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GEHEIMSpRACHE DER NEURONEN

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CODIERUNG<br />

NEUROTH EORIE<br />

CODIERUNG<br />

Geheimsprache<br />

der Neuronen<br />

Wie gelingt es Nervenzellen, die Reize der Außenwelt sinngerecht in elektrische<br />

Impulse umzuwandeln? Jetzt lernen Hirnforscher die rätselhafte Sprache des Gehirns<br />

zu verstehen.<br />

Von Matthias Bethge und Klaus Pawelzik<br />

D<br />

as Abendrot am Himmel, der Gesang<br />

eines Vogels oder der Duft<br />

einer Rose erscheinen uns so real,<br />

dass wir selten darüber nachdenken,<br />

inwiefern das, was wir wahrnehmen,<br />

der Wirklichkeit entspricht. Genau<br />

genommen entstehen Geräusche, Farben,<br />

ein Geschmack oder ein Duft erst in unserem<br />

Gehirn. Die physikalischen Reize<br />

der Außenwelt – Berührungen, Schallwellen,<br />

elektromagnetische Wellen,<br />

Duftmoleküle – werden von unseren Sinnesorganen<br />

und über den ganzen Körper<br />

verteilten Sinnesrezeptoren empfangen<br />

und in Nervensignale übersetzt. Diesen<br />

Übersetzungsvorgang nennen Fachleute<br />

Codierung. Eine Flut von Signalen wird<br />

offenbar in unserem Gehirn so zusammengefasst,<br />

dass etwa aus elektromagnetischen<br />

Wellen in unserer Wahrnehmung<br />

eine blaue Blüte wird.<br />

Allerdings besitzt das, was wir dann<br />

als Blüte erkennen, mit Sicherheit weit<br />

mehr Merkmale, als wir wahrnehmen.<br />

Für viele physikalische Reize fehlen uns<br />

schlicht geeignete Rezeptoren. Zudem<br />

müssen wir davon ausgehen, dass bei der<br />

Codierung Details nicht verschlüsselt<br />

werden oder beim Transport verloren gehen.<br />

Offensichtlich gelingt es dem Gehirn<br />

aber, aus den einlaufenden Informationen<br />

ein brauchbares Bild unserer Umwelt<br />

zu konstruieren. Schließlich erzeugt<br />

es seinerseits Signale, die zu einem in<br />

der Regel sinnvollen Verhalten führen<br />

(siehe Bild Seite 82).<br />

80<br />

Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde<br />

Hirnforschern klar, dass die elementaren<br />

Bausteine des Gehirns die Nervenzellen<br />

(Neuronen) sind. Seitdem fragen<br />

sie sich, wie die zahlreichen psychologischen<br />

Phänomene der Wahrnehmung<br />

durch biophysikalische Vorgänge im Gehirn<br />

hervorgebracht werden. Welche Prozesse<br />

in der einzelnen Nervenzelle sind<br />

wesentlich, welche können vernachlässigt<br />

werden? Was bewirkt die gemeinsame<br />

Aktivität kleiner Nervenzellgruppen,<br />

und was die Erregung ganzer Hirnareale?<br />

Mit anderen Worten: Welche Sprache<br />

spricht das Gehirn?<br />

Ein typisches Experiment der Hirnforscher<br />

besteht darin, einem Tier einen<br />

Sinnesreiz zu präsentieren und die „Antwort“<br />

eines ausgewählten Neurons zu<br />

messen. Allerdings sind Nervenzellen<br />

fortwährend aktiv – auch ohne äußere<br />

Reize, etwa im Schlaf. Dieser interne Signalverkehr<br />

ändert laufend den Zustand<br />

des Gehirns. Deshalb treffen dieselben<br />

Eingangssignale zu unterschiedlichen<br />

Zeitpunkten nie auf dasselbe System.<br />

Auch die Wachheit, Aufmerksamkeit und<br />

nicht zuletzt Erfahrungen modifizieren<br />

das Verhalten der Nervenzellen. So kann<br />

an die Stelle eines zuvor beobachtbaren<br />

Antwortverhaltens ein nur ähnliches<br />

oder auch gänzlich anderes treten.<br />

Um den Einfluss all dieser Faktoren<br />

so gering wie möglich zu halten, konzentrieren<br />

sich Wissenschaftler auf Hirnareale,<br />

deren Aktivitäten möglichst di-<br />

rekt auf im Versuch präsentierte Reize<br />

ansprechen und auf Versuchsanordnungen,<br />

bei denen sich das Nervensystem<br />

während des Experiments möglichst wenig<br />

verändert.<br />

Ein Neuron empfängt seine Eingangssignale<br />

über das „Wurzelwerk“, die<br />

Dendriten. Der zentrale Zellkörper fasst<br />

sie zu einem Gesamtzustand zusammen<br />

(er „integriert“) und gibt diesen über einen<br />

Ausgang am Axonhügel an seinen<br />

Fortsatz, das Axon, weiter. Dieses verzweigt<br />

sich am Ende und ist wiederum<br />

mit anderen Nervenzellen verbunden.<br />

Feuern, wenn Die Rose duftet<br />

Die Signalweiterleitung innerhalb eines<br />

Neurons erfolgt durch die Fortpflanzung<br />

von Spannungsänderungen entlang der<br />

elektrisch geladenen Zellmembran.<br />

Übersteigt ein elektrisches Signal am<br />

Axonhügel einen bestimmten Schwellenwert,<br />

reagiert die Zellmembran, indem<br />

sie ein „Aktionspotenzial“ auslöst.<br />

Das ist ein stereotyper Spannungsimpuls,<br />

auch „Spike“ genannt, der entlang<br />

des Axons weitergeleitet wird (siehe<br />

Kasten auf Seite 83).<br />

Das Grundproblem beim Verständnis<br />

des neuronalen Codes besteht darin, dass<br />

die physikalischen Eigenschaften der<br />

Aktionspotenziale nicht verraten, wie die<br />

Reize, die sie ausgelöst haben, beschaffen<br />

sind. Egal ob wir Musik hören, an<br />

einer duftenden Rose riechen, fernsehen<br />

oder eine Katze streicheln – die Aktions-<br />

GEHIRN & GEIST 02/2002


potenziale, die dabei von den Neuronen<br />

erzeugt werden, sehen alle gleich aus. So<br />

wie die verschiedenen Wörter unserer<br />

Sprache immer aus denselben Buchstaben<br />

bestehen, so kann man den Spike als<br />

das Grundelement der Sprache der Neuronen<br />

betrachten. Die stets gleiche Form<br />

der Spikes macht die unterschiedlichsten<br />

Stimuli, wie beispielsweise Hör- und<br />

Sehreize, in der Hirnrinde miteinander<br />

kombinierbar. Man vermutet deshalb,<br />

dass alle Gedanken und Wahrnehmungen<br />

– und seien sie noch so abstrakt – auf<br />

Spikes beruhen, deren Kombinationen<br />

den neuronalen Code bilden.<br />

Woher „weiß“ ein Neuron, dass die<br />

bei ihm eingehende Information ein Duft<br />

ist und nicht etwa ein Klang? Diese so<br />

genannte Reizmodalität wird durch die<br />

neuronale Bahn codiert, die vom Sinnesrezeptor<br />

über möglicherweise mehrere<br />

Zwischenstufen bis zu diesem Neuron<br />

führt. Ein Neuron kann aber noch mehr<br />

wissen: So fanden David Hubel und<br />

Torsten Wiesel an der Havard Medical<br />

School vor etwa vierzig Jahren heraus,<br />

dass bestimmte Neuronen der primären<br />

Sehrinde (visueller Cortex) besonders<br />

gut auf Licht-Balken einer ganz bestimmten<br />

Orientierung ansprechen, die<br />

in einem begrenzten Teil des Gesichtsfeldes,<br />

dem so genannten rezeptiven Feld,<br />

liegen und in eine bestimmte Richtung<br />

bewegt werden.<br />

Bei diesen Versuchen maßen die<br />

Neurobiologen die so genannte Ratenantwort<br />

einzelner Cortexneuronen auf<br />

bestimmte Test-Reize (siehe Grafik Seite<br />

82 unten). Sie gingen dabei davon aus,<br />

dass die wesentliche Information in der<br />

Anzahl der Aktionspotenziale pro Zeiteinheit<br />

steckt. Die Rate lässt sich bestimmen,<br />

indem man die Anzahl der Aktionspotenziale<br />

in einem hinreichend langen<br />

Zeitintervall zählt und anschließend<br />

durch die Länge des Intervalls teilt.<br />

Die beiden Wissenschaftler machten<br />

noch eine weitere interessante Entdeckung:<br />

Neuronen, die auf ähnliche Positionen<br />

und Orientierungen ansprechen,<br />

liegen auch im Cortex räumlich nahe<br />

beieinander. Dies bedeutet, dass Positionen<br />

und Orientierungen visueller Reize<br />

wie bei einer Landkarte auf die Cortexoberfläche<br />

abgebildet werden (siehe<br />

Bild Seite 84). Neuronen, die innerhalb<br />

einer schmalen Säule senkrecht zur Cortexoberfläche,<br />

in so genannten corticalen<br />

Säulen, angeordnet sind, reagieren auf<br />

ähnliche Reizmerkmale. Für diese Ent-<br />

Der Mensch erkennt sein Sp iegelbild,<br />

aber wird er je den Code v erstehen, mit<br />

dem sein Gehirn dieses Bild v erschlüsselt?<br />

GEHI R N & GEI S T 02/2002<br />

Aus urheber rec htlic hen<br />

Gründen können wir Ihnen<br />

die Bilder leider nic ht<br />

online z eigen.<br />

81


CODIERUNG<br />

deckungen wurden Hubel und Wiesel<br />

1981 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.<br />

Eine ähnliche Karte existiert für den<br />

motorischen Cortex, der die Bewegungen<br />

der Körperteile plant und steuert. Er<br />

ist die „Ausgabeseite“ des Gehirns; auch<br />

dort führen benachbarte neuronale Aktivitäten<br />

zur Erregung benachbarter Muskelgruppen.<br />

Misst man die Aktivität von<br />

Neuronen in diesen motorischen Arealen,<br />

so stellt man fest, dass auch hier die<br />

Anzahl der Aktionspotenziale pro Zeiteinheit<br />

mit unterschiedlichen Parametern<br />

der Bewegung korrespondiert. Mit anderen<br />

Worten: Die Feuerrate dieser Neuronen<br />

codiert Bewegungen.<br />

Um einen brauchbaren Wert für die<br />

Ratenantwort zu erhalten, ist ein<br />

Zeitfenster in der Größenordnung von<br />

mindestens einer Sekunde notwendig,<br />

sonst wäre der Wert von der zufälligen<br />

Auswahl des „Zeitfensters“ zu sehr abhängig.<br />

Denn die Neurone feuern in diesem<br />

Zeitintervall meist nicht regelmäßig.<br />

Es wäre denkbar, dass nicht nur die Anzahl<br />

der Spikes, sondern auch das zeitliche<br />

Muster, mit dem die Spikes erscheinen,<br />

Informationen in sich bergen. Um<br />

diese ausfindig zu machen, wird das<br />

Zeitfenster in viele kleinere Intervalle<br />

zerlegt und über viele Versuchswiederholungen<br />

hinweg die mittlere Anzahl der<br />

Spikes pro Intervall bestimmt. Das Ergebnis<br />

ist das so genannte Peri-Stimulus-Time-Histogramm<br />

(PSTH, siehe Kasten<br />

Seite 85).<br />

Wenn diese verfeinerte Darstellung<br />

tatsächlich mehr Information trägt als die<br />

bloße Anzahl der Aktionspotenziale pro<br />

Zeiteinheit, dann sollte es möglich sein,<br />

daraus auch viel genauer auf den ver-<br />

82<br />

Rezeptorzellen zwischengeschaltete<br />

Neurone<br />

Gedächtnis, Gedanken,<br />

Seele und so weiter<br />

Motoneuron Muskelzellen<br />

Kettenreaktion:<br />

An der Eingangsseite der Nervenbahnen stehen Sinneszellen, etwa die der Augen oder<br />

Ohren. Diese spezialisierten Nervenzellen wandeln die Information von außen – zum<br />

Beispiel Licht oder Schallwellen – in elektrische Nervenimpulse um. Die Information<br />

wird dann stufenweise von einer Neuronengruppe zur nächsten weitergereicht.<br />

ursachenden Reiz zurückzuschließen.<br />

Lance Optican und Barry Richmond von<br />

den National Institutes of Health in Bethesda<br />

(Maryland) fanden 1987 als Erste<br />

heraus, dass dies tatsächlich möglich ist.<br />

Sie zeigten einer Katze unterschiedliche<br />

schachbrettartige Muster. Sie konnten<br />

auf Grund des PSTH eines Neurons im<br />

visuellen Cortex der Katze den präsentierten<br />

visuellen Reiz identifizieren, was<br />

aus der Gesamtzahl der Spikes allein<br />

nicht so gut möglich war.<br />

Das Hirn als gigantisches<br />

Telegrafenamt?<br />

Da also prinzipiell verschiedene Aspekte<br />

der neuronalen Aktivitäten Information<br />

über einen Reiz enthalten können, stellt<br />

sich die Frage, welche dieser Aspekte<br />

wesentlich sind. Tragen beispielsweise<br />

die Zeitpunkte der Spikes mehr Information<br />

über den Reiz als die schiere Anzahl?<br />

Dazu muss man wissen, wie viele<br />

Reizwerte ein Neuron überhaupt unterscheiden<br />

kann.<br />

Ein Konzept zur Beantwortung dieser<br />

Frage liefert die 1948 von Claude<br />

Shannon begründete Informationstheorie.<br />

Sie basiert auf drei Elementen: einem<br />

Sender, einem Empfänger und einem<br />

Informationskanal zwischen diesen<br />

beiden – typischerweise eine Telegrafenleitung.<br />

Über diesen Kanal schickt der<br />

Sender Folgen von Zeichen (die Nachricht),<br />

die einem Zeichenvorrat (dem<br />

„Alphabet“) entnommen sind.<br />

Über die Bedeutung des Zeichens haben<br />

sich Sender und Empfänger vorab<br />

verständigt. Die Ankunft der Information<br />

bewirkt beim Empfänger, dass er aus einem<br />

Sortiment von Möglichkeiten eine<br />

THOMAS BRAUN / G&G / NACH DAVID H. HUBEL<br />

einzige auswählen kann. Je größer die<br />

Anzahl unterscheidbarer Möglichkeiten,<br />

desto mehr Information steckt in der<br />

Nachricht.<br />

Ein uneingeweihter Beobachter, der<br />

nichts weiter wahrnimmt als die Folge<br />

der Zeichen, versteht die Bedeutung der<br />

Nachricht nicht. Trotzdem kann auch er<br />

eine Aussage darüber treffen, wie viel Information<br />

die Nachricht enthalten kann.<br />

Denn das mathematisch errechenbare<br />

Maß für die Information hängt ausschließlich<br />

von den relativen Häufigkeiten<br />

ab, mit denen die Zeichen in der<br />

Nachricht vorkommen.<br />

Ein seltenes Zeichen hat dabei mehr<br />

Informationswert für den Empfänger als<br />

ein häufiges. Intuitiv nachvollziehbar<br />

wird diese informationstheoretische Aussage,<br />

wenn Sie sich vorstellen, Sie erwarteten<br />

ein Telegramm, in dem ein<br />

Freund den Wochentag seines Besuchs<br />

ankündigen will. Leider wird die Nachricht<br />

bei der Übertragung dramatisch<br />

verstümmelt und es kommt nur ein einziger<br />

leserlicher Buchstabe an. Welcher<br />

Buchstabe hätte den größeren Informationsgehalt<br />

für Sie, ein a oder ein f? (Bei<br />

wie vielen Wochentagen kommt ein f<br />

vor?)<br />

Das einfachste denkbare Alphabet<br />

besteht aus nur zwei Zeichen, etwa 0 und<br />

1 („binärer Code“). Vorausgesetzt, beide<br />

Zeichen werden zuverlässig übertragen<br />

und kommen gleich häufig vor, ist die<br />

Information, die mit einem solchen Zeichen<br />

übermittelt wird, 1 Bit; das ist die<br />

Maßeinheit der Information. Was Sender<br />

und Empfänger sich bei der zwischen ih-<br />

Neuron mit Vorliebe:<br />

Antworten einer orientierungsspezifischen<br />

Zelle im primären visuellen Cortex<br />

einer Katze, die von D. Hubel und T.<br />

Wiesel 1958 erstmals gemessen wurden.<br />

Die Zelle feuerte fast ausschließlich auf<br />

einen Lichtbalken in 11-Uhr-Stellung, der<br />

von unten nach oben bewegt wurde.<br />

GEHIRN & GEIST 02/2002<br />

THOMAS BRAUN / G&G / NACH DAVID H. HUBEL


Signalfeuer im Nervensystem<br />

Wenn ein Neuron über seine Dendriten<br />

hinreichend viele erregende Eingangssignale<br />

erhält, so „feuert“ es:<br />

Über sein Axon gibt es das Signal in<br />

Form von Aktionspotenzialen, einer Folge<br />

elektrischer Signalpulse, weiter.<br />

Im Ruhezustand herrscht an der Nervenzellmembran<br />

ein negatives elektrisches<br />

Potenzial von ca. 70 Millivolt, das<br />

durch eine Ungleichverteilung von positiven<br />

und negativen Ionen dies- und<br />

jenseits der Membran entsteht. Da die<br />

Zellmembran zusätzlich spannungsabhängige<br />

Ionenkanäle enthält, ist sie<br />

elektrisch erregbar.<br />

Nur wenn die einlaufenden Signale in<br />

der Triggerzone des Axonhügels eine<br />

Spannungsänderung induzieren, die<br />

eine bestimmte Schwelle überschreitet,<br />

werden bestimmte Ionenkanäle geöffnet<br />

(siehe rechts oben im Bild, die<br />

Länge der Pfeile gibt die Stärke des Ionenstroms<br />

wieder). Es kommt zum<br />

plötzlichen Zusammenbruch des Ruhepotenzials<br />

mit anschließender Vorzeichenumkehr.<br />

Dieser typische Spannungspuls<br />

wird als Aktionspotenzial<br />

oder kurz „Spike“ bezeichnet.<br />

Wird ein Spike ausgelöst, so wandert<br />

er vom Soma der Zelle ausgehend das<br />

Axon entlang, welches über gewisse<br />

Kontaktstellen, die Synapsen, mit den<br />

nen übermittelten Nachricht denken,<br />

welche „Bedeutung“ die Nachricht für<br />

sie hat, ist für den Shannon’schen Informationsbegriff<br />

vollkommen irrelevant.<br />

Das macht die Informationstheorie für<br />

unsere Zwecke anwendbar: Wir können<br />

von der Information sprechen, die ein<br />

Neuron übermittelt, obgleich die Frage,<br />

was das Neuron „weiß“ oder „sich dabei<br />

denkt“, zunächst keinen Sinn macht.<br />

Es ist nur nicht ohne weiteres klar,<br />

was bei einem Neuron unter einem „Zeichen“<br />

zu verstehen ist. Wir gehen daher<br />

spekulativ vor und teilen zunächst das<br />

Zeitintervall, das uns interessiert, in lauter<br />

kleine Teilintervalle, in die jeweils<br />

höchstens ein Spike hineinpasst, und sagen,<br />

das Neuron sende das Zeichen 1,<br />

wenn es in diesem Teilintervall einen<br />

Spike ausstößt, andernfalls das Zeichen<br />

GEHIRN & GEIST 02/2002<br />

Zellkörper<br />

Axon<br />

Axonhügel<br />

Zellkern<br />

Richtung des Nervenimpules<br />

Synapse Dendrit<br />

dendritischen Fasern anderer Neurone<br />

verbunden ist. Bei den chemischen<br />

Synapsen gibt es dort einen Spalt, der<br />

das Axon des „präsynaptischen Neurons“<br />

von dem Dendrit der „postsynaptischen<br />

Nervenzelle“ elektrisch weitgehend<br />

isoliert. Anstelle einer direkten<br />

elektrischen Kopplung kommt es an<br />

solchen Synapsen zu einer elektro-<br />

0. Je mehr Teilintervalle für die Codierung<br />

zur Verfügung stehen, desto mehr<br />

Reizwerte können theoretisch unterschieden<br />

werden. Dieser Zusammenhang<br />

ist im Kasten auf der Seite 87 genauer<br />

dargestellt.<br />

Gitter vor dem Fliegenauge<br />

Interessieren wir uns dafür, wie viel von<br />

der Information des Eingangssignals<br />

(des Reizes) sich in der Nachricht, der<br />

neuronalen Antwort, wiederfindet, so<br />

können wir auch dies berechnen. Diese<br />

Größe wird in der Informationstheorie<br />

als Transinformation bezeichnet. Aus<br />

den relativen Häufigkeiten, mit denen ein<br />

Reizwert zusammen mit einem Zeichen<br />

der Nachricht vorkommt, bestimmt man<br />

näherungsweise die Wahrscheinlichkeiten<br />

des gemeinsamen Auftretens. In der<br />

Axon<br />

Membranpotenzial<br />

in Millivolt<br />

+<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

- +<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

- +<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

-<br />

+<br />

-<br />

++<br />

- -<br />

- - - - - - + + + + - - - - - - - - - -<br />

+ + + + + + - - - - + + + + + + + + ++<br />

+<br />

-<br />

0<br />

Natrium-Ionen<br />

Fortpflanzungsrichtung<br />

b<br />

+40<br />

Aktionspotenzial<br />

Aktionspotenzial<br />

Kalium-Ionen<br />

Ruhepotenzial<br />

-70 a<br />

-70<br />

chemischen Form der Signalübertragung.<br />

Sobald ein Spike die präsynaptische<br />

Seite dieses Spalts erreicht, setzt<br />

er dort so genannte Neurotransmitter<br />

frei, die als Botenstoffe bestimmte Ionenkanäle<br />

an der postsynaptischen<br />

Seite öffnen und dadurch die Membranspannung<br />

des postsynaptischen<br />

Neurons verändern.<br />

Praxis lassen sich diese Wahrscheinlichkeiten<br />

allerdings nur sehr grob ermitteln,<br />

andernfalls wäre eine astronomische<br />

Zahl an Versuchen notwendig.<br />

Es gibt jedoch eine einfachere Möglichkeit.<br />

Mit dieser kann geschätzt werden,<br />

wie viel Information ein Neuron<br />

mindestens überträgt. Dabei drehen wir<br />

das Problem gewissermaßen um: Man<br />

fragt sich, wie präzise sich aus der<br />

Kenntnis der Aktionspotenziale der Reiz<br />

rekonstruieren lässt. Diesen Ansatz haben<br />

der Physiker Bill Bialek und seine<br />

Kollegen in Princeton mit großem Erfolg<br />

praktiziert, sogar für sich dynamisch ändernde<br />

Reizverläufe. Sie untersuchten<br />

die Antworten des so genannten H1-<br />

Neurons im visuellen System einer Fliege,<br />

vor deren Augen ein Gittermuster bewegt<br />

wurde. Das Verfahren (siehe Kasten<br />

THOMAS BRAUN / G&G<br />

83<br />


THOMAS BRAUN / G&G / NACH SWINDALE 1998. BIOL. CYBERN. 78: S.49<br />

AUS DAVID H. HUBEL, AUGE UND GEHIRN, SPEKTRUM <strong>DER</strong> WISSENSCHAFT 1989<br />

CODIERUNG<br />

Seite 86) geht dabei von der vereinfachenden<br />

Annahme aus, es gebe für dieses<br />

Neuron einen bevorzugten Reizverlauf,<br />

bei dem es feuert. Dieser lässt sich<br />

rechnerisch ermitteln: Jedem beobachteten<br />

Spike wird der vorangegangene Reizverlauf<br />

zugeordnet, und durch Mittelung<br />

eine Art Durchschnittsreizverlauf bestimmt.<br />

Indem Bialek und sein Team diesen<br />

wie eine Schablone einsetzten, konnten<br />

sie dann rückwärts aus dem Spikemuster<br />

den gesamten zeitlichen Verlauf<br />

des präsentierten Stimulus näherungsweise<br />

rekonstruieren.<br />

Das Verfahren funktionierte, ein Beweis<br />

dafür, dass auch in den Zeitpunkten<br />

der Spikes zumindest eine gewisse Information<br />

über den Stimulus steckt. Aus der<br />

Qualität der Rekonstruktion konnten die<br />

Forscher sogar rechnerisch abschätzen,<br />

wie viel Information das Neuron übertragen<br />

haben musste – je geringer der Re-<br />

84<br />

Feintuning:<br />

Die Antwort eines Neurons<br />

ist auf einen<br />

relativ engen Reizbereich<br />

abgestimmt<br />

(tuned). Als Reiz diente<br />

hier ein Lichtbalken<br />

mit veränderlicher<br />

Orientierung. Das<br />

Optimum der „Tuningkurve“<br />

liegt bei 90<br />

Grad, abweichende<br />

Orientierungen provozieren<br />

entsprechend<br />

schwächere Feuerraten.<br />

konstruktionsfehler, desto mehr Information.<br />

Für das von Bialek und seinen<br />

Kollegen untersuchte H1-Neuron einer<br />

Fliege ergab sich eine geschätzte Transinformation<br />

von mindestens 64 Bit pro<br />

Sekunde und eine zeitliche Auflösung<br />

von etwa zwei Millisekunden. Da diese<br />

Rekonstruktionsmethode recht grob ist,<br />

handelt es sich dabei meistens um eine<br />

Unterschätzung, die jedoch den Vorteil<br />

hat, recht zuverlässige Ergebnisse zu liefern.<br />

Mit einer direkten Methode zur Bestimmung<br />

der Transinformation, die auf<br />

den relativen Häufigkeiten der Spikefolgen<br />

basiert, stellte sich heraus, dass das<br />

H1-Neuron tatsächlich sogar 81 Bit an<br />

Information pro Sekunde aus dem Stimulus<br />

gezogen hätte.<br />

Würden Reizmerkmale allein durch<br />

die Ratenantwort eines einzelnen Neurons<br />

codiert, wären der Informationsübertragung<br />

bald Grenzen gesetzt: Sich<br />

schnell verändernde Reize könnten nicht<br />

zuverlässig übertragen werden. Denn ein<br />

Neuron braucht nach jedem Spike eine<br />

gewisse Erholungspause, so dass die<br />

Spikes nicht beliebig schnell aufeinander<br />

folgen können. Wenn die Reizwerte sich<br />

sehr rasch ändern, müsste das Neuron<br />

dies mit den wenigen Spikes codieren,<br />

die gerade noch in ein ganz kurzes Zeitfenster<br />

passen, was wiederum eine sehr<br />

geringe Genauigkeit bedeuten würde.<br />

Hinzu kommt, dass die Antwort eines<br />

Neurons auf denselben Reiz insbesondere<br />

im Cortex wie gesagt sehr variabel ist.<br />

So gesehen scheinen graduelle Unterschiede<br />

in der Feuerrate eines Neurons<br />

kaum geeignet, die Änderung von<br />

Reizen zu codieren. Anders könnte es<br />

aussehen, wenn die wesentliche Information<br />

nicht in der Antwort eines einzelnen<br />

Neurons, sondern in ganzen Neuronengruppen<br />

codiert ist.<br />

Ein Neuron<br />

kommt selten allein<br />

Für diese so genannte Populations-Codierung<br />

sprechen mehrere Gründe. Ein<br />

Neuron der Gehirnrinde hat typischerweise<br />

tausend bis zehntausend synaptische<br />

Eingänge, empfängt also die Aktivitäten<br />

einer ganzen Population vorgeschalteter<br />

Neuronen. Demnach scheint<br />

die Betrachtung von Populationen der<br />

„Sichtweise“ der Neuronen selbst zu entsprechen.<br />

Im einfachsten Fall einer Mittelwertbildung<br />

über viele Neuronenantworten<br />

ist die Signalübertragung sogar<br />

stabil gegenüber dem Ausfall einzelner<br />

Neuronen.<br />

Tatsächlich sind solche Populationen<br />

zu entdecken: Das Antwortverhalten be-<br />

Licht aus – Spotlights an:<br />

Ein spannungsempfindlicher<br />

Farbstoff macht die jeweilige<br />

Vorliebe eines Neurons der primären<br />

Sehrinde für eine bestimmte<br />

Reizorientierung sichtbar. Wird ein<br />

Lichtstreifen einer bestimmten<br />

Orientierung (links im Bild) dargeboten,<br />

ändert der Farbstoff in den<br />

jeweils elektrisch erregten Zellen<br />

die Farbe. Alle Cortexregionen, die<br />

auf eine bestimmte Reizorientierung<br />

hin aufleuchten, bekommen<br />

dieselbe Farbe zugeordnet. Die<br />

Technik wurde von Larry Cohen an<br />

der Yale University entwickelt und<br />

dann von Gary Blasdel von der<br />

Pittsburgh University auf die<br />

Großhirnrinde angewendet.<br />

GEHIRN & GEIST 02/2002


THOMAS BRAUN / G&G<br />

Information – verborgen im Erregungsmuster<br />

Die Spike-Antwort einer Nervenzelle auf identische präsentierte<br />

Reize sieht jedes Mal etwas anders aus (links<br />

oben). Daher wird die mittlere Pulsrate im festgelegten Zeit-<br />

Präsentationsnummer<br />

Feuerrate (Spikes/sec)<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

300<br />

200<br />

100<br />

nachbarter Neuronen in mehreren Cortexregionen<br />

ist redundant – dies wiesen<br />

bereits Hubel und Wiesel in den erwähnten<br />

corticalen Merkmalskarten nach. Bevorzugte<br />

Reizeigenschaften benachbarter<br />

Cortex-Neuronen ändern sich nicht<br />

sprunghaft, sondern allmählich. Die<br />

Neuronen innerhalb einer corticalen Säule<br />

bevorzugen quasi identische Reize.<br />

Diese Neuronen sind daher besonders<br />

gut geeignet, um Populationscodes zu erzeugen.<br />

Das Spikemuster scheint bei den Populationscodes<br />

ebenfalls eine Rolle zu<br />

spielen. Die von Bialek angewendete<br />

Methode lässt sich nämlich relativ einfach<br />

auf eine ganze Population von Neuronen<br />

erweitern, wie die Neurobiologin<br />

Yang Dan und ihre Mitarbeiter von der<br />

University of California in Berkeley demonstrierten.<br />

Sie zeigten einer Katze<br />

Filmsequenzen und leiteten im so genannten<br />

seitlichen Kniehöcker Spikeantworten<br />

ab, die aus dem visuellen Thalamus<br />

„gesendet“ wurden. Ähnlich wie in<br />

Bialeks Fliegen-Experiment gewannen<br />

die Forscher zunächst zu jedem einzelnen<br />

Neuron dessen bevorzugten Reizverlauf.<br />

Aus deren Überlagerungen rekonstruierten<br />

sie nicht nur wie Bialek den<br />

Reizverlauf am Eingang eines einzelnen<br />

Neurons, sondern aus der Überlagerung<br />

GEHIRN & GEIST 02/2002<br />

0<br />

0 100 200 300 400 500<br />

Zeit in Millisekunden<br />

0<br />

0<br />

Peri-Stimulus-Time-Histogramm (PSTH)<br />

100 200 300 400 500<br />

Zeit in Millisekunden<br />

über alle Reizantworten der Population<br />

die ganze Filmsequenz. Die Experimente<br />

wiesen eindrucksvoll nach, dass komplexe<br />

Reizmuster durch die zeitliche Abfolge<br />

der Aktionspotenziale einer Neuronen-Gruppe<br />

detailliert codiert werden<br />

können.<br />

Mit derselben sowie anderen, ähnlichen<br />

Methoden ist es Miguel Nicolelis<br />

von der Duke University im amerikanischen<br />

Durham (North Carolina) und Mitarbeitern<br />

kürzlich gelungen, aus den<br />

neuronalen Aktivitäten im motorischen<br />

Cortex eines Affen die Bewegungsabfolge<br />

seiner Arme vorherzusagen. Sie haben<br />

intervall (hier zehn Millisekunden) bestimmt und als Balkendiagramm<br />

(links unten) aufgetragen. Das so genannte Peri-<br />

Stimulus-Time-Histogramm gibt die „typische“ Antwort einer<br />

Zelle nach Präsentation eines bestimmten Reizes wieder.<br />

Je kleiner die Zeitintervalle sind, in denen die Spikes (a,<br />

Bild rechts) gezählt werden, desto differenzierter gibt das<br />

Balkendiagramm Auskunft (b, c). Wird das Zeitfenster so<br />

klein gewählt, dass höchstens ein Spike darin Platz findet<br />

(d), lässt sich die Spikefolge als binärer Code darstellen (e).<br />

damit sogar über das Internet einen Roboterarm<br />

gesteuert.<br />

Ein anderes aufschlussreiches Experiment<br />

zur Populationscodierung führten<br />

bereits vor über zehn Jahren die Neurowissenschaftler<br />

Choongkil Lee, Bill<br />

Rohrer und David Sparks von der University<br />

of Alabama in Birmingham<br />

durch. Die Forscher rekonstruierten die<br />

Augenbewegung eines Affen aus der Aktivität<br />

vieler motorischer Neuronen des<br />

Colliculus superior, des „oberen Hügels“<br />

des Mittelhirndaches. Dabei berechneten<br />

sie durch Mittelwertbildung über die von<br />

den einzelnen Neuronen bevorzugten<br />

▲<br />

85


THOMAS BRAUN / G&G / NACH BORST, A., THEUNISSEN F.E.<br />

CODIERUNG<br />

Augenpositionen, jeweils gewichtet mit<br />

deren Aktivität, einen so genannten Populationsvektor.<br />

Dieser stimmte mit der<br />

tatsächlichen Augenposition gut überein.<br />

Um zu prüfen, ob diese Methode tatsächlich<br />

wesentliche Aspekte des neuronalen<br />

Codes offenbart, schalteten die Forscher<br />

einen Teil der Neuronen zeitweilig aus.<br />

Tatsächlich konnten sie nun anhand des<br />

neu berechneten Populationsvektors vorhersagen,<br />

welchen Einfluss der Wegfall<br />

dieser neuronalen Teilpopulation auf die<br />

Augenbewegung hatte.<br />

Mit informationstheoretischen Methoden<br />

lassen sich nicht nur die Eigenschaften<br />

der beobachtbaren neuronalen<br />

Codes ermitteln. Sie erlauben es auch,<br />

86<br />

Schätzen, was ein Neuron schätzt<br />

Wie viel Information kann ein neuron<br />

Mindestens übertragen? Mit einem<br />

rechnerischen Verfahren, der so<br />

genannten Reverse-Correlation-Methode,<br />

lässt sich dies abschätzen. Man<br />

geht dabei von der Annahme aus, es<br />

gebe für ein Neuron einen bevorzugten<br />

Reizverlauf, bei dem es mit einem<br />

einzelnen Spike feuert. Auf ein Signal,<br />

das aus der Summe zweier zeitversetzter<br />

Exemplare des typischen Reizes<br />

besteht, antworte es mit zwei entsprechend<br />

zeitversetzten Spikes und<br />

so fort.<br />

Das unten stehende Diagramm gibt<br />

in Rot ein sich zeitlich änderndes Reizsignal<br />

wieder, darunter das registrier-<br />

Umdrehungsgeschwindigkeit<br />

(Grad/Sekunde)<br />

Umdrehungsgeschwindigkeit<br />

(Grad/Sekunde)<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

0<br />

-100<br />

-200<br />

-300<br />

-400<br />

0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5<br />

Zeit in Sekunden<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

0<br />

-100<br />

-200<br />

-300<br />

Signalverlauf<br />

neuronale Antwort<br />

Spikeantwort<br />

Signalverlauf<br />

geschätzter<br />

Signalverlauf<br />

-400<br />

0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5<br />

Zeit in Sekunden<br />

te Spikemuster. Zu jedem Spike wird<br />

der Verlauf des Reizes in einem dem<br />

Spike unmittelbar vorausgehenden<br />

Zeitintervall bestimmt und der Mittelwert<br />

dieser Verläufe über alle Spikes<br />

berechnet. Dies ist dann in guter Näherung<br />

der bevorzugte Reizverlauf des<br />

Neurons.<br />

Denn: Summiert man zu jedem<br />

Spike ein Exemplar des bevorzugten<br />

Reizverlaufes mit der richtigen Zeitversetzung<br />

auf, so gewinnt man eine ungefähre<br />

Wiedergabe des ursprünglichen<br />

Signals. Aus der Qualität der Rekonstruktion<br />

können die Forscher abschätzen,<br />

wie viel Information das<br />

Neuron mindestens übertragen hat.<br />

(Grad/Sekunde x Millivolt)<br />

0,2<br />

0,1<br />

0,0<br />

gemittelter Signalverlauf<br />

zum Zeitpunkt eines Spikes<br />

-0,1<br />

-0,15 -0,10 -0,05 0,00 0,05 0,10<br />

Zeit in Sekunden<br />

theoretisch mögliche andere neuronale<br />

Codes herzuleiten und diese einer evolutionsbiologischen<br />

Betrachtung zu unterziehen.<br />

Unter vielen im Prinzip realisierbaren<br />

Codierungen sollte die Evolution<br />

im Verlauf der Zeit die effizientesten hervorgebracht<br />

haben. Es ist daher interessant<br />

zu untersuchen, wie diese unter Berücksichtigung<br />

der biologischen Randbedingungen<br />

aussehen könnten.<br />

Was aber bedeutet es für Neuronen,<br />

besonders effizient zu sein? Fred Attneave<br />

von der University of Oregon und<br />

Horace Barlow von der englischen University<br />

of Cambridge postulierten bereits<br />

in den fünfziger Jahren, dass Nervenzellen<br />

auf einen Reiz mit dem geringst-<br />

möglichen Aufwand antworten sollten –<br />

also mit so wenig Redundanz wie möglich.<br />

Wenn sich zwei Neuronen im Wesentlichen<br />

gleich verhalten, könnte man<br />

diese Redundanz dadurch verringern,<br />

dass man eines der Neuronen einspart<br />

oder mit anderen Aufgaben betraut. Und<br />

tatsächlich gibt es eine Fülle experimenteller<br />

Hinweise dafür, dass die Codierung<br />

von Reizen durch sensorische Neuronen,<br />

etwa in der Netzhaut, kaum redundant<br />

ist.<br />

Ein anderes Effizienzkriterium könnte<br />

die Qualität der Übertragung sein: Für<br />

das Überleben vieler Organismen ist es<br />

entscheidend, möglichst schnell Feinde<br />

oder Beutetiere zu erkennen und zu lokalisieren.<br />

Menschen, denen kurzzeitig<br />

komplexe Naturbilder präsentiert wurden,<br />

konnten in weniger als 0,2 Sekunden<br />

mit großer Sicherheit erkennen, ob<br />

auf diesem Bild ein Tier war. Diese hohe<br />

Verarbeitungsgeschwindigkeit stellt besondere<br />

Anforderungen an den neuronalen<br />

Code. Vom Rezeptor bis zur Wahrnehmung<br />

im Cortex und schließlich zur<br />

Muskelaktivierung (zum Drücken einer<br />

Taste) muss das Signal durch viele neuronale<br />

Verarbeitungsstufen, sodass schon<br />

rein zeitlich gesehen jedes Neuron zu<br />

dieser Signalkette nur wenige Spikes<br />

beitragen kann.<br />

Wir stellten uns deshalb die Frage,<br />

welche neuronale Codierung für diesen<br />

Zweck im Sinne des kleinsten Rekonstruktionsfehlers<br />

optimal wäre. Unsere<br />

Berechnungen dieses Fehlers für verschiedene<br />

Codierungsstrategien zeigen,<br />

dass es gerade bei großen Populationen<br />

ungünstig ist, verschiedene Merkmale<br />

durch graduelle Unterschiede in den<br />

Feuerraten zu codieren: Der vermeintliche<br />

Vorteil, den man dadurch erhält, dass<br />

sich die Menge der verschiedenen Ratenwerte<br />

für ein Neuron vergrößert, wiegt<br />

nicht so schwer wie der Nachteil der<br />

gleichzeitig abnehmenden Zuverlässigkeit,<br />

mit der diese Ratenwerte aus den<br />

Spike-Antworten der Neurone geschätzt<br />

werden können.<br />

Einen besonders schlechten Rekonstruktionsfehler<br />

erhält man für solche<br />

Populationscodierungen, bei denen die<br />

Gesamt-Spike-Rate einer Population als<br />

Signal benutzt wird. Viel günstiger wäre<br />

ein Code, so folgerten wir, bei dem die<br />

einzelnen Neuronen zwischen lediglich<br />

zwei Zuständen – der maximalen und der<br />

minimalen Feuerrate – „umschalten“.<br />

Tatsächlich gibt es im Cortex viele<br />

Neuronen, bei denen dieses Prinzip verwirklicht<br />

zu sein scheint. Diese Neuronen<br />

feuern immer in Salven (bursts), bei<br />

denen die Aktionspotenziale ganz<br />

schnell aufeinander folgen. Die bloße<br />

GEHIRN & GEIST 02/2002


Codes für alle Fälle<br />

Denkbar einfaches Alphabet: Ist der<br />

Spike das Grundelement der neuronalen<br />

Sprache, so verwenden Nervenzellen<br />

genau zwei Zeichen: Spike oder<br />

kein Spike, 0 oder 1.<br />

Für die Codierung von genau zwei<br />

möglichen Werten würde es dann genügen,<br />

wenn ein Neuron zuverlässig in einem<br />

irgendwie festgelegten Zeitfenster<br />

für den einen Wert einen Spike aussendet<br />

und für den andere nicht.<br />

Beispiel: Bei der in (a) verwendeten<br />

Codierung passt in das Zeitfenster nur<br />

ein einzelner Spike. Die Orientierung<br />

eines präsentierten Lichtbalkens kann<br />

deshalb nur sehr grob unterschieden<br />

werden: Senkrecht erfolgt keine Aktivierung,<br />

waagrecht wird ein Spike ausgelöst.<br />

Existenz solcher Neuronen ist allerdings<br />

noch kein hinreichender Nachweis. Bestimmt<br />

man über viele Versuche hinweg<br />

die Ratenantwort, ergeben sich auch bei<br />

diesen Neuronen Feuerraten, die sich abhängig<br />

von der variierten Reizeigenschaft<br />

stetig ändern.<br />

Funktionieren<br />

geht über Codieren<br />

Unsere und ähnliche von anderen Forschergruppen<br />

in jüngster Zeit durchgeführten<br />

Untersuchungen deuten darauf<br />

hin, dass die beobachteten neuronalen<br />

Codierungen, verglichen mit den informationstheoretisch<br />

möglichen, nicht unbedingt<br />

optimal sind. Ein Grund dafür<br />

könnte folgender sein: Damit ein Organismus<br />

überleben kann, müssen entscheidungswirksame<br />

Informationen richtig<br />

repräsentiert werden. Aus theoretischer<br />

Sicht impliziert dies wiederum,<br />

dass die größtmögliche Informationsmenge<br />

mit geringstem Aufwand zu<br />

transportieren nicht das einzige relevante<br />

Ziel einer Codierung darstellt. Offensichtlich<br />

ist das Ziel neuronaler Informationsverarbeitung<br />

im Gehirn nicht, so<br />

viel Information wie möglich zu transportieren.<br />

Vielmehr geht es darum, die<br />

implizit bereits vorhandene Information<br />

auf das Wesentliche zu reduzieren und<br />

dadurch für Entscheidungen explizit<br />

nutzbar zu machen.<br />

Ein Beispiel: Es soll entschieden<br />

werden, ob 51 x 17 größer ist als 24 x 37.<br />

GEHIRN & GEIST 02/2002<br />

In (b) verwendet der Code zwei aufeinander<br />

folgende Zeitintervalle. Damit<br />

lassen sich bereits vier Reizorientierungen<br />

unterscheiden (waagrecht, senkrecht<br />

und zweimal diagonal).<br />

Hat man mehrere Intervalle zur Verfügung<br />

(c, d) ergeben sich verschiedene<br />

Codierungsmöglichkeiten. Mit drei Intervallen<br />

sind es maximal 8=2 3 .<br />

Beim Ratencode in (c) lassen sich die<br />

verschiedenen Balkenorientierungen<br />

bereits durch die Anzahl der Spikes differenzieren.<br />

In (d) ist ein anderes Unterscheidungskriterium<br />

verwirklicht: Hier<br />

kommt es lediglich auf den Zeitpunkt<br />

des ersten Spikes an, es handelt sich<br />

um einen so genannten Latenzcode.<br />

Der gezeigte Ratencode und der La-<br />

Dabei ist die gesamte zur Lösung notwendige<br />

Information bereits in der Aufgabenstellung<br />

vorgegeben. Um diese Information<br />

zur Beantwortung der Frage<br />

nutzen zu können, müssen die gegebenen<br />

Ausdrücke jedoch zunächst in geeigneter<br />

Weise umgeformt werden. Am Ende<br />

steht anstelle der zahlreichen Bits, die<br />

zur Codierung der Frage erforderlich<br />

sind, ein einziges Bit: die Antwort<br />

„nein“.<br />

Führt man eine komplizierte Berechnung<br />

durch, die eine große Zahl von<br />

Zwischenschritten erfordert, schleicht<br />

sich mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwo<br />

ein kleiner Fehler ein, der zu einem<br />

falschen Ergebnis führen kann. Die<br />

Effizienz bei der neuronalen Codierung<br />

entspricht dann einem Kriterium für die<br />

Auswahl einer „Notation“, also einer<br />

Darstellung der relevanten Information,<br />

die sich besonders gut dazu eignet, Übertragungsfehler<br />

zu vermeiden.<br />

Was das Gehirn als Ganzes betrifft,<br />

so wissen wir natürlich, dass sich das<br />

Verhalten vieler Tiere und besonders das<br />

des Menschen nicht auf reflexartige<br />

Handlungen reduzieren lässt, die sich<br />

auch ohne Kenntnis der inneren Zustände<br />

des Gehirns beschreiben lassen. Zu<br />

viele andere Einflussgrößen sind im<br />

Spiel – Wachheit und Aufmerksamkeit,<br />

Emotionen und aktuelle Ziele, und nicht<br />

zuletzt das in ständigem Fluss befindliche<br />

Gedächtnis. Wie sich diese inneren<br />

Zustände auf den verschiedenen Zeitska-<br />

tenzcode lassen eine Redundanz erkennen,<br />

bei der unterschiedliche Muster<br />

dasselbe bedeuten. Dies kann die<br />

Fehleranfälligkeit einer Codierung reduzieren.<br />

(e) Man muss aber auch damit rechnen,<br />

dass das Gehirn Spikemuster verwendet,<br />

deren Code schwieriger zu erkennen<br />

ist.<br />

len von einer Sekunde bis hin zur Zeitspanne<br />

des ganzen Lebens organisieren<br />

und wie sie im Einzelnen auf die Informationsverarbeitung<br />

einwirken, bleibt<br />

eine zentrale Frage der Systemneurobiologie.<br />

Um den neuronalen Code – die<br />

„Sprache des Gehirns“ – umfassend verstehen<br />

zu können, müssen Forscher in<br />

der Zukunft vor allem klären, wie das<br />

Gehirn mit sich selbst spricht. ◆<br />

Matthias Bethge und Prof. Klaus Pawelzik<br />

forschen am Institut für Theoretische Physik<br />

der Universität Bremen.<br />

Literaturtipps<br />

Dayan, P., Abott, L. F: Theoretical Neuroscience.<br />

Cambridge, MA: MIT Press 2001.<br />

Richmond, B. J., Gawne, T. J.: The Relationship<br />

Between Neuronal Codes and Cortical<br />

Organization. In: Eichenbaum, H. B.,<br />

Davis, J. L. (Hg.): Neuronal Ensembles –<br />

Strageties for Recoding and Decoding.<br />

New York: Wiley-Liss 1988.<br />

THOMAS BRAUN / G&G<br />

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