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Predigt von Dr. Ulrich Körtner über I Joh 3,1-2 - Evangelisch ...

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WER BIN ICH?<br />

<strong>Predigt</strong> <strong>über</strong> I <strong>Joh</strong> 3,1-2<br />

<strong>von</strong><br />

<strong>Ulrich</strong> H.J. <strong>Körtner</strong><br />

1<br />

Fakultätsgottesdienst, 19.10.2009<br />

Seht, welche Liebe uns der Vater gegeben hat, daß wir Kinder Gottes heißen und wir<br />

sind es. Darum erkennt die Welt uns nicht, weil sie ihn nicht erkant hat. Ihr Lieben,<br />

jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht zutage getreten, was wir sein werden.<br />

Wir wissen aber, daß wir, wenn es zutage tritt, ihm gleich sein werden, denn wir werden<br />

ihn sehen, wie er ist.<br />

(Zürcherbibel 2007)<br />

Jeder ist ein Mensch für sich, pflegte mein Großvater zu sagen. Er wußte die Eigenarten,<br />

Ecken und Kanten seiner Mitmenschen mit Humor zu nehmen. Besteht unsere Lebensaufgabe<br />

nicht genau darin, unverwechselbar wir selbst zu sein? Aber was heißt das eigentlich, ein<br />

Selbst zu sein? Wer bin ich? Und wer will ich sein? Entscheide ich das ganz für mich allein,<br />

oder gibt es jemanden, der mir sagt, wer ich bin und wer ich sein soll?<br />

Viele Menschen fühlen sich da<strong>von</strong> <strong>über</strong>fordert, sie selbst zu sein. Sie möchten lieber so<br />

sein wie andere oder sich <strong>von</strong> anderen sagen lassen, wie sie zu sein haben. Ein Sprichwort<br />

sagt: „Jeder Mensch wird als Original geboren, aber die meisten sterben als Kopie“.<br />

Angeblich ist Individualität in unserer Gesellschaft groß geschrieben. In vielen Fällen handelt<br />

es sich jedoch nur um eine nachgeahmte oder geliehene Individualität. Lifestile <strong>von</strong> der<br />

Stange, gewissermaßen individuelle Gleichförmigkeit. Im Wunsch, ein unverwechselbares Ich<br />

zu sein, unterwerfen sich Menschen dem Diktat der wechselnden Moden, vorgefertigten<br />

Meinungen oder den fragwürdigen Vorbildern irgendwelcher Stars und Sternchen.<br />

In den Erzählungen der Chassidim berichtet Martin Buber <strong>von</strong> Rabbi Sussja, der kurz vor<br />

seinem Tode sagte: „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: ‚Warum bist Du<br />

nicht Mose gewesen?’ Man wird mich vielmehr fragen: ‚Warum bist Du nicht Sussja<br />

gewesen?’ Man wird mich nicht fragen: ‚Warum hast du nicht das Maß erreicht, das der<br />

größte und gewaltigste Glaubende unserer Religion gesetzt hat?’ Sondern man wird mich<br />

fragen: ‚Warum hast du nicht das Maß erfüllt, das Gott dir ganz persönlich gesetzt hat?<br />

Warum bist du nicht das geworden, was du eigentlich hättest werden sollen?’“


Lassen wir uns das auch in unserem theologischen Wissenschaftsbetrieb sagen. Im<br />

jüngsten Gericht werden wir nicht gefragt werden: „Warum bist du nicht ein zweiter Karl<br />

Barth, ein zweiter Dietrich Bonhoeffer oder ein neuer Rudolf Bultmann gewesen?“ Man wird<br />

uns nicht fragen: „Warum hast du weniger publiziert als Kollege X oder Kollegin Y?“ Und<br />

auch nicht: „Warum hast du keine <strong>Dr</strong>ittmittelprojekte vorzuweisen?“ Sondern Gott wird uns<br />

fragen: „Warum bis du nicht du gewesen?“ Es ist ja nicht grundsätzlich verkehrt, sich an<br />

Vorbildern zu orientieren. Aber jedem <strong>von</strong> uns ist seine eigene Lebensaufgabe und sein<br />

eigener Weg bestimmt. Mögen wir vielleicht auch nie zu den Großen der Theologie gehören,<br />

so ist es doch nicht weniger wichtig, daß wir unsere Talente entwickeln und uns mit Ernst und<br />

Hingabe den Aufgaben und Herausforderungen stellen, vor die Gott uns in unserem Leben<br />

stellt.<br />

Jeder <strong>von</strong> uns ist ein unverwechselbares Geschöpf und Kind Gottes, <strong>von</strong> ihm ins Leben<br />

und beim Namen gerufen. Unser Sein ist allerdings noch im Werden. Es ist Gabe und<br />

Aufgabe zugleich. Wir sollen allererst werden, wozu wir bestimmt und berufen sind.<br />

Wie es Menschen gibt, die verzweifelt nicht sie selbst, sondern ein anderer sein wollen, so<br />

gibt es auch Menschen, die verzweifelt sie selbst sein wollen. Das meint: Sie wollen nicht<br />

dem Bild entsprechen, zu dem Gott sie bestimmt hat, sondern dem Ideal, das sie selbst <strong>von</strong><br />

sich entworfen haben. Sie wollen nicht akzeptieren, daß Gott der eigentliche Autor unserer<br />

Lebensgeschichte ist, sondern sich gewissermaßen selbst erschaffen. Sie wollen geradezu<br />

zwanghaft authentisch sein – und verlieren sich dabei ebenso wie die, die sich anderen bis zur<br />

Selbstaufgabe anpassen.<br />

In einer Betrachtung zum Weihnachtsfest schrieb der evangelische Theologe Rudolf<br />

Bultmann, der vor 125 Jahren geboren wurde und einer der bedeutendsten Theologen des 20.<br />

Jahrhunderts war: „Wir sind nicht die, die wir zu sein scheinen, zu sein meinen. Wir sind die,<br />

die wir im Lichte Gottes sind. Wir sind, was wir hier und jetzt nie sind, aber das, was wir hier<br />

und jetzt nie sind, gerade das ist unser eigentliches Sein.“<br />

Das aber heißt doch: Mein Selbstwert und meine Würde hängen nicht <strong>von</strong> dem ab, wie<br />

andere mich sehen und beurteilen, auch nicht da<strong>von</strong>, wie ich mich selbst sehe und beurteile,<br />

sondern einzig und allein da<strong>von</strong>, wie Gott mich sieht und beurteilt. Und nicht ich bin es, der<br />

mein Leben zu einer Ganzheit vollendet, sondern Gott – durch alle Brüche und<br />

Unvollkommenheiten meines Lebens hindurch.<br />

Unser eigentliches Sein liegt nicht offen zu Tage, sondern es ist noch verborgen. „Wir<br />

sollen“, schreibt Bultmann, „nicht wähnen, das wirklich zu sein, als was wir in den Augen<br />

anderer, ja unsern eigenen Augen erscheinen. Wir sollen es nicht wähnen, weder im Hochmut<br />

2


der Selbstzufriedenheit noch in der Verzagtheit der Selbstverurteilung. Wir dürfen glauben,<br />

daß unser eigentliches Leben uns selbst verborgen ist.“<br />

Dieser Gedanke berührt sich mit einem bekannten Gedicht, das Dietrich Bonhoeffer im<br />

Gefängnis geschrieben hat. Es trägt den Titel „Wer bin ich?“ und lautet folgendermaßen:<br />

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,<br />

ich träte aus meiner Zelle<br />

gelassen und heiter und fest<br />

wie ein Gutsherr aus seinem Schloß<br />

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,<br />

ich spräche mit meinen Bewachern<br />

frei und freundlich und klar,<br />

als hätte ich zu gebieten.<br />

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,<br />

ich trüge die Tage des Unglücks<br />

gleichmütig, lächelnd und stolz,<br />

wie einer, der Siegen gewohnt ist.<br />

Bin ich das wirklich, was andere <strong>von</strong> mir sagen?<br />

Oder bin ich nur das, was ich selbst <strong>von</strong> mir weiß?<br />

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,<br />

ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,<br />

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,<br />

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,<br />

zitternd vor Zorn <strong>über</strong> Willkür und kleinlichste Kränkung,<br />

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,<br />

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,<br />

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,<br />

matt und bereit, <strong>von</strong> allem Abschied zu nehmen?<br />

Wer bin ich? Der oder jener?<br />

Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?<br />

Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich<br />

wehleidiger Schwächling?<br />

Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,<br />

das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?<br />

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.<br />

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!<br />

Unser eigentliches, uns selbst wie den anderen Menschen verborgenes Sein, zu dem wir<br />

unterwegs sind, bleibt das Geheimnis eines jeden <strong>von</strong> uns. Ihm haben wir mit Achtung und<br />

Ehrfurcht zu begegnen haben. Im 1. <strong>Joh</strong>annesbrief heißt es dazu: „Schon jetzt sind wir Kinder<br />

Gottes, doch es ist noch nicht zutage getreten, was wir sein werden. Wir wissen aber, daß wir,<br />

wenn es zutage tritt, Gott gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“<br />

3


Dieses Wort erinnert an den Schluß des Hohenlieds der Liebe in 1. Korinther 13. Dort<br />

schreibt Paulus: „Wie sehen jetzt alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber <strong>von</strong><br />

Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz<br />

erkennen, wie ich auch ganz erkannt worden bin.“<br />

Daß wir Kinder Gottes sind, liegt nicht offen zutage. Der 1. <strong>Joh</strong>annesbrief spricht ja nicht<br />

<strong>von</strong> der schöpfungsgemäßen Gottebenbildlichkeit aller Menschen, sondern er redet konkret<br />

seine Leserinnen und Leser auf ihr Christsein und ihren Glauben an. Ihre Gotteskindschaft ist<br />

keine natürliche Eigenschaft, sondern die Frucht der Liebe, die in Jesus Christus in die Welt<br />

gekommen ist und der Welt einen neuen Schein gibt. Sie wird nur im Glauben erkannt,<br />

während die Welt, wie der 1. <strong>Joh</strong>annesbrief schreibt, weder Gott noch die Gotteskindschaft<br />

der Glaubenden erkennt.<br />

Gott macht uns zu Kindern des Lichts, wie es im 1. <strong>Joh</strong>annesbrief heißt, indem er in uns<br />

den Glauben erweckt. Unsere Lebensführung läßt freilich oft so gar nichts da<strong>von</strong> erkennen.<br />

Der 1. <strong>Joh</strong>annesbrief fordert uns auf, im Licht zu wandeln, nämlich in jenem Licht, das Gott<br />

selbst ist. Wer sagt: Ich kenne Gott und hält seine Gebote nicht, der ist jedoch ein Lügner.<br />

Wer <strong>von</strong> sich behauptet, er sei im Licht, und haßt seinen Bruder oder seine Schwester, der lebt<br />

weiter in der Finsternis.<br />

Auch wenn wir jetzt nur, mit Paulus gesprochen, uns selbst nur wie in einem angelaufenen<br />

Spiegel und in rätselhafter Gestalt sehen, genügt das doch, um die dunklen und abgründigen<br />

Seiten unseres Ich zu erkennen. Wir sind eben nicht nur nicht die, die wir zu sein scheinen<br />

oder meinen, sondern auch nicht die, die wir nach Gottes Willen sein sollen. Daß wir Kinder<br />

des Lichts sind, in denen Gott das Licht des Glaubens angezündet hat, läßt sich nur gegen den<br />

Augenschein unserer menschlichen Abgründe, unserer Selbstbezogenheit und unserer Zweifel<br />

sagen. Martin Luther hat darum behauptet, wer glaube, der sei auf paradoxe Weise Gerechter<br />

und Sünder zugleich. Dem Augenschein weiter ein sündiger Mensch, der sich äußerlich<br />

betrachtet nicht <strong>von</strong> anderen Menschen unterscheidet, sei er doch ein Gerechter und<br />

Gerechtfertigter im Licht der Hoffnung und der göttlichen Verheißung.<br />

Das ist die Verheißung, <strong>von</strong> der der 1. <strong>Joh</strong>annesbrief spricht, daß nämlich erscheinen wird,<br />

was wir sein werden, daß wir einst als die offenbar werden, die Gott schon jetzt in uns sieht,<br />

wenn er uns mit seinen Augen anschaut, den Augen seiner vergebenden Liebe. Nicht weil wir<br />

liebenswert wären und besondere Vorzüge hätten, liebt uns Gott. Sondern weil er uns<br />

grundlos und bedingungslos liebt, sind wir liebenswert. Und es ist dieses Bild, das Gott <strong>von</strong><br />

uns hat, nach dem er uns neu formt und vollenden will.<br />

4


„In solchem Glauben“, schreibt Bultmann, „braucht und kann uns unser jetziges<br />

unheimliches und dunkles Ich nicht mehr schrecken und quälen. Aber es braucht und soll uns<br />

auch nicht mehr in unserer Lebensführung bestimmen. Die Freiheit <strong>von</strong> ihm kann und soll<br />

lebendig sein in der Freiheit gegen<strong>über</strong> allem Verlockenden und Verführenden, allem<br />

Ängstigenden und Jagenden des weltlichen Lebens, gegen<strong>über</strong> allen Gefahren der<br />

Besessenheit. So gibt der Glaube auch ‚der Welt einen neuen Schein’.“<br />

Bultmann will damit die Welt keinesfalls schönreden. Glauben bedeutet nicht, sich selbst<br />

oder die Welt durch die rosarote Brille zu betrachten. Im Gegenteil leuchtet das Licht, das<br />

Gott selbst ist, unsere Welt hell aus, so daß zutage tritt, was es an Unheil, an Leid und Schuld<br />

in ihr gibt.<br />

In der <strong>Dr</strong>eigroschenoper <strong>von</strong> Berthold Brecht singt Mackie Messer: „Denn die einen sind<br />

im Dunkeln und die andern sind im Licht, und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht<br />

man nicht.“ Gott aber sieht auch die im Dunkeln. Er will sie in sein Licht stellen und ihnen an<br />

seinem Leben und seiner Fülle teilhaben lassen.<br />

Wer solche Hoffnung für die Welt hat, der reinige sich, wie es im 1. <strong>Joh</strong>annesbrief heißt,<br />

so wie er auf paradoxe Weise doch auch schon rein ist. Die Reinheit, <strong>von</strong> der hier geredet<br />

wird, ist nicht im moralisierenden Sinne mißzuverstehen. Es geht darum, daß wir wahrhaft<br />

frei werden, indem wir uns ganz an Gott binden und ihm in die Arme werfen. Die Freiheit des<br />

Glaubens besteht darin, daß wir <strong>von</strong> uns selbst befreit werden. Nicht im Sinne eine<br />

fragwürdigen Selbstlosigkeit oder Selbstaufgabe, die es nur um den Preis der Selbstzerstörung<br />

geben kann. Auch nicht im Sinne mystischer Selbstauflösung. Sondern im Sinne einer<br />

Selbstvergessenheit, die bei sich selbst ist, indem sie ganz beim anderen ist, beim<br />

Mitmenschen und bei Gott.<br />

5

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