Herbert Scherer Kulturelle Segregation ... - Spinnenwerk
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<strong>Herbert</strong> <strong>Scherer</strong><br />
Inhalt<br />
<strong>Kulturelle</strong> <strong>Segregation</strong> – Zweisprachigkeit<br />
– Integration – Assimilation<br />
(Begriffe, kontroverse Ansätze, pädagogische Konflikte)<br />
zur Themenstellung S.2<br />
z.B. Doppelherrschaft oder „no go area“ S.2<br />
z.B. Kriminalstatistik S.3<br />
z.B. Deutsche Sprache S.3<br />
z.B. Kopftuchverbot S.4<br />
Multikulturelle Gesellschaft S.4<br />
Die Ambivalenz des Fremden S.5<br />
Das Fremde als Nicht-Ich S.5<br />
Das Fremde als Ich-Erweiterung S.5<br />
Das Fremde als Herausforderung S.5<br />
Das Fremde als Bedrohung S.6<br />
“Happy Ghetto” S.6<br />
Staatsbürgerschaft und Nationalität S.7<br />
Hier spricht man Deutsch S.9<br />
Kanakisch (ein kleiner Exkurs) S.10<br />
Jane Addams und das Hull House S.11<br />
Die Zukunft liegt im Dialog S.12<br />
Eine Einladung S.14<br />
1
Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
Mein Beitrag, in dem ich für den Mitveranstalter spreche (nämlich den Verband für sozialkulturelle<br />
Arbeit, Dachverband von Nachbarschaftszentren, Bürgerhäusern und<br />
Gemeinwesenprojekten) hat in der Dramaturgie dieser Tagung folgende Aufgabe:<br />
Er soll den Bezug herstellen zwischen dem allgemeinen Thema, den vorgestellten<br />
Praxisbeispielen (die uns vor allem am zweiten Tag erwarten) und Fragestellungen, wie<br />
sie sich aus der Praxis und für die Praxis der Einrichtungen vor Ort / in den Stadtteilen<br />
ergeben.<br />
Als wir uns vor ein paar Monaten über die Themenstellung absprechen wollten, schlug ich<br />
spontan den Titel vor "Friede, Freude, Multikulti oder die Grenzen der Integration". Das<br />
hatte seinen Grund, den ich gleich erläutern werde, aber heute bin ich froh, dass wir uns<br />
schließlich auf einen weniger provokativen Titel geeinigt haben, der mir besser erlaubt,<br />
auch das in meinen Beitrag einzubeziehen, was ich in den letzten Monaten als<br />
Phasenverschiebung in der öffentlichen Debatte wahrzunehmen glaube.<br />
Was stand hinter meinem spontanen Themenvorschlag?<br />
Nach ersten Gesprächen über das Programm der Tagung hatte ich den Eindruck, dass wir<br />
es uns möglicherweise etwas zu leicht machen, wenn wir uns mehrere Tage nur mit dem<br />
Schönen und Guten beschäftigen, mit best practice Projekten im Bereich Migration und<br />
Integration. Müssten wir uns nicht auch mit unseren Schwierigkeiten konfrontieren, uns an<br />
ihnen "abarbeiten", um zu Lösungen zu kommen, die nicht nur auf einem Wunschzettel<br />
landen, sondern unmittelbar für die tägliche Praxis, aber auch für unsere Teilnahme an der<br />
gesellschaftlichen Auseinandersetzung um den richtigen Kurs in der Migrationsfrage<br />
Bedeutung bekommen?<br />
Ich wollte den Tagungsteilnehmern, von denen anzunehmen war, dass sie zu 99% zu<br />
denen gehören würden, die guten Willens sind und vorurteilsfrei für Verbesserungen im<br />
Zusammenleben zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Stadtteil<br />
praktisch eintreten, ein paar Nüsse zu knacken geben. Das schien mir sinnvoller, als in<br />
einer Art Festvortrag "Eulen nach Athen zu tragen" und in wohlgesetzten Worten neue<br />
Begründungszusammenhänge für das zu finden, in dem wir uns alle (im Großen und<br />
Ganzen) einig sind.<br />
Also ein bisschen "advocatus diaboli" spielen. Aber nicht nur spielen: es stand durchaus<br />
der Wunsch dahinter, von erfahrenen Leuten, wie sie zu solch einer Tagung kommen,<br />
praxisrelevante Antworten auf Fragen zu bekommen, die sich ergeben, wenn man immer<br />
wieder mit Situationen konfrontiert ist, die sich nicht einfach mit ein bisschen gutem Willen<br />
bewältigen lassen.<br />
z.B.<br />
Doppelherrschaft oder "no go area":<br />
Es ist jetzt etwas länger als ein Jahr her, dass einer unserer Mitarbeiter (Honorarkraft aus<br />
der Dominikanischen Republik) ein Mitglied der von ihm betreuten Jugendgruppe davor<br />
bewahren wollte, dass ihm von zwei anderen Jugendlichen sein Fahrrad geklaut wurde.<br />
2
Das gelang durch entschlossene verbale Intervention. Zwanzig Minuten später sah sich<br />
dieser Mitarbeiter einer Gruppe von mehr als 20, z.T. erwachsenen Kumpels der<br />
potenziellen Räuber gegenüber, die ihm ohne viel Federlesens klarmachten, dass in<br />
diesem Stadtgebiet andere die Regeln des Zusammenlebens bestimmen und<br />
überwachen: Er wurde mit einer Reihe von Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Den<br />
Stadtteil hat er seitdem nicht mehr betreten. Die von ihm betreuten Jugendlichen haben<br />
sich nach dem Vorfall nie wieder getroffen. Die betroffene Einrichtung war dafür eher<br />
dankbar, wurde sie doch durch diesen Rückzug davor bewahrt, in die Schusslinie der<br />
selbst ernannten Stadtteilwächter zu geraten. Ein klassischer ausländerfeindlicher Akt? Ja,<br />
unser Mitarbeiter hat eine dunkle Hautfarbe. Nein, die Angreifer waren junge Leute mit<br />
türkischem und arabischem "Migrationshintergrund."<br />
Kriminalstatistik<br />
Die Tatverdächtigenstatistik der Berliner Polizei weist eine signifikante Differenz des<br />
Anteils von Jugendlichen mit Migrationshintergrund am vergleichbaren<br />
Bevölkerungsquerschnitt im Vergleich zu ihrem Anteil an der Zahl entsprechender<br />
Tatverdächtigengruppen aus. Bei der normalen Kriminalität ist der Anteil etwa doppelt so<br />
hoch wie er statistisch zu erwarten wäre, bei Raubtaten ist er sogar viermal so hoch. In der<br />
Vergangenheit gab es eine große Zurückhaltung bei der Veröffentlichung solcher Zahlen,<br />
wollte man doch alles vermeiden, was "Wasser auf die Mühlen von Rechtsradikalen" sein<br />
könnte. Damit hat man sich aber zugleich daran gehindert, dem Phänomen einer<br />
zunehmenden Distanz zu unserer vorherrschenden Moral und Rechtsordnung adäquat zu<br />
begegnen.<br />
Solche und ähnliche Beispiele wollte ich Ihnen vorlegen, um mit Ihnen darüber zu<br />
sprechen, an welchen Punkten unser multikultureller guter Wille vielleicht nicht ausreicht<br />
und wir ein bisschen mehr an Klarheit und Entschlossenheit entwickeln müssen.<br />
Aber, wie gesagt, heute bin ich froh, dass die Themenstellung meines Beitrages offener<br />
angelegt ist, denn der öffentliche Diskurs hat sich - wenigstens ist das meine<br />
Wahrnehmung - in den letzten Monaten und Wochen verändert.<br />
Die in den Beispielen dargestellten problematischen Entwicklungen werden nicht länger<br />
totgeschwiegen und ihre Skandalisierung wird nicht länger den "Rechten" überlassen,<br />
allerdings ist eine große Verunsicherung zu spüren in der Frage, welches die richtigen<br />
Schlussfolgerungen aus der Feststellung problematischer <strong>Segregation</strong>stendenzen sein<br />
sollen.<br />
Dazu wieder zwei Beispiele:<br />
Deutsche Sprache<br />
In der Teamsitzung eines Jugendprojektes in Berlin-Marzahn ging es letzte Woche um den<br />
Druck eines Flyers, der die Arbeit des Projektes vorstellen und zu einer Veranstaltung im<br />
Stadtteil einladen sollte. Viele der Jugendlichen und ihrer Familien, die durch den Flyer<br />
erreicht werden sollten, sprechen untereinander Russisch. In der Teamsitzung, die noch<br />
vor ein paar Monaten mit einiger Selbstverständlichkeit beschlossen hätte, den Flyer<br />
zweisprachig herauszubringen, gab es jetzt - unter dem Einfluss der öffentlichen Debatte<br />
zum Verhältnis von Sprache und Integration - eine lange Diskussion, die sich mit dem<br />
Argument auseinanderzusetzen hatte: "Die sollen doch Deutsch sprechen, um sich nicht<br />
weiter abzukapseln. Wir unterstützen das am besten, wenn wir sie nicht auch noch in<br />
russischer Sprache ansprechen und sie damit im gesellschaftlichen Abseits festhalten ..."<br />
3
Kopftuchverbot<br />
Der Berliner Ausländerbeauftragte Günter Pienig zeigte sich in der letzten Woche empört<br />
über das Verhalten eines "Freien Trägers der Jugendarbeit", der an einer Berliner Schule<br />
eine sog. Schulstation betreibt und auf nachdrücklichen Wunsch der Schule eine<br />
Erzieherin aus der Einrichtung abgezogen hat, die als Muslimin ein Kopftuch trug. Damit<br />
hat ein "Freier Träger" im Vorgriff auf möglicherweise zu erwartende landesgesetzliche<br />
Regelungen für den öffentlichen Dienst einem faktischen Berufsverbot für religiös<br />
motivierte Kopftuchträgerinnen den Weg geebnet.<br />
Ich denke, dass wir, wenn wir jetzt hier im Saal eine Umfrage machen würden unter dem<br />
Motto "Wie hätten Sie entschieden", ein durchaus gespaltenes Ergebnis bekämen. Es<br />
dürfte sich also lohnen, sich den hiermit verbundenen Fragen etwas genauer zu widmen.<br />
Der (entschärfte) Titel meines Beitrages gibt mir dazu Gelegenheit. Nach wie vor<br />
beabsichtige ich allerdings, mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten, nicht zuletzt,<br />
um Hintergrundanregungen für die morgige Diskussion in den Arbeitsgruppen zu geben.<br />
MULTIKULTURELLE GESELLSCHAFT<br />
Als unser Verband (für sozial-kulturelle Arbeit) im Jahre 1988 eine Konferenz für unseren<br />
internationalen Dachverband, die International Federation of Settlements and<br />
Neighbourhood Centres ausrichtete, hielt der damalige Vorsitzender Dieter von Kietzell<br />
(morgen Moderator der Arbeitsgruppe "i") einen programmatischen Vortrag unter dem Titel<br />
"Auf dem Weg in eine multikulturelle Gesellschaft". Das wurde damals von vielen als<br />
Provokation begriffen, denn die Vorstellung von einer multikulturellen Gesellschaft war<br />
noch keineswegs salonfähig. In seinem Vortrag warnte Dieter von Kietzell aber auch<br />
schon vor jener möglichen Verharmlosung des Begriffes, die wenige Jahre später dazu<br />
beitragen sollte, dass er eine gewisse Beliebigkeit und daraus resultierend Beliebtheit<br />
bekam, wenn er die Frage stellte: "Ist es eine deutsche Eigenart, daß sich die meisten<br />
Menschen hier zu Lande unter einer kulturellen Begegnung einen harmonischen Verlauf<br />
wünschen, der Allen Freude und Unterhaltung bringt und niemanden stört?"<br />
Das Leitbild einer multikulturellen Gesellschaft, wie es Anfang der neunziger Jahre<br />
formuliert wurde, hatte u.a. den Sinn, den Deutschen behutsam den Gedanken<br />
nahezubringen, dass sie in einem Land lebten, in dem Einwanderung stattgefunden hatte<br />
und weiter stattfinden würde. Dazu äußert sich der Politikwissenschaftler Claus Leggewie<br />
1990, nachdem er die Feststellung getroffen hat "Die multikulturelle Gesellschaft haben wir<br />
schon" folgendermaßen: "Die meisten Visionen multikulturellen Zusammenlebens sind (...)<br />
klinisch konfliktfrei; sie entsprechen (...) Projektionen besseren Lebens".<br />
Der schwärmerische, zuweilen folkloristische Multikulturalismus, der durchaus mit einer<br />
wohlwollend toleranten Ignoranz der real existierenden Probleme, Verwerfungen und<br />
Konflikte einhergehen kann, reicht nicht unbedingt als Konzept, wenn wir es mit einem<br />
wirklichen Einwanderungsland zu tun haben. Außer es geht um einen erweiterten<br />
Kulturbegriff, der sich auf sämtliche, auch die politischen und/oder religiösen Vorstellungen<br />
vom Leben erstreckt und akzptiert, dass Kollisionen und Auseinandersetzungen<br />
vorprogrammiert sind.<br />
4
DIE AMBIVALENZ DES FREMDEN<br />
Das Konzept "Multi-Kulti" ist nicht tot (in Berlin haben wir sogar einen öffentlich-rechtlichen<br />
Radiosender gleichen Namens), aber es hat im Verlauf der neunziger Jahre an Zugkraft<br />
eingebüßt. Dazu hat einerseits eine bis dato unbekannte radikale Ausländerfeindlichkeit<br />
beigetragen, andererseits die begriffliche Verlagerung der gesellschaftlichen und<br />
politischen Debatte auf die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei. Eigentlich<br />
sind das zwei Seiten derselben Medaille: es gibt ein Gespür dafür, dass mehr auf dem<br />
Spiel, bzw. auf der Tagesordnung steht als eine relative unverbindliche Bereicherung<br />
unseres kulturellen Lebens. Es deutet sich an, dass das eine oder andere, was uns<br />
bislang selbstverständlich war, im Zuge dieser Entwicklung auf den Prüfstand geraten<br />
könnte.<br />
Das führt zu einer Verschärfung der Gegensätze zwischen Pro und Kontra, weil die eine<br />
Seite Veränderungen will, während sich die andere Seite dadurch massiv bedroht fühlt.<br />
Folgende Haltungen können wir beobachten:<br />
a) Begeisterte Begrüßung des Fremden als Nicht-Ich<br />
Indem ich mich mit dem Fremden identifiziere, streife ich das ab, was mir an mir selbst<br />
nicht gefällt. Eine in Deutschland beliebte Haltung, um sich radikal von der historischen<br />
Last der Verbrechen des Nationalsozialismus zu befreien. Varianten dieses<br />
Reaktionstypus können z.B. sein: Konvertieren zum Islam oder zum Buddhismus, besser<br />
noch: Mitgliedschaft in der neu entstandenen Gemeinschaft der "Antideutschen" (wie<br />
besonders prägnant die "Antideutsch-Kommunistische Gruppe Leipzig", die auf<br />
Demonstrationen mit roten Fahnen und israelischen Nationalflaggen auftritt und jüngst<br />
ihren Internet-Auftritt nicht weiter aktualisiert hat, weil sie feststellen musste, "dass die<br />
Positionen innerhalb der Gruppe zu weit auseinandergehen, als dass die bisherige<br />
Zusammenarbeit fortführbar wäre")<br />
b) Wahrnehmen des Fremden als Ich-Erweiterung<br />
Diese Haltung hat viel Ähnlichkeit mit dem Multi-Kulti-Konzept. Ich erkenne im Fremden<br />
verdeckte Möglichkeiten meiner selbst. Ein bisschen, als wenn ich einen Roman lese oder<br />
besser noch die Biographie eines Menschen, mit deren Hilfe ich mich (in der Phantasie)<br />
über die Beschränktheiten meines Alltagslebens erheben kann. Im Fremden sehe ich<br />
Realität gewordene Wunschbilder, die mich beflügeln können. Vielleicht ist es nur das Fest<br />
mit seiner besonderen Atmosphäre, vielleicht ist es die Küche, die Musik oder die<br />
Kleidung, die mich begeistert und die (ganz real) mein Leben bereichern kann.<br />
c) Das Fremde als Herausforderung<br />
Gesellschaftlich erreichter Konsens und ungeschriebene Verabredungen können in Frage<br />
gestellt werden, falls Menschen, die neu dazu kommen, das Recht eingeräumt wird, ihre<br />
Vorstellungen gleichberechtigt einzubringen. Das kann sich auf die Rolle der Familie, der<br />
Geschlechter, der Tradition, der Religion usw. beziehen. Einer entsprechenden<br />
Auseinandersetzung bin ich nur gewachsen, wenn ich eigene Überzeugungen habe, die<br />
mir klar sind, die ich einbringen und für die ich werben kann. Solch eine<br />
Auseinandersetzung ergebnisoffen zuzulassen, fällt besonders schwer, wenn man es nie<br />
lernen musste, sich über die Grundsätze des Zusammenlebens eigene Gedanken zu<br />
machen. (Es sei daran erinnert, dass wir noch nicht einmal unsere Verfassung durch eine<br />
bewusste Entscheidung angenommen haben, nicht nach dem II. Weltkrieg und nicht nach<br />
5
der Vereinigung - sie hat einfach durch Gewohnheitsrecht unhinterfragte Geltung<br />
erworben).<br />
d) Das Fremde als Bedrohung<br />
Einschlägige Foren im Internet, auch die von seriösen Anbietern wie dem Fernsehsender<br />
ntv, sind nach dem Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichtes voll von<br />
Stellungnahmen, in denen die Angst vor Überfremdung sich Luft macht.<br />
Zitate:<br />
"Ob es langfristig gut für Deutschland ist ?? (...) In 30 Jahren wird es hier Kopftuchzwang<br />
geben ... Meine Prognose"<br />
oder<br />
"WENN WIR SO tolerant sind .... sind 'DIE' auch so tolerant zu uns??? Gibt es die<br />
gezeigte Toleranz auch im Umkehrschluss ??? UND WAS IST .... wenn nicht???"<br />
oder<br />
"Warum ist eigentlich in Deutschland für Ausländer fast alles erlaubt? Warum müssen<br />
diese Ausländer sich in Deutschland nicht deutschen Sitten und Gebräuchen anpassen.<br />
Genauso wird es doch von den Deutschen auch im Ausland erwartet. (...) Ich habe das<br />
Gefühl, die Ausländer haben in Deutschland mehr Rechte als wir Deutschen."<br />
oder<br />
"Wird nicht mehr lange dauern dann hockt der erste Mullah unter der Glaskuppel in Berlin<br />
und plädiert dafür, den Gottesstaat einzuführen. Wer fremd geht, riskiert dann eben, ein<br />
bisschen gesteinigt zu werden und wer ein Fahrrad klaut, dem wird seine Schreibhand<br />
abgehackt."<br />
Dass die Debatte hitzig wird, hat nicht nur mit den schon vollzogenen und weiter<br />
absehbaren (Stichwort EU-Erweiterung) objektiven Veränderungen im Innern unseres<br />
Landes zu tun, sondern auch damit, dass damit verbundene Ängste von Teilen der Politik<br />
populistisch verstärkt werden und dass seit dem 11. September 2001 deutlich ist, dass<br />
hinter manch verbalradikaler Formulierung eine verdammt reale Bedrohung stecken kann,<br />
die schon so weit zum Selbstläufer geworden ist, dass sie sich durch Entgegenkommen<br />
nicht besänftigen und abschwächen lässt sondern im Gegenteil an Potenz gewinnt.<br />
„HAPPY GHETTO“<br />
Als ich vor ein paar Jahren zum erstenmal von einem Kollegen mit dem Begriffspaar<br />
"Happy Ghetto" konfrontiert wurde, fand ich das gar nicht witzig. Hatte ich doch meine<br />
Idealvorstellung von gemischten Wohngebieten im Kopf, die gut nachbarschaftliche<br />
Beziehungen fördern und ihren Bewohnern, insbesondere den Jugendlichen die Chance<br />
geben, sich an unterschiedlichen Lebensmodellen zu orientieren, statt durch<br />
Konformitätsdruck auf Denkmuster und Verhaltensweisen festgelegt zu werden, die ihnen<br />
den Zugang zum Rest der Gesellschaft erschweren. Ich fand es durchaus vertretbar, das<br />
richtige Mischungsverhältnis notfalls durch restriktive Eingriffe von oben (wie<br />
Zuzugssperre für bestimmte Bewohnergruppen) herzustellen.<br />
Heute sehe ich das etwas differenzierter. Tatsächlich gibt es ja nicht nur die erzwungene<br />
„Ghettobildung“, die wir bei dem Begriff als erstes assoziieren, sondern auch das freiwillige<br />
Zusammenrücken von Menschen, die etwas gemeinsam haben, was sie von der Mehrheit<br />
der anderen unterscheidet. Ihr Motiv ist, dass sie sich bei ihresgleichen wohler fühlen und<br />
- mit Recht - erwarten, dass sie dort mehr Unterstützung in informellen familiären und<br />
nachbarschaftlichen Netzen finden werden als anderswo.<br />
6
Bei einem Besuch in New York konnte ich neulich sehen, wie in einem "richtigen<br />
Einwanderungsland" ethnisch homogene Wohngebiete zu den als selbstverständlich<br />
geltenden Startbedingungen für die jeweiligen Neuankömmlinge gehören. In den<br />
entsprechenden Gebieten in der Lower East Side von Manhattan sind einige Regeln der<br />
Mehrheitsgesellschaft außer Kraft gesetzt, das betrifft Arbeitsschutz und Mindestlöhne<br />
genauso wie die Hygiene der Wohnverhältnisse. Allerdings bedeutet es auch, dass die<br />
Hürden für den Einstieg in Arbeit und Wohnen extrem niedrig sind.<br />
Die Frage ist also vielleicht weniger, ob es solche Wohngebiete gibt, sondern welche<br />
Funktion sie für ihre Bewohner haben, vor allem, ob sie Start- und Durchgangs- oder<br />
Endstation sind. Das hängt nun wieder mit ihrer Gestaltung zusammen. Die besonders<br />
berüchtigten so genannten ghettoähnlichen Wohngebiete, die wir in Berlin kennen,<br />
zeichnen sich gerade nicht dadurch aus, dass sie heruntergewirtschafteten Wohnraum zu<br />
günstigen Preisen anbieten (wie früher das berühmte Kreuzberg SO36) sondern dass sie<br />
gut ausgestatteten Wohnraum mit Sozialbindung zu Mietpreisen anbieten, die sich arme<br />
Leute nur leisten können, wenn "das Amt" die Kosten übernimmt. Die<br />
Rahmenbedingungen sind kontraproduktiv. Sie bieten keinen Anreiz durchzustarten und<br />
das Wohngebiet möglichst bald hinter sich zu lassen, sondern sie verführen im Gegenteil<br />
dazu, voll auf die andauernde Alimentierung zu setzen.<br />
Hier tut sich übrigens ein interessanter Zielkonflikt auf.<br />
Einige Wohngebiete des gerade beschriebenen Typus sind als<br />
Quartiermanagementgebiete / Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf<br />
ausgewiesen. Als Indikator für steigende Wohnzufriedenheit und den Erfolg der<br />
eingesetzten Fördermittel wird gemeinhin der statistisch messbare Rückgang der<br />
Mieterfluktuation angenommen. "Aber", so ein leitender Beamter des<br />
Bundeswohnungsbauministeriums in einer informellen Gesprächsrunde, "müssten wir<br />
nicht vielleicht eher die Zunahme an Wegzugstendenzen als Erfolg unserer Maßnahmen<br />
werten?"<br />
STAATSBÜRGERSCHAFT UND NATIONALITÄT<br />
Als Geschäftsführer des Berliner Verbandes der Nachbarschaftsheime bekam ich nach<br />
1990 häufig Bewerbungen auf den Tisch, bei denen im beigefügten tabellarischen<br />
Lebenslauf die Frage nach der Staatsangehörigkeit mit "BRD" beantwortet worden war.<br />
Damit konnte ich zwar auf einen Blick erkennen, dass die Bewerbung von jemand aus<br />
dem Osten kam (bei den Westlern stand nämlich an dieser Stelle "deutsch"), aber eine<br />
plausible Erklärung hatte ich nicht für dieses Phänomen, bis ich bei einem Besuch in<br />
Rußland mitbekam, dass in den dortigen Pässen bis heute zwei Eintragungen<br />
vorgenommen werden, nämlich einer für die Staatbürgerschaft und einer für die<br />
Nationalität - z.B. Staatsangehörigkeit "Russische Föderation", Nationalität "deutsch". So<br />
war es auch in der DDR gewesen: Staatsangehörigkeit "DDR", Nationalität "deutsch".<br />
Beim Blick in unsere Personalausweise und Pässe können wir unschwer feststellen, dass<br />
die entsprechende Rubrik lautet "Staatsangehörigkeit / Nationality / Nationalität", d.h. die<br />
Begriffe werden gleichgesetzt und folgerichtig steht in unseren Ausweisen an dieser Stelle<br />
"deutsch".<br />
7
Ich möchte hier nicht die Frage beantworten, was besser ist und ich habe auch keinen<br />
erschöpfenden Überblick darüber, wie das in den meisten anderen Ländern gehandhabt<br />
wird, aber ich finde es doch nachdenkenswert, welchen Einfluss auf unser Denken die<br />
begriffliche Unschärfe hat, die so selbstverständlich nicht ist, haben wir doch alle im<br />
Geschichtsunterricht unsere Vorgeschichte im "Heiligen Römischen Reich deutscher<br />
Nation" kennen gelernt, in dem für viele Jahrhunderte eine deutliche Unterscheidung von<br />
staatlicher Struktur und Nationalität gemacht worden ist.<br />
Kann es nicht sein, dass unser Konzept von der Identität von Staatsbürgerschaft und<br />
Nationalität ein wesentliches Hindernis bei der Einbürgerung von Menschen ist, die sich<br />
mit dem Erwerb der Staatsbürgerschaft, eigentlich einer höchst rationalen Angelegenheit,<br />
zugleich - zumindest begrifflich - von Teilen ihrer Identität verabschieden sollen, die ihnen<br />
nach wir vor wichtig sind?<br />
Der unbändige Wunsch nach Zulassung einer doppelten Staatsbürgerschaft, der ja<br />
komplizierte Loyalitätsfragen aufwirft, ließe sich vielleicht mindern, wenn wir es schaffen<br />
könnten, nicht von jedem Staatsbürger gleich zu verlangen, mit Haut und Haaren<br />
Deutscher zu sein.<br />
Dazu fällt mir eine etwas traurige Anekdote aus meiner Verwandtschaft ein. Eine Kusine<br />
von mir hat einen Amerikaner geheiratet, der das spätere Scheitern der Ehe gleich nach<br />
der Eheschließung mit dem fatalen Satz eingeleitet hat: "Now you are all mine, sunshine."<br />
Ist es nicht so, dass die Akzeptanz von Differenz, die richtige Balance von Distanz und<br />
Nähe, eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen von Beziehungen zu anderen<br />
Menschen ist, nicht nur im privaten sondern auch im gesellschaftlichen Bereich?<br />
Wir sind von solchen Einsichten, die das Bewusstsein der Menschen in klassischen<br />
Einwanderungsländern prägen, noch weit entfernt. Das hat sich vor einigen Jahren bei der<br />
fatalen Begriffsschöpfung von der "deutschen Leitkultur" gezeigt, die an den<br />
Stammtischen eine solche Resonanz gefunden hat, dass ihre Erfinder sie erschrocken<br />
wieder aus dem Verkehr gezogen zu haben scheinen. Aber ich habe den Eindruck, dass<br />
auch hinter der Tatsache, dass wir heute von einem "Zuwanderungsgesetz" statt von<br />
einem "Einwanderungsgesetz" sprechen, mangelnde Kühnheit stehen könnte und das<br />
heimliche Versprechen, dass wir uns auf größere Veränderungen nicht einstellen müssen,<br />
weil nur 'etwas dazu kommt', das sich schon anpassen und nicht in relevantem Umfang<br />
eigene Ansprüche anmelden wird.<br />
Welch gefährliche Sprengkraft es haben kann, wenn rechtliche Gleichstellung ohne ein<br />
deutliches Bekenntnis zur Relativierung von kultureller Hegemonie erfolgt, zeigt übrigens<br />
die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland. Er hat sich im 19. Jahrhundert in<br />
einem engen zeitlichen, wahrscheinlich aber auch in einem logischen Zusammenhang mit<br />
der sogenannten "Judenemanzipation" wie ein Flächenbrand ausgebreitet, weil viele sich<br />
dazu berufen fühlten, empört nachzuweisen, dass sich die soeben Gleichgestellten durch<br />
das eine oder andere Merkmal vom Rest der Nation denn doch unterschieden.<br />
Kennen wir heute nicht alle "Menschen mit Migrationshintergrund", die sich, seit sie im<br />
Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft und damit eines deutschen Passes sind, des<br />
absurden - aber vor dem skizzierten Hintergrund wenigstens erklärbaren - Vorwurfes<br />
erwehren müssen, sie seien gar keine "richtigen Deutschen"?<br />
8
HIER SPRICHT MAN DEUTSCH<br />
Sprache ist eine sensible Angelegenheit. Sie dient nicht nur der Verständigung mit<br />
anderen, sondern auch der Selbstverständigung. Sie ist Grundlage und Medium des<br />
Denkens.<br />
Eine Kollegin ungarischer Herkunft, die unsere Sprache in Wort und Schrift perfekt<br />
beherrscht, hat mir einmal erzählt, dass sie in Deutsch denkt und träumt und doch bei der<br />
Geburt ihres Kindes plötzlich ihre Gefühle nur noch in ihrer ungarischen Muttersprache<br />
ausdrücken konnte.<br />
Bei aller Klarheit, dass die Beherrschung der Landessprache eine wesentliche<br />
Voraussetzung für gelingende Integrationsprozesse ist, dürfen wir nicht vergessen, dass<br />
es emotionale Bereiche gibt, die von einer Zweitsprache nicht erfasst werden. Die<br />
konsequente Anerkennung und Pflege von Zweisprachigkeit ist deswegen kein<br />
Integrationshindernis sondern sollte im Gegenteil als selbstverständlicher Bestandteil<br />
eines produktiven Zusammenlebens mit Menschen anderer Muttersprachen begriffen<br />
werden.<br />
Es ist kontraproduktiv, wenn unser Bildungssystem sich - abgesehen von den Europa-<br />
Schulen - dieser Aufgabe weitgehend entzieht und damit Ressourcen verspielt, die wir viel<br />
besser nutzen könnten und die wir mit der banalen Feststellung "Hier spricht man<br />
Deutsch" teilweise in den subkulturellen Untergrund abschieben.<br />
Auch hier wieder ein Beispiel, das das Dilemma beleuchtet. Ein Kollege aus Bonn,<br />
deutscher Pass, arabischer "Migrationshintergrund" möchte, dass seine Tochter auch die<br />
arabische Sprache sicher beherrscht. Weil er dafür keine andere Möglichkeit sah, hat er<br />
sie auf der "König Fahd Schule" angemeldet, die von der saudi-arabischen Botschaft<br />
unterstützt wird und die vor drei Wochen in die Schlagzeilen geraten ist, weil einer ihrer<br />
Lehrer zum heiligen Krieg aufgerufen haben soll und weil ihr enge Kontakte zu jemandem<br />
nachgesagt werden, in dessen Wohnung Sprengstoff und ein selbstverfasstes Testament<br />
nach Al Quaida-Vorbild gefunden wurden. Dieser Kollege, liberal, integriert, in einer binationalen<br />
Ehe lebend, steht jetzt wegen des nachvollziehbaren und vergleichsweise<br />
bescheidenen Wunsches, dass seine Tochter auch ihre Vatersprache beherrschen soll,<br />
vor einer verschärften Variante der Kopftuchfrage, wenn nämlich die Schule das Mädchen<br />
aufs Tragen eines Kopftuchs verpflichtet.<br />
Doch die Förderung der Zweisprachigkeit hat nicht nur mit solch sensiblen Bereichen der<br />
Identitätsfrage zu tun. Forschungen zum Spracherwerb sind eindeutig zum Ergebnis<br />
gekommen - und durch Wahrnehmungen im Bekanntenkreis sehe ich das bestätigt - dass<br />
Kinder, deren Eltern mit ihnen konsequent die eigene Muttersprache gesprochen haben,<br />
die deutsche Sprache in Wort und Schrift auch dann viel besser erlernen, wenn die<br />
Muttersprache beider Eltern oder eines Elternteils nicht die deutsche Sprache ist.<br />
Dabei kommt es übrigens häufig vor, dass Kinder - abhängig von Umfang und Bedeutung<br />
ihrer sozialen Kontakte zu anderen - irgendwann auf Deutsch als ihre eigene<br />
Primärsprache umsteigen. Gut ist, wenn das freiwillig geschieht und wenn die Eltern das<br />
auch positiv sehen und durchaus fortfahren, im Familienkreis ihre eigene Sprache zu<br />
benutzen. Die zwei- oder mehrsprachigen Dialoge, die so entstehen, haben es in sich.<br />
9
Schädlich für das Erlernen der deutschen Sprache ist es hingegen, wenn, wie es bisweilen<br />
in der öffentlichen Debatte geschieht, die Eltern aufgefordert oder sogar unter Druck<br />
gesetzt werden, mit ihren Kindern Deutsch zu sprechen, auch wenn sie diese Sprache<br />
selbst nicht ausreichend beherrschen, um gute Sprachvorbilder zu sein.<br />
In Berlin gab es vor kurzem eine Sprachstandsuntersuchung bei Vorschulkindern, die<br />
erhebliche Defizite insbesondere bei Migrantenkindern aktenkundig machte. Unser<br />
Schulsenator hat bei der Vorstellung der Ergebnisse völlig zu Recht darauf hingewiesen,<br />
dass ausländische Eltern mit dafür verantwortlich seien, dass ihre Kinder nicht nur in der<br />
Muttersprache sondern auch beim Erwerb der deutschen Sprache gefördert würden.<br />
In der Presse, wenigstens bei den Zeitungen, die nicht höchsten Wert auf eine<br />
differenzierte Darstellung legen, wurde der Halbsatz "nicht nur in der Muttersprache"<br />
weggelassen und alles auf den fatalen einfachen Nenner gebracht (und als Position des<br />
Senators weitergemeldet): "Türkische Mütter sollen mit ihren Kindern Deutsch sprechen".<br />
Ich kenne türkische Mütter, die sich schon vor Jahren einem solchen Druck gebeugt<br />
haben und jetzt todunglücklich über das Ergebnis sind. Auf solche Weise wird ein<br />
erkanntes Problem nicht gelöst sondern verschärft.<br />
KANAKISCH - ein kleiner Exkurs<br />
Ein besonderes Ärgernis stellt für viele Beobachter der Sprachentwicklung das Entstehen<br />
von Mischsprachen dar. Nicht türkisch, nicht deutsch, grammatikalisch unkorrekt und von<br />
einer erschreckend reduzierten Weltsicht geprägt erscheint das, was viele Jugendliche,<br />
die zwischen den Kulturen leben, da von sich geben.<br />
Zugegeben, für den schulischen Erfolg und für sozialen Einstieg in die<br />
Mehrheitsgesellschaft, ist das, was sich hier herausbildet, eine Katastrophe - "echt krass<br />
Alder".<br />
Seit Feridun Zaimoglu Mitte der neunziger Jahre das Buch "Kanak Sprak" veröffentlicht<br />
hat, hat sich für diese Sprache der Begriff "Kanakisch" eingebürgert, der sich nicht auf das<br />
polynesische Inselvolk gleichen Namens bezieht sondern auf die trotzig sarkastische<br />
Selbstbezeichnung derjenigen, die ab und an mit diesem Schimpfwort belegt wurden.<br />
Im kanakischen Slang kann die Beobachtung, dass einige Jugendliche, die man für Softis<br />
hält, mit einer jungen Frau flirten, der inhaltliche Kern des folgenden Satzes sein:<br />
"Dem schwulen Penner ficken dem Tuss, Alder"<br />
Ein nicht untypischer Dialog könnte sich so anhören:<br />
Frage: "Hast Du Problem, oder was"<br />
Antwort: "Willstu auf Fresse, oder was"<br />
Sicher, das ist nicht harmlos. Wer so redet, denkt auch so. In der Sprache drückt sich eine<br />
Weltsicht aus, die ihrerseits durch die Sprache verfestigt wird.<br />
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Aber die bloße Verteufelung reicht auch nicht aus. Was hier eruptiv zum Ausbruch kommt,<br />
ist ja tendenziell auch ohne den entsprechenden sprachlichen Ausdruck - im Bauch -<br />
vorhanden. Die Sprache macht es greifbar, kenntlich und bearbeitbar.<br />
Mit anderen Slangs und mit vielem, was Dialekte (als Varianten von Primärsprachen)<br />
ausmacht hat das Kanakische gemeinsam, dass es eine von besonderen Erfahrungen<br />
geprägte Sicht der Dinge prägnant und letztlich nicht übersetzbar auf den Punkt bringt.<br />
Gemeinsamkeiten gibt es übrigens auch mit anderen Mischsprachen, die sich teilweise<br />
über Jahrhunderte erhalten und weiterentwickelt haben und denen gegenüber wir eine<br />
tolerantere Haltung einzunehmen pflegen. Erwähnt seien hier das Jiddische und das<br />
Kreolische ("Come Mr. Talleyman, talley me bananas"), die internationale Sklavensprache,<br />
zu Hause u.a. in den Bahamas, in Jamaika und in Guayana). All diese Sprachen haben<br />
eine gegenüber den elaborierten Sprachen radikal vereinfachte Grammatik, die sich z.B.<br />
im weitgehenden Fehlen von Deklination, Konjugation und Präpositionen zeigen kann.<br />
"Isch geh Bahnhof, weisstu"<br />
Aber das ist ja eigentlich nicht mein Thema. Ich möchte nur dafür plädieren, diesem<br />
Phänomen nicht einfach angewidert den Rücken zu kehren und es auch nicht den<br />
Sozialromantikern zu überlassen, die sich am Reiz des Exotischen delektieren.<br />
Es kann durchaus ein Thema für Stadtteilarbeiter sein. Und damit komme ich zur<br />
Fragestellung: Was bedeutet das bisher Gesagte für unsere Arbeit in den Einrichtungen<br />
und in den Stadtteilen?<br />
JANE ADDAMS UND DAS HULL HOUSE IN CHICAGO<br />
Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit komme<br />
und dass wir Teil eines Internationalen Verbandes sind, der auf Traditionen aufbaut, die<br />
bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen. Seinen Ursprung hat er in der sozialreformerischen<br />
Settlement-Bewegung, die damit begann, dass sich junge Angehörige der Oberschichten<br />
in den Elendsvierteln der großen Städte - zuerst in England, dann in den USA und bald in<br />
vielen anderen Ländern der Welt - "niederließen", dort ihren Wohnsitz nahmen, um mit<br />
den Armen zu leben und ihnen als neue Nachbarn von dem abzugeben, was sie als ihr<br />
besonderes Privileg empfanden: Lebensfreude, Kultur und Wissen. Dass wir uns in dieser<br />
Tradition sehen, hat zur Folge, dass wir ab und an zurückblicken, auf das, was unsere<br />
Vorgänger/innen gemacht haben, um daraus Anregungen für unsere heutige Arbeit zu<br />
gewinnen.<br />
Das erste Settlement in Amerika (Hull House) wurde 1889 von Jane Addams in Chicago<br />
gegründet. Dass das in einem Wohngebiet war, in dem vor allem italienische Einwanderer<br />
lebten, war kein Zufall, denn Elendsviertel und Einwanderung hingen schon damals in den<br />
USA eng zusammen. Die erste Aktion, die uns von Jane Addams und ihrer Kollegin Ellen<br />
Starr überliefert ist, war die persönliche Einladung an eine italienische Familie, an einem<br />
der nächsten Abende zur Wohnung der beiden amerikanischen Frauen zu kommen, um<br />
einen geselligen Abend "mit amerikanischen und italienischen Freunden zu verbringen."<br />
Als Begründung schrieben sie, sie seien Angehörige einer sehr respektablen Familie und<br />
hätten sich dafür entschieden, mitten unter den "Kindern Italiens zu leben und sehnten<br />
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sich danach, mit ihnen Freundschaft zu schließen." Der Brief trug zusätzlich die<br />
Unterschrift eines italienischen Stadtteilbewohners. An den geselligen Abenden unterhielt<br />
man sich mit Lesungen aus dem Werk von George Eliot und dem Betrachten von<br />
Abbildern Florentinischer Kunst.<br />
Auf diese Weise schufen Jane Addams und Ellen Starr eine Vertrauensgrundlage - als<br />
Nachbarn unter Nachbarn - die bald dazu führte, dass die Besucherinnen sagten, was<br />
ihnen ihnen im Wohngebiet fehlte. Gemeinsam begann man, Abhilfe für erkannte<br />
Bedarfslagen zu schaffen. Zuerst ging es um die Einrichtung eines Kindergartens, dann<br />
um einen Jugendclub für Teenager. Schließlich folgte die Bereitstellung von Räumen für<br />
die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter in den sweat-shops, den "Schwitzbuden"<br />
der Textilindustrie mit ihren untragbaren Arbeitsbedingungen. Dabei ließen es die Frauen<br />
aber nicht bewenden. Sie gaben ihre Kenntnisse über die Lebensbedingungen im Stadtteil<br />
weiter und traten schließlich erfolgreich für Gesetzesinitiativen ein, die zur Verbesserung<br />
des Arbeitsschutzes führten, aber auch zur Einführung einer Jugendgerichtsbarkeit.<br />
Was ist daran bemerkenswert?<br />
1. Am Anfang steht eine Einladung<br />
2. Die Frauen preisen sich nicht als Wohltäterinnen an, sondern begründen die Einladung<br />
mit ihrem eigenen Wunsch nach einem Zusammenleben als gute Nachbarn<br />
3. Interesse für die Kultur (beider Seiten)<br />
4. Die Mängelbeseitigung wird als gemeinsame Aufgabe angepackt, nicht als Fürsorge<br />
gewährt<br />
5. Das Haus bietet bedarfsgerechte konkret nützliche Dienste an (Kinder- und<br />
Jugendarbeit)<br />
6. Den Menschen wird dabei Unterstützung gegeben, nicht nur die Symptome zu heilen,<br />
sondern an die Ursachen zu gehen (auch wenn das übrigens zu erheblichen Konflikten mit<br />
einigen wohlhabenden Gönnern des Projektes führt - so hatten sie sich das nicht<br />
vorgestellt)<br />
7. Die Perspektive politischer Veränderung wird nicht ausgeklammert, sondern der<br />
mögliche eigene Beitrag wird geleistet.<br />
Soweit dieser Ausflug in die Geschichte.<br />
Zurück zu unserer Gegenwart und Zukunft.<br />
DIE ZUKUNFT LIEGT IM DIALOG<br />
In der Sozial-Extra vom Mai 2002 steht folgende Zukunftsprognose:<br />
'Im Jahre 2010 wird jeder zweite Bewohner unseres Landes im Alter zwischen 20 und 40<br />
entweder selbst einen Migrationshintergrund haben oder mit einem Partner / einer<br />
Partnerin mit Migrationshintergrund zusammenleben'.<br />
Die aktuelle Lebenswirklichkeit von Migranten in Berlin stellt sich so dar: Während die<br />
durchschnittliche Arbeitslosenquote knapp 20 Prozent beträgt, liegt sie bei Migranten über<br />
40 Prozent. In einigen Wohngebieten steigt sie auf bis zu 60 Prozent und mehr.<br />
Das kann nicht gutgehen, wenn nicht bald etwas passiert. Wir können nicht einfach<br />
zusehen, wie hier Fähigkeiten und Potenziale brachliegen, die für unsere Zukunft von<br />
entscheidender Bedeutung sind.<br />
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Es bleibt nicht viel Zeit.<br />
Eine sozialfürsorgerische Haltung, die sich darauf beschränkt, Defizite festzustellen und<br />
Trostpflaster zu verteilen, ist nicht ausreichend, sie kann sogar kontraproduktiv sein. Wir<br />
müssen in den Stadtteilen, für deren Entwicklung wir Verantwortung zu übernehmen bereit<br />
sind, dafür sorgen, dass optimale Bedingungen für die Einbeziehung der Einwanderer in<br />
unser gemeinsames Leben geschaffen werden, in das sie ihre Stärken gleichberechtigt<br />
einbringen können.<br />
Wenn wir die Einwanderer als Partner ernst nehmen, müssen wir uns mit ihren<br />
Vorstellungen vom Leben und von den Werten, die ihnen wichtig sind, auseinandersetzen.<br />
Wir können und dürfen nicht erwarten und verlangen, dass sie sich - wenn sie denn schon<br />
mit uns zusammenleben wollen - bedingungslos unseren Vorstellungen anzupassen<br />
haben.<br />
Das ist kein Plädoyer für Beliebigkeit, im Gegenteil: wir sollten für das, was uns wichtig ist<br />
und was wir für richtig halten, werben - in einem Dialog, in dem wir bereit sein müssen,<br />
auch alles zur Disposition zu stellen - nein, nicht alles. In dieser Hinsicht ist ein<br />
aufgeklärtes Verständnis von Staatsbürgerschaft und Einbürgerung hilfreich. Denn die<br />
Anerkennung der Grundsätze der Verfassung und der allgemeinen Menschenrechte<br />
dürfen wir ruhigen Gewissens als verbindliche Geschäftsgrundlage deklarieren. Es geht<br />
um den ganzen Rest: Sitten, Gebräuche, Traditionen.<br />
Für den Dialog der Kulturen müssen wir uns wappnen, die eine oder andere<br />
liebgewonnene Gewohnheit wird den Dialog nur dann überleben, wenn wir sie für uns<br />
selbst neu begründen können.<br />
Wie sehr wir das verlernt haben, wie sehr wir geradezu darauf getrimmt werden, es zu<br />
verlernen, habe ich heute Nachmittag gedacht, al sich in der Straßenbahn vom<br />
Hauptbahnhof nach Kronsberg herausfuhr und drei Mädchen mir gegenüber über die<br />
Schule reden hörte.<br />
Zuerst ging es um die Zensurengebung im Kunstunterricht. Die Schülerinnen beschwerten<br />
sich nicht über ihre jeweilige Zensur, aber sie waren entrüstet über eine für sie nicht<br />
einsichtige unterschiedliche Zensurengebung ohne Begründung, ohne Transparenz. Dann<br />
hieß es über andere Fächer „Wir dürfen nicht“ – und „Wir müssen“ und schlimmer „Er (=<br />
der Lehrer) möchte ...“. Als Subjekte eines Dialogs waren diese Schülerinnen nicht<br />
gefragt, dazu wurden sie anscheinend nicht ausgebildet.<br />
Kein Wunder, hat sich doch in unserer Demokratie ein gesellschaftlicher Stil, insbesondere<br />
ein Politikstil eingebürgert, der nicht in Alternativen, Chancen und<br />
Überzeugungskategorien denkt sondern dessen Tenor lautet „Das hat so zu sein“. Achten<br />
Sie einmal darauf, wie häufig von unseren jeweils Regierenden in Stadt, Land und Bund<br />
die Redewendung zu hören ist „Dazu gibt es keine Alternative!“.<br />
Das ist nicht wahr, es gibt immer Alternativen – und es geht darum, nachzuweisen, dass<br />
der eigene Vorschlag der für die bessere Alternative ist.<br />
Für jeden Dialog, für jede Verständigung ist es gut, wenn man eine gemeinsame Sprache<br />
zur Verfügung hat. Nicht, weil man bei uns Deutsch zu sprechen hat, sondern weil wir ein<br />
Interesse an Verständigung haben, sollten wir dafür werben, dass die Migranten unsere<br />
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Sprache beherrschen lernen. Wir müssen dazu beitragen, dass das für sie Sinn macht,<br />
weil sie in uns (den „Einheimischen“) Gesprächspartner finden.<br />
Wenn wir nicht wollen, dass sie nur unter sich bleiben, dann müssen wir ihnen unser<br />
Interesse und unsere Neugier zeigen. Die Einladung kann dabei durchaus solche Umwege<br />
beinhalten, wie Jane Addams uns das gezeigt hat. Sprache hat dabei auch<br />
Signalcharakter. Den Kollegen aus dem Jugendprojekt, von dem ich anfangs berichtet<br />
habe, sei gesagt: Wenn Ihr mit den russisch sprechenden Aussiedlern auf Deutsch reden<br />
wollt, ladet sie in russischer Sprache ein. Damit vervielfachen sich die Chancen, dass das<br />
gelingt. Wenn sie spüren, dass sie gemeint sind, werden ihre Hemmungen, sich in einer<br />
Sprache zu verständigen, in der sie Schwächen haben, enorm sinken.<br />
Nachbarschaftseinrichtungen, sozio-kulturelle und Stadtteilzentren, Bürgerhäuser und<br />
Gemeinwesenprojekte können viel dafür beitragen, dass der Dialog zustande kommt. Sie<br />
sind Experten im Einladen. Packen wir es an.<br />
Als Vorletztes möchte ich uns ein Zitat von Martin Buber zum Thema mit auf den Weg<br />
geben, das dem Ernst der Lage angemessen ist:<br />
"Ob wir als Menschen überleben, hängt von der Wiedergeburt des Dialogs ab."<br />
EINE EINLADUNG<br />
Als letztes möchte ich Ihnen aber auch eine Einladung übermitteln. Und zwar von dem<br />
schon mehrfach erwähnten Internationalen Dachverband der Nachbarschaftsheime, der<br />
im nächsten Juni seinen turnusmässigen Kongress in Toronto abhält, in Kanada, dem<br />
Land, das nach Einschätzung vieler Experten die weltweit durchdachtesten<br />
Einwanderungskonzepte umsetzt, von dem wir also vieles lernen können. Gegenstand des<br />
Kongresses ist die Aufgabe - in englischer Formulierung "Building Inclusive Communities"<br />
- wörtlich übersetzt: einbeziehende Gemeinwesen zu bauen. Als ein Unterthema wird<br />
benannt "Promoting diversity and inclusion" - 'Förderung von Verschiedenheit und<br />
Einbeziehung'. Ein workshop wird sich schließlich damit befassen, "how community arts<br />
can help to make powerful connetions, celebrate differences, and create new forums for<br />
inclusion" - wie Stadtteilkulturarbeit dazu beitragen kann, kraftvolle Verbindungen<br />
herzustellen, Unterschiede zu feiern und neue Foren für Einbeziehung zu schaffen.<br />
Apropos Kanada. Meine allererste Begegnung mit diesem Land im Jahre 1989 hat mir auf<br />
sehr sinnliche Weise vor Augen geführt, was eine multikulturelle Gesellschaft bedeuten<br />
kann:<br />
Der Beamte, der meinen Pass bei der Einreise überprüfte, sah nicht so aus, wie ich mir<br />
einen Kanadier vorgestellt hatte. Er hatte eine dunkle Hautfarbe. Und er trug einen<br />
Turban.<br />
Womit wir wieder bei der Kopftuchfrage wären.<br />
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