkraft – Gruppe Überbetonung und Vernachlässigung als eigen Praxisform<br />

• Eltern – Gruppe Überanpassung und Unteranpassung<br />

Sie dienen eine Vororientierung für die phasenbezogene Evaluation, um dort typische Vereinseitigungstendenzen<br />

dieser Polaritäten näher in den Blick nehmen zu können, auf welche die<br />

fachlichen und fachlich-organisatorischen Routinen ja auch eine angemessene Antwort finden<br />

müssen.<br />

29 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

2. Phasenbezogene Evaluation<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 30


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.1 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.1.1 Matrix „Einrichtung von Arbeitsbündnissen“<br />

(Kl) KLIENT (El) ELTERN /GESETZL. BETREUER (F) FACHKRAFT/FACHKRÄFTE<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungs-<br />

problematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Hand-<br />

lungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

(K) Klient<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

31 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

(K) Klient<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

2.1.2 Arbeitsblätter zur Bearbeitung und Speicher<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 32


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.1 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.1.2 Matrix „Einrichtung von Arbeitsbündnissen“<br />

(KL) KLIENT<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungs-<br />

problematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Hand-<br />

lungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

33 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.1 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.1.2 Matrix „Einrichtung von Arbeitsbündnissen“<br />

(EL) ELTERN / GESETZL: BETREUER<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungs-<br />

problematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Hand-<br />

lungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(K) Klient<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 34


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.1 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.1.2 Matrix „Einrichtung von Arbeitsbündnissen“<br />

(F) FACHKRAFT / FACHKRÄFTE<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungs-<br />

problematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Hand-<br />

lungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(K) Klient<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

35 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 36


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich:<br />

2.1.3 „EVALUATION AUSGEWÄHLTER FACHLICHER UND FACHLICH-ORGANISATORISCHER ROUTINEN“<br />

Fachliche und<br />

fachlich-organisatorische<br />

Routinen<br />

Evaluationskriterium<br />

Angemessenheit im Arbeitsbündnis<br />

Entwicklungsbedarfe (Struktur- und Prozessebene)<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 37<br />

Zuverlässigkeit in der Einhaltung<br />

Entwicklungsbedarfe ( Struktur und Prozessebene)


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.2 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.2.1 Matrix „Entfaltung und Differenzierung von Arbeitsbündnissen“<br />

(Kl) KLIENT (El) ELTERN /GESETZL. BETREUER (F) FACHKRAFT/FACHKRÄFTE<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungs-<br />

problematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Hand-<br />

lungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

(K) Klient<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

(K) Klient<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 38


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

2.2.2 Arbeitsblätter zur Bearbeitung und Speicher<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 38


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.2 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.2.2 Matrix „Entfaltung und Differenzierung von Arbeitsbündnissen“<br />

(KL) KLIENT<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungs-<br />

problematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Hand-<br />

lungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

39 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.2 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.2.2 Matrix „Entfaltung und Differenzierung von Arbeitsbündnissen“<br />

(EL) ELTERN / GESETZL: BETREUER<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungs-<br />

problematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Hand-<br />

lungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(K) Klient<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 40


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.2 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.2.2 Matrix „Entfaltung und Differenzierung von Arbeitsbündnissen“<br />

(F) FACHKRAFT / FACHKRÄFTE<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungs-<br />

problematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Hand-<br />

lungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(K) Klient<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

41 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich:<br />

2.2.3 „EVALUATION AUSGEWÄHLTER FACHLICHER UND FACHLICH-ORGANISATORISCHER ROUTINEN“<br />

Evaluationskriterium<br />

Fachliche und<br />

fachlich-organisatorische<br />

Routinen<br />

Angemessenheit im Arbeitsbündnis<br />

Entwicklungsbedarfe (Struktur- und Prozessebene)<br />

Zuverlässigkeit in der Einhaltung<br />

Entwicklungsbedarfe ( Struktur und Prozessebene)<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 42


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.3 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.3.1 Matrix „Beendigung von Arbeitsbündnissen“<br />

(Kl) KLIENT (El) ELTERN /GESETZL. BETREUER (F) FACHKRAFT/FACHKRÄFTE<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Handlungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

(K) Klient<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

43 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

(K) Klient<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

2.3.2 Arbeitsblätter zur Bearbeitung und Speicher<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 44


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.3 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.3.2 Matrix „Beendigung von Arbeitsbündnissen“<br />

(KL) KLIENT<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungs-<br />

problematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Hand-<br />

lungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

45 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.3 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.3.2 Matrix „Beendigung von Arbeitsbündnissen“<br />

(EL) ELTERN / GESETZL: BETREUER<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungs-<br />

problematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Hand-<br />

lungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(K) Klient<br />

(F) Fachkraft/<br />

Fachkräfte<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 46


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich: Gruppenbildung:<br />

2.3 Phasenbezogene Evaluation<br />

2.3.2 Matrix „Beendigung von Arbeitsbündnissen“<br />

(F) FACHKRAFT / FACHKRÄFTE<br />

Beziehung<br />

Evaluations-<br />

Aspekte<br />

a) Typische<br />

Handlungs-<br />

problematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

im Arbeitsbündnis<br />

b) Typische<br />

Vereinseitigungs-<br />

tendenzen und<br />

Entwicklungs-<br />

gefährdungen<br />

in den<br />

Teilbeziehungen<br />

c) Durch Hand-<br />

lungsproblematiken<br />

und<br />

Beziehungsaufgaben<br />

nahegelegte<br />

typische<br />

Vorstellungen,<br />

Themen ,Wünsche<br />

und Gefühle<br />

d ) Vorhandene<br />

oder denkbare<br />

fachliche und<br />

fachlich –<br />

organisatorische<br />

Routinen<br />

(K) Klient<br />

(El) Eltern/<br />

gesetzl. Betreuer<br />

(Gr) Klienten-<br />

gruppe<br />

47 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich:<br />

2.3.3 „EVALUATION AUSGEWÄHLTER FACHLICHER UND FACHLICH-ORGANISATORISCHER ROUTINEN“<br />

Evaluationskriterium<br />

Fachliche und<br />

fachlich-organisatorische<br />

Routinen<br />

Angemessenheit im Arbeitsbündnis<br />

Entwicklungsbedarfe (Struktur- und Prozessebene)<br />

49 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7<br />

Zuverlässigkeit in der Einhaltung<br />

Entwicklungsbedarfe ( Struktur und Prozessebene)


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

2.4 Erläuterung zur den phasenbezogenen Matrizen<br />

Die Matrizen zur phasenbezogenen Evaluation sind formal in gleicher Weise aufgebaut.<br />

Zeile a) : Typische Handlungsproblematiken und Beziehungsaufgaben im Arbeits<br />

bündnis<br />

Diese Zeile dient der Feststellung typischer überindividueller Handlungsproblematiken und<br />

Beziehungsaufgaben aus der jeweiligen positionalen Perspektive im Arbeitsbündnis, wie sie<br />

sich in der Einrichtungsphase, Durchführungsphase und Beendigungsphase ergeben.<br />

Zeile b) : Typische phasenspezifische Vereinseitigungstendenzen und Entwicklungs<br />

gefährdungen in den Teilbeziehungen im Arbeitsbündnis<br />

Diese Zeile dient der Erfassung typischer und phasenspezifischer Vereinseitigungstendenzen<br />

der Spannungspole in den Teilbeziehungen im Arbeitsbündnis, die als dauerhafte zu einer<br />

Gefährdung von Beziehung und Entwicklung führen können.<br />

Zeile c) : Durch Handlungsproblematik und Beziehungsaufgaben nahegelegte typi<br />

sche Vorstellungen, Themen, Wünsche und Gefühle<br />

Diese Zeile dient der Erfassung typischer Vorstellungen, Themen Wünsche und Gefühle, die<br />

mit einer bestimmten Position im Arbeitsbündnis im Hinblick auf die anderen Positionsinhaber<br />

nahegelegt sind.<br />

Zeile d) : Vorhandene oder denkbare fachliche und fachlich-organisatorische Rou<br />

tinen<br />

Diese Zeile dient einer Sichtung und Reflexion vorhandener oder denkbarer Routinen, die<br />

sich auf die Handhabung der positionsspezifischen Handlungsproblematiken und Beziehungsaufgaben,<br />

Vereinseitigungstendenzen und subjektiven Perspektiven beziehen.<br />

Es geht mit anderen Worten um die Frage, „was tun wir eigentlich oder was könnten wir eigentlich<br />

tun, um den Klienten, die Eltern und uns selbst in der jeweiligen Position und subjektiven<br />

Perspektive angemessen zu verstehen und zu unterstützen?“.<br />

Eine weitergehende Evaluation ausgewählter einzelner Routinen kann dann mit Hilfe des<br />

hierfür vorgesehenen Arbeitsblattes erfolgen.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 49


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

3. Evaluation der Kooperationsstrukturen<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 50


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich:<br />

3. Evaluation der Kooperationsstrukturen<br />

3.1 Matrix „Beteiligung der Gesamtorganisation bei der Gestaltung von Hilfe- und Unterstützungsprozessen“<br />

Prozeß-<br />

beteiligung<br />

von<br />

a)<br />

Prozeßbezug<br />

Einzelne<br />

Fachkraft<br />

b)<br />

ZB.<br />

Teilteam 1 /<br />

Teilgruppe1 von<br />

Fachkräften<br />

c)<br />

Z.B.<br />

Teilteam 2 /<br />

Teilgruppe 2 von<br />

Fachkräften<br />

d)<br />

e)<br />

Z.B.<br />

Gesamtteam<br />

Fachkräfte<br />

Leitung<br />

Planung<br />

KLIENT<br />

Durchführung<br />

Reflexion/<br />

Kontrolle<br />

Planung<br />

KLIENTENGRUPPE<br />

Durchführung<br />

51 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7<br />

Reflexion/<br />

Kontrolle<br />

Planung<br />

ALLE KLIENTEN<br />

Durchführung<br />

Reflexion/<br />

Kontrolle


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

3.2 Arbeitsblätter zur Bearbeitung und Speicher<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 52


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich:<br />

3. Evaluation der Kooperationsstrukturen<br />

3.2 Matrix „Beteiligung der Gesamtorganisation bei der Gestaltung von Hilfe- und Unterstützungsprozessen“<br />

Prozeßbezug<br />

Prozeß-<br />

beteiligung<br />

von<br />

a)<br />

Einzelne<br />

Fachkraft<br />

b)<br />

ZB.<br />

Teilteam 1 /<br />

Teilgruppe1 von<br />

Fachkräften<br />

c)<br />

Z.B.<br />

Teilteam 2 /<br />

Teilgruppe 2 von<br />

Fachkräften<br />

d)<br />

e)<br />

Z.B.<br />

Gesamtteam<br />

Fachkräfte<br />

Leitung<br />

Planung<br />

KLIENT<br />

Durchführung<br />

Reflexion/<br />

Kontrolle<br />

53 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich:<br />

3. Evaluation der Kooperationsstrukturen<br />

3.2 Matrix „Beteiligung der Gesamtorganisation bei der Gestaltung von Hilfe- und Unterstützungsprozessen“<br />

Prozeßbezug<br />

Prozeß-<br />

beteiligung<br />

von<br />

a)<br />

Einzelne<br />

Fachkraft<br />

b)<br />

ZB.<br />

Teilteam 1 /<br />

Teilgruppe1 von<br />

Fachkräften<br />

c)<br />

Z.B.<br />

Teilteam 2 /<br />

Teilgruppe 2 von<br />

Fachkräften<br />

d)<br />

e)<br />

Z.B.<br />

Gesamtteam<br />

Fachkräfte<br />

Leitung<br />

Planung<br />

KLIENTENGRUPPE<br />

Durchführung<br />

Reflexion/<br />

Kontrolle<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 54


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

ARBEITSBLATT<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich:<br />

3. Evaluation der Kooperationsstrukturen<br />

3.2 Matrix „Beteiligung der Gesamtorganisation bei der Gestaltung von Hilfe- und Unterstützungsprozessen“<br />

Prozeßbezug<br />

Prozeß-<br />

beteiligung<br />

von<br />

a)<br />

Einzelne<br />

Fachkraft<br />

b)<br />

ZB.<br />

Teilteam 1 /<br />

Teilgruppe1 von<br />

Fachkräften<br />

c)<br />

Z.B.<br />

Teilteam 2 /<br />

Teilgruppe 2 von<br />

Fachkräften<br />

d)<br />

e)<br />

Z.B.<br />

Gesamtteam<br />

Fachkräfte<br />

Leitung<br />

Planung<br />

ALLE KLIENTEN<br />

Durchführung<br />

Reflexion/<br />

Kontrolle<br />

55 © <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

II. ESOFAB – MATRIZENSATZ Evaluationsbereich:<br />

3.3 „EVALUATION AUSGEWÄHLTER FACHLICHER UND FACHLICH-ORGANISATORISCHER ROUTINEN“<br />

Evaluationskriterium<br />

Fachliche und<br />

fachlich-organisatorische<br />

Routinen<br />

Angemessenheit im Arbeitsbündnis<br />

Entwicklungsbedarfe (Struktur- und Prozessebene)<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 56<br />

Zuverlässigkeit in der Einhaltung<br />

Entwicklungsbedarfe ( Struktur und Prozessebene)


<strong>Vereinshandbuch</strong> <strong>Band</strong> 3<br />

Stand 01.08.2012<br />

3.4 Erläuterung zur Matrix „Beteiligung der Gesamtorganisation bei der Gestaltung<br />

von Hilfe- und Unterstützungsprozessen“<br />

Die Matrix zur phasenbezogenen Evaluation ging von der entfalteten Mikrostruktur des Arbeitsbündnisses<br />

aus und fragte aus dieser Perspektive nach gegebenen oder denkbaren fachlichen<br />

und fachlich-organisatorischen Routinen.<br />

Die Matrix zur Kooperationsstruktur geht dagegen von der Gesamtorganisation einer Einrichtung<br />

oder eines Dienstes aus und fragt systematisch, in welcher Weise die verschiedenen Teile<br />

des Gesamtorganisation an der Planung, Durchführung und Reflexion/ Kontrolle von Hilfe-<br />

und Unterstützungsprozessen beteiligt sind. Damit wird der Focus der Betrachtung und Reflexion<br />

auf die Organisation als ganze und ihre fachlich-organisatorischen Routinen gelenkt.<br />

Eine weitergehende Evaluation ausgewählter fachlich-organisatorischer Routinen kann dann<br />

wieder mit Hilfe eines gesonderten Arbeitsblattes vorgenommen werden.<br />

© <strong>Behindertenhilfe</strong> in Stadt und Kreis <strong>Offenbach</strong> e.V., <strong>Offenbach</strong> 2005 <strong>Kapitel</strong> 1, Anhang 7 57

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!