Intertemporale Entscheidung - APA
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INTERTEMPORALE ENTSCHEIDUNG<br />
Menschliche Wahlhandlungen zwischen<br />
unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung und<br />
langfristigem Wohlergehen<br />
Diplomarbeit<br />
von<br />
Franz Jürgen Preithuber<br />
Wirtschaftsuniversität Wien<br />
Wien / Sankt Andrä im Lavanttal<br />
2005 / 2006
Für Mama und Papa
Vorwort<br />
DENN WE IL S IE S ICH WUN DER TEN, H AB EN<br />
JETZT UN D IM M ER SCHON D IE M ENSCHEN<br />
BEGON NEN, N AC H ZU DENKEN … UN D N UR UM<br />
ZU WIS SE N TR ACHTE T EN S IE N AC H DER<br />
ERKE NN TNIS …<br />
i<br />
AR IS TOTE LES<br />
Wundern und Staunen über die verborgenen Verbindungen der vielfältigen<br />
Erscheinungen unserer Natur stehen am Anfang wissenschaftlicher Forschung. 1<br />
Wundern und Staunen stehen nicht allein, oder bloß als Worte, vielmehr<br />
beschreiben sie eine Mischung von unterschiedlichsten Gefühlen. Neugier,<br />
Angst bisweilen Verzweiflung, oder die pure Freude an der Beschäftigung an<br />
sich, sind die Triebfedern sich mit der Komplexität der Welt, mit dem<br />
Unbekannten und Rätselhaften unseres Seins auseinanderzusetzen. Als Ergebnis<br />
unserer Forschungen stehen schließlich Theorien, vorläufige Erklärungen für<br />
das von uns gewünscht zu Ergründende. Was die Wissenschaft schlußendlich<br />
doch erhebt ist der Zweifel, so wie Brecht es Galilei sagen läßt: 2<br />
Sie [die Wissenschaft] handelt mit Wissen, gewonnen durch Zweifel.<br />
Wissen verschaffend über alles für alle, trachtet sie, Zweifler zu machen<br />
aus allen.<br />
Wundern und Staunen gefolgt vom Zweifel. Bisweilen ist es tatsächlich wie<br />
Morgentau der von den Blättern fällt, schlicht eine Befreiung des Geistes. Es<br />
eröffnet sich eine neue Sichtweise. Was zuvor nicht ausreichend erklärbar<br />
ergibt plötzlich einen Sinn. Es entsteht ein Muster im Chaos. Es sind diese<br />
Augenblicke, die für die Qualen der Suche entschädigen. Vielleicht ist es<br />
tatsächlich nicht nur die Aufgabe von Wissenschaftlern, sondern jedes<br />
einzelnen Menschen, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern<br />
- auch wenn es nur die uns ganz Eigene ist. Es folgt der Zweifel.<br />
1 Hayek (1996, S.282, Fußnote 1).<br />
2 Brecht (1963, S. 124). Zitat vom Autor ergänzt.
Die hier vorliegende Arbeit ist das vorläufige Ergebnis einer Suche, geboren<br />
aus der Verzweiflung, birgt sie Einblicke in das Geheimnisvolle der<br />
menschlichen Natur, verwoben mit dem Wirtschaftlichen, der Ökonomie. Sie<br />
steht im Grenzgebiet, aber doch vielmehr als Brücke denn Schranke, zwischen<br />
Ökonomie, Psychologie und Neurobiologie. Sie stellt den Versuch dar,<br />
menschliches <strong>Entscheidung</strong>sverhalten über die Zeit in seiner Komplexität<br />
wiederzugeben.<br />
Motiviert durch die mir eigene Lebensgeschichte, im Bewußtsein der<br />
mannigfaltigen Herausforderungen von Wahlentscheidungen und der Erkenntnis<br />
doch so oft daran zu scheitern, ist dieser Versuch in gewisser Weise ein<br />
Selbstfindungsprozeß. Die Problematik des Verlierens der Selbstkontrolle, trotz<br />
zunehmender Selbsterkenntnis und entwickelter Strategien der Selbstbindung<br />
ist ein, wenn nicht der Hauptaspekt, der in dieser Arbeit seinen Ausdruck<br />
finden soll. Die Einsicht, daß in unserem Selbst Kräfte am Werk sind, die nichts<br />
mit freiem Willen und aufgeklärter Vernunft zu tun haben ist der Schlüssel zu<br />
einem Verständnis tiefer liegender Zusammenhänge, die ich zuvor zwar für<br />
möglich, aber nicht weiter relevant hielt. Diese Kräfte von denen hier zu<br />
sprechen sein wird, sind aufs Engste verbunden mit dem Phänomen des<br />
Unbewußten und nicht zu Kontrollierenden. Verbunden mit dieser Einsicht ist<br />
auch die Gewißheit in gewisser Weise ausgeliefert zu sein. Es folgt der Zweifel.<br />
In welcher Weise läßt sich nun meine persönliche Motivation mit der<br />
Wissenschaft, im speziellen mit jener der Ökonomie in Verbindung bringen?<br />
Ich möchte die Erklärung mit Worten von August Friedrich von Hayek aus<br />
seiner „Theorie komplexer Phänomene“ beginnen: 3<br />
Sobald wir in mannigfaltig verschiedenen Verhältnissen derartige<br />
Regelmäßigkeiten bemerken veranlaßt uns unser Verstand, das<br />
Vorhandensein einer gleichen wirkenden Kraft anzunehmen und neugierig<br />
zu werden, sie zu entdecken.<br />
3 Hayek (1996, S. 283).<br />
ii
Im Laufe der intensiven Auseinandersetzung mit meinem Selbst und meiner<br />
Umwelt begann sich in mir der Eindruck zu verstärken, daß was für die einem<br />
Menschen innewohnenden Kräfte auch für das größere Ganze, die Ökonomie<br />
gelten muß. Mein Blick richtete sich immer mehr auf diese verborgenen Kräfte,<br />
die sich vorderhand nicht beschreiben und aufzeichnen, nicht kontrollieren<br />
lassen. Auch die Wirtschaft ist reich an diesen Kräften, und sie sind es die die<br />
Voraussagen und Prognosen über die Zukunft so unendlich schwer machen.<br />
Diese Kräfte kann man, wenn man möchte, als unbewußte wirtschaftliche<br />
Prozesse charakterisieren. Ich meine damit zum Beispiel das was als „Stilles<br />
Wissen“ (Tacit Knowledge) bezeichnet wird. Hayek begründet, so glaube ich,<br />
damit zum Teil die Überlegenheit des Kapitalismus über die Planwirtschaft. 4 In<br />
gewisser Weise entsprechen diese Kräfte auch dem, was Adam Smith als<br />
„Unsichtbare Hand“ (Invisible Hand) bezeichnet.<br />
Die Gemeinsamkeiten, so argumentiere ich, und auch die Verbindung<br />
zu anderen Disziplinen sind Folgende. Dieses Unbekannte, uns nicht Bewußte<br />
und damit auch schwer Kontrollierbare entspricht dem ES, dem ursprünglichen<br />
Trieb, in Sigmund Freuds Strukturmodell 5 und findet sich wieder im limbischen<br />
System unseres Gehirns 6 . Diese Kräfte sind der Widerpart zur Vernunft, zur<br />
Ratio Kants. Am einfachsten, so meine ich, läßt sich diese von mir verfolgte<br />
Auffassung als Wechselspiel zweier komplexer Systeme darstellen. Ich möchte<br />
es tatsächlich als Dichotomie der menschlichen Natur bezeichnen. Nun ist es so,<br />
daß es im Paradigma der neoklassischen Theorie keinen Platz gibt für das<br />
Unbewußte, für das Emotionelle oder Gefühle. Der wirtschaftliche Mensch ist<br />
ein rationaler Mensch. In dieser Arbeit versuche ich zu zeigen, daß das nur die<br />
halbe Wahrheit sein kann.<br />
Das Ziel dieser Arbeit, wenn man es als solches definieren will, ist es nicht<br />
einen generellen Beweis zu liefern, es geht vielmehr darum Bewußtsein zu<br />
schaffen, einen Spiegel zu bieten, den ich mir vor mein eigenes Gesicht halte,<br />
um das sichtbar zu machen, was zuvor nicht zu sehen war. Es geht nicht darum<br />
4 Vgl. Caldwell (1997, S.1866) und Hayek (2002).<br />
5 Vgl. zum Beispiel Kutter (2000, S. 83-95).<br />
6 Siehe unter anderen Roth (2003).<br />
iii
spezielle Voraussagen zu machen, aber das Auftreten von gewissen Mustern<br />
und Ordnungen aufzuzeigen, nicht um <strong>Entscheidung</strong>sregeln vorzuschreiben,<br />
aber Orientierungshilfen für Handlungen zu bieten. So wie Friedrich August<br />
von Hayek festhält: 7<br />
… that we can derive from our theories only very general statements, or<br />
“pattern predictions“, […]; we cannot, however, derive any specific<br />
predictions of individual events from them.<br />
Um meine Sichtweise zu verdeutlichen, werde ich sie in der vorliegenden<br />
Arbeit auf ein konkretes Themengebiet beschränken. Die „Theorie der<br />
<strong>Intertemporale</strong>n <strong>Entscheidung</strong>“ bietet mir diese Möglichkeit. Anhand der<br />
Beschäftigung mit dieser Thematik, die sich von den Anfängen der<br />
Wirtschaftswissenschaften, bis hin zu den verhaltenswissenschaftlich<br />
orientierten Ökonomen der Gegenwart zieht, traue ich mich, abschließend einen<br />
integrativen Ansatz zu entwickeln, der sowohl den objektiv-funktionalistischen,<br />
wie auch den subjektiv-interpretativen Gesichtspunkten Rechnung tragen kann.<br />
Und obwohl du es weißt, im Augenblick da es ist möglich,<br />
Du kannst nicht widerstehen, es ist unmöglich.<br />
Wie von einem Dämon besessen Du folgst –<br />
Die Versuchung zu stark, der Willen zu schwach,<br />
Und im Moment, da Du es getan,<br />
Die Schuld dich fast erdrückt.<br />
7 Hayek (2002, S.12).<br />
iv
INHALTSVERZEICHNIS<br />
Einleitung ______________________________________________________ 1<br />
1 Basisdarstellungen ___________________________________________ 6<br />
1.1 <strong>Intertemporale</strong> <strong>Entscheidung</strong>en__________________________________ 7<br />
1.1.1 <strong>Intertemporale</strong> <strong>Entscheidung</strong>en und <strong>Entscheidung</strong>stheorie _________________ 9<br />
1.2 Philosophie und Ökonomie im Diskurs ___________________________ 11<br />
1.3 Das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft in der menschlichen<br />
Wirtschaft ___________________________________________________ 15<br />
1.3.1 Zeitpräferenz ____________________________________________________ 15<br />
1.3.2 Eine kurze Geschichte der Zeitpräferenz ______________________________ 16<br />
1.3.2.1 John Rae ___________________________________________________ 16<br />
1.3.2.2 Nassau W. Senior und William S. Jevons ________________________ 21<br />
1.3.2.3 Österreichische Schule der Nationalökonomie _____________________ 22<br />
1.3.2.3.1 Carl Menger _____________________________________________ 22<br />
1.3.2.3.2 Böhm-Bawerk ____________________________________________ 24<br />
1.3.2.4 Zusammenfassung ___________________________________________ 26<br />
1.4 Behavioral Economics _________________________________________ 28<br />
1.4.1 Positionierung ___________________________________________________ 29<br />
1.4.2 Geschichte und Methodik __________________________________________ 30<br />
1.4.3 Ausblick _______________________________________________________ 33<br />
1.5 Neuroeconomics ______________________________________________ 34<br />
1.5.1 Methodik _______________________________________________________ 36<br />
1.5.2 Grundlegender Aufbau und Funktionsweise des menschlichen Gehirns _____ 36<br />
1.5.2.1 Kontrollierte Prozesse ________________________________________ 38<br />
1.5.2.2 Automatische Prozesse________________________________________ 38<br />
1.5.2.3 Kognitiv-exekutive Prozesse ___________________________________ 39<br />
1.5.2.4 Affektiv-emotionale Prozesse __________________________________ 39<br />
i
2 Modelle der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sfindung ______________ 43<br />
2.1 Terminologie der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong> im neoklassischen<br />
Paradigma___________________________________________________ 44<br />
2.2 Klassische Modelle____________________________________________ 47<br />
2.2.1 Irving Fisher ____________________________________________________ 47<br />
2.2.2 Das Discounted-Utility-Modell _____________________________________ 48<br />
2.3 Anomalien___________________________________________________ 53<br />
2.3.1 Empirische und experimentelle Untersuchungen ________________________ 55<br />
2.3.1.1 Empirische Untersuchungen ___________________________________ 55<br />
2.3.1.2 Experimentelle Untersuchungen ________________________________ 55<br />
2.3.2 Abnehmende Diskontierungsraten über die Zeit ________________________ 58<br />
2.3.3 Dynamische Inkonsistenz __________________________________________ 60<br />
2.4 Hyperbolische Diskontierungsmodelle ___________________________ 64<br />
2.4.1 Varianten der hyperbolischen Diskontierung___________________________ 65<br />
2.4.1.1 George Ainslie ______________________________________________ 65<br />
2.4.1.2 J. E. Mazur _________________________________________________ 66<br />
2.4.1.3 Harveys Modell _____________________________________________ 67<br />
2.4.1.4 Loewenstein-Prelec Modell ____________________________________ 67<br />
2.4.1.5 Quasihyperbolische Diskontierung nach Phelps und Pollak ___________ 68<br />
2.4.2 Vergleich der hyperbolischen und exponentiellen Diskontierung___________ 69<br />
2.5 Zur Kritik der hyperbolischen Diskontierung _____________________ 72<br />
2.5.1 Subadditive Diskontierung _________________________________________ 73<br />
2.5.2 Rubinstein ______________________________________________________ 79<br />
3 Integrativer Ansatz __________________________________________ 81<br />
3.1 Einführende Erläuterungen ____________________________________ 81<br />
3.2 Erste Annäherung - Systemische Betrachtung _____________________ 83<br />
3.3 Zweite Annäherung - Die Dichotomie des menschlichen Selbst _______ 88<br />
ii
3.4 Dritte Annäherung – Kognition, Affekt und Emotion_______________ 90<br />
3.4.1 Affekte und Emotionen ____________________________________________ 91<br />
3.4.2 Kognition, Handlung und Willensstärke ______________________________ 95<br />
3.5 Vierte Annäherung – Sozio-kognitive und neuroökonomische<br />
Fundierung __________________________________________________ 97<br />
3.5.1 Hot-affective and Cool-deliberative Model ____________________________ 98<br />
3.5.2 Neuronale Systeme im intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sprozeß ____________ 100<br />
3.6 Fünfte Annäherung – „Zwei-Systeme Modell des Verhaltens“ ______ 102<br />
3.6.1 Annahmen und grundlegende Struktur des Zwei-Systeme Modells ________ 103<br />
3.6.2 Formalisierung des Modells _______________________________________ 105<br />
3.6.3 <strong>Intertemporale</strong> <strong>Entscheidung</strong>en im Zwei-Systeme Modell _______________ 107<br />
3.6.4 Zeitinkonsistentes Verhalten im Zwei-Systeme Modell _________________ 109<br />
3.7 Zusammenfassender Ausblick _________________________________ 111<br />
4 Schluß ____________________________________________________ 112<br />
4.1 Odysseus und die Sirenen _____________________________________ 113<br />
Literaturverzeichnis ___________________________________________ 115<br />
iii
Abbildungsverzeichnis<br />
Nummer Seite<br />
Abbildung 1-1: Positionierung der Arbeit in der ökonomischen Theorie............................ 10<br />
Abbildung 1-2: Gründe für die Höherschätzung gegenwärtiger Güter ............................... 27<br />
Abbildung 1-3: Das menschliche Gehirn mit einigen ökonomisch relevanten Teilbereichen ............. 37<br />
Abbildung 1-4: Die vier elementaren Gehirnprozesse ....................................................... 41<br />
Abbildung 2-1: <strong>Intertemporale</strong> Optimierung .................................................................... 49<br />
Abbildung 2-2: Diskontierungsfunktionen entsprechend dem DU-Modell .......................... 51<br />
Abbildung 2-3: Zunehmende Geduld über die Zeit ............................................................ 59<br />
Abbildung 2-4: Erste graphische Darstellung einer Hyperbolischen<br />
Diskontierungsfunktion nach Strotz.......................................................... 62<br />
Abbildung 2-5: Zeitinkonsistente Präferenzen ................................................................. 63<br />
Abbildung 2-6: Charakteristische Eigenart Hyperbolischer Diskontierungsfunktionen..... 65<br />
Abbildung 2-7: Diskontierungsfunktionen nach dem Loewenstein-Prelec Modell ............... 68<br />
Abbildung 2-8: Exponentielle und hyperbolische Formeln im Vergleich ........................... 70<br />
Abbildung 2-9: Graphische Vergleichsdarstellung verschiedener<br />
Diskontierungsfunktionen ........................................................................ 71<br />
Abbildung 2-10: Subadditive Diskontierung nach Read ...................................................... 74<br />
Abbildung 2-11: Zeithorizont versus Zeitspanne ................................................................ 76<br />
Abbildung 3-1: Das Universum als unendliches Räderwerk............................................... 85<br />
Abbildung 3-2: Ein nichtlineares dynamisches System ...................................................... 86<br />
Abbildung 3-3: System Individuum in hierarchischer und heterarchischer Annordnung .... 87<br />
Abbildung 3-4: Zwei-Systeme Modell menschlichen Verhaltens........................................103<br />
Abbildung 4-1: Odysseus und die Sirenen .......................................................................113<br />
iv
Einleitung<br />
D IE BEDÜR FN ISSE S IN D DER LE TZTE GR UN D,<br />
D IE BEDEUTUN G, WE LCHE IHRE BEFR IE D IGU N G<br />
FÜR U NS H AT, D AS LE TZTE M ASS, D IE<br />
S ICHER S TE LLU N G IHRER BEFR IED IGU N G D AS<br />
LE TZTE Z IE L A LLER M ENSCHLICHE N<br />
W IR TSCHAFT<br />
Das Ziel alles Wirtschaftens ist die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse.<br />
Menschliche Bedürfnisse und die Befriedigung derselben bilden, in diesem<br />
Sinne, auch die Basis jeglicher ökonomischen Betrachtung. Diese hier<br />
angerissene Auffassung von Ökonomik dient mir als Basis für diese Arbeit, und<br />
spiegelt auch mein Verständnis des wirtschaftlichen Handelns wider.<br />
Economics is the science which studies human behaviour as a relationship<br />
between ends and scarce means which have alternative uses.<br />
1<br />
(Robbins, 1935)<br />
CAR L MENGER<br />
In einer Welt knapper Mittel ist der Mensch gezwungen zwischen Alternativen<br />
zu wählen. Es sind diese menschlichen Wahlhandlungen im Spannungsfeld von<br />
Mitteln und Wünschen, kompliziert durch den Faktor Zeit, die charakteristische<br />
Situation und das menschliche Gehirn, die ich zum Thema dieser Untersuchung<br />
mache. Sie setzt sich auseinander mit dem Kampf zwischen dem Verstand und<br />
den Gefühlen, dem Kampf zwischen der Vernunft und den Emotionen. Sie<br />
betrachtet den Kampf zwischen dem Freudschen ES, den Trieben, dem Ich als<br />
Ort des Bewußtseins und dem Über Ich, der elterlichen Kontrollinstanz. Sie<br />
beschäftigt sich mit dem Kampf der im Inneren des Menschen im Gehirn<br />
ausgetragen wird, zwischen dem Präfontalen Cortex, dem Sitz des Bewußtseins<br />
und dem limbischen System, dem Zentrum des Unbewußten. Es ist eine<br />
Untersuchung, die sich in der funktional-objektiven Form des neoklassischen<br />
Paradigmas nur bedingt durchführen läßt. Die nach Betrachtung aller relevanten<br />
Fakten zwingend gegebene abschließende subjektiv-interpretative Betrachtung<br />
als System komplexer Phänomene soll ein Ziel dieser Arbeit sein, dem<br />
Menschen bei seiner Selbsterkenntnis zu unterstützen, Bewußtsein zu schaffen
für die verborgenen Kräfte der menschlichen Natur. Den Rahmen für diese<br />
Untersuchung bildet das Gebiet der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>en, ein<br />
Teilgebiet der klassischen <strong>Entscheidung</strong>stheorie, charakterisiert durch die<br />
zeitliche Komponente unter der Bedingung der Sicherheit des Eintretens der<br />
Optionen.<br />
Menschliche Wahlhandlungen zwischen unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung<br />
und langfristigem Wohlergehen, sie zu verstehen, sie zu erklären, um eine Basis<br />
zu legen für sinnvolle ökonomische, wie alle anderen <strong>Entscheidung</strong>en, die zu<br />
treffen sind. Wahlverhalten, das von einer Vielzahl von Faktoren, nicht zuletzt<br />
der Zeit, beeinflußt wird und in vielen Fällen situationsabhängig und emotional<br />
scheint, soll modelliert werden. Ökonomische Modelle der intertemporalen<br />
<strong>Entscheidung</strong>sfindung, sowohl präskriptive wie auch deskriptive, die zum Teil<br />
auf sehr unterschiedlichen Annahmen, beziehungsweise verschiedenen<br />
Methodologien beruhen, werden untersucht und beurteilt, um die zentralen<br />
Fragen zu klären: Gibt es ein allgemein gültiges ökonomisches Modell, wie<br />
Menschen zwischen intertemporalen Optionen wählen sollten? Gibt es ein<br />
allgemein gültiges Modell, das menschliches Wahlverhalten in der Zeit<br />
beschreibt? Gibt es ein allgemein gültiges Modell, das menschliche<br />
Wahlhandlungen erklären kann?<br />
Von den soziologisch und psychologisch durchsetzten Annahmen der Ersten<br />
Generation von Ökonomen, entlang der Abstraktion des homo oeconomicus in<br />
purer Form im neoklassischen Paradigma, über die von Behavioral Economists<br />
geforderten realistischeren, sprich psychologisch fundierten Annahmen, bis hin<br />
zu den von Neuroökonomen auf Gehirnaktivitäten basierenden Annahmen,<br />
wurden und werden unterschiedlichste Modelle der intertemporalen<br />
<strong>Entscheidung</strong>sfindung generiert. Diese theoretischen Konstrukte werden auf<br />
ihre Aussagekraft hin untersucht und bewertet. In einem abschließenden Punkt<br />
wird ein zwingend scheinender integrativer Ansatz entwickelt.<br />
<strong>Intertemporale</strong> <strong>Entscheidung</strong>en, ein Teilgebiet der klassischen<br />
<strong>Entscheidung</strong>stheorie, die im hier und jetzt getroffen werden müssen, auf Grund<br />
einer Bewertung des subjektiv diskontierten Nutzens der Optionen, sind der<br />
2
Ausgangspunkt. Die verfügbaren Optionen, im einfachsten Fall auf zwei<br />
beschränkt, mögen wie folgt betrachtet werden. Die erste Option steht früher<br />
zur Verfügung, ist aber im Wert kleiner als die spätere. Die Zeitspanne<br />
zwischen den beiden Optionen sei konstant. Der zeitliche Abstand von der<br />
Gegenwart bis zum Eintritt der ersten Option sei anfangs groß, und werde in<br />
Folge kleiner. Es mag sein, daß im ersten Fall die größere spätere Option der<br />
kleineren früheren vorgezogen wird, daß sich aber je kleiner der zeitliche<br />
Abstand bis zur ersten Option wird, die Präferenzen in Richtung der früheren<br />
kleineren Option verkehren. Dieser Umstand wird in der ökonomischen<br />
Literatur als zeitinkonsistentes Verhalten bezeichnet. Dieses vielen Menschen<br />
aus eigener Erfahrung bekannte Phänomen, wird durch Ergebnisse empirischer<br />
Forschungen auf Basis experimenteller Studien gestützt. Die beschriebene<br />
Präferenzenverkehrung läßt sich mit dem Standardmodell der ökonomischen<br />
<strong>Entscheidung</strong>sfindung, dem Discounted-Utility-Modell mit konstanter<br />
Diskontierungsrate über die Zeit, nicht beschreiben. Während das<br />
Standardmodell als normatives Modell der <strong>Entscheidung</strong>sfindung seine<br />
Gültigkeit weiterhin besitzt, wird es als deskriptives Modell tatsächlichen<br />
menschlichen <strong>Entscheidung</strong>sverhaltens durch ein vor allem von psychologischer<br />
Seite her propagiertes Modell, das Modell der Hyperbolischen Diskontierung,<br />
ersetzt. Das Modell der Hyperbolischen Diskontierung mit abnehmenden<br />
Diskontierungsraten über die Zeit erlaubt und kann inkonsistente<br />
Zeitpräferenzen beschreiben. Allein die bessere Beschreibbarkeit sollte jedoch<br />
nicht Anlaß sein an diesem Punkt halt zu machen, da auch die Ergebnisse, die<br />
man damit erhält stark variieren. Jüngste Untersuchungen auf dem Gebiet der<br />
Neurobiologie lassen vermuten, daß wir es bei menschlichen Wahlhandlungen<br />
tatsächlich mit zwei miteinander interagierenden Systemen des menschlichen<br />
Gehirns zu tun haben. Diese Einsichten geben Anlaß zur Entwicklung eines an<br />
die Systemtheorie angelegten Modells komplexer Phänomene, das den Boden<br />
der Neoklassik in Richtung einer systematisch evolutionären Ökonomie verläßt.<br />
Die herausragende Rolle menschlicher Wahlhandlungen zwischen unmittelbarer<br />
Bedürfnisbefriedigung und weiter in der zeitlichen Zukunft liegenden größeren<br />
Belohnungen als Basis für die ursprüngliche Kapitalakkumulation betont bereits<br />
Adam Smith. Sie können den wirtschaftlichen Reichtum von Nationen<br />
3
determinieren. Auf der persönlichen Ebene sind sie verantwortlich für den<br />
individuellen Wohlstand oder das eigene Wohlgefühl. Das Vermögen des<br />
unmittelbaren Verzichtes zu Gunsten der zukünftigen Entwicklung ist ein<br />
entscheidender Teil des Verhaltens, daß den Menschen befähigt an der Spitze<br />
der Evolution zu stehen. Der Prozeß, in dem die Eiszeitmenschen von Nomaden<br />
zu Siedlern wurden, hängt zu einem großen Teil damit zusammen, daß sie erste<br />
Vorratshaltung schafften. Erst ein ausgeprägtes Bewußtsein über die<br />
Konsequenzen individueller Handlungen, gepaart mit der Vorstellungskraft über<br />
die eigene Zukunft erlaubt eine, man möchte sagen, rationale Lebensplanung.<br />
Und doch, in vielen Fällen sind wir nicht fähig zu unseren rationalen Plänen zu<br />
stehen. Übermäßiger Konsum oder eine zu geringe Sparquote, Suchtverhalten<br />
oder das Hinausschieben von Terminen sind nur einige Beispiele für den<br />
Ausdruck der Hingabe an den Augenblick und stehen im Widerspruch zur<br />
kalten Rationalität. Wenn Versuchung und Leidenschaft dominieren kann das<br />
mitunter fatale Konsequenzen zeitigen, doch wäre ein Leben ohne sie nicht<br />
denkbar. Selbsterkenntnis in Hinsicht auf dieses Verhalten aber läßt<br />
Vorsichtsmaßnahmen entstehen. Exogene und endogene Kontrollen und<br />
Verpflichtungen bieten einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma. Wie<br />
Odysseus, der sich an den Mast binden lies, stehen auch dem gegenwärtigen<br />
Menschen Mittel und Wege zur Verfügung sich zu binden und kontrollieren.<br />
Gesetze und Regeln, Normen und Werte, Ethik, Moral und Gewissen stehen<br />
transzendent, und werden bereichert durch profanere Methoden, wie<br />
beispielsweise Strategien der Selbstverpflichtung und Selbstbindung, Seit-<br />
Wetten oder Vereinigungen wie den „Weight Watchern“, den „Anonymen<br />
Alkoholikern“, oder diversen Sparvereinen.<br />
Was aber führt zu diesem Abweichen von der Rationalität, diesen Anomalien<br />
im menschlichen Verhalten, die mitunter so großen Einfluß auf unsere<br />
Wahlhandlungen nehmen? Welche Rolle spielen Emotionen und Gefühle,<br />
Vorahnung und Angst in der <strong>Entscheidung</strong>ssituation? Welche Rolle spielen<br />
biochemische Vorgänge in unserem Gehirn, und verschiedene Gehirnbereiche<br />
überhaupt? Was läuft ab in uns, und sind wir uns dessen überhaupt bewußt,<br />
oder trifft das Unbewußte eigenständige <strong>Entscheidung</strong>en, die vom Bewußtsein,<br />
der Rationalität nur mehr moduliert werden können?<br />
4
Diese zuletzt gestellten Fragen stellen einen Exkurs in eine interdisziplinäre<br />
Betrachtungsweise menschlicher Wahlhandlungen dar, der im dritten Kapitel<br />
ausführlich behandelt werden soll. In diesem Kapitel werde ich versuchen den<br />
bereits erwähnten integrativen Ansatz zu entwickeln, der auf einer systemischen<br />
Betrachtung beruht, und die Komplexität von <strong>Entscheidung</strong>en würdigen soll.<br />
Der Hauptteil der Arbeit in Kapitel Zwei beruht auf einer strengeren<br />
ökonomischen Betrachtung. In diesem Kapitel werden klassische und<br />
verhaltenswissenschaftlich orientierte Modelle der <strong>Entscheidung</strong>sfindung<br />
dargestellt. Beginnend mit dem Standardmodell, als nach wie vor gültiger<br />
normativer Basis für die <strong>Entscheidung</strong>sfindung, werden im Anschluß<br />
verschiedene Anomalien, die im Widerspruch zu diesem Modell stehen<br />
beobachtet. Ausgehend von diesen Abweichungen und unter besonderer<br />
Berücksichtigung des Problems inkonsistenter Zeitpräferenzen wird daran<br />
anschließend die Generierung des „Hyperbolischen Diskontierungsmodells“<br />
verfolgt. Die verschiedenen formalen Arten dieser Diskontierungsart werden<br />
dargestellt und abschließend einer Kritik unterzogen. Als Teil dieser Kritik<br />
wird ein alternatives Modell, das als „Subadditive Diskontierung“ bezeichnet<br />
wird, behandelt.<br />
Im Schlußwort eingebunden werde ich abschließend kurz auf mögliche<br />
Strategien, die sich aus dem zuvor dargestellten ableiten lassen, eingehen.<br />
Unter dem Titel „Odysseus und die Sirenen“ werde ich den Wegen der<br />
Selbsterkenntnis, Selbstverpflichtung und Selbstkontrolle folgen.<br />
Den Anfang dieser Arbeit bildet jetzt im Anschluß jedoch ein Kapitel,<br />
das sich mit Grundfragen und Basisdarstellungen intertemporaler<br />
<strong>Entscheidung</strong>en beschäftigt. Dazu gehören die Fragen nach dem Wesen dieser<br />
Art von <strong>Entscheidung</strong>en, eine philosophische Betrachtung, ein Aufriß der<br />
Geschichte zu diesem Thema und die Vorstellung zweier Forschungsgebiete,<br />
die sich aktuell intensiv mit Fragen der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sfindung<br />
beschäftigen.<br />
5
1 Basisdarstellungen<br />
K a p i t e l 1<br />
6<br />
M ANUC K E T A L 8<br />
Kapitel Eins widmet sich einigen fundamentalen Überlegungen im<br />
Zusammenhang mit dem hier zu behandelnden Thema intertemporaler<br />
<strong>Entscheidung</strong>en, sowie der Vorstellung zweier Forschungsrichtungen, die sich<br />
aktuell mit dieser Thematik beschäftigen. Bei diesen Forschungsrichtungen<br />
handelt es sich erstens um den Bereich der „Behavioral Economics“ und in<br />
einem fließenden Übergang um den Bereich der „Neuroeconomics“; diese<br />
beiden Bereiche werden am Ende dieses Kapitels vorgestellt.<br />
Am Anfang dieses Kapitels befindet sich eine Abhandlung über das<br />
charakteristische Wesen von <strong>Entscheidung</strong>en über die Zeit, verbunden mit einer<br />
kategorischen Einordnung in die gängige ökonomische Theorie.<br />
Im Anschluß daran folgt eine Diskussion zwischen Philosophen und Ökonomen,<br />
die Sinn und Unsinn von Zeitdiskontierung thematisiert.<br />
Um die historische Komponente der hier vorliegenden Fragen zu betonen,<br />
widmet sich ein ausführlicher Beitrag den Ideen und Theorien ausgewählter<br />
Ökonomen, die sich im Laufe der Zeit mit Fragen des zeitlichen Einflusses und<br />
anderen, vor allem psychologischen Faktoren auf <strong>Entscheidung</strong>en beschäftigt<br />
haben.<br />
8 Manuck, Flory, Muldoon und Ferrell (2003, S. 152).<br />
SU IC IDE WH IC H EMBOD IE S AT LE AS T<br />
M ETAPH OR IC ALLY , THE FUR THE S T E X TREM ITY<br />
O F IN TER TEMPOR AL CHOICE, A P LACE IN M IN D<br />
WHERE THE FU TURE C O LLAP SES ON TO THE<br />
PRESENT IN SH AR ED HOP E LE SSN ESS
1.1 <strong>Intertemporale</strong> <strong>Entscheidung</strong>en<br />
Eine Vielzahl von <strong>Entscheidung</strong>en, die wir Tag für Tag treffen, zeitigen ihre<br />
Wirkungen erst in der Zukunft. 9 Diese <strong>Entscheidung</strong>en betreffen in einem<br />
engeren Sinn die Wahl zwischen zeitlich mehr oder weniger weit entfernten<br />
Optionen. Das spezifische an dieser Situation ist, daß wir nur eine dieser<br />
Optionen beanspruchen können. Dieser Umstand zwingt uns im hier und jetzt<br />
einen Vergleich in dem Wert der Alternativen durchzuführen, und darauf<br />
basierend zu handeln. Im einfachsten Fall beschränken sich diese zeitlich<br />
distanzierten Alternativen auf zwei. Dabei wird die Höherschätzung<br />
gegenwärtiger Güter über zukünftige Güter derselben Art und desselben<br />
Ausmaßes mit dem Begriff der „Zeitpräferenz“ benannt. 10 Für die Entwicklung<br />
der Modelle nehmen wir an, daß eine der Alternativen im Wert kleiner, aber<br />
zeitlich näher ist als eine andere Alternative. In einem konkreteren Sinn handelt<br />
es sich bei diesen Alternativen um Mittel der Bedürfnisbefriedigung. Wir<br />
wählen sozusagen, um bei dem einfachen Fall zu bleiben, zwischen einer<br />
kleineren unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung und einer größeren späteren<br />
Bedürfnisbefriedigung. Diese Arten der Bedürfnisbefriedigung definiere ich als<br />
„langfristiges Wohlergehen“ – kurz LW, beziehungsweise „unmittelbare<br />
Bedürfnisbefriedigung“ - UB.<br />
Klassische ökonomische Beispiele dieser Art sind auszugsweise, die<br />
<strong>Entscheidung</strong> zwischen geringerem Konsum heute und höherem Konsum<br />
morgen, sprich dem Sparverhalten, des weiteren alle Arten von<br />
Investitionsentscheidungen, oder auch <strong>Entscheidung</strong>en im Bereich des<br />
Humankapitals.<br />
Daneben gibt es eine Menge von Beispielen, die eher der Alltäglichkeit<br />
zuzurechnen sind, die aber trotzdem eine enorme Bedeutung für unser<br />
zukünftiges Leben genießen. Darunter verstehe ich zum Beispiel<br />
<strong>Entscheidung</strong>en, die mit unserem langfristigen gesundheitlichen Status<br />
verbunden sind. Die <strong>Entscheidung</strong> für eine Zigarre, einem Drink oder einen<br />
9 Prinzipiell ist jede <strong>Entscheidung</strong> oder Wahlhandlungen auf die Zukunft gerichtet. Vgl. Mises (1980,<br />
S. 434-474) zur Bedeutung der Zeit für das wirtschaftliche Handeln: „Handeln ist immer auf die<br />
Zukunft gerichtet, mag es auch nur die Zukunft des nächsten Augenblicks sein.“ (ebd., S. 434)<br />
10 Zum Konzept der Zeitpräferenz siehe unten (Abs. 1.3.1 idA.).<br />
7
Joint heute, verbunden mit der Gefahr des Suchtverhaltens, oder die<br />
<strong>Entscheidung</strong> darauf zu verzichten, oder uns körperlich zu ertüchtigen.<br />
Daneben gibt es noch <strong>Entscheidung</strong>en, die zwar ebenfalls wichtig sind,<br />
aber unser Leben nicht unmittelbar bedrohen. Das Einhalten von Terminen oder<br />
das Hinausschieben derselben, die <strong>Entscheidung</strong> noch im Bett zu bleiben oder<br />
sich der Arbeit zu widmen, die <strong>Entscheidung</strong> über persönliche Probleme zu<br />
sprechen oder diese in sich hineinzufressen, sind nur drei der fast unzähligen<br />
Beispiele unseres täglichen Daseins.<br />
Formale Analysen dieser Art von <strong>Entscheidung</strong>en werden von Ökonomen<br />
üblicherweise mit Hilfe des Konzepts der Diskontierung gelöst (vgl. z.B.<br />
Gravelle und Rees, 1992, S. 406-437). Dabei werden die subjektiven<br />
Bewertungen der uns zur Verfügung stehenden Optionen, unter Verwendung<br />
eines individuellen Zinssatzes auf ihren Gegenwartswert abdiskontiert.<br />
Aufgrund dieses Wertes wird dann eine Präferierung der einen über die andere<br />
Option vorgenommen. Das gängige formale Modell dieses Prozesses beruht auf<br />
den Arbeiten von Fisher (1930), Samuelson (1937) und Koopmans (1960).<br />
Dieses Modell wird als Standardmodell am Beginn von Kapitel Zwei dargestellt<br />
(Abschnitt 2.2.2 in dieser Arbeit; für die weitere Arbeit kürze ich wie folgt ab:<br />
Abs. xxx idA.).<br />
Nun geschieht es allzuoft, daß sich unsere Präferenzen im Laufe der Zeit<br />
verkehren. Die Wahl einer anfangs nicht präferierten kleineren Befriedigung,<br />
allein aufgrund ihres zeitlichen Näherrückens, wird vorderhand als impulsives<br />
Verhalten bezeichnet, während das Vermögen auf eine größere Befriedigung in<br />
der Zukunft warten zu können, in der Literatur als Fähigkeit der Selbstkontrolle<br />
firmiert (vgl. z.B. Ainslie, 1975).<br />
Auf Basis dieser Einsichten entwickelten „verhaltenswissenschaftlich<br />
orientierte Ökonomen“ (Behavioral Economists) alternative Modelle, die unter<br />
dem Namen „Hyperbolische Diskontierungsmodelle“ Eingang in die<br />
ökonomische Diskussion fanden. Diese hier angesprochenen Modelle finden<br />
ihre Betrachtung im Anschluß an das Standardmodell ebenfalls in Kapitel Zwei<br />
(Abs. 2.4 idA.).<br />
8
Die Einsicht, daß allein das zeitliche Näherrücken einer Option nicht<br />
allein für das erwähnte impulsive Verhalten verantwortlich gemacht werden<br />
kann, wird von mir im dritten Kapitel behandelt. Dort werde ich zu zeigen<br />
versuchen, daß dieses Verhaltenschema von einer Vielzahl von Faktoren<br />
abhängig ist, die ich einer systemischen Art und Weise aufbereiten möchte.<br />
Im nächsten Abschnitt wird nun eine kategorische Einordnung der<br />
intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>en in die ökonomische <strong>Entscheidung</strong>stheorie<br />
vorgenommen. Zu einer ersten Klarstellung: Ich gehe in dieser Arbeit vom<br />
weiter gefaßten Begriff der „menschlichen Wahlhandlungen“ aus, um auch<br />
jenen Teil des menschlichen Verhaltens zu fassen, der nicht unmittelbar von der<br />
Ratio kontrolliert wird. Dieser Begriff „menschlicher Wahlhandlungen“ spielt<br />
vor allem für die Diskussion, wie ich sie in Kapitel Drei führen werde eine<br />
herausragende Rolle. Die Modelle in Kapitel Zwei gehen dahin überwiegend<br />
vom Begriff der <strong>Entscheidung</strong> aus.<br />
Als „menschliche Wahlhandlung“ definiere ich daher jede bewußte,<br />
wie unbewußte Handlung, sei sie kontrolliert oder automatisch vollzogen,<br />
rational oder affektiv-emotional gesteuert.<br />
Als „<strong>Entscheidung</strong>“ definiere ich jene Wahlhandlungen, die bewußt, in<br />
einem kontrollierten rationalen Prozeß vollzogen werden. 11<br />
1.1.1 <strong>Intertemporale</strong> <strong>Entscheidung</strong>en und <strong>Entscheidung</strong>stheorie<br />
Die <strong>Entscheidung</strong>stheorie der klassischen Nationalökonomie beschäftigt sich<br />
mit <strong>Entscheidung</strong>en, im oben definierten Sinn. Sie unterteilt ihre Forschung in<br />
folgende drei Bereiche: <strong>Entscheidung</strong>en unter Sicherheit, <strong>Entscheidung</strong>en unter<br />
Risiko und <strong>Entscheidung</strong>en unter Unsicherheit (vgl. Fishburn, 1987, S. 779–<br />
782). Die hier vorliegende Arbeit ist im Bereich von <strong>Entscheidung</strong>en unter<br />
11 Vgl. Heinen (1966, S.18): „Werden menschliche Wahlhandlungen bewußt vollzogen, so spricht man<br />
von <strong>Entscheidung</strong>en.“<br />
9
Sicherheit angesiedelt, das heißt, daß die zur Verfügung stehenden Optionen<br />
mit Sicherheit eintreten werden. Damit ergibt sich für mich folgende erste<br />
Darstellung, wie in Abbildung 1-1 dargestellt.<br />
Abbildung 1-1: Positionierung der Arbeit in der ökonomischen Theorie<br />
unbewußt, automatisch,<br />
affektiv-emotional<br />
Arbeit<br />
Als intertemporale <strong>Entscheidung</strong>en werden in der Literatur alle <strong>Entscheidung</strong>en,<br />
zwischen in der Zukunft liegenden Alternativen 12 bezeichnet, die mit Sicherheit<br />
eintreten. 13 Wollte man es als eine Aufgabe stellen, könnte sie wie folgt lauten:<br />
Nimm unverzüglich eine Gegenwartsbewertung der vorhandenen<br />
Optionen vor, die zu verschiedenen Zeitpunkten in der Zukunft auftreten<br />
werden und triff aufgrund dieser Bewertung unmittelbar eine<br />
<strong>Entscheidung</strong>, mit der Du in Folge leben mußt!<br />
Im nun folgenden Abschnitt wird die Vorgehensweise von Ökonomen bezüglich<br />
des Konzepts der Diskontierung kritisch diskutiert. Dieser Abschnitt nimmt<br />
12 Zum Begriff der Alternative als Handlungsmöglichkeit und der sich daraus ergebenen Fragen siehe<br />
Kesting (2001).<br />
Menschliche<br />
Wahlhandlungen<br />
<strong>Entscheidung</strong>en<br />
13 Dieser Forschungsbereich firmiert international unter der Bezeichnung „Intertemporal Choice“.<br />
10<br />
bewußt, rational,<br />
kontrolliert<br />
unter Sicherheit unter Risiko unter Unsicherheit
viele der Überlegungen und auftretenden Fragen, die erst im Laufe der Arbeit<br />
aktuell werden vorweg. Diese Vorgehensweise wird von mir gewählt, um eine<br />
gedankliche Basis für die anstehende Problematik zu liefern.<br />
1.2 Philosophie und Ökonomie im Diskurs<br />
In diesem Teil der Arbeit werden grundsätzliche Fragen aufgeworfen, die sich<br />
von einer rein ökonomischen Betrachtung abheben, und das Thema in einen<br />
breiteren Kontext einbetten. Ziel dieses Abschnittes ist es jedenfalls nicht<br />
Antworten zu liefern, vielmehr soll ein Nachdenkprozeß in Gang gebracht<br />
werden, auch um den Zugang zum Thema zu vertiefen. Dem folgenden Diskurs<br />
liegen die Arbeiten von John Broome (1999) und Shane Frederick (2003) zu<br />
Grunde.<br />
Sollen zukünftige Güter diskontiert werden? Soll Nutzen, der in entfernter<br />
Zukunft zu erwarten ist in unseren Planungen weniger zählen, als Nutzen der<br />
unmittelbar oder in naher Zukunft eintritt? Wie kann allein der Zeitpunkt zu<br />
welchem Güter oder deren Nutzen vorhanden sein werden einen Unterschied in<br />
ihrer Bewertung machen? Ist der Mensch der in der Zukunft begünstigt wird,<br />
derselbe der gegenwärtig die Kosten trägt? Ist der Mensch heute der, der er<br />
morgen ist, ist der Mensch eine zeitlose Identität?<br />
Wie anhand dieser Fragestellungen zu zeigen versucht, lassen sich drei zentrale<br />
Ansatzpunkte im Konzept der Zeitdiskontierung unterscheiden. Güter, Nutzen<br />
und Selbstidentität.<br />
Betrachten wir Güter als marktfähig, läßt sich ihnen also ein Preis<br />
zurechnen, gibt sich der klassische ökonomische Ansatz (vgl. Abs. 2.2 idA.)<br />
und auch philosophisch gesehen gibt es keinen Grund diese nicht zu<br />
diskontieren. Zukünftige Güter sind gegenwärtig billiger als gegenwärtige<br />
Güter. Der Hauptgrund nach John Broome liegt im Aspekt der Technologie.<br />
„Technologie ist fruchtbar“ (Broome, 1999, S. 53). Man investiert einen Teil<br />
seiner Güter heute in technologischen Fortschritt, mit dem sich dieselben Güter<br />
11
in Zukunft günstiger produzieren lassen. Die gütereigene Diskontrate ist<br />
positiv.<br />
Zu hinterfragen allerdings ist, ob sich die gleiche Vorgehensweise (die<br />
Marktpreismethode) auch auf das Konzept des Nutzens übertragen läßt. Meiner<br />
Einsicht nach sollte in diesem Fall zwischen dem Nutzen, der sich aus dem<br />
Konsum von marktfähigen Gütern und dem Nutzen, im Sinne eines<br />
Wohlgefühls 14 (Wellbeing) unterschieden werden. Für den ersten Fall ergibt<br />
sich die Lösung analog, für den zweiten Fall läßt sich keine eindeutige Aussage<br />
ableiten. Es wäre aber, wenn wir den Menschen als ident 15 über die Zeit<br />
betrachten, eher davon auszugehen, Wohlgefühl nicht zu diskontieren. In den<br />
gängigen ökonomischen Modellen wird auf diese Differenzierung allerdings<br />
keine Rücksicht genommen und annahmegemäß eine positive Zeitpräferenz<br />
postuliert. Philosophen stellen daher Ökonomen die provokante Frage, ob der<br />
offensichtlichen Bevorzugung der gegenwärtigen Eigeninteressen auf Kosten<br />
unseres späteren Selbst 16 , die sich möglicherweise auf eine unterschiedliche<br />
Begriffsauslegung zurückführen läßt. So ist auch für Broome (ebd., S. 128f) der<br />
entscheidende Punkt einfach:<br />
When economists and philosophers think of discounting, they typically<br />
think of discounting different things. Economists typically discount the<br />
sort of goods that are bought and sold in markets, which I shall call<br />
commodities. Philosophers are typically thinking of more fundamental<br />
good, people’s wellbeing. There are sound reasons to discount most<br />
commodities, and there may well be sound reasons not to discount<br />
wellbeing. It is perfectly consistent to discount commodities and not<br />
wellbeing.<br />
14 Unter Wohlgefühl wird zum Beispiel der gesundheitliche Zustand verstanden. Dabei ergibt sich die<br />
Frage, ob Gesundheit heute von der Gesundheit morgen im Verständnis differiert. Im ökonomischen<br />
Modell wird der Gesundheit morgen, betrachtet aus der heutigen Sichtweise, aufgrund der<br />
angenommenen positiven Zeitpräferenz weniger Nutzen beigemessen.<br />
15 Zum Konzept der Selbstidentität über die Zeit siehe weiter unten in diesem Abschnitt.<br />
16 Dieser Begriff des Selbst inkludiert neben dem individuellen Selbst, auch dessen Nachfahren und die<br />
zukünftige Gesellschaft.<br />
12
Für Broome gibt es, wie hier angedeutet, gute Gründe wirtschaftliche Güter zu<br />
diskontieren und gute Gründe warum man Wohlgefühl, auch wenn man es aus<br />
ökonomischer Sicht vielleicht als ein höheres Gut ansehen könnte, nicht<br />
diskontieren sollte. Gehen Ökonomen manchmal zu weit, fragt Broome (ebd., S.<br />
129), wenn sie diskontieren wo sie es vielleicht nicht sollten, und wo ist die<br />
Grenze des Vertretbaren?<br />
Um sich dieser Problematik von einer anderen Seite zu nähern, mag es sinnvoll<br />
sein sich Gedanken über das Selbstkonzept des Menschen zu machen, und nach<br />
seiner Identität über die Zeit zu sinnieren. Inwieweit sind wir in der Zukunft<br />
dieselben, die wir heute sind? Ein profanes Beispiel bezieht sich auf den<br />
materialistischen Aspekt. Es ist eine denkbare Möglichkeit, daß der<br />
gegenwärtig betrachtete Mensch in der Zukunft ein reicherer oder ärmerer sein<br />
wird. Ergibt sich aus diesem Umstand ein Unterschied, wie er Nutzen oder<br />
Wohlgefühl bewerten sollte? Ein anderes Beispiel hierfür ist der Bereich der<br />
Gesundheit. Es ist eine denkbare Möglichkeit, und sogar eine eher<br />
wahrscheinliche heute - in jungen Jahren - gesünder zu sein, als in zig Jahren.<br />
Ist der Nutzen den wir der Gesundheit beimessen in beiden Fällen derselbe? Die<br />
Modelle der Ökonomie ignorieren diese Sichtweise, indem sie die Bewertung<br />
des zukünftigen Nutzens aus der gegenwärtigen Betrachtung treffen. In der<br />
Ökonomie wird gefragt, wie das Selbst im Jetzt zukünftigen Nutzen mit<br />
gegenwärtigem Nutzen vergleicht und nicht, wie das gegenwärtige Selbst den<br />
gegenwärtigen Nutzen und das zukünftige Selbst den zukünftigen Nutzen<br />
bewertet. Nehmen wir an, daß zu jedem Zeitpunkt eines Menschenlebens eine<br />
gewisse Menge Wohlgefühl denselben Nutzen bringt. Eine Krankheit, die ich<br />
heute erleide, hat für mich heute denselben negativen Nutzen, wie der negative<br />
Nutzen, der mir in zwanzig Jahren durch dieselbe Krankheit entsteht. Diese<br />
Sichtweise ist nur dann konsistent, wenn ich heute derselbe bin, wie morgen.<br />
Fehlt mir die konkrete Vorstellung über mein morgen, oder sehe ich mich in der<br />
Zukunft nicht als denselben, der ich heute bin, fällt diese idealistische<br />
Sichtweise. Die erste Auffassung spricht für eine temporale Neutralität (vgl.<br />
Frederick, 2003, S.89). Das Leben wird in diesem Sinn als Einheit aufgefaßt.<br />
Man ist bestrebt das Leben als ein Ganzes so gut wie möglich zu führen, und es<br />
13
widerspricht diesem Ziel einzelne Teile dieses Lebens gegenüber anderen zu<br />
bevorzugen. Im speziellen, für diese Arbeit ergibt sich nach dieser Auffassung<br />
folgende Überlegung: Die Präferierung eines kleineren unmittelbaren Gutes<br />
über ein größeres späteres Gut ist irrational, weil die früheren und späteren<br />
Teile eines Lebens, Teile ein und desselben Lebens sind, und die Präferierung<br />
eines kleineren Gutes reduziert die Qualität des Ganzen (vgl. ebd., S. 89f). Eine<br />
andere Meinung, und zwar die komplexe Sichtweise, vertritt unter anderen<br />
Derek Parfit (ebd., S. 90). Für ihn ist eine Person:<br />
…nothing more than a succession of overlapping selves related to varying<br />
degrees by physical continuities, memories, and similarities of character<br />
and interests.<br />
Folgend dieser Auffassung erlaubt sich eine Diskontierung, da die<br />
aufeinanderfolgenden Teile des eigenen Lebens als separierbar angesehen<br />
werden. Man könnte es tatsächlich mit Teilen des Lebens eines anderen<br />
Menschen vergleichen und:<br />
…discounting one’s ‘own’ future utility may be no more irrational than<br />
discounting the utility of someone else (ebd., S. 90).<br />
Diese komplexe Sichtweise findet sich sowohl bei Plato, als auch später bei<br />
David Hume, und für die vorliegende Arbeit relevant in den Überlegungen von<br />
Robert H. Strotz (ebd., S. 91).<br />
In dem nachstehenden Abschnitt wende ich mich nun der historischen<br />
Komponente zu. Dieser kommt, meiner Meinung nach, für diese wie jede<br />
andere Arbeit eine enorme Bedeutung zu, denn „ohne Geschichte sind wir ein<br />
Nichts“ (vgl. auch Schumpeter, 1954, S. 12f). Bevor ich mich aber den<br />
herausragenden Denkern widmen kann, muß zuvor noch ein Konzept<br />
thematisiert werden, das zentral für die Forschung in intertemporale<br />
<strong>Entscheidung</strong>en steht. Dabei handelt es sich um das Konzept der<br />
„Zeitpräferenz“.<br />
14
1.3 Das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft in der menschlichen<br />
Wirtschaft<br />
Über viele Jahrhunderte wurde ein Kampf zur Rechtfertigung des Kapitalzinses<br />
geführt. Das Konzept der Zeitpräferenz entspricht in diesem Zusammenhang vor<br />
allem einer psychologischen Erklärung für die Höherschätzung unmittelbarer<br />
Güter über zukünftige Güter, und damit als eine Basis zur Begründung des<br />
Kapitalzinses. 17<br />
1.3.1 Zeitpräferenz<br />
<strong>Intertemporale</strong> <strong>Entscheidung</strong>en sind auf Engste mit dem Konzept der<br />
Zeitpräferenz verbunden. 18 Zeitpräferenz ist der Ausdruck dafür, daß Menschen<br />
gegenwärtige Güter - Güter, die unmittelbar für den Konsum verfügbar sind –<br />
zukünftigen Gütern derselben Art und desselben Ausmaßes - gleich<br />
gegenwärtige Erwartungen bezüglich Gütern, die irgendwann in der Zukunft<br />
verfügbar sein werden - vorziehen. Die „soziale“ Rate der Zeitpräferenz, sprich<br />
das Resultat der Interaktionen der individuellen Zeitpräferenzpläne, bestimmt<br />
und ist gleich der Zinsrate der Gesellschaft 19 (vgl. Rothbard, 1987, S. 644).<br />
17 Einen kurzen, aber sehr intensiven Überblick zu diesem Thema bietet Rothbard (1987). Einer<br />
ausführlichsten Behandlung der Thematik widmete sich Eugen von Böhm Bawerk (1921) in seinem<br />
Werk „Kapital und Kapitalzins; Erste Abteilung: Geschichte und Kritik der Kapitalzins-Theorien“<br />
sowie den „Exkursen“. George Loewenstein (1992) analysiert in seinem Beitrag die intertemporale<br />
<strong>Entscheidung</strong>sforschung, von den Ursprüngen bei John Rae bis zum heutigen Stand der<br />
wissenschaftlichen Erkenntnis. Er behandelt dabei vor allem die psychologische Motive, die der<br />
Zeitpräferenz zu Grunde gelegt wurden und werden.<br />
18 Das Konzept der Zeitdiskontierung ist weiter gefaßt und schließt alle Gründe ein, die dafür<br />
verantwortlich sind, daß zukünftige Konsequenzen im heute geringer bewertet werden. Als Beispiele<br />
seien Unsicherheit oder sich verändernde Geschmäcker genannt (vgl. Frederick, Loewenstein und<br />
O’Donoghue, 2002, S. 352).<br />
19 Die Zinsrate einer Gesellschaft ist hier als eine Begründung gemeint, die nicht mit der Höhe des<br />
tatsächlichen Zinses übereinstimmen muß. Für die Bestimmung der tatsächlichen Höhe des Zinses,<br />
siehe die, in der ökonomischen Theorie dargebotenen verschiedenen Zinstheorien.<br />
15
Nach dieser einführenden Abklärung des Begriffs der Zeitpräferenz wende ich<br />
mich, wie angekündigt, der geschichtlichen Analyse zu. Diese Analyse bietet<br />
die interessantesten Erklärungen und Begründungen für das Konzept der<br />
Zeitpräferenz; sie folgt in ihrem Aufbau dem historischen Lauf der<br />
Nationalökonomie als eigenständige Wissenschaft 20 . 21 Der Abschnitt bietet<br />
einen selektiven Überblick über Ideen und Gedanken verschiedener<br />
herausragender Denker. Ein Hauptaugenmerk lege ich dabei auf die<br />
„Österreichische Schule der Nationalökonomie“ und zwei ihrer Vertreter. Für<br />
ihre Forschungen ist Zeit und damit verbunden die Zeitpräferenz ein<br />
herausragendes Merkmal, sowohl als Konzept wie auch als Fundament.<br />
1.3.2 Eine kurze Geschichte der Zeitpräferenz<br />
1.3.2.1 John Rae<br />
John Raes Werk “Statement of Some New Principles on the Subject of Political<br />
Economy, Exposing the Fallacies of the System of Free Trade, and of Some<br />
Other Doctrines Maintained in the ‚Wealth of Nations’” (Boston, 1834) 22 stellt<br />
den Beginn einer differenzierten Auseinandersetzung mit Fragen der<br />
intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sfindung dar (siehe dazu: Böhm-Bawerk, 1921, I.<br />
Abt. S. 277–317; sowie Loewenstein, 1992, S. 5-7).<br />
20 Der Beginn der Nationalökonomie als eigenständige Wissenschaft wird gemeinhin mit der<br />
Herausgabe des Werkes „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ von Adam<br />
Smith im Jahre 1776 (zitiert wird nach der Ausgabe von 1981) gleichgesetzt. Für eine herausragende<br />
abweichende Meinung siehe Joseph A. Schumpeter (1954).<br />
21 Für die vielen sich auf dieses Thema beziehenden intellektuellen Anstrengungen vor diesem<br />
historischem Datum, sei vor allem Anne Robert Jacques Turgots „Fruktifikationstheorie“ genannt<br />
(siehe vor allem Böhm-Bawerk , 1921, I. Abt., S. 53– 60; sowie Rothbard, 1987, S. 644f). Sie stellt<br />
eine erste erschöpfende Theorie der Zeitpräferenz zur Rechtfertigung des Zinses, über die<br />
Behauptung der Nützlichkeit des Kapitals für Geber und Nehmer, dar. „[…], interest compensates for<br />
this difference in value [des Geldes für den Geber und Nehmer, der Autor] by a sum proportionate to<br />
the length of the delay“ (Turgot, zitiert nach Rothbard, 1987, S. 644).<br />
22 Zitiert wird nach der Ausgabe von 1905. Titel: „The Sociological Theory of Capital“, Herausgeber:<br />
Charles W. Mixter.<br />
16
John Raes Hauptinteresse, wie auch das von Adam Smith, 23 galt den Ursachen,<br />
durch welche Nationalreichtum entsteht, vermehrt oder vermindert werden<br />
kann. Adam Smith erkennt in seinem Werk „An Inquiry into the Nature and<br />
Causes of the Wealth of Nations“ (London, 1776) 24 die Vorteile der<br />
Kapitalakkumulation, die in Folge der Arbeitsteilung möglich wird. Weiters<br />
weißt er darauf hin, daß eine <strong>Entscheidung</strong> für den Aufbau eines Kapitalstocks,<br />
anders formuliert eine <strong>Entscheidung</strong> zwischen unmittelbaren Genuß und<br />
zukünftigem Profit, überhaupt nur in einem Land mit zumindest einem gewissen<br />
Grad der Sicherheit möglich ist. Adam Smith (1981, S. 284) schreibt:<br />
In all countries where there is tolerable security, every man of common<br />
understanding will endeavour to employ whatever stock he can command<br />
in procuring either present enjoyment or future profit.<br />
Während Smith Differenzen im Wohlstand der Nationen im Ausmaß ihrer<br />
Kapitalakkumulation fand, ging Raes Interesse tiefer. Seine Hauptfrage galt den<br />
Ursachen, „welche die Masse der Instrumente bestimmen, die ein Volk bildet<br />
und besitzt, in welcher Masse sich ja eben die Größe des Nationalreichtums<br />
widerspiegelt“ (zitiert nach Böhm-Bawerk, 1921, I. Abt., S. 286).<br />
Mit dem Begriff der „Instrumente“ bezeichnet Rae alle durch menschliche<br />
Arbeit entstandenen Produkte, die einer künftigen Bedürfnisbefriedigung dienen<br />
(ebd., S. 280). Alle Instrumente erfordern zu ihrer Bildung den Aufwand einer<br />
gewissen Menge von Arbeit oder Arbeitsäquivalenten, und bringen eine andere<br />
größere Menge von Arbeit oder ihren Äquivalenten ein. John Rae (1905, S. 52,<br />
Heraushebung durch den Autor) formuliert, wie folgt:<br />
The formation of every instrument […], implies the sacrifice of some<br />
smaller present good, for the production of some greater future good.<br />
23 John Rae war laut Böhm-Bawerk (1921, I. Abt., S. 279) ein entschiedener Gegner von Adam Smith<br />
in Fragen des Freihandels. Seine Widersprüche formulierte er vor allem in dem theoretischen Kapitel<br />
über „die Natur des Kapitales und die seine Vermehrung oder Verminderung beherrschenden<br />
Gesetze“.<br />
24 Zitiert wird nach einer Ausgabe von 1981. Herausgeber: Campbell und Skinner<br />
17
Die dieser <strong>Entscheidung</strong> zugrunde liegende Entschlossenheit auf einen gewissen<br />
Teil gegenwärtiger Güter zu verzichten, um eine größere Menge von Gütern in<br />
der Zukunft zu erhalten, bezeichnet Rae als effective desire of accumulation. 25<br />
John Rae befindet folglich Gründe, die die Stärke dieser Entschlossenheit<br />
entweder mindern oder stärken. Im Rahmen seiner Abhandlung kommt implizit<br />
der Problematik der Zeitpräferenz eine entscheidende Rolle zu. Das folgende<br />
Zitat (ebd., S. 53), bezüglich der Unsicherheit und Kürze des Lebens, drückt<br />
den Zwiespalt aus in dem sich ein Individuum befindet, wenn es zwischen dem<br />
heute und morgen zu entscheiden hat:<br />
Where life to endure for ever, where the capacity to enjoy in perfection all<br />
its goods, both mental and corporeal, to prolonged with it, and were we<br />
guided solely by the dictates of reason, there could be no limit to the<br />
formation of means for future gratification, till our utmost wishes were<br />
supplied. A pleasure to be enjoyed, or a pain to be endured, fifty or a<br />
hundred years hence, would be considered deserving the same attention as<br />
if it were to befall us fifty or a hundred minutes hence, and the sacrifice<br />
of a smaller good, for a greater future good, would be readily made, to<br />
whatever period that futurity might extend. But life, and the power to<br />
enjoy it, are the most uncertain of all things, and we are not guided<br />
altogether by reason. We know not the period when death may come<br />
upon us, but we know that it may come in a few days, and must come in a<br />
few years. Why then providing goods that cannot be enjoyed until times,<br />
which, though not very remote, may never come to us, or until times still<br />
more remote, and which we are convinced we shall never see? If life, too,<br />
is of uncertain duration and the time that death comes between us and all<br />
our possessions unknown, the approaches of old age are at least certain,<br />
and are dulling, day by day, the relish of every pleasure.<br />
25 “The determination to sacrifice a certain amount of present good, to obtain another greater amount<br />
of good, at some future period, may be termed the effective desire of accumulation.” (Rae, 1905,<br />
S.53)<br />
18
Die Kürze und Unsicherheit des menschlichen Lebens befindet Rae als einen<br />
Grund der den effektiven Akkumulationstrieb mindert (ebd., S. 53f). Ein<br />
weiterer Grund der für eine hohe Zeitpräferenz spricht, liegt in dem<br />
psychologischen Unbehagen der Verzögerung der unmittelbaren<br />
Bedürfnisbefriedigung (ebd., S. 54): 26<br />
The actual presence of the immediate object of desire in the mind, by<br />
exciting the attention, seems to rouse all the faculties, as it were, to fix<br />
their own view on it, and leads them to a very lively conception of the<br />
enjoyments which it offers to their instant possession. The prospects of<br />
future good, which future years may hold out to us, seem at such moment<br />
dull and dubious, and are apt to be slighted, for objects on which the<br />
daylight is falling strongly, and showing us in all their freshness just<br />
within grasp.<br />
Im Gegensatz zu den beiden ersten Faktoren, die sich vornehmlich auf<br />
persönliche Motive stützen, und eine geringe Stärke des effektiven<br />
Akkumulationstriebes vermuten lassen, findet Rae auch Gründe, die in die<br />
Gegenrichtung wirken und eine niedrige Rate der Zeitpräferenz zur Folge<br />
haben.<br />
Dazu zählt er erstens die „sozialen und menschlichen Antriebe“ (ebd.,<br />
S. 55 – 57). Konträr zum Beispiel des egoistischen Individuums, das allein auf<br />
seine eigene Identität über die Zeit fokussiert ist, meint Rae, daß die Freuden<br />
der Menschen doch nicht zur Gänze selbstsüchtiger Natur sind. Es sind gerade<br />
die Bindungen zur Familie und Freunden und die Bindung zur Gesellschaft, die<br />
das Leben erträglich machen. „Really to live is to live with, and through others,<br />
more than in ourselves“(ebd., S. 56). Hierdurch verlieren die künftigen Güter,<br />
die man sich für das Opfer des gegenwärtigen Genusses verschaffen kann, den<br />
größeren Teil ihrer Unsicherheit und Wertlosigkeit. Diese Sichtweise läßt sich<br />
unter dem Begriff des „Hinterlassenschaftsmotives“ 27 zusammenfassen.<br />
26 Vgl. Loewenstein (1992, S. 6). Loewenstein weißt darauf hin, daß diese Begründung bei Rae<br />
gleichbedeutend dem Begriff der Abstinenz bei Nassau W. Senior ist.<br />
27 Siehe Loewenstein (1992, S. 7)<br />
19
Einen weiteren Grund für die Stärkung des effektiven Akkumulationstriebes<br />
sieht Rae in der Stärke der intellektuellen Kräfte (ebd., S. 57). Sie fördern<br />
sowohl das Denken als auch die Selbstreflexion. Er schreibt (ebd., S.57):<br />
These habits in opposition to the passions of the present hour, bring<br />
before us the future, both as concerns ourselves, and others, in its<br />
legitimate force, and urge the propriety of providing for it.<br />
In einem abschließenden Punkt verweißt er noch auf die Sicherheit,<br />
beziehungsweise die Unsicherheit der gesellschaftlichen Zustände, die<br />
Vorherrschaft des Gesetzes und der Ordnung, die Aussicht auf Kontinuität des<br />
Friedens und der inneren Ruhe. Diese Faktoren können je nach ihrem<br />
Vorhandensein zu einer Stärkung oder Minderung des effektiven<br />
Akkumulationstriebes beitragen (ebd., S. 57f).<br />
Aus Gründen, die in unserer Person liegen, nämlich wegen der Kürze und<br />
Unsicherheit unseres Lebens, wegen der vorauszuahnenden Abnahme unserer<br />
Genußfähigkeit, endlich wegen unserer leidenschaftlichen Hingabe an den<br />
Augenblick, legen wir gegenwärtigen Freuden und Bedürfnissen eine größere<br />
Schätzung bei, als künftigen Freuden, Bedürfnissen und Befriedigungsmitteln.<br />
Für Rae sind dies die hauptsächlichen Umstände, welche das Verhältnis der<br />
Wertschätzung zwischen Gegenwart und Zukunft bestimmen, und die Ursachen<br />
für die Stärke des effektiven Akkumulationstriebes innerhalb einer Gesellschaft<br />
darstellen. Aus der kulturell bedingten unterschiedlichen Stärke dieses Triebes<br />
in verschiedenen Ländern dieser Erde leitet er in Folge Differenzen in ihrem<br />
Reichtum ab, wobei seine Sympathie mit jenen Ländern geht, die eine niedrige<br />
Rate der Zeitpräferenz aufweisen (vgl. Rothbard, 1987, S 645). 28<br />
28 Vgl. in diesem Zusammenhang das Kulturkonzept von Hofstede (1980), der in seiner Klassifizierung<br />
kultureller Unterschiede von ähnlichen Überlegungen ausgeht.<br />
20
1.3.2.2 Nassau W. Senior und William S. Jevons<br />
Äußerst interessante Ideen zu den Themen der intertemporaler <strong>Entscheidung</strong>en<br />
und der Zeitpräferenz finden sich auch in den Arbeiten von Nassau W. Senior<br />
und William S. Jevons. Beide beschäftigen sich mit Erklärungen des<br />
Kapitalzins, beziehungsweise der Kapitalakkumulation, und finden Antworten<br />
vor allem in psychologischen Faktoren begründet (vgl. Loewenstein, 1992, S.<br />
7–11).<br />
Auf die Frage nach der Begründung des Zinses antwortet Senior mit der These<br />
von der „Abstinenz“. Für ihn ist der Zins eine Kompensation für den Schmerz<br />
des Konsumverzichts des Kapitaleigners, und überhaupt „eine der<br />
schmerzvollsten Strapazen für den menschlichen Willen“ (zitiert nach<br />
Loewenstein, 1992, S. 6).<br />
In Jevons Arbeit „The Theory of Political Economy“(London, 1871) 29 spielt die<br />
Antizipation zukünftiger Ereignisse, das antizipierte Gefühl der Freude oder des<br />
Schmerzes, eine Schlüsselrolle. Dabei variiert das aktuelle Gefühl mit der<br />
Nähe oder Ferne des tatsächlichen Eintretens. Die Kraft der Vorstellung, zum<br />
Beispiel die der Vorfreude, ist für ihn der Grund schlechthin Konsumverzicht<br />
zu üben und Kapitalakkumulation zu betreiben, auch wenn die Intensität dieser<br />
Freude immer geringer als die künftige Freude selbst ist, was seiner Ansicht<br />
nach auf einem „Fehler unserer Geistes- und Gemütslage“ beruht (Jevons, 1965,<br />
S. 72; vgl. auch Böhm-Bawerk, I. Abt., S. 421). Darüber hinaus entspricht die<br />
Intensität der Vorfreude einer abnehmenden Funktion über die Zeit, sie wird<br />
größer je näher sie sich der tatsächlichen Freude nähert. 30 In den Worten von<br />
Jevons (1965, S. 34, Heraushebung im Original) klingt das so:<br />
29 Zitiert wird nach der Ausgabe von 1965, Herausgeber: H. Stanley Jevons.<br />
30 Diese Ansicht entspricht einer Vorwegnahme der Gedanken, die später in den Modellen der<br />
Hyperbolischen Diskontierungsmodelle ihren Ausdruck finden (siehe Abs. 2.4 idA.).<br />
21
The intensity of present feeling must, to use a mathematical expression,<br />
be some function of the future actual feeling and of the intervening time, and it must<br />
increase as we approach the moment of realization. The change again<br />
must be less rapid the further we are from the moment, and more rapid as<br />
we come nearer.<br />
Sowohl Senior als auch Jevons sehen den Menschen als fest in der Gegenwart<br />
verankert und von den aktuell erfahrenen Emotionen beeinflußt. Wir leben hier<br />
und jetzt, wir fühlen den Augenblick. Während Senior die Gegenwart als<br />
Ausgangspunkt seiner Analyse annimmt, fragt Jevons aus der Zeitperspektive<br />
heraus, warum die Zukunft in unseren Überlegungen überhaupt eine Rolle<br />
spielt. Senior sieht den aktuellen Schmerz der Nichtbefriedigung und<br />
entschädigt dafür, Jevons dagegen substituiert die gegenwärtige Freude der<br />
Befriedigung durch die kumulierte Vorfreude, die aus der Erwartung einer<br />
zukünftigen Befriedigung entsteht. Konsumverzicht wird nach dieser Ansicht<br />
nur dann betrieben, wenn der Schmerz des aktuellen Verzichts durch die<br />
kumulierte Vorfreude mehr als entschädigt wird.<br />
1.3.2.3 Österreichische Schule der Nationalökonomie<br />
Die Zeitpräferenz sowohl als Konzept als auch als Basis zur Begründung des<br />
Zinses, ist ein herausragendes Element der „Österreichischen Schule der<br />
Nationalökonomie“ (vgl. Rothbard, 1987, S. 645).<br />
1.3.2.3.1 Carl Menger<br />
Zentrales Element der Mengerschen Lehre, gefaßt im Werk „Grundsätze der<br />
Volkswirtschaftlehre“ (Wien, 1871) 31 , ist die bedürftige Menschennatur.<br />
Menschlichen Bedürfnissen und der Befriedigung derselben gilt durchgängig<br />
sein Hauptaugenmerk, auch dann wenn er sich dem durch Kapitalbesitz<br />
bedingten wirtschaftlichen Fortschritt der Menschen widmet und auf die<br />
31 Zitiert wird sowohl nach der ersten (1871), als auch der zweiten Auflage (1923).<br />
22
Problematik der <strong>Entscheidung</strong> zwischen unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung<br />
und langfristigem Wohlergehen zu sprechen kommt (Menger, 1871, S. 128):<br />
Auf die Sicherstellung der den Menschen zur Erhaltung ihres Lebens und ihrer<br />
Wohlfahrt in der Gegenwart oder der nächsten Zukunft erforderlichen Genußmittel<br />
ist stets ihre ängstlichste Sorge gerichtet, eine Sorge, die sich in dem Grade<br />
abschwächt, je ferner der Zeitraum ist, auf welchen sie sich erstreckt.<br />
Diese Erscheinung ist keine zufällige, sondern im Wesen der<br />
menschlichen Natur tief begründet. Soweit nämlich von der Befriedigung<br />
unserer Bedürfnisse die Erhaltung unseres Lebens abhängig ist, muß die<br />
Sicherstellung der Befriedigung der Bedürfnisse früherer Zeiträume<br />
notwendigerweise jener der späteren vorangehen.<br />
Für Menger ist, wie hier zum Ausdruck kommt, die unmittelbare<br />
Bedürfnisbefriedigung, soweit diese dem Überleben dient, Grundvoraussetzung<br />
für alles Wirtschaften. Erst wenn die Bedürfnisse der jeweiligen Periode<br />
gedeckt sind, kann sich der Mensch daran machen die Zukunft immer weiter zu<br />
erschließen. 32 Aber selbst dort wo es sich nur um Genüsse handelt spielt das<br />
Zeitelement eine herausragende Rolle, und Menger (ebd., S. 128) spricht wie<br />
zuvor das Konzept der Zeitpräferenz implizit an:<br />
Ähnlich verhält es sich selbst in Rücksicht auf solche<br />
Bedürfnisbefriedigungen, welche für uns bloß die Bedeutung von<br />
Genüssen haben. Ein Genuß pflegt den Menschen, wie alle Erfahrung<br />
lehrt, in der Gegenwart oder in einer näheren Zukunft wichtiger zu<br />
erscheinen als ein solcher von gleicher Intensität in einem entfernteren<br />
Zeitpunkte.<br />
Mengers Schüler Eugen von Böhm-Bawerk knüpft an dieser Gedankenreihe an<br />
und baut seine Kapitalzinstheorie, dargelegt in dem Werk „Positive Theorie des<br />
Kapitales“ (Wien, 1889) 33 , zum Teil auf ihr auf. Menger, der Böhm-Bawerks<br />
Theorie stets für anfechtbar hielt, sah sich daher in der zweiten Auflage seiner<br />
32 Vergleiche die Analogie in der Maslowschen Bedürfnishierachie. Für eine Darstellung siehe zum<br />
Beispiel Mayerhofer (2002, S. 265-269).<br />
33 Zitiert wird nach der Vierten Auflage von 1921. Friedrich Wieser Herausgeber.<br />
23
„Grundsätze“ (Wien, 1923) dazu veranlaßt, die entscheidenden Sätze zu<br />
streichen (vgl. Menger, 1923, S. XIV). Erhalten blieb nur sinngemäß der erste<br />
Teil des ersten Absatzes (im ersten Zitat oben kursiv, vgl. Menger, 1923, S. 97;<br />
der Autor).<br />
1.3.2.3.2 Eugen von Böhm-Bawerk<br />
Gegenwärtige Güter sind in aller Regel mehr wert als künftige Güter<br />
gleicher Art und Zahl. Dieser Satz ist der Kern- und Mittelpunkt der<br />
Zinstheorie, die ich vorzutragen habe.<br />
( Böhm-Bawerk, 1921, II. Abt., S. 318)<br />
Auch für Böhm-Bawerk stehen die Bedürfnisse der Menschen zentral. Dabei<br />
spielen für ihn die Bedürfnisse der Zukunft eine besondere Rolle, auf die unsere<br />
„tätige Sorge“ gerichtet sein sollte (vgl. Böhm-Bawerk, 1921, S. 319ff).<br />
Erschwert wird für ihn dieses Vorhaben durch den Umstand, daß der Mensch in<br />
der Gegenwart nur „lückenhafte“ Vorstellungen über zukünftige Gefühle –<br />
Bedürfnisse – besitzt; 34 er weißt aber gleichzeitig auf ihre immense Bedeutung<br />
für das Wirtschaften hin. In Bezug auf diese menschliche Vorstellungskraft<br />
merkt er (ebd., S. 321) an:<br />
Dabei liegt es auf der Hand, daß wir so trügerisch jene Vorstellungsgabe<br />
auch sein, und so sehr sie uns auch im einzelnen Fall irreleiten mag,<br />
immer noch alle Ursache haben, für ihren Besitz dem Schicksal herzlich<br />
dankbar zu sein. Denn besäßen wir sie nicht, so könnten wir natürlich für<br />
die künftigen Bedürfnisse, die weder aktuell empfunden, noch auch durch<br />
eine vorauseilende Vorstellung angemeldet würden, auch nicht mehr im<br />
Voraus sorgen.<br />
34 Diese Ansicht steht im krassen Widerspruch zu Jevons These der antizipierten Gefühle (siehe oben<br />
Abschnitt 1.3.2.2.).<br />
24
Sodann macht sich Böhm-Bawerk daran drei Gründe für die Höherschätzung<br />
gegenwärtiger Güter aufzuzeigen. 35 Er findet sie vor allem in psychologischen<br />
Ursachen, wie sein zweiter Grund beweißt. 36<br />
Einen ersten Grund findet Böhm-Bawerk in der Verschiedenheit des<br />
Verhältnisses von Bedarf und Deckung in den verschiedenen Zeiträumen.<br />
Leidet ein Mensch zum Beispiel in der Gegenwart an einem Mangel an Gütern,<br />
hat aber die Hoffnung in der Zukunft reichlicher versorgt zu sein, so wird er<br />
eine gewisse Menge unmittelbar verfügbarer Güter höher schätzen, als dieselbe<br />
Menge zukünftiger Güter (vgl. ebd, S. 328–331). 37<br />
Der durchaus wichtigere zweite Grund ist, daß wir unsere künftigen<br />
Bedürfnisse und die Mittel, die zu ihrer Befriedigung dienen, systematisch<br />
unterschätzen, nur weil sie eben zukünftig sind (vgl. ebd., S. 332–338). Böhm-<br />
Bawerk stellt aber postwendend fest, daß diese systematische Unterschätzung<br />
zwischen einzelnen Nationen, Lebensaltern und Individuen graduell äußerst<br />
verschieden ist. Kraß ist sie vor allem, so meint er, bei Kleinkindern und<br />
Wilden, sie ist aber auch mitten unter uns. Als Beispiel erwähnt er den Arbeiter,<br />
der den Samstag empfangenen Wochenlohn Sonntag durch die Gurgel jagt, um<br />
die Woche über mit Weib und Kind zu darben. Und selbst dem vorsorglichsten,<br />
charakterfestesten und überlegtesten Mann ist diese Erscheinung nicht fremd,<br />
schreibt er, und nennt zum Beispiel die vom Arzt verbotene Zigarre, die der<br />
augenblicklichen Lust geopfert wird.<br />
35 Als dritten Erklärungsgrund für den Kapitalzins, abseits des Konzeptes der Zeitpräferenz, nennt<br />
Böhm-Bawerk die Mehrergiebigkeit zeitraubender Produktionsumwege. Sehr vieles wurde zu dieser<br />
Böhm-Bawerkschen Ansicht im Laufe der Zeit geschrieben, in der hier vorliegenden Arbeit wird<br />
darauf nicht weiter eingegangen, sie hat in diesem Rahmen keine unmittelbare Relevanz.<br />
36 Es sei hier in Bezug auf Abs. 1.2 idA. angemerkt, daß Böhm-Bawerk vom Ideal einer Kontinuität der<br />
menschlichen Identität über die Zeit ausgeht. Für ihn spielt die Unsicherheit des Eintretens<br />
zukünftiger Ereignisse weiters keine Rolle in der Begründung des Kapitalzinses, sehr wohl aber die<br />
Unsicherheit des menschlichen Lebens an sich.<br />
37 Zum Beispiel: Wird ein Student in Ausbildung 100 EURO heute höher schätzten, als 100 EURO<br />
morgen, wenn er dann im Berufsleben steht.<br />
25
Als Erklärung für diese psychisch bedingte systematische Unterschätzung findet<br />
er sodann drei Gründe (vgl. ebd., S. 333–336).<br />
Erstens die Lückenhaftigkeit unserer Vorstellungskraft (siehe oben<br />
idA.) bezüglich zukünftiger Bedürfnisse, zweitens die vielen Individuen<br />
fehlende Willenskraft und als dritten Grund nennt er die, bereits von Rae<br />
thematisierte, Kürze und Unsicherheit des menschlichen Lebens. Diese drei<br />
Gründe kommen nach Böhm-Bawerk bei verschiedenen Individuen, aber auch<br />
bei demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Geistes-<br />
und Gemütsstimmungen, in äußerst verschiedenen Graden vor, 38 und wie er<br />
bemerkt, stufen sie sich nicht harmonisch je nach der Länge des Zeitintervalls<br />
ab (ebd., S. 336). Wie schon Jevons nimmt Böhm-Bawerk damit gedanklich das<br />
Konzept der Hyperbolischen Diskontierung vorweg. Er schreibt (ebd., S. 336):<br />
Im Gegenteile, die originären subjektiven Unterschätzungen sind höchst<br />
ungleichmäßig und sprunghaft. Namentlich soweit die Unterschätzung<br />
durch den oben besprochenen Willensfehler verursacht wird, dürfte zwar<br />
eine starke Schätzungsdifferenz zwischen absolut augenblicklichen und<br />
nicht augenblicklichen, dagegen eine sehr kleine oder gar keine Differenz<br />
zwischen mäßig und mehr entlegenen Genüssen gesetzt werden.<br />
Diese drei Teilgründe führen nun dazu, daß die Menschen den Nutzen künftiger<br />
Güter bei ihrer Schätzung in geringerem Maße anschlagen, als es seiner wahren<br />
Größe entspricht, und Böhm-Bawerk schließt mit der Bemerkung, „daß der<br />
Grenznutzen künftiger Güter gleichsam in perspektivischer Verkleinerung<br />
erscheint“ (vgl. ebd., S. 337).<br />
1.3.2.4 Zusammenfassung<br />
Soweit sind das vorderhand die Gründe die im Laufe der Geschichte von<br />
verschiedenen Wissenschaftlern gefunden wurden, um die Höherschätzung<br />
gegenwärtiger Güter zu argumentieren. Sie seien hier in Abbildung 1-2 in einer<br />
tabellarischen Übersicht noch einmal kurz zusammengefaßt.<br />
38 „…; bei Fanatikern der Vorsicht und Vorsorge mag sogar das Gegenteil, eine parteiische<br />
Überschätzung künftigen Nutzens sich einstellen“ (Böhm-Bawerk, 1921, S. 336).<br />
26
Abbildung 1-2: Gründe für die Höherschätzung gegenwärtiger Güter<br />
• Die Kürze und Unsicherheit des menschlichen Lebens.<br />
• Die vorauszuahnende Abnahme unserer Genußfähigkeit.<br />
• Impulsivität, als Ausdruck der leidenschaftlichen Hingabe an den Augenblick.<br />
• Antizipierte Gefühle, die nicht mit den tatsächlichen übereinstimmen.<br />
• Der zu vermeidende Schmerz, gleich der Unlust des Erwartens.<br />
• Die fehlende Vorstellungskraft des menschlichen Geistes.<br />
• Die fehlende Willenskraft.<br />
• Die systematische Unterschätzung zukünftiger Bedürfnisse.<br />
Das sind die hauptsächlichen Gründe für die Höherschätzung gegenwärtiger<br />
Güter, oder wie es Irving Fisher (1930) in seiner „Theory of Interest“<br />
ausdrückte, für die „Ungeduld“. Es war schließlich an ihm, aufbauend auf<br />
diesen Überlegungen, unter Hinzufügung des Motivs der Mode, 39 das erste<br />
formale Modell der Allokation des Konsums über die Zeit zu entwickeln. Sein<br />
Modell gilt bis heute als normatives Prinzip (vgl. Read, 2003, S. 3) und wird<br />
am Anfang des Kapitels Zwei (Abs. 2.2.1 idA.), das sich den formalen<br />
Modellen der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong> widmet, kurz dargestellt. Fishers<br />
Modell stellt zugleich den Übergang von einer eher psychologischen, zu einer<br />
funktional formalisierten Sichtweise der Diskontierung her. Seinen Ausdruck<br />
findet dieser Umstand schließlich im „Discounted Utility Modell“, das alle in<br />
diesem Abschnitt vorgebrachten Gründe in einen einzigen Parameter zwängt,<br />
der konstanten Diskontierungsrate über die Zeit.<br />
39 „The most fitful of the causes at work is probably fashion. This at the present time acts, on the one<br />
hand, to stimulate men to save and become millionaires, and, on the other hand, to stimulate<br />
millionaires to live in an ostentatious manner. […] In whatever direction the leaders of fashion first<br />
chance to move, the crowd will follow in mad pursuit until almost the whole social body will be<br />
moving in that direction” (Fischer zitiert nach Loewenstein, 1992, S. 18).<br />
27
Es sollte knapp ein halbes Jahrhundert vergehen, ehe psychologische<br />
Überlegungen zu dieser Thematik in den Arbeiten von<br />
verhaltenswissenschaftlich orientierten Ökonomen wieder zu Tage traten. Der<br />
nächste Unterabschnitt ist daher einer Vorstellung dieses Forschungsbereiches<br />
gewidmet.<br />
1.4 Behavioral Economics<br />
(Verhaltenswissenschaftlich Orientierte Ökonomie)<br />
„Behavioral Economics“ 40 stellt jenen Forschungszweig innerhalb der<br />
Wirtschaftswissenschaften dar, der gezielt darauf ausgerichtet ist, die aus<br />
menschlichem Verhalten gewonnenen psychologischen Annahmen in die<br />
ökonomische Theorie zu integrieren. Diese Annahmen sind im Besonderen<br />
motiviert durch Forschungsergebnisse aus den Bereichen der sozial-kognitiven<br />
Psychologie, Soziologie und Neurobiologie. „Behavioral Economists“<br />
untersuchen, wie menschliches Verhalten systematisch von den<br />
Standardannahmen der Ökonomie abweicht, und schlagen auf Basis dieser<br />
Beobachtungen alternative Annahmen vor, und entwickeln darauf aufbauend<br />
formale Modelle.<br />
Die folgende Übersichtsdarstellung des Forschungsbereichs Behavioral<br />
Economics faßt die Arbeiten von Camerer und Loewenstein (2003), Maital und<br />
Maital (1984) und Rabin (1998, bzw. 2002).<br />
40 In dieser Arbeit verwende ich weitestgehend eine, mir für diesen Forschungsbereich,<br />
beziehungsweise für deren Forscher passend scheinende, deutsche Bezeichnung. Ich verwende daher<br />
die Bezeichnung der ‚verhaltenswissenschaftlich orientierten Ökonomie und Ökonomen’ synonym.<br />
28
1.4.1 Positionierung<br />
Verhaltenswissenschaftlich orientierte Ökonomie ist im Bereich zweier sich<br />
überlappender Disziplinen, der klassischen ökonomischen Theorie und der<br />
Psychologie positioniert. 41 Sie stellt in dieser Hinsicht die von Maital und<br />
Maital (1984, S. 55) geforderte notwendige Verbindung dar, die eine<br />
Möglichkeit der gegenseitigen Befruchtung bietet:<br />
Economics is the logic of choice. Psychology is the science of behavior.<br />
Since choice is one of the most pervasive and important types of<br />
behavior, it is self-evident that the models and methods of these two<br />
disciplines should be inextricably linked.<br />
Dem hier vorgestellten Forschungsbereich zentral steht eine Vision - die Vision<br />
eine bessere ökonomische Theorie zu generieren. Eine Theorie, deren<br />
Annahmen näher an der Realität sind. Den verhaltenswissenschaftlich<br />
orientierten Ökonomen geht es in erster Linie darum, dort wo es möglich und<br />
erfolgsversprechend scheint Annahmen einzuführen, die realistischer sind als<br />
die Standardannahmen 42 der orthodoxen klassischen Ökonomie, und dort wo es<br />
sich um nachgewiesener Maßen falsche Annahmen handelt diese zu ersetzten.<br />
So formuliert zum Beispiel Rabin (2002, S. 658):<br />
…, the more realistic our assumptions about economic actors, the better<br />
our economics.<br />
Ihre Überzeugung liegt in der Tatsache begründet, daß eine ökonomische<br />
Theorie, die psychologisch unterfüttert ist, eine bessere Theorie sein wird, weil<br />
41 Eine übersichtliche Darstellungen und ausführliche Diskussion zur wechselseitigen Beziehung<br />
zwischen Ökonomie und Psychologie bieten unter anderem Maital und Maital (1984) und Rabin<br />
(2002).<br />
42 Unter Standardannahmen wird zum Beispiel verstanden, daß Menschen unter anderem Bayessche<br />
Informationsprozessoren angesehen werden; daß sie wohl definierte und stabile Präferenzen besitzen;<br />
daß sie ihren erwarteten Nutzen maximieren; daß sie zukünftiges Wohlbefinden exponentiell<br />
diskontieren; daß sie selbstsüchtig sind; daß sie Präferenzen über absolute Erträge und nicht über<br />
relative Veränderung der Erträge bilden; etc. Vgl. z.B. Gravelle und Rees (1992).<br />
29
sie näher beim Menschen ist, ihn als ein fühlendes, denkendes und handelndes<br />
Wesen betrachtet. Camerer und Loewenstein (2003, S. 42) meinen sogar, daß<br />
jede ökonomische Theorie auf irgendeiner Art impliziter Psychologie beruhen<br />
muß. Die einzige Frage die für sie (ebd., S. 42) in diesem Zusammenhang<br />
verbleibt ist:<br />
…whether the implicit psychology in economics is good psychology or<br />
bad psychology.<br />
Dem Forschungsprogramm der verhaltenswissenschaftlich orientierten<br />
Ökonomie geht es dabei aber nicht darum, in Opposition zur neoklassischen<br />
Theorie zu treten; sie versteht sich vielmehr als natürliche Erweiterung (vgl.<br />
Rabin, 2002, S. 658) derselben. In einigen der Arbeiten wird auch explizit<br />
betont, wie sehr die Methoden der orthodoxen Ökonomie geschätzt werden (vgl.<br />
u.a. Rabin, 1998, S. 12f; sowie Rabin, 2002, S. 658). Besonders hervorgegeben<br />
wird, daß es der klassischen Ökonomie gelingt Aussagen zu machen, die auch<br />
überprüfbar sind. Daher wird diese auch als Forschungsparadigma akzeptiert,<br />
nur um ihr mit einer realistischeren psychologischen Basis zu einer erhöhten<br />
Erklärungskraft zu verhelfen (vgl. Camerer und Loewenstein, 2003, S. 3).<br />
1.4.2 Geschichte und Methodik<br />
Die grundlegenden Ideen, die diesem Forschungsbereich ihre Richtung geben<br />
(vgl. ebd, 2003, S. 5f), reichen zurück zu den Anfängen der Ökonomie als<br />
Wissenschaft und darüber hinaus. Adam Smiths Werk „The Theory of Moral<br />
Sentiments“ (Glasgow, 1759) 43 , ist voll psychologischer Prinzipien<br />
menschlichen Verhaltens, und viele seiner dort niedergelegten Ideen finden sich<br />
als Basis später wieder in „The Wealth of Nations“. Viele der Konzepte der<br />
neoklassischen Theorie basieren, zumindest implizit, auf psychologischen<br />
Überlegungen, wie zum Beispiel Jeremy Benthams Nutzenkonzept. Am Thema<br />
dieser Arbeit lassen sich psychologische Komponenten in den Darstellungen<br />
von John Rae über Nassau W. Senior und Willian S. Jevons, bis zu Eugen von<br />
43 Im Literaturverzeichnis angeführt unter: Smith, Adam (1976).<br />
30
Böhm-Bawerk und Irving Fisher verfolgen (vgl. Loewenstein, 1992; sowie Abs.<br />
1.3.2 idA.). Erst im Laufe des letzten Jahrhunderts, als sich die Ökonomie<br />
immer mehr den Methoden der Mathematik und formalen Logik bediente,<br />
verliert sich die psychologische Komponente. 44 Je mehr sich die Ökonomie der<br />
allgemeinen Gültigkeit und Handhabbarkeit verpflichtet sah, desto weniger<br />
paßten Menschen aus Fleisch und Blut in ihr Programm - der „homo<br />
oeconomicus“ wurde anstatt geboren. Nicht daß auch in der neoklassischen<br />
Theorie Platz wäre für Begriffe wie Fairneß oder Altruismus, aber haben diese<br />
immer den bitteren Beigeschmack der Irrationalität. 45 Versuche, wie der von<br />
Herbert Simon (1955) die Rationalität als eine „beschränkte“ zu sehen fanden<br />
große Aufmerksamkeit, konnten aber die fundamentale Richtung nicht<br />
verändern. Mit den Arbeiten von Amos Tversky und Daniel Kahnemann 46<br />
begann sich eine neue Richtung zu etablieren, die gegenwärtig durchaus die<br />
Chance besitzt, sich einen namhaften Platz in der Welt der Wissenschaften zu<br />
sichern.<br />
Die Vorgehensweise dieser Forschungsrichtung ist klar strukturiert (vgl.<br />
Camerer und Loewenstein, 2003, S. 7). In einem ersten Schritt werden<br />
normative Annahmen oder Modelle, die regelmäßig von Ökonomen gebraucht<br />
werden identifiziert - in dem speziellen Fall dieser Arbeit, das Discounted<br />
Utility Modell. In einem nächsten Schritt wird untersucht, wie das menschliche<br />
Verhalten systematisch von diesen Annahmen und Modellen abweicht – zum<br />
Beispiel sich verkehrende Präferenzen über die Zeit. Es werden klare<br />
44 “As its paradigm, economics adopted physics, and as its language, mathematics. Biology, and<br />
subsequently psychology, was shunted aside.” Maital und Maital (1984, S. 58)<br />
45 Ein Wort zum Begriff der Rationalität. Ökonomen verstehen unter rational, frei von Fehlern zu sein.<br />
Psychologen beschäftigen sich gerade mit dem Modellieren und messen dieser „Fehler“, und die<br />
bedeutsamsten Beiträge stammen gerade aus diesem Bereich, wo dieses „irrationale“ Verhalten von<br />
Menschen, das tatsächlich gerade menschlich ist systematisch analysiert und in Annahmen und<br />
Modelle übertragen wird (Maital und Maital, 1984, S. 61f).<br />
46 Amos Tversky und Daniel Kahnemann untersuchten und erklärten eine Fülle von Phänomenen, die<br />
zu Anomalien in menschlichen <strong>Entscheidung</strong>en führen. Eine ausführliche Würdigung beider bieten<br />
Laibson und Zeckhauser (1998). In der Ökonomie gelten sie als Mitbegründer der „Behavioral<br />
Economics“. Daniel Kahnemann ist Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 2002.<br />
31
Verletzungen demonstriert und andere alternative Erklärungen gewissenhaft<br />
ausgeschlossen – wie etwa Irrationalität. In Folge werden diese Anomalien als<br />
Inspiration genützt, und unter Verwendung psychologischer Erkenntnisse<br />
werden neue alternative Theorien entwickelt – das Modell der Hyperbolischen<br />
Diskontierung -, die die existierenden Modelle verallgemeinern – für diesen<br />
Fall das βδ-Modell. Als Ergebnis stehen dann neue ökonomische Modelle des<br />
menschlichen Verhaltens aus denen Schlüsse gezogen werden, um sie endlich<br />
an der Realität zu testen.<br />
Die dominierende Methode der ersten Generation von<br />
verhaltenswissenschaftlichen Ökonomen war das Experiment, wie in den<br />
Arbeiten von Amos Tversky und Daniel Kahnemann eindrucksvoll<br />
demonstriert. In ihrer zweiten Entwicklungsphase wuchs die<br />
verhaltenswissenschaftlich orientierte Ökonomie über Experimente hinaus, und<br />
sie wendet seitdem eine breitgefächerte Palette wissenschaftlicher<br />
Untersuchungsmethoden an. Dazu zählen Untersuchungen im Feld, die<br />
Demographie, Selbstreporte oder kognitive Messungen. Diese Verbreiterung in<br />
der Methodik führte zu einer Abgrenzung von der sogenannten experimentellen<br />
Ökonomie. Diese Abgrenzung scheint vor allem aus der Einsicht nötig, daß<br />
natürliche Situationsgegebenheiten entscheidend zum Verstehen menschlichen<br />
Verhaltens beitragen. Camerer und Loewenstein (ebd., S.8) weisen auf das<br />
Selbstverständnis verhaltenswissenschaftlicher Ökonomen hin, wenn sie<br />
erklären:<br />
…, behavioral economists are methodological eclectics.<br />
Das heißt, daß sich diese Forschungsrichtung nicht über die verwendeten<br />
Methoden charakterisieren lassen will, aber wie die Ausführungen bis zu<br />
diesem Punkt zeigen sollen, durch die grundlegende Anwendung<br />
psychologischer Erkenntnisse.<br />
Zu ihrer Berechtigung als anerkannte wissenschaftliche<br />
Forschungsrichtung gibt es nach wie vor Kritik. Diese bezieht sich einerseits<br />
auf die von ihr verwendeten Methoden, und andererseits auf ihren Umgang in<br />
32
der Frage der Annahmen (vgl. Rabin, 2002). 47<br />
Stigler (1965, zitiert nach Camerer und Loewenstein, 2003, S. 4) meint,<br />
daß „eine Theorie an drei Kriterien gemessen werden muß: Ihrer<br />
Übereinstimmung mit der Realität, ihrer Allgemeingültigkeit und ihrer<br />
Handhabbarkeit“. Demonstriert am Beispiel der intertemporalen<br />
<strong>Entscheidung</strong>stheorie zeigen diese Kriterien ein zyklisches Muster.<br />
Wurde mit dem Übergang zum „Discounted Utility Modell“ die Nähe<br />
zur Realität, der Handhabbarkeit geopfert, wurde die Handhabbarkeit im Laufe<br />
der Formalisierung zu Gunsten der Allgemeingültigkeit zurückgedrängt, um nun<br />
wieder Teile dieser, für die Realitätsnähe aufzugeben. Eine begrüßenswerte<br />
Entwicklung, wie es Rabin (2002, S. 673) zum Ausdruck bringt:<br />
It is odd on the one hand to be told … that economists must forego<br />
behavioral realism for the sake of keeping our models simple – when on<br />
the other hand we are holding a copy of Econometrica.<br />
1.4.3 Ausblick<br />
Bis zum jetzigen Zeitpunkt stellt die verhaltenswissenschaftliche<br />
<strong>Entscheidung</strong>sforschung den Hauptarbeitsbereich dieser Forschungsrichtung dar<br />
(vgl. Camerer und Loewenstein, 2002). Zu den am meist diskutierten Themen<br />
zählen <strong>Entscheidung</strong> unter Unsicherheit sowie intertemporale <strong>Entscheidung</strong>en.<br />
Die von verhaltenswissenschaftlichen Ökonomen generierten Modelle in der<br />
Diskussion intertemporaler <strong>Entscheidung</strong>en (Hyperbolische<br />
Diskontierungsmodelle) bilden den zweiten Hauptteil des Kapitel Zwei (Abs.<br />
2.4 idA.).<br />
47 Camerer (1998, S. 174) nennt drei Gründe warum Ökonomen sich weigern die Hyperbolische<br />
Diskontierung zu gebrauchen. Erstens die Ignoranz gegenüber den empirischen<br />
Forschungsergebnissen. Zweitens die Konfusion über den normativen versus den deskriptiven<br />
Anspruch dynamischer Konsistenz. Drittens die Unsicherheit sich von exponentiellen Modell zu<br />
trennen und trotzdem noch analytische Ökonomie zu betreiben. Während der zweite Punkt Fragen der<br />
Methode aufwirft, thematisiert Punkt Drei das Problem, wie Ökonomie betrieben werden soll. Für<br />
Camerer ist die Sachlage allerdings einfach: Das Hyperbolische Diskontierungsmodell bietet eine<br />
zwei Parameter funktionale Form, die für Personen gebraucht werden kann, die sich dynamisch<br />
konsistent verhalten und auch für alle die es nicht tun.<br />
33
Weitere Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit Fragen der<br />
Referenzabhängigkeit und Verlustaversion, mit Präferenzen bezüglich<br />
risikobehafteter und unsicherer Erträge, mit Fairneß und sozialen Präferenzen<br />
sowie der verhaltenswissenschaftlichen Spieltheorie.<br />
Die Ergebnisse dieser Arbeiten lassen sich auf so verschiedene Gebiete<br />
wie die Makroökonomie, das Sparverhalten, die Arbeitsmarktökonomie,<br />
Ökonomie und Recht und auch auf Prozesse von Finanzmärkten anwenden. Zu<br />
den neueren Orientierungen zählen, die sogenannte „Case-Based-Decision<br />
Theory“, weiters das Studium der Emotionen in Hinsicht auf <strong>Entscheidung</strong>en<br />
und, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll, neurowissenschaftliche<br />
Evidenzen.<br />
Tatsächlich ist der Übergang von der verhaltenswissenschaftlich orientierten<br />
Ökonomie zur Neuroökonomie ein fließender, aber in der Perspektive ein<br />
dramatisch anderer.<br />
1.5 Neuroeconomics<br />
(Neuroökonomie)<br />
Während sich verhaltenswissenschaftliche Ökonomen bisher damit begnügen<br />
mußten beobachtbares menschliches Verhalten zu analysieren, verbunden mit<br />
der Problematik der Beobachtung an sich (vgl. Wilke, 1996, S. 12–38), geht die<br />
Neuroökonomie einen Schritt weiter. Stellte die Schädeldecke bis vor kurzem<br />
eine natürliche Grenze der Beobachtungsmöglichkeit dar, gilt der Spruch: „Kein<br />
Mensch kann in einen anderen hineinschauen“, nur mehr bedingt. Diese<br />
Entwicklung in der Methode wird möglich durch neue technische<br />
Errungenschaften, wie der funktionalen Kernspintomographie.<br />
Neuroökonomie (Camerer, Loewenstein und Prelec, 2004a; sowie 2004b) stellt<br />
den Versuch dar, Erkenntnisse über das Funktionieren des menschlichen<br />
Gehirns gezielt für die ökonomische Theorie zu gebrauchen. Sie öffnet die<br />
bisher verschlossene Black-Box Gehirn, in etwa so wie die<br />
34
Organisationsökonomie die Black-Box Unternehmung. 48 Die Bedenken, die<br />
Jevons (1871, zitiert nach Camerer, Loewenstein und Prelec, 2004a, S.556)<br />
noch Ende des 19. Jahrhunderts bezüglich der Meßbarkeit von Gefühlen<br />
äußerte, scheinen am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr zu gelten, und ein<br />
Rückzug auf enthüllte Präferenzen scheint nicht mehr der letzte Ausweg:<br />
I hesitate to say that men will ever have the means of measuring directly<br />
the feelings of the human heart. It is from the quantitative effects of the<br />
feelings that we must estimate their comparative amounts.<br />
Auch wenn der Forschungsbereich der Neuroökonomie erst am Beginn seiner<br />
Arbeit steht, konnte er bereits jetzt einige interessante Aspekte, besonders für<br />
das hier verfolgte Thema des menschlichen <strong>Entscheidung</strong>sverhalten, beisteuern.<br />
Besonders im Fall der Annahme einer strikten Rationalität, von der im<br />
neoklassischen Paradigma ausgegangen wird, scheint sich eine neue Ansicht<br />
durchzusetzen, die die Bedeutung von Gefühlen, Emotionen und Affekten für<br />
das menschliche Verhalten, und in Folge für die menschliche Wirtschaft<br />
erkennt. Die Zeit für den homo oeconomicus, so sind sich eine Vielzahl<br />
führender Ökonomen einig, scheint abgelaufen (siehe z.B. Thaler, 2000; oder<br />
Kopcke, Little und Tootell, 2004). Die Einsicht der Bedeutung von Emotionen<br />
(Elster, 1996 und 1998), Triebbedürfnissen (Loewenstein, 1996) und Affekten<br />
(Loewenstein und Lerner, 2003) im menschlichen <strong>Entscheidung</strong>sprozeß, die<br />
sich teilweise wider der Rationalität, im Sinne von Verstand und Vernunft,<br />
verhalten, wird durch Erkenntnisse der Neurobiologie gestützt.<br />
Eine Haupterkenntnis, die sich für die ökonomische Theorie ableiten<br />
läßt, ist die Tatsache, daß das Gehirn ein komplexes System mit komplexen<br />
Subsystemen und Schaltungen ist. Diese Subsysteme, von denen in Folge zu<br />
sprechen sein wird, interagieren teilweise miteinander, teilweise verfolgen sie<br />
aber auch ihre eigenen Ziele, und befinden sich so im Konflikt miteinander. 49<br />
48 Vgl. z.B. Martin Ricketts (2002).<br />
49 Eine Erkenntnis, die bereits von Sigmund Freud schematisch vorgetragen wurde. In seinem<br />
Strukturmodell unterscheidet er so zwischen dem Ich und Es sowie dem Über-Ich. Diese über lange<br />
Zeit angefeindete Theorie gewinnt durch die Erkenntnisse der Hirnforschung wieder an Aktualität<br />
(vgl. Lakotta, 2005; Roth, 2003, S. 430–441). Der Versuch im dritten Kapitel einen interdisziplinären<br />
Ansatz zu entwickeln basiert zum Teil auf diesem, von Freud vorgetragenem Modell.<br />
35
1.5.1 Methodik<br />
Neurowissenschaftler nützen eine Vielzahl von Methoden, so zum Beispiel<br />
funktionelle Bildgebung, Psychopathologie und das Verhalten von Patienten mit<br />
Gehirnschäden. Weitere Methoden sind die Messung der Aktivität einzelner<br />
Neuronen, elektrische Gehirnstimulationen, psychophysikalische Messungen<br />
und Diffusion Tensor Bildgebung. Einzelne oder mehrere dieser Methoden<br />
werden dann von ihnen kombiniert, um herauszufinden wie das menschliche<br />
Gehirn arbeitet (vgl. Camerer, Loewenstein und Prelec, 2004b, S. 4–10; und<br />
Roth, 2003, S. 124–128). Die funktionelle Bildgebung ist dabei „the great leap<br />
forward“ (Camerer, Loewenstein und Prelec, 2004a, S. 557) in den<br />
Neurowissenschaften. Meistens beinhaltet diese Methode einen Vergleich<br />
menschlicher Gehirnaktivität bei der Erfüllung unterschiedlicher Aufgaben,<br />
zum Beispiel einer experimentelle Aufgabe A und einer Kontrollaufgabe B. Aus<br />
der Differenz der dabei gewonnenen Bilder kann auf die aktiven Bereiche des<br />
Gehirns geschlossen werden. Die modernste Art dieser Methode wird als<br />
funktionelle Kernspintomographie (fNMR, fMRI) bezeichnet. 50<br />
1.5.2 Grundlegender Aufbau und Funktionsweise des menschlichen Gehirns<br />
Eine drastisch verkürzte Darstellung des Aufbaus und Funktionierens des<br />
menschlichen Gehirns soll die Ansatzpunkte aufzeigen, die sich die<br />
ökonomische Theorie zukünftig zu Nutze machen kann (vgl. Camerer,<br />
Loewenstein und Prelec, 2004b). 51<br />
50 Vgl. Roth (2003, S. 127): „Bei der fMRI wird die Tatsache ausgenützt, daß sauerstoffreiches und<br />
sauerstoffarmes Blut unterschiedliche magnetische Eigenschaften besitzen. Dies nennt man BOLD-<br />
(d.h. blood-oxygen-level-dependent) Effekt. Dadurch lassen sich sowohl Schwankungen im<br />
Sauerstoffgehalt des Blutes als auch Unterschiede im lokalen Blutfluß in Abhängigkeit von der<br />
leistungsbedingten Stoffwechselaktivität des Gehirns feststellen und bildlich darstellen. Der BOLD-<br />
Effekt zeigt an, wo im Gehirn die neuronale Aktivität lokal erhöht ist (vgl. Abb. 7.5).“<br />
51 Für eine ausführliche Darstellung der Neurowissenschaften im deutschsprachigen Raum, im<br />
speziellen über Aufbau und Funktionieren des menschlichen Gehirns siehe Gerhard Roth (2003).<br />
Diese Arbeit bietet darüber hinaus eine Vielzahl von Komplementärthemen, besonders herauszuheben<br />
ist die Diskussion rund um das Thema „Geist – Gehirn – Problem“.<br />
36
Die nachfolgende Abbildung 1-3 zeigt eine schematische Darstellung eines<br />
Teiles jener Bereiche des Gehirns, die für Ökonomen von Interesse sein<br />
könnten und die in den folgenden Ausführungen zur Sprache kommen.<br />
Abbildung 1-3: Das menschliche Gehirn mit einigen ökonomisch relevanten Teilbereichen<br />
Quelle: Camerer, Loewenstein und Prelec (2004a, S. 559).<br />
Das Ziel das Neurowissenschaftler verfolgen ist es aber nicht allein eine<br />
Landkarte des Gehirns zu erstellen, sondern herauszufinden welche<br />
Gehirnbereiche durch verschiedene Aktivitäten und Aufgaben aktiviert werden,<br />
und um die Funktionsweise und das Zusammenspiel dieser Bereiche zu<br />
verstehen, so zum Beispiel wie das Gehirn auf unterschiedlichste<br />
Problemstellungen reagiert.<br />
Grob gesagt kann man zwischen zwei zentralen Dimensionen im Funktionieren<br />
des Gehirns unterscheiden. Einerseits zwischen kontrollierten und<br />
automatischen Prozessen und andererseits zwischen kognitiv-exekutiven und<br />
affektiv-emotionalen Prozessen, die sich wahlweise gegenseitig überlappen.<br />
37
1.5.2.1 Kontrollierte Prozesse<br />
Kontrollierte Prozesse hängen stark von der Bereitstellung kognitiver<br />
Ressourcen ab, sie benötigen Aufmerksamkeit und Bewußtsein, sie laufen<br />
langsam ab und sind mit dem subjektiven Gefühl einer Anstrengung verbunden.<br />
Kontrollierte Prozesse sind sprachlich berichtbar. <strong>Entscheidung</strong>sbäume und<br />
dynamische Programmierung können zum Beispiel als stilisierte<br />
Repräsentationen davon gesehen werden. Allgemein zeigen kontrollierte<br />
Prozesse eine multimodale, auf die Verarbeitung komplexer und<br />
bedeutungshafter Inhalte ausgerichtete Informationsverarbeitung. Sie beruhen<br />
auf serieller Informationsverarbeitung, die in den assoziativen Cortexarealen in<br />
enger Zusammenarbeit mit der Hippocampus-Formation und der umgebenden<br />
Rinde, dem basalen Vorderhirn und anderen subcortikalen Zentren stattfindet<br />
(vgl. Roth, 2003, S. 238)<br />
1.5.2.2 Automatische Prozesse<br />
Sehr vieles im menschlichen Gehirn folgt automatischen Prozessen. Diese<br />
laufen schnell und mühelos ab, sie sind unabhängig von der Begrenzung<br />
kognitiver Ressourcen, ihre willentliche Kontrolle ist schwach oder nicht<br />
vorhanden. Aufmerksamkeit und Bewußtsein sind nicht notwendig, ihre<br />
Fehleranfälligkeit ist gering und sie verbessern sich durch Übung, sind aber<br />
gleichzeitig schwer veränderbar, wenn sie erst einmal eingeübt sind. Ihnen liegt<br />
eine überwiegend parallele Informationsverarbeitung zugrunde. Als Orte dieser<br />
Prozesse werden der unimodale sensorische und der primäre motorische Cortex,<br />
die Brücke, das Cerebellum, sowie die subcortikalen limbischen (Amygdala)<br />
und motorischen Zentren angenommen (vgl. ebd, S. 237f). Da der Mensch nur<br />
eine geringe oder überhaupt keine Einsicht in diesen Prozeß hat, und diese auch<br />
nicht willentlich oder nur schwach kontrollieren kann, folgt das Verhalten, das<br />
durch diesen Prozeß erzeugt wird, nicht unbedingt den normativen Axiomen der<br />
Wahl.<br />
38
Die zweite Dimension unterscheidet zwischen kognitiv exekutiven und affektiv<br />
emotionalen Prozessen. In die Alltagssprache übersetzt spiegeln diese beiden<br />
Prozesse die Unterscheidung zwischen Verstand und Gefühlen wider. In der<br />
Gehirnforschung läßt sich eine Differenzierung nach den an den Prozessen<br />
beteiligten Gehirnbereichen vornehmen.<br />
1.5.2.3 Kognitiv-exekutive Prozesse<br />
Zum kognitiven Gehirn zählen all diejenigen Gehirnteile, die mit komplexer<br />
Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Denken, Vorstellen und Erinnern zu tun<br />
haben. Dazu gehören neben den sensorischen Gebieten innerhalb und außerhalb<br />
der Großhirnrinde vor allem Teile des parietalen, temporalen und frontalen<br />
Assoziationscortex. Zum exekutiven Gehirn gehören die Teile, die mit der<br />
Planung, Vorbereitung und Kontrolle von Handlungen zu tun haben. Auf Ebene<br />
der Großhirnrinde zählen dazu der präfrontale Cortex und Teile des parietalen<br />
Cortex, auf allocorticaler Ebene der anteriore cinguläre Cortex und auf<br />
subcorticaler Ebene die anterioren, medialen und intralaminären Kerne (vgl.<br />
ebd, S. 129).<br />
1.5.2.4 Affektiv-emotionale Prozesse<br />
Affektiv-emotionale Prozesse sind aufs Engste mit dem limbischen System<br />
verbunden. Limbisch sind diejenigen Strukturen, die mit emotional-affektiven<br />
Zuständen in Verbindung mit Vorstellungen, Gedächtnisleistungen, Bewertung,<br />
Auswahl und Steuerung von Handlungen zu tun haben, und zwar unabhängig<br />
davon, ob diese Leistungen und Zustände bewußt oder unbewußt ablaufen. Zum<br />
limbischen System gehören Kerngebiete im Mittelhirn, Zwischenhirn und<br />
Endhirn und hier insbesondere die Amygdala (vgl. ebd., S. 256). Die Amygdala<br />
ist hauptverantwortlich für eine Vielzahl automatisch affektiver Reaktionen, vor<br />
allem für Angstgefühle und spielt bei <strong>Entscheidung</strong>sverhalten, wie noch zu<br />
zeigen sein wird, eine hervorstechende Rolle. Das menschliche Verhalten ist<br />
sehr stark beeinflußt von diesem feingesteuerten affektiv-emotionalen System,<br />
39
welches unabdingbar für das tägliche Funktionieren ist. Ist diese gestört oder<br />
verletzt, wie zum Beispiel bei Gehirnverletzungen, Streß, einem<br />
Ungleichgewicht in der Konzentration der Neurotransmitter 52 , oder bloß durch<br />
die Leidenschaft des Augenblicks, ist das kognitiv-exekutive System, obwohl<br />
vollkommen in Takt, nicht in der Lage das Verhalten zu regulieren (vgl.<br />
Camerer, Loewenstein und Prelec, 2004b, S. 3).<br />
Das Ausmaß des Zusammenspiels oder auch des Konfliktes zwischen kognitiv-<br />
exekutiven und affektiv-emotionalen Prozessen hängt vor allem von der<br />
Intensität des Affektes und der Emotion ab (vgl. ebd., 26–29; siehe auch<br />
Loewenstein, 1996). Auf niedrigen Intensitätsstufen scheint es, daß Affekte<br />
und Emotionen eine Beraterfunktion des Verstandes einnehmen. Sie können<br />
dem Verstand zum Teil dabei behilflich sein überhaupt zu einer <strong>Entscheidung</strong><br />
zu kommen, in dieser Form treten sie als Somatic Markers in Erscheinung. 53<br />
Auf mittleren Intensitätsstufen wird ein Konflikt zwischen Affekten, Emotionen<br />
und dem Verstand bewußt. Auf dieser Ebene kommen all die Anstrengungen der<br />
menschlichen Selbstkontrolle ins Spiel, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit<br />
noch eine elementare Rolle einnehmen werden. Auf höchsten Intensitätsstufen<br />
können Affekte und Emotionen so stark werden, daß jedes bewußte Entscheiden<br />
entfällt.<br />
Camerer, Loewenstein und Prelec (2004b, S. 85) fassen die zwei Dimensionen<br />
schematisch in vier Quadranten (vom Autor adaptiert nach Roth, 2003) und<br />
geben ein abschließendes Beispiel zum Verständnis des komplexen<br />
Zusammenspiels dieser Prozesse (Camerer, Loewenstein und Prelec, 2004b, S.<br />
14; vom Autor in die Abbildung 1-4 einbezogen).<br />
52 Neurotransmitter oder Botenstoffe, wie Acetylcholin, Noradrenalin, Serotonin und Dopamin sind<br />
verantwortlich für die Erregungsübertragung bei chemischen Synapsen. Für eine ausführliche<br />
Darstellung ihrer Funktonen siehe z.B. Roth (2003, 112-122) oder Manuck, Flory, Muldoon und<br />
Ferrell (2004). Manuck et al heben besonders das Wirken des Neurotransmitters Serotonin im<br />
Zusammenhang mit intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>en hervor. Serotonin spielt eine ursächliche Rolle<br />
bei impulsiven Verhalten bzw. der Impulskontrolle.<br />
53 Der Ausdruck „Somatic Marker“ geht auf Damasio (1994, nach Camerer, Loewenstein und Prelec,<br />
2004b, S.27) zurück und bezeichnet eben diese hier angesprochene Funktion.<br />
40
Abbildung 1-4: Die vier elementaren Gehirnprozesse<br />
Kontrollierte Prozesse<br />
Benötigen kognitive<br />
Ressourcen<br />
Brauchen<br />
Aufmerksamkeit und<br />
Bewußtsein<br />
Laufen langsam ab<br />
Sind mit Anstrengung<br />
verbunden<br />
Sind sprachlich<br />
berichtbar<br />
Beruhen auf serieller<br />
Informationsverarbeitung<br />
Automatische Prozesse<br />
Sind unabhängig von<br />
kognitiven Ressourcen<br />
Benötigen keine<br />
Aufmerksamkeit und<br />
Bewußtsein<br />
Laufen schnell ab<br />
Sind mit keiner<br />
Anstrengung verbunden<br />
Sind sprachlich<br />
berichtbar<br />
Beruhen auf paralleler<br />
Informationsverarbeitung<br />
Kognitiv-exekutive<br />
41<br />
Prozesse<br />
I<br />
Quadrant I is in charge<br />
when you deliberate<br />
about whether to<br />
refinance your house,<br />
or poring over presentvalue<br />
calculations<br />
III<br />
Quadrant III governs<br />
the movement of your<br />
hand as you return<br />
serve<br />
Quelle: Camerer, Loewenstein und Prelec (2004b, S. 14 und 85).<br />
Affektiv-emotionale<br />
Prozesse<br />
II<br />
Quadrant II is<br />
undoubtedly the rarest in<br />
pure form. It is used by<br />
„method actors“ who<br />
imagine previous<br />
emotional experiences to<br />
fool audiences into<br />
thinking they are<br />
experiencing those<br />
emotions<br />
IV<br />
Quadrant makes you<br />
jump when somebody<br />
says „Boo“!<br />
In welcher Weise können nun, die hier aufgezeigten Erkenntnisse der Ökonomie<br />
dienbar sein? (vgl. Camerer, Loewenstein und Prelec, 2004a, 572–575). Erstens<br />
geht es sicherlich darum das grundlegende Verständnis bezüglich menschlichen<br />
Verhaltens zu ändern. Gängige ökonomische Modelle basieren zumeist allein<br />
auf kognitiv-exekutive-kontrollierten Prozessen (Quadrant I in Abbildung 1-4),<br />
sprich bewußtem Rationalverhalten. Wie die Erkenntnisse der Hirnforschung<br />
ahnen lassen, könnte es hilfreich sein diese Sichtweise um automatisch-<br />
affektiv-emotionale Prozesse zu erweitern. Im Bereich intertemporaler<br />
<strong>Entscheidung</strong>en wird zum Beispiel davon ausgegangen, daß das Maß der<br />
Zeitpräferenz eines Individuums konstant, sowohl über die Zeit als auch über
verschiedenste Güter ist (vgl. Camerer, Loewenstein und Prelec, 2004b, S. 31f).<br />
Bedenkt man nun die Modularität des Gehirns, mag es zwar sein, daß<br />
verschiedene intertemporale <strong>Entscheidung</strong>en einen Planungsbereich gemein<br />
haben, aber ist es auch so, daß diese <strong>Entscheidung</strong>en ebenfalls von gänzlich<br />
anderen und verschiedenen Bereichen beeinflußt werden. Die Folge, daß<br />
empirische und experimentell beobachtete Raten der Zeitpräferenz schwach,<br />
oder gar nicht korreliert sind, ist evident (vgl. Abs. 2.3.1 idA.).<br />
Die hier aufgezeigten Einsichten könnten aber auch dienbar gemacht<br />
werden für Bereiche, wie die „Theorie der Präferenzen“, für den Einfluß von<br />
Fairneß und Altruismus in der Spieltheorie, für <strong>Entscheidung</strong>en unter<br />
Unsicherheit und Risiko, für die Analyse von Diskriminierungen am<br />
Arbeitsmarkt oder im Bereich der Wohlfahrtsökonomie (vgl. ebd., S. 40-60).<br />
Neurowissenschaftler fragen das Gehirn, nicht die Person. Ihre<br />
Erkenntnisse können dabei helfen Standardmodelle zu verfeinern, indem<br />
zusätzliche Variablen zu konventionellen hinzugefügt werden, um spezielle<br />
funktionale Formen zu entwickeln oder, um überhaupt neue Modelle zu<br />
entwickeln, die radikal neue Formulierung erlauben, wie von Camerer,<br />
Loewenstein und Prelec (ebd., S. 2) beschrieben:<br />
The radical approach involves turning back the hands of time and asking<br />
how economics might have evolved differently if it had been informed<br />
from the start by insights and findings now available from neuroscience.<br />
Der abschließenden kritischen Frage ob, und inwieweit sich die ökonomische<br />
Theorie diesen Erkenntnissen bedienen sollte, antwortet Camerer (1998, S.<br />
177), wie folgt:<br />
Imagine a group of astronomers who theorize about the moon, using only<br />
observations from a weak telescope, or geologists who theorize about the<br />
earth’s core using only evidence from earthquakes and volcanos. Suddenly<br />
they have a spaceship, or a huge drill. Should they use these tools to<br />
check whether the assumptions they make about the moon and the earth –<br />
previously beyond their observational reach – are correct or not? Of<br />
course, they should! I think economists will soon be in a similar position<br />
with respect to the human brain.<br />
42
K a p i t e l 2<br />
2 Modelle der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sfindung<br />
… UN DER A W IDE R AN GE O F C IRCUM S TANCES<br />
IN D IV ID U A L[ S] [ …] BEHAVE AS IF THE Y WERE<br />
SEE K IN G R AT ION A LLY TO M AX IM IZE THE IR<br />
[ UT ILITY] …<br />
43<br />
FR IEDM AN 54<br />
Die Aufgabe, die ich mir in diesem Kapitel gestellt habe ist es, die<br />
verschiedenen Modelle der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sfindung, die im<br />
Verlauf der letzten hundert Jahre entwickelt wurden, darzustellen. Diese<br />
Modelle haben zweierlei Zweck, erstens sollen sie die Aufgabe erfüllen die<br />
Frage zu beantworten, wie unter gegebenen Umständen zu entscheiden ist,<br />
zweitens sollen sie die Aufgabe erfüllen menschliches <strong>Entscheidung</strong>sverhalten<br />
zu beschreiben. Idealerweise sollte ein und dasselbe Modell im Stande sein<br />
gleichzeitig beide Aufgaben, der präskriptiven wie deskriptiven Art, zu<br />
erfüllen. Im Laufe dieses Kapitels werde ich einerseits zu zeigen versuchen, daß<br />
das von der neoklassischen Ökonomie dazu erkorene Modell (das Discounted<br />
Utility Modell) wohl normativ unbestritten, aber positiv kritisiert werden muß.<br />
Andererseits muß das von verhaltenswissenschaftlichen Ökonomen generierte<br />
Modell der Hyperbolischen Diskontierung, das sich als Antwort auf die<br />
Unzulänglichkeiten des Standardmodells positioniert, und sich als<br />
allgemeingültiges deskriptives Modell versteht, ebenfalls kritisiert werden.<br />
Der Aufbau dieses Kapitels gestaltet sich in eben dieser Weise.<br />
Beginnend mit dem klassischen Modell von Fisher (1930), über eine<br />
ausführliche Präsentation des verfeinerten Standardmodells (Samuelson, 1937;<br />
und Koopmans, 1960), werden im Anschluß verschiedene Anomalien<br />
(Loewenstein und Thaler, 1989; sowie Loewenstein und Prelec, 1992), die im<br />
Widerspruch zum deskriptiven Anspruch stehen beobachtet. Ausgehend von<br />
diesen Abweichungen, und unter besonderer Berücksichtigung des Problems<br />
inkonsistenter Zeitpräferenzen (Ainslie, 1975), wird daran anschließend die<br />
54 Friedman (1953, S. 21). Zitat vom Autor adaptiert.
Generierung des „Hyperbolischen Diskontierungsmodells“ (Elster und<br />
Loewenstein, 1992) verfolgt. Die verschiedenen formalen Arten dieser<br />
Diskontierungsart werden dargestellt und abschließend einer Kritik unterzogen.<br />
Als Teil dieser Kritik wird ein alternatives Modell, das als „Subadditive<br />
Diskontierung“ (Read, 2001) bezeichnet wird, behandelt.<br />
Am Anfang dieses Kapitels werden zunächst aber notwendigerweise die<br />
allgemeinen Termini und formalen Darstellungen, wie sie in der<br />
intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>stheorie gebraucht werden, eingeführt (vgl.<br />
Ahlbrecht und Weber, 1995; Frederick, Loewenstein und O`Donoghue,2002;<br />
Laibson, 2004; sowie Read, 2003).<br />
2.1 Terminologie der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong> im neoklassischen<br />
Paradigma<br />
In intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>smodellen wird angenommen, daß sich der<br />
gesamte Nutzen<br />
t<br />
U eines Individuums, als diskontierte Summe des<br />
gegenwärtigen und zukünftigen Nutzens eines Konsumprofils ( ct ,..., c T )<br />
darstellen läßt. Im speziellen wird angenommen, daß ein Individuum im<br />
Mehrperiodenfall in jeder Periode t Güter im Ausmaß c( t ) konsumiert. Der<br />
subjektive Wert des entsprechenden Konsumprofils ( ct ,..., c T ) läßt sich unter den<br />
Annahmen der Vollständigkeit, Transitivität und Stetigkeit, 55 als ordinale<br />
intertemporale Nutzenfunktion der Form:<br />
(Formel 2-1)<br />
darstellen. 56<br />
T −t<br />
∑ ,<br />
t<br />
U ( c ,..., c ) = Φ(<br />
τ ) u( c τ )<br />
t T t+<br />
τ = 0<br />
55 Zu den generellen Annahmen siehe u.a.: Gravelle und Rees (1992, S. 68–79). Für den speziellen<br />
Fall intertemporaler Nutzenfunktionen siehe zum Beispiel Ahlbrecht und Weber (1995, S. 537-543).<br />
56<br />
In dieser Arbeit werden die Diskontierungsfunktionen vorderhand in zeitlich diskreter Form<br />
44
In dieser funktionalen Form beschreibt u( ct + τ ) die momentane Nutzenfunktion –<br />
den unmittelbaren Nutzen des Konsums in Periode t + τ . Die<br />
Diskontierungsfunktion Φ ( τ ) - sie stellt die Hauptkomponente intertemporaler<br />
<strong>Entscheidung</strong>smodelle dar, und ist das zentrale Element indem sich die<br />
verschiedenen Modelle, die im Laufe dieses Kapitels betrachtet werden<br />
unterscheiden - mißt das relative Gewicht des Nutzens im Bewertungszeitpunkt<br />
t . Zu ihren Charakteristika zählen die Diskontierungsrate ρ und der<br />
Diskontierungsfaktor δ (für die formale Darstellung siehe den nächsten<br />
Absatz). Die Zeitspanne zwischen dem Bewertungszeitpunkt und dem<br />
Konsumationszeitpunkt wird durch τ beschrieben. Da in den meisten Fällen<br />
davon ausgegangen wird, daß das Individuum zukünftige Güter weniger hoch<br />
bewertet als Gegenwärtige (positive Zeitpräferenz), postulieren die in Folge<br />
dargestellten Modelle, daß Φ ( τ ) in τ abnimmt. Ist die Diskontierungsfunktion<br />
eine abnehmende Funktion in der Zeit, wird das Individuum als ungeduldig<br />
bezeichnet. 57 Es gilt Φ( τ ) ≥ 0 für alleτ , und Φ (0) = 1.<br />
Die Diskontierungsfunktion Φ ( τ ) wird gegebenenfalls als Diskontierungsrate<br />
ρ angegeben. Diese mißt die proportionale Änderung des Wertes von Φ ( τ )<br />
über eine bestimmte Zeitperiode - meist ein Jahr. Der Diskontierungsfaktor δ<br />
gibt den Teil jenes Wertes an, der nach der spezifizierten Zeitspanne τ<br />
verbleibt, und drückt die individuelle Zeitpräferenz aus.<br />
Gegeben eine Zeitspanne τ ≥ 1,<br />
gilt für die Diskontierungsrate ρ :<br />
(Formel 2-2)<br />
Φ( τ ) - Φ(<br />
τ -1)<br />
ρ( τ ) = -<br />
Φ(<br />
τ -1)<br />
und für den Diskontierungsfaktor δ gilt:<br />
dargestellt. Für die entsprechenden Darstellung in stetiger Form siehe zum Beispiel Laibson (2003,<br />
S. 4 f).<br />
57 Siehe dazu Definition 3 und Theorem 8 in Ahlbrecht und Weber (1995, S. 548).<br />
45<br />
,
(Formel 2-3)<br />
Φ(<br />
τ )<br />
δ ( τ ) = = 1 − ρ( τ )<br />
Φ( τ −1)<br />
Für die ökonomische Analyse intertemporaler <strong>Entscheidung</strong>en, werden zwei<br />
gegebene Konsumprofile verglichen. Es gilt, ein Konsumprofil ( ct ,..., c T ) wird<br />
gegenüber einem Konsumprofil ( c′ t,...,<br />
c′<br />
T ) präferiert, wenn und nur wenn,<br />
(Formel 2-4)<br />
T −t T −t<br />
∑ ∑<br />
Φ ( τ ) u( c ) > Φ(<br />
τ ) u( c′<br />
)<br />
t+ τ t+<br />
τ<br />
τ = 0 τ = 0<br />
Um dies für das in dieser Arbeit verfolgte Beispiel, der <strong>Entscheidung</strong> zwischen<br />
unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung (UB) und langfristigem Wohlergehen<br />
(LW) zu spezifizieren (vgl. Read und Roelofsma, 2003, S. 141):<br />
Wenn ein Individuum sich zwischen UB zum Zeitpunkt t 1 und LW zum<br />
Zeitpunkt t 2 zu entscheiden hat, ist er bezüglich dieser beiden Optionen<br />
indifferent, wenn und nur wenn:<br />
δ −<br />
t2 t1<br />
(Formel 2-5) UB = LW .<br />
Im allgemeinen wird angenommen, daß der Wert von δ zwischen 0 und 1 liegt.<br />
In diesen Fall spricht man von positiver Zeitpräferenz. Höhere Werte von δ<br />
implizieren größere Geduld, da dies bedeutet, daß eine geringere Prämie pro<br />
Zeitperiode benötigt wird, um das Warten auf den Ertrag zu rechtfertigen.<br />
Ist δ = 1 spricht man von perfekter Geduld, das heißt das Individuum<br />
ist indifferent bezüglich des Eintretens der Optionen. Dieses Verhalten ist<br />
Ausdruck der zeitlosen Identität (vgl. Abs. 1.2 idA.).<br />
Für den Spezialfall, daß δ > 1 wird das Individuum jeglichen Konsum<br />
endlos hinausschieben, da der Gegenwartswert mit der zeitlichen Entfernung<br />
der Option, bis zur Unendlichkeit zunimmt. Ein Verhalten, das bei Deflation<br />
beobachtet werden kann.<br />
46<br />
.
Nach dieser Abklärung der in der Literatur angewendeten Termini, wende ich<br />
mich nun den ersten Modellen für die intertemporale <strong>Entscheidung</strong>sfindung zu.<br />
Unter dem Titel „Klassische Modelle“, präsentiere ich jene Modelle, die<br />
gegeben die Umstände vorschreiben, wie sich ein rationaler Entscheider zu<br />
verhalten hat.<br />
2.2 Klassische Modelle<br />
In der präskriptiven Theorie gilt das Discounted-Utility-Modell (DU-Modell)<br />
(Samuelson, 1937) als Standardmodell für intertemporale <strong>Entscheidung</strong>en. Das<br />
DU-Modell verwendet einen konstanten Diskontierungsfaktor pro Zeiteinheit.<br />
Das vielleicht stärkste Argument für das Standardmodell bietet Strotz (1955-<br />
1956), der zeigt, daß das DU-Modell das einzig dynamisch konsistente Modell<br />
für <strong>Entscheidung</strong>en über die Zeit ist. Die Basis hierfür legt das Axiom der<br />
Stationärität von Koopmans (1960). Nach wie vor ist das DU-Modell zentral im<br />
Großteil präskriptiver Analysen der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>stheorie (vgl.<br />
Ahlbrecht und Weber, 1995, S. 535).<br />
Die gedankliche und erste formale Basis für das DU-Modell schuf Irving<br />
Fisher. Ihm ist der nächste kurze Abschnitt gewidmet.<br />
2.2.1 Irving Fisher<br />
Irving Fisher (1930), inspiriert durch die Arbeiten seiner Vordenker (siehe Abs.<br />
1.3.2 idA.) ist der Erste, der das Schema der Indifferenzkurven auf<br />
intertemporale <strong>Entscheidung</strong>en anwendet. Gleich jeder anderen <strong>Entscheidung</strong><br />
bestimmt sich diese nach der marginalen Rate der Substitution (MRS). In<br />
diesem Fall bestimmt sich die <strong>Entscheidung</strong> nach der MRS zwischen dem<br />
Konsum Heute und dem Konsum Morgen (vgl. z.B. Gravelle und Rees, 1992, S.<br />
406-410). In den Worten von Daniel Read (2003, S. 3) klingt dieses normative<br />
Prinzip, wie folgt:<br />
47
Rational decision makers will borrow or lend so that their marginal rate of<br />
substitution between present and future money (i.e., the rate at which it<br />
can be exchanged while keeping utility constant) will equal the market<br />
interest rate.<br />
Gravelle und Rees (1992, S. 410) umschreiben es so:<br />
The consumer is in equilibrium where his subjective rate of interest is<br />
equal to the market rate of interest. In other words, the consumer lends<br />
up to the point at which the market interest rate is just sufficient to<br />
compensate for the marginal reduction in current consumption.<br />
Dieses dem intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sfall zu Grunde liegende normative<br />
Prinzip läßt sich für den Zweiperiodenfall graphisch darstellen, wie in<br />
Abbildung 2-1 demonstriert.<br />
2.2.2 Das Discounted-Utility-Modell<br />
Das Discounted-Utility-Modell gilt als Standardmodell der modernen Form der<br />
intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>stheorie. Es stellt, in Fortführung der Arbeiten<br />
von Böhm-Bawerk 58 (1921) und Fisher (1930), das erste generelle Modell auf<br />
dem Gebiet der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>stheorie dar.<br />
58 Loewenstein (1992, S. 19f) bemerkt, daß das DU-Modell effektiv gesehen, die von Böhm-Bawerk<br />
vorgetragenen Gründen für die Zeitpräferenz zweiteilt. Der erste Grund, die Verschiedenheit des<br />
Verhältnisses von Bedarf und Deckung in den verschiedenen Zeiträumen, wird durch die<br />
Nutzenfunktion gefaßt. Die systematische Unterschätzung der Zukunft findet ihren Ausdruck in der<br />
Diskontierungsfunktion, die unabhängig von den Konsumationsplänen ist.<br />
48
Abbildung 2-1: <strong>Intertemporale</strong> Optimierung<br />
Quelle: Gravelle und Rees (1992, S. 409, Fig. 15.2). Im Nutzenoptimum M*<br />
entspricht die Neigung der individuellen Indifferenzkurve u (MRS) der<br />
Neigung der Budgetgeraden Vo.<br />
Im Jahre 1937 veröffentlicht Paul A. Samuelson „A Note on Measurement<br />
Utility“. In diesem Artikel stellt er eine für diese Zeit neue Methode zur<br />
präzisen Messung des Grenznutzens des Einkommens zur Diskussion.<br />
Ursprünglich auf kardinaler Nutzenmessung beruhend ist sein Modell auf<br />
multiple Zeitperioden anwendbar. Samuelsons DU-Modell wurde später von<br />
Tjalling C. Koopmans (1960) axiomatisch hergeleitet, sodaß auch dem<br />
ordinalen Anspruch Genüge getan wurde. 59 Es basiert auf den zentralen<br />
Annahmen der strengen Unabhängigkeit der Präferenzen, als Grundlage für die<br />
additive Form der Nutzenfunktion, und der Eigenschaft der Stationärität (vgl.<br />
Loewestein, 1992, S. 21). Die Eigenschaft der Stationärität ist das zentrale<br />
59 In Folge der sogenannten „Ordinalen Revolution“ verliert das DU-Modell zeitweilig seinen<br />
wissenschaftlichen Anspruch. Koopmans (1960) jedoch gelingt die Formulierung eines Sets von<br />
Axiomen, welches die Art und Weise wie Menschen Konsumsequenzen reihen bestimmt, die<br />
zusammengenommen logisch dem DU-Modell entsprechen. In dieser Formulierung genügt das DU-<br />
Modell dem ordinalen Anspruch (vgl. Loewenstein, 1992, S. 20f).<br />
49
Axiom in Koopmans Werk (1960, Postulat 4, S. 295). Es bringt zum Ausdruck,<br />
daß der Verlauf der Zeit keinen Effekt auf die Präferenzordnung ausübt. 60 Die<br />
für das DU-Modell zentrale Eigenschaft ist die Konstanz der Diskontierungsrate<br />
ρ über die Zeit. 61 Alle früher diskutierten psychologischen Überlegungen<br />
bezüglich der Zeitpräferenz, verdichtet Samuelson einzig in diesem Parameter.<br />
Die Diskontierungsrate ist mithin Ausdruck der Höherschätzung der Gegenwart<br />
(vgl. Frederick, Loewenstein und O’Donoghue, 2002, S. 355f). 62<br />
Formal stellt sich das Modell, wie folgt dar:<br />
1 τ<br />
T −t<br />
ΦΦ<br />
Φ<br />
τ<br />
τ = = ⎛ ⎞<br />
U ct cT = ∑Φ<br />
u c 1<br />
t+<br />
τ<br />
⎜<br />
1 1 1 ρ<br />
⎟ .<br />
k = τ<br />
⎝ ⎠<br />
t<br />
(Formel 2-6) ( ,..., ) ( τ ) ( ) mit<br />
50<br />
( (<br />
) )<br />
Daraus folgt: Ein Konsumprofil ( ct ,..., c T ) wird gegenüber einem anderem<br />
Konsumprofil t<br />
Formel (2-7)<br />
( c′ ,..., c′<br />
) präferiert, wenn und nur wenn,<br />
T<br />
11 1 1 ττ τ τ 11<br />
1 1 ττ<br />
τ τ<br />
⎛ ⎞ ⎛ ⎞<br />
⎜<br />
1 1 1 1 ρ ρ<br />
⎟ u( c ) > ⎜<br />
1 1 1 1 ρ ρ<br />
⎟ u( c′<br />
) .<br />
⎝ ⎠ ⎝ ⎠<br />
T −t T −t<br />
∑ ∑<br />
t+ τ t+<br />
τ<br />
τ = 0 τ = 0<br />
60 Die Stationaritätseigenschaft, die eine zentrale Rolle in der axiomatischen Herleitung des DU-<br />
Modells spielt kann, wie folgt abgeleitet werden:<br />
Angenommen eine Person ist indifferent zwischen einer zusätzlichen Einheit x hinzugefügt zum<br />
Zeitpunkt t und einer zusätzlichen Einheit y > x zum Zeitpunkt t′, gegeben ein konstantes<br />
Basiskonsumationslevel ( c ) in allen Perioden. Daraus folgt:<br />
t t<br />
u( c x) u( c) ( u( c y) u( c)) δ ′−<br />
+ − = + −<br />
dividiert bei δ , ist<br />
t t<br />
u( c x) u( c) ( u( c y) u( c)) δ ′−<br />
+ − = + −<br />
zeigt, daß die Präferenz zwischen den beiden neuen Konsumbündeln allein abhängig ist vom<br />
absoluten Zeitintervall ( t − t′ ) , das die beiden trennt.<br />
61 Samuelson (1937, S. 156; Hervorhebung durch den Autor): „The individual discounts future utilities<br />
in some simple regular fashion which is known to us. […] we assume […] that the rate of discount of<br />
future utilities is a constant.”<br />
62 Frederick, Loewenstein und O’Donoghue (2002, S. 356–360) beschreiben einige der wichtigsten<br />
Eigenschaften des DU-Models, und sie beschäftigen sich darüber hinaus mit Fragen der normativen<br />
beziehungsweise positiven Gültigkeit der Annahmen.
t2 t1<br />
Entsprechend der Formel 2-5 idA.:<br />
UB = LW , gilt beispielsweise: Ist der<br />
Diskontierungsfaktor δ konstant und gleich 0.8 ( δ = 0.8), reduziert er bei einer<br />
Zeitspanne von zwei Perioden einen optionalen zukünftigen Wert von dann 100,<br />
51<br />
δ −<br />
2 2<br />
auf einen gegenwärtigen Wert von 64 ( UB = δ LW = 0.8 ∗ 100 ).<br />
Graphisch läßt sich ein Beispiel der beiden Optionen UB und LW, bei der zu<br />
t1 t2<br />
jedem Zeitpunkt t ≤ t1<br />
, LW präferiert wird ( δ UB < δ LW ), man spricht im<br />
obigen Sinn von Stationärität oder konsistenten Präferenzen, konstruieren wie<br />
in Abbildung 2-2 dargestellt.<br />
Abbildung 2-2: Diskontierungsfunktionen entsprechend dem DU-Modell<br />
Quelle: Kirby und Marakovic (1995, S. 23, Fig. 1; vom Autor adaptiert). Die<br />
Option UB ist zum Zeitpunkt t1 verfügbar, die Option LW ist in ihrem<br />
Wert größer, aber erst später zum Zeitpunkt t2 verfügbar. Beide<br />
Optionen werden entsprechend dem konstanten Diskontierungsfaktor δ<br />
auf den Gegenwartswert GW zum Zeitpunkt to abgezinst. Wie in der<br />
Graphik dargestellt ist der GW von LW zum Zeitpunkt to höher als der<br />
GW von UB. Der GW von LW ist aber auch für jeden Zeitpunkt der<br />
<strong>Entscheidung</strong> zwischen to und t1 größer als jener von UB. Fazit: Da die<br />
Zeit keinen Einfluß auf die <strong>Entscheidung</strong> hat, spricht man von einer<br />
konsistenten Präferenz über die Zeit.
Im nächsten Absatz wird nun die Kritik zum DU-Modell eingeleitet, die<br />
schließlich in der Entwicklung von alternativen Modellen gipfelt.<br />
Selbst für Samuelson (1937, S. 161) war sein Modell nicht als präskriptives<br />
Modell intertemporaler <strong>Entscheidung</strong>en gedacht:<br />
… any connection between utility as discussed here and any welfare<br />
concept is disavowed …<br />
Er beanspruchte auch nicht dessen deskriptive Gültigkeit und betonte, daß<br />
(ebd., S. 159; Zitat vom Autor ergänzt):<br />
…, it is completely arbitrary to assume that the individual behaves so as<br />
to maximize an integral of the form envisaged in [the DU model].<br />
Zentral ist seine Kritik auch in Bezug auf den homo oeconomicus, den<br />
ökonomischen Menschen, der dem Modell zu Grunde liegt (ebd., S. 160):<br />
…, it is extremely doubtful whether we can learn much from considering<br />
such an economic man, whose tastes remain unchanged, who seeks to<br />
maximise some functional of consumption alone, in a perfect world,<br />
where all the things are certain and synchronised.<br />
Trotz Samuelsons manifester Einschränkungen und Bedenken, die Einfachheit<br />
und Eleganz seiner Formulierungen schienen unwiderstehlich. Samuelsons<br />
Modell, in Form der Koopmanschen Axiomatisierung, wurde in Folge sowohl<br />
als präskriptives, wie auch deskriptives Standardmodell für den Bereich<br />
intertemporaler <strong>Entscheidung</strong>en übernommen (vgl. Frederick, Loewenstein und<br />
O’Donoghue, 2002, S. 355).<br />
Es folgt der Zweifel.<br />
52
2.3 Anomalien<br />
Als Anomalie werden <strong>Entscheidung</strong>smuster bezeichnet, die inkonsistent<br />
sind zu dem vom Modell theoretisch Vorausgesagtem. (Frederick,<br />
Loewenstein und O’Donoghue, 2002, S. 352)<br />
Man möchte beinahe formulieren, wie aufgrund der vielfältigen Gründe, die zur<br />
Erklärung für das Konzept der Zeitpräferenz vorgetragen wurden, und aus den<br />
Aussagen von Samuelson und Koopmans, bezüglich der deskriptiven Gültigkeit<br />
des DU-Modells abzuleiten, gibt es eine Vielzahl von Indizien dafür, daß<br />
menschliche <strong>Entscheidung</strong>smuster nicht dem vom DU-Modell beschriebenen<br />
entsprechen. Tatsächlich deuten experimentelle, wie empirische<br />
Untersuchungen, die in den letzten Jahrzehnten auf dem Gebiet der<br />
intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sforschung durchgeführt wurden darauf hin, daß<br />
das DU-Modell, als deskriptives Modell menschlichen Verhaltens, unzulänglich<br />
ist (Loewenstein und Thaler, 1989). Eine stetig wachsende Anzahl dieser<br />
Untersuchungen zeigt, daß Menschen zukünftige Güter nicht, wie vom DU-<br />
Modell vorausgesagt mit einer konstanten Rate, aber mit einer über die Zeit<br />
abnehmenden diskontieren (Frederick, Loewenstein und Prelec, 2002). In<br />
Verbindung mit dieser Erkenntnis steht auch das Phänomen sich verkehrender<br />
Präferenzen (zeitinkonsistentes Verhalten), daß sich durch das Standardmodell<br />
nicht erklären läßt (Ainslie, 1975). Unter anderem wurde festgestellt, daß<br />
Diskontierungsraten für kurze Zeithorizonte höher sind als für lange. Weiters<br />
wurde in verschiedenen Untersuchungen herausgefunden, daß<br />
Diskontierungsraten selbst für konstant gehaltene Zeitspannen stark variieren.<br />
Weitere Abweichungen des menschlichen Verhaltens vom DU-Modell wurden<br />
in unterschiedlichsten Mustern intertemporaler <strong>Entscheidung</strong>en gefunden.<br />
Auszugsweise sei dargestellt, daß Gewinne stärker diskontiert werden als<br />
Verluste, kleine Beträge mehr als Große und explizite Sequenzen multipler<br />
Erträge anders diskontiert werden, als wenn sie als singulärer Ertrag betrachtet<br />
werden (Thaler, 1981).<br />
Für intertemporale <strong>Entscheidung</strong>en macht die ökonomische Theorie, wie vom<br />
DU-Modell beschrieben (vgl. Abs. 2.2.2 idA.), präzise und testbare<br />
Voraussagen. Personen sollten zukünftige Erträge entsprechend dem Marktzins<br />
53
diskontieren, das heißt, daß ihre marginale Rate der Zeitpräferenz gleich dem<br />
Marktzins sein sollte. Weiters schreibt das DU-Modell, als normatives Prinzip<br />
vor, daß Konsumenten in ihren intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>en konsistent sein<br />
müssen, um dem ökonomischen Prinzip zu entsprechen. Die persönliche<br />
Diskontierungsrate sollte über Situationen und die Zeit konstant bleiben.<br />
Doch überall dort wo es testbare Vorraussagen gibt, wie im Falle des<br />
DU-Modells, gibt es auch Abweichungen (vgl. Frederick, Loewenstein und<br />
Prelec, 1992). Gänzlich konträr zu diesem Prinzip zeigt die im folgendem<br />
diskutierte Forschung eine Menge von Beispielen, in denen es so scheint als<br />
würden Personen zukünftige Güter nicht entsprechend dem Marktzins, noch<br />
irgendeinem anderen vergleichbaren Zinssatz diskontieren.<br />
Diskontierungsraten, die sowohl in Laborsituationen wie auch beim<br />
<strong>Entscheidung</strong>sverhalten im Feld beobachtet wurden, sind demnach abhängig<br />
sowohl von der Art der Güter, ihrer betragsmäßigen Größe, der zeitlichen<br />
Distanz bis zu ihrem Schlagendwerden, und abhängig davon ob es sich um<br />
Gewinne oder Verluste handelt. In Summe kann gezeigt werden, daß<br />
menschliche Diskontierungsraten, in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext,<br />
zwischen negativen Werten und positiven Werten, jenseits der hundert Prozent,<br />
variieren können (vgl. Frederick, Loewenstein und Prelec, 1992).<br />
Gesammelt zeigen die hier vorweggenommenen Ergebnisse, drei starke Muster<br />
(vgl. Loewenstein und Thaler, 1989, S. 184):<br />
• Erstens, Diskontierungsraten nehmen über die Zeit gesehen stark ab.<br />
• Zweitens, Diskontierungsraten nehmen mit der Größe des Betrages ab.<br />
Kleine Beträge werden stärker diskontiert als große.<br />
• Drittens, Diskontierungsraten für positive Erträge, sind höher als für<br />
negative.<br />
Diese von Thaler erzielten Ergebnisse konnten in zahlreichen weiteren<br />
Untersuchungen bestätigt werden. Herauszuheben sind die Untersuchungen von<br />
Benzion, Rapoport und Yagil (1989).<br />
54
Im nun folgenden Abschnitt wird die Methodik dieser Untersuchungen<br />
thematisiert und anhand von zwei ausgewählten Studien verdeutlicht. Ziel<br />
dieser Untersuchungen war und ist es aus dem beobachtbaren menschlichen<br />
Verhalten auf individuelle Diskontierungsraten zu schließen.<br />
2.3.1 Empirische und experimentelle Untersuchungen<br />
2.3.1.1 Empirische Untersuchungen<br />
In empirischen Untersuchungen wird anhand von tagtäglichen ökonomischen<br />
<strong>Entscheidung</strong>en auf individuelle Diskontierungsraten geschlossen (vgl.<br />
Frederick, Loewenstein und O’Donoghue, 2002, S. 384f). Hierzu zählen zum<br />
Beispiel alle jene Studien, die die Kosten des Kaufes von Elektrogeräten mit<br />
den längerfristigen Betriebskosten derselben vergleichen. Eine oft zitierte<br />
Studie von Hausman (vgl. Loewenstein und Thaler, 1989, S. 183), der einen<br />
Vergleich zwischen Kaufpreis und längerfristigen Energiekosten von<br />
Klimageräten durchführte, zeigt etwa, daß die daraus ableitbaren<br />
Diskontierungsraten bei rund 25 Prozent liegen. Ein Prozentsatz der jenseits<br />
jedes üblichen Marktzinses liegt. 63<br />
2.3.1.2 Experimentelle Untersuchungen<br />
Weitere Evidenzen, die zur Ablehnung des Standardmodells und zur<br />
Generierung der alternativen Hyperbolischen Diskontierung führten, stammen<br />
aus experimentellen Untersuchungen. In diesen Studien wird das intertemporale<br />
<strong>Entscheidung</strong>sverhalten von Probanten mittels der Aufgaben von Matching und<br />
Choice untersucht (vgl. Frederick, Loewenstein und O’Donoghue, 2002, S.<br />
386ff).<br />
Bei Matchingaufgaben muß von den Teilnehmern der fehlende<br />
Gegenwartswert von in der Zukunft liegenden Optionen angeben werden – vice<br />
63 Für weitere Beispiele siehe z.B. Loewenstein und Thaler (1989, S. 181ff) oder Frederick,<br />
Loewenstein und O’Donoghue (2002, S. 384ff).<br />
55
versa, wobei die zeitliche Distanz dieser Optionen variiert wird. 64<br />
Choiceaufgaben andererseits untersuchen das Wahlverhalten zwischen<br />
gegebenen Paaren von Alternativen. Diese Paare sind in der Regel<br />
zusammengesetzt aus einem Betrag der unverzüglich verfügbar ist, und einem<br />
Betrag der erst in der Zukunft verfügbar sein wird, wobei sowohl die zeitliche<br />
Distanz, als auch die Höhe der Beträge variiert wird. 65<br />
Aus der gleichzeitigen Variation dieser Faktoren innerhalb einer Studie<br />
wird schließlich auf individuelle Diskontierungsraten geschlossen. Wie in der<br />
„Kritik zur hyperbolischen Diskontierung“ zu zeigen sein wird (Abs. 2.5 idA.),<br />
muß nicht zuletzt aufgrund dieser methodischen Vorgangsweise das Konzept<br />
der Hyperbolischen Diskontierung in Zweifel gezogen werden.<br />
Aus der Vielzahl empirischer und experimenteller Studien, die sich der Frage<br />
widmeten, wie zukünftige Erträge aktuell diskontiert werden, seien hier zur<br />
Demonstration vorerst zwei hervorgehoben. Beide bedienen sich der Methode<br />
des Matching. 66 Eine weitere Studie, die sich explizit dem Vergleich<br />
exponentieller und nicht exponentieller Diskontierungsfunktionen widmet wird<br />
in einem der folgenden Abschnitte behandelt (siehe Abs. 2.4.2 idA.).<br />
Thaler (1981) untersuchte Diskontierungsraten in Hinsicht auf die Größe, das<br />
Vorzeichen und den Zeithorizont zukünftiger Erträge.<br />
Studenten wurden gebeten sich vorzustellen, daß sie bei einer Lotterie<br />
ihrer Bank etwas Geld gewonnen hätten. Der gewonnene Betrag könnte nun<br />
unmittelbar oder später ausbezahlt werden, wurden sie weiter unterrichtet. In<br />
einem weiteren Schritt wurden sie nun gebeten bekanntzugeben, um wieviel<br />
höher der mit einer gewissen Verzögerung ausbezahlte Gewinn sein müßte, um<br />
ihn gleich attraktiv dem früher ausbezahlten zu stellen. Jeder Teilnehmer erhielt<br />
64 Beispiel: 120 EURO in einem Jahr sind für mich gleich wertvoll wie? EURO heute.<br />
65 Beispiel: Wähle zwischen 120 EURO in einem Jahr und 100 EURO sofort!<br />
66 Einen Überblick über die Vielzahl sowohl von Feldversuchen als auch Laborversuchen bieten<br />
Frederick, Loewenstein und O’Donoghue (2002, S. 377–389). Sie unterziehen diese Untersuchungen<br />
auch einer angemessenen Kritik, besonders in Hinsicht auf methodische Probleme. So auch Read<br />
(2003, S. 8f). Er untersucht die den Resultaten der Untersuchungen zugrundeliegenden, wie er meint,<br />
zuweilen ungetesteten und nicht plausiblen Annahmen.<br />
56
einen Fragebogen in dem die Geldbeträge in einem 3*3 Raster einzutragen<br />
waren. Die Dimensionen des Rasters waren einerseits Geldbeträge, und<br />
andererseits die Länge der Zeit. Vier unterschiedliche Fragebögen wurden<br />
verwendet, in dreien wurden positive, in einem negative Beträge abgefragt. Das<br />
Experiment manipulierte in Folge die drei Variablen von Interesse: die Länge<br />
der Zeit, die Größe des Betrages und das Vorzeichen.<br />
Gesammelt zeigten die Ergebnisse, wie bereits angemerkt, drei starke<br />
Muster. Erstens, die Diskontierungsraten nehmen über die Zeit gesehen stark<br />
ab. Zweitens, Diskontierungsraten nehmen mit der Größe des Betrages ab,<br />
kleine Beträge wurden stärker diskontiert als große. Drittens,<br />
Diskontierungsraten für positive Erträge sind höher als für Negative.<br />
Diese von Thaler gefundenen Ergebnisse konnten auch in einer breiter<br />
angelegten Studie von Benzion, Rapoport und Yagil (1989) bestätigt werden.<br />
Die in dieser Untersuchung ermittelten Diskontierungsraten schienen jedoch<br />
generell niedriger, als die von Thaler ermittelten. Dieser Umstand sei auf die<br />
Auswahl der Testpersonen zurückzuführen, meinen sie. Benzion und Kollegen<br />
wählten höhersemestrige Studenten, die sowohl ökonomisch, als auch auf dem<br />
Gebiet der Finanzierung vorgebildet waren, um wie sie betonen, die<br />
methodische Schwäche der Thalerschen Studie zu überkommen.<br />
Aus der Fülle der im menschlichen Verhalten beobachteten Anomalien 67 werde<br />
67 Zu den best dokumentierten Anomalien gehören (vgl. Frederick, Loewenstein und O’Donoghue,<br />
2002, S. 360-365): Der Vorzeicheneffekt: Positive Erträge werden in der Regel stärker diskontiert<br />
als negative. Grund für dieses Verhalten ist eine so bezeichnete Schuldenaversion. Manche Personen<br />
zeigen tatsächlich negative Diskontierungsraten. Sie präferieren einen unmittelbaren Verlust,<br />
gegenüber einem, der erst in Zukunft eintreten wird. Der Größeneffekt: Kleine Erträge werden<br />
stärker diskontiert als große Dafür gibt es zwei plausible Erklärungen im menschlichen Verhalten.<br />
Die erste basiert auf der Psychologie der Wahrnehmung. Menschen sind nicht nur sensibel für die<br />
relativen Unterschiede in Erträgen, aber auch für die absoluten. Die zweite basiert auf der Theorie<br />
„Mentaler Konten“. Die Verzögerung - Beschleunigung Asymmetrie und<br />
Referenzpunktverhalten: Hinter dieser Anomalie steckt die Idee, daß der negative Nutzen, sprich<br />
einen Betrag zu verlieren, stärker diskontiert wird, als der absolute Wert des positiven Nutzens,<br />
denselben Betrag zu gewinnen. Die Begründung dieses Verhaltens findet sich in der schon erwähnten<br />
Verlustaversion. Weiters wurde festgestellt, daß die Vergangenheitskonsumation einen natürlichen<br />
Referenzpunkt für das gegenwärtige Verhalten setzt. Präferenzen für aufsteigende<br />
Konsumationssequenzen: Eine Sequenz ist ein Set datierter Erträge, wie es zum Beispiel ein<br />
57
ich jetzt zwei, für die Thematik dieser Arbeit entscheidende, besonders<br />
hervorheben. Dabei handelt es sich um über die Zeit hin abnehmende<br />
Diskontierungsraten und damit in Verbindung stehend, mit dem Phänomen sich<br />
verkehrender Präferenzen.<br />
2.3.2 Abnehmende Diskontierungsraten über die Zeit<br />
Untersuchungen, wie jene von Thaler (1981) und Benzion, Rapoport und Yagil<br />
(1989) zeigen, daß Diskontierungsraten, wenn auch stark divergierend (vgl.<br />
Loewenstein und Thaler, 1992, S. 182), nicht wie vom DU-Modell angenommen<br />
konstant, aber über die Zeit hin abzunehmen scheinen. Die folgende Abbildung<br />
2-3 soll diesen Zusammenhang anhand des über die Zeit ansteigenden<br />
Diskontierungsfaktors δ verdeutlichen. Wie bereits oben festgestellt (siehe Abs.<br />
2.1 idA.) bedeutet ein höherer Diskontierungsfaktor (bzw. niedrigere<br />
Diskontierungsrate) höhere Geduld. Dies bedeutet, daß es so scheint, als ob der<br />
Mensch mit der Zeit geduldiger wird. Andererseits kann man aber auch<br />
argumentieren, daß allein die menschliche Vorstellungskraft bezüglich<br />
zukünftiger Ereignisse zu schwach ist.<br />
Gehaltsschema darstellt. Es konnte gezeigt werden, daß Menschen konstante und ansteigende<br />
Sequenzen gegenüber abnehmenden Sequenzen präferieren. Dieser Umstand ist um so interessanter,<br />
als unter jedem positiven Zinssatz eine abnehmende Sequenz einen höheren Gegenwartswert hat, als<br />
eine Ansteigende. Eine mögliche Erklärung für solch ein Verhalten ist im Problem der<br />
Selbstkontrolle zu finden. Weil Personen sich nicht auf ihr zukünftiges Selbst verlassen können, sind<br />
sie bereit dafür zu zahlen, um ihren präferierten Plan nicht zu verletzen.<br />
58
Abbildung 2-3: Zunehmende Geduld über die Zeit<br />
Quelle: Read und Roelofsma (2003, S. 141): Die Abbildung zeigt den<br />
durchschnittlichen Wert des Diskontierungsfaktors, der in den<br />
verschiedenen Zeitperioden wirkt. Liegt er für die erste Periode noch<br />
bei einem Wert von 0.67 – wenig geduldig – steigt er bis zur Periode 6<br />
auf einen Wert von 0.88 – eher geduldig.<br />
Dieses hier dargestellte Muster wird aufgrund seiner speziellen funktionalen<br />
Form auch als „Hyperbolische Diskontierung“ bezeichnet. Erste Hinweise für<br />
diese Art menschlichen Diskontierungsverhaltens finden sich, wie bereits<br />
dargestellt (siehe Abs. 1.3.2 idA.) bei Jevons und Böhm-Bawerk (1921, II. Abt.,<br />
S. 336), den ich hier noch einmal zitieren möchte:<br />
Im Gegenteile, die originären subjektiven Unterschätzungen sind höchst<br />
ungleichmäßig und sprunghaft. Namentlich soweit die Unterschätzung<br />
durch den oben besprochenen Willensfehler verursacht wird, dürfte zwar<br />
eine starke Schätzungsdifferenz zwischen absolut augenblicklichen und<br />
nicht augenblicklichen, dagegen eine sehr kleine oder gar keine Differenz<br />
zwischen mäßig und mehr entlegenen Genüssen gesetzt werden.<br />
59
Auch wenn die in den Untersuchungen ebenfalls festgestellten Unterschiede der<br />
Raten zwischen Individuen und in Individuen je nach Art der Güter und Art der<br />
Situation evident sind, besteht dieses Muster über sämtliche Studien hinweg.<br />
Die angenommene negative Beziehung zwischen Diskontierungsraten und<br />
zeitlicher Distanz hat wichtige Konsequenzen für die dynamische Konsistenz<br />
des menschlichen Verhaltens und ist ein Teilgrund für impulsives Verhalten,<br />
oder anders ausgedrückt für Formen der dynamischen Inkonsistenz.<br />
2.3.3 Dynamische Inkonsistenz<br />
Das Problem der dynamischen Zeitinkonsistenz, beziehungsweise sich<br />
verkehrender Präferenzen, ist tatsächlich so alt wie die Menschheit selbst. Es ist<br />
die Geschichte von Adam und Eva, der Schlange und dem Apfel, der<br />
<strong>Entscheidung</strong> zwischen unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung und langfristigem<br />
Wohlergehen. Es ist ein Kampf zwischen der Rationalität und der menschlichen<br />
Natur, wie Pigou (1920, S. 25) festhält:<br />
People distribute their resources between the present, the near future and<br />
the remote future on the basis of a wholly irrational preference. When<br />
they have the choice between two satisfactions, they will not necessarily<br />
choose the larger of the two, but will often devote themselves to<br />
producing or obtaining a small one now in preference to a much larger<br />
one some years hence.<br />
Die Liste der Beispiele aus dem Alltagsleben scheint endlos (siehe auch die<br />
Beispiele in Abs. 1.1 idA.), immer wieder werden einmal gefaßte Entschlüsse<br />
der kurzfristigen Befriedigung geopfert – the next on is the last one! Termine<br />
werden hinausgeschoben, das Sparen beginnt immer erst im nächsten Monat,<br />
mit dem Rauchen und Trinken wird nach dem Wochenende aufgehört und der<br />
am Abend wohlweißlich gestellte Wecker fliegt früh morgens gegen die Wand.<br />
Aber auch in scheinbar emotionsloser Umgebung kann diese Inkonsistenz der<br />
Präferenzen beobachtet werden. So mag jemand 110 Euro in 31 Tagen den<br />
Vorzug vor 100 Euro in 30 Tagen geben, gleichzeitig aber 100 Euro morgen<br />
gegenüber 110 Euro übermorgen präferieren (vgl. Thaler, 1981). Diese<br />
60
Verhaltensmuster zeigen sich trotz konstant bleibender Umweltbedingungen<br />
und dürften nach Annahme des DU-Modells nicht auftreten, wie in Abbildung<br />
2.2 zuvor dargestellt. Diskontiert das Individuum die Zukunft mit einer<br />
konstanten Rate, daß heißt, die Diskontierungsrate ist konstant über sämtliche<br />
Zeitperioden, dann werden sich die beiden Kurven niemals kreuzen. Aber sie<br />
kreuzen sich gelegentlich doch.<br />
Die Problematik stellt sich generell folgendermaßen dar. Ein Mensch hat<br />
zwischen zwei zeitlich entfernten Alternativen zu wählen. Die verfügbaren<br />
Optionen, im einfachsten Fall auf zwei beschränkt, mögen wie folgt betrachtet<br />
werden. Die erste Option steht früher zur Verfügung, ist aber im Wert kleiner<br />
(UB), als die spätere (LW). Die Zeitspanne zwischen den beiden Optionen sei<br />
konstant. Der zeitliche Abstand von der Gegenwart bis zum Eintritt der ersten<br />
Option sei anfangs groß, und werde in Folge kleiner. Es mag sein, daß im ersten<br />
Fall die größere spätere Option der kleineren früheren vorgezogen wird, daß<br />
sich aber je kleiner der zeitliche Abstand bis hin zur ersten Option wird, die<br />
Präferenzen in Richtung der früheren kleineren Option verkehren. Dieser<br />
Umstand wird in der ökonomischen Literatur als zeitinkonsistentes Verhalten<br />
bezeichnet. Strotz (1955–1956, S. 165) formuliert die Problematik wie folgt:<br />
An individual is imagined to choose a plan of consumption for a future<br />
period of time so as to maximize the utility of the plan as evaluated at the<br />
present moment. […] Our problem arises when we ask: If he is free to<br />
reconsider his plan at later dates, will he abide it or disobey it-even though<br />
his original expectations of future desires and means of consumption are verified? Our<br />
answer is that the optimal plan of the present moment is generally one<br />
which will not be obeyed, or that the individual’s future behaviour will be<br />
inconsistent with his original plan.<br />
Strotz zeigt in Folge, daß neben der Möglichkeit der Selbstbindung, einzig und<br />
allein eine konstante Diskontierungsrate über die Zeit, wie vom DU-Modell<br />
gefordert, konsistentes Verhalten über die Zeit garantiert. 68 Im Anschluß an<br />
68 Zur Thematik der „konsistenten Planung“ siehe ebenfalls die weiterführenden Arbeiten u.a. von<br />
Pollak (1968), oder Peleg und Yaari (1973).<br />
61
diese Feststellung lenkt er (ebd., S. 177) die Aufmerksamkeit aber auf eine<br />
Diskontierungsfunktion, …<br />
… such as that shown in Figure 3, which differs from a logarithmically<br />
linear one [konstante Diskontierungsrate, der Autor] in that it ‚over-<br />
values’ the more proximate satisfaction relative to the more distant one,<br />
… die wohl eher der tatsächlichen entsprechen sollte.<br />
Die Originalabbildung (ebd., S. 175, Fig. 3) zeigt erstmals die Darstellung einer<br />
Hyperbel [die Kurve λ( t − τ ) in der Abbildung 2.4] als Grundlage der<br />
Diskontierung zukünftiger Güter.<br />
Abbildung 2-4: Erste graphische Darstellung einer Hyperbolischen<br />
Diskontierungsfunktion nach Strotz<br />
Quelle: Strotz (1955-1956, S. 175, Fig. 3).<br />
Hyperbolische Diskontierungsfunktionen können, wie vom Psychologen George<br />
Ainslie (1975) anhand von Tierversuchen erstmals gezeigt, zeitinkonsistentes<br />
Verhalten beschreiben. Die folgende Abbildung 2-5 zeigt ihre Eigenart.<br />
Ist die Diskontierung eine abnehmende Funktion in der Zeit, wie die<br />
empirischen Ergebnisse vermuten lassen, dann mögen sich die Kurven kreuzen,<br />
und führen so zu einer Verkehrung der Präferenzen. Die Signifikanz sich<br />
62
kreuzender Kurven ist, daß das menschliche Verhalten nicht generell konsistent<br />
ist über die Zeit.<br />
Abbildung 2-5: Zeitinkonsistente Präferenzen<br />
Quelle: Kirby und Marakovic (1995, S. 23, Fig. 1.; vom Autor adaptiert). Die<br />
Annahme einer sinkenden Diskontierungsrate über die Zeit, mag zum<br />
Phänomen zeitinkonsistenter Präferenzen führen. Wird noch zum<br />
Zeitpunkt to die Option LW über UB präferiert, kippt die Präferenz<br />
zum Zeitpunkt t* (vgl. „Hernstein’s Matching Law“ z.B. in Ainslie und<br />
Haslam, 1992, S. 65ff) zu Gunsten von UB. In <strong>Entscheidung</strong>en zwischen<br />
den Zeitpunkten to und t* wird hier also LW präferiert, zwischen den<br />
Zeitpunkten t* und t1 aber UB. Im Gegensatz zu Abbildung 2.2 spielt<br />
die Zeit in diesem Fall eine herausragende Rolle.<br />
In seiner Arbeit „Specious Reward: A Behavioral Theory of Impulsiveness and<br />
Impulse Control“ (1975), die auf Tierversuchen aufbaut, widmet er sich<br />
ausgiebig dem Problem des nicht konsistentem Verhalten über die Zeit, und<br />
darüber hinaus Strategien dieses zu überwinden. In seiner Arbeit finden sich<br />
auch die ersten formalen Versuche diese Diskontierungsfunktionen funktional<br />
darzustellen. Ainslies Arbeit bildet in diesem Sinne hier auch den Übergang<br />
zum nächsten Abschnitt (Abs. 2.4 idA.), der sich den deskriptiven<br />
<strong>Entscheidung</strong>smodellen, in Form der Hyperbolischen Diskontierung, widmet.<br />
Den möglichen Strategien, die sich zum Beispiel bei Strotz und Ainslie,<br />
aber auch vielen anderen Autoren finden, um zeitinkonsistentes Verhalten zu<br />
63
überkommen, werden zum Schluß im Abschnitt über Odysseus und die Sirenen<br />
thematisiert.<br />
2.4 Hyperbolische Diskontierungsmodelle<br />
Das Ziel einer Vielzahl von Studien im Bereich intertemporaler <strong>Entscheidung</strong>en<br />
ist es eine Diskontierungsfunktion zu modellieren, die eine mathematische<br />
Beschreibung der sich im Zeitablauf ändernden präferentiellen Bewertung<br />
zuläßt.<br />
Die sowohl in empirischen wie auch in experimentellen<br />
Untersuchungen beobachteten abnehmenden Diskontierungsraten über die Zeit,<br />
sowie Evidenzen bezüglich des Auftretens dynamischer Inkonsistenz lassen,<br />
wie schon letzten Abschnitt beschrieben, eine Diskontierungsfunktion<br />
vermuten, die in der kurzen Frist höhere Diskontierungsraten verlangt,<br />
beziehungsweise erlaubt. Diese funktionale Form kann, wie ebenfalls gezeigt,<br />
das beobachtete Muster der Präferenzenverkehrung beschreiben.<br />
Diese angeführten Einsichten bezüglich des intertemporalen<br />
<strong>Entscheidung</strong>sverhaltens führten zur Generierung von zahlreichen alternativen<br />
theoretischen Modellen, die allesamt eine dem Menschen inhärente<br />
Diskontierungsfunktion annehmen, die als „Hyperbolische Diskontierung“<br />
bezeichnet wird (siehe vor allem die Sammelwerke von Elster und Loewenstein,<br />
1992; bzw. Loewenstein, Read und Baumeister, 2003).<br />
In der ökonomischen Literatur war, wie gesagt, Strotz (1955–1956, S.172) der<br />
erste, der sich Alternativen zur exponentialen Diskontierung überlegte:<br />
… seeing no reason why an individual should have such a spezial<br />
discount function.<br />
Weiters bemerkte er, daß für jede andere denn die exponentiale<br />
Diskontierungsfunktion, eine Person zeitinkonsistente Präferenzen haben<br />
würde.<br />
Zum Vergleich sei hier noch einmal die im DU-Modell angenommene<br />
64
Diskontierungsfunktion dargestellt.<br />
(Formel 2-8)<br />
τ<br />
⎛ 1 ⎞<br />
Φ ( τ ) = ⎜<br />
1+<br />
ρ<br />
⎟<br />
⎝ ⎠ .<br />
2.4.1 Varianten der hyperbolischen Diskontierung<br />
2.4.1.1 George Ainslie<br />
Die charakteristische Eigenart der Hyperbolischen Diskontierungsfunktion ist<br />
ihre starke Krümmung für kurze Zeithorizonte und die dann lang auslaufende<br />
Form (vgl. Abbildung 2-6), wie von Ainslie (1975, S.469) beschrieben.<br />
Abbildung 2-6: Charakteristische Eigenart Hyperbolischer<br />
Diskontierungsfunktionen<br />
Quelle: Ainslie und Haslam (1992, S. 66, Fig. 3.2): Graphische Darstellung<br />
zweier hyperbolischer Diskontierungsfunktionen mit sich kreuzenden<br />
Kurven.<br />
Eine erste formale Annäherung geht zurück auf Chung und Herrnstein (vgl.<br />
Ainslie, 1975, S. 468), die das Wahlverhalten von Tauben zwischen verzögerten<br />
Erträgen mittels folgender Formel beschrieben:<br />
65
(Formel 2-9)<br />
d<br />
s E =<br />
de + ds<br />
.<br />
E bezeichnet in diesem Fall den Gegenwartswert einer zukünftigen Option. Die<br />
Zeitspanne bis zum Eintritt dieser Option wird durch d e dargestellt, die<br />
Zeitspanne bis zum Eintritt einer angenommenen Alternative S durch d s .<br />
Die Formel 2-9 entspricht einer Diskontierungsfunktion, die einfach proportional<br />
zur Länge des Zeitintervalls bis zum Eintritt der Option ist (vgl. Loewenstein<br />
und Prelec, 1992, S. 579)):<br />
(Formel 2-10)<br />
2.4.1.2 J. E. Mazur<br />
1<br />
Φ ( τ ) = .<br />
τ<br />
Es war an J. E. Mazur die von Herrnstein und Kollegen vorgetane Arbeit, die<br />
unter der Bezeichnung „Matching Law“ große Bedeutung vor allem in der<br />
Beschreibung tierischen Verhaltens gewann, weiter zu spezifizieren (vgl.<br />
Ainslie und Haslam, 1992, S 65–67). Mazurs Diskontierungsfunktion nimmt<br />
folgende spezielle Form an (vgl. Loewenstein und Prelec, 1992, S. 580):<br />
(Formel 2-11)<br />
1<br />
Φ ( τ ) =<br />
1+<br />
ατ<br />
,<br />
wobei τ , wie üblich die zeitliche Distanz beschreibt. α andererseits ist ein<br />
Maß für die Sensitivität des Menschen in der Wahrnehmung der Zeit. 69<br />
69 Für die Spezifizierung von Diskontierungsfunktionen über die Verwendung von<br />
Zeitwahrnehmungsfunktionen siehe vor allem Ahlbrecht und Weber (1995).<br />
66
2.4.1.3 Harveys Modell<br />
Harveys Modell (1986) nimmt ebenfalls die für hyperbolische Diskontierungen<br />
typisch konkave Zeitwahrnehmung an. Wird ein gegebenes Zeitintervall in die<br />
Zukunft verschoben, und dieses dann entsprechend der zugrundeliegenden<br />
Zeitwahrnehmung proportional zur zeitlichen Verschiebung gestreckt, bleibt<br />
das Zeitintervall in der Wahrnehmung konstant (vgl. Ahlbrecht und Weber,<br />
1995, S. 555–557). Die funktionale Form entspricht einer gemeinen Hyperbel,<br />
die Diskontierungsfunktion dazu ergibt sich wie folgt (vgl. Read, 2003, S. 3):<br />
(Formel 2-12) ( )<br />
h<br />
Φ τ = .<br />
h + τ<br />
2.4.1.4 Loewenstein-Prelec Modell<br />
Loewenstein und Prelec (1992) selbst bezeichnen ihr Modell als ein<br />
„verhaltenstheoretisches Modell intertemporaler <strong>Entscheidung</strong>en“. Sie leiten es<br />
axiomatisch aus den oben beschriebenen Anomalien (Abs. 2.3 idA.) ab. In<br />
Hinsicht auf die ihrem Modell zugrunde liegenden Diskontierungsfunktion<br />
stützen sie sich auf den „Common-Differnce-Effect“, der die Abweichung im<br />
Stationaritätsgedanken zum Ausdruck bringt. Als Diskontierungsfunktion<br />
entwickeln sie das sogenannte α, β Modell, das sich formal ebenfalls als<br />
gemeine Hyperbel darstellt:<br />
(Formel 2-13)<br />
τ ατ −<br />
β / α<br />
Φ ( ) = (1 + ) .<br />
Der α Koeffizient determiniert hier in wie weit die Funktion von der<br />
Standarddiskontierungsfunktion abweicht. Im Grenzfall, wenn α gegen 0 geht,<br />
ergibt sich die exponentielle Diskontierungsfunktion ( ) e βτ −<br />
Φ τ = ; für α = 1<br />
ergibt sich das spezifischere Harvey-Modell. Das Loewenstein-Prelec Modell<br />
deckt in dieser Weise das vollständige Kontinuum der Zeitwahrnehmung ab<br />
(vgl. Ahlbrecht und Weber, 1995, S. 557–559). In folgender Abbildung 2-7 wird<br />
die hyperbolische Diskontierungsfunktion des Loewenstein-Prelec Modell für<br />
67
drei verschiedene α Koeffizienten, im Vergleich zur Diskontierungsfunktion<br />
des DU-Modells dargestellt.<br />
Abbildung 2-7: Diskontierungsfunktionen nach dem Loewenstein-Prelec Modell<br />
Quelle: Loewenstein und Prelec (1992, S. 581, Fig. 1). Drei<br />
Diskontierungsfunktionen mit variierenden α Werten nach dem<br />
Loewenstein-Prelec Modell (strichlierte Kurven). Im Vergleich die<br />
Diskontierungsfunktion nach dem Standardmodell (durchgezogene<br />
Kurve).<br />
2.4.1.5 Quasihyperbolische Diskontierung nach Phelps und Pollak<br />
Eine einfache, oft verwendete funktionale Form, die die Essenz der<br />
hyperbolischen Diskontierung einfängt, geht zurück auf Phelps und Pollak<br />
(1968). Diese Form wird in der Literatur als „Quasihyperbolische<br />
Diskontierung“ bezeichnet. Sie vereinigt die rapide Abnahme der<br />
Diskontierungsrate in der kurzen Frist – in der ersten Periode – mit einer dann<br />
konstant bleibenden Rate für alle folgenden Perioden. In dieser Form verleiht<br />
68
sie der oft beobachtbaren unmittelbaren Impulsivität des menschlichen<br />
Verhaltens einen besonderen Ausdruck. Entwickelt für das Studium des<br />
Altruismus zwischen den Generationen verwenden Phelps und Pollak eine<br />
zeitlich diskrete Diskontierungsfunktion (vgl. Frederick, Loewenstein und<br />
O’Donoghue, 2002, S. 366; sowie Laibson, 2003, S. 7), der Art:<br />
(Formel 2-14)<br />
⎧1<br />
, wenn τ = 0<br />
Φ ( τ ) = ⎨ τ<br />
⎩βδ<br />
, wenn τ > 0<br />
Die als „Quasihyperbolische Funktion“, oder auch „Present Biased“ bezeichnete<br />
funktionale Form nimmt gegenwärtig in der intertemporalen<br />
<strong>Entscheidung</strong>sforschung eine prominente Rolle ein, wie sich anhand der<br />
angewandten Arbeiten von Laibson (1997) und O’Donoghue und Rabin (1999)<br />
zeigen läßt. 70 Diese Rolle verdankt sie der bereits angesprochenen Fähigkeit,<br />
dem psychologischen Faktor der Impulsivität entsprechend Rechnung zu tragen.<br />
Ich werde in Kapitel Drei noch einmal auf dieses Modell zu sprechen<br />
kommen, da es im Rahmen dieser Arbeit, als das Dienlichste der alternativen<br />
Diskontierungsmodelle anzusehen ist.<br />
2.4.2 Vergleich der hyperbolischen und exponentiellen Diskontierung<br />
Einen expliziten Vergleich zwischen den vorangestellten intertemporalen<br />
<strong>Entscheidung</strong>smodellen, in Form der hyperbolischen und exponentiellen<br />
Diskontierungsfunktion, wurde von Kirby und Maracovic (1995) durchgeführt.<br />
Ziel ihrer empirischen Arbeit war es den erhobenen deskriptiven Anspruch<br />
dieser beiden Abarten zu klären. Anhand der von ihnen gewonnenen Ergebnisse<br />
konnten sie zeigen, daß zur Beschreibug des tatsächlichen menschlichen<br />
70 Vgl.: Frederick, Loewenstein und O’Donoghue (2002, S. 366f): Laibson (1997) untersucht die Rolle<br />
von illiquiden Vermögenswerten, z.B. Häuser, als unvollkommene Verpflichtungsstrategie. Dabei<br />
zeigt er, wie ein Individuum übermäßigen Konsum durch die Bindung von Vermögen in illiquiden<br />
Vermögenswerten beschränken kann. O’Donoghue und Rabin (1999) wenden dieses Modell auf die<br />
Problematik des Hinausschiebens von Terminen an. Sie zeigen wie die hyperbolische Diskontierung<br />
dazu führen kann, daß eine Person eine lästige Verpflichtung länger verschiebt, als sie es eigentlich<br />
im vorhinein geplant hat.<br />
69<br />
.
<strong>Entscheidung</strong>sverhaltens klar die Hyperbolische Diskontierung zu präferieren<br />
sein sollte.<br />
Auch Rachlin, Brown und Cross (2000, S. 146) bestätigen in ihrer<br />
Arbeit (vgl. auch Frederick, Loewenstein und O`Donoghue, 2002, S. 360):<br />
…[they] are aware of no empirical studies of choice among delayed<br />
rewards with human or nonhuman subjects where an exponential discount<br />
function described the data better than a hyperbolic discount function<br />
with the same number of free parameters.<br />
Im folgendem seien hier in Abbildung 2-8 noch einmal in einer kurzen<br />
Übersicht die verschiedenen Diskontierungsfunktionen mit ihren<br />
entsprechenden Diskontierungsraten und -faktoren dargestellt (vgl. Read, 2003,<br />
S. 3).<br />
Abbildung 2-8: Exponentielle und hyperbolische Formeln im Vergleich<br />
Φ(τ)<br />
Exponentiell Hyperbolisch<br />
Samuelson<br />
(1937)<br />
Koopmans<br />
(1960)<br />
τ<br />
⎛ 1 ⎞<br />
⎜ ⎟<br />
⎝1 + ρ ⎠<br />
ρ<br />
ρ(τ) 1+<br />
ρ<br />
δ(τ)<br />
1<br />
1+ ρ<br />
Mazur<br />
(1984)<br />
1<br />
1+ kτ<br />
k<br />
1+<br />
kτ<br />
1 + k(<br />
τ −1)<br />
1+<br />
kτ<br />
Quelle: Read (2003, S. 3, Tab. 1; vom Autor adaptiert).<br />
70<br />
Loewenstein-<br />
Prelec (1992)<br />
(1 + ατ )<br />
β<br />
1+<br />
ατ<br />
−β<br />
α<br />
⎛1 + α( τ −1)<br />
⎞<br />
⎜<br />
1+<br />
ατ<br />
⎟<br />
⎝ ⎠<br />
β<br />
α<br />
Harvey<br />
(1994)<br />
h<br />
h + τ<br />
1<br />
h + τ<br />
h + τ −1<br />
h +<br />
τ
Abschließend soll nun noch Abbildung 2-9 in Form einer graphischen<br />
Darstellung den Vergleich zwischen den hier präsentierten verschiedenen<br />
Diskontierungsfunktionen ermöglichen. Verglichen werden die exponentielle<br />
Diskontierung, als Repräsentation des Standardmodells, die hyperbolische<br />
Diskontierungsfunktion in Form des Loewenstein-Prelec Modells und gleichsam<br />
als Verbindung der beiden, die quasihyperbolische Form nach Phelps und<br />
Pollack. (vgl. Laibson, 2003, S. 18).<br />
Abbildung 2-9: Graphische Vergleichsdarstellung verschiedener<br />
Diskontierungsfunktionen<br />
Quelle: Laibson (2003, S. 18, Fig. 1).<br />
Im nächsten Abschnitt wende ich mich nun der Kritik an den<br />
Hyperbolischen Diskontierungsmodellen zu. Diese Kritik richtet sich<br />
nicht nur gegen den erhobenen deskriptiven Anspruch dieser Modelle,<br />
sondern stellt insgesamt die dahinterstehende Methodik in Frage.<br />
71
2.5 Zur Kritik der hyperbolischen Diskontierung<br />
Obwohl die in den vorangegangenen Abschnitten präsentierten gesammelten<br />
Ergebnisse von verhaltenswissenschaftlichen Ökonomen einhellig für die eine<br />
oder andere Form einer hyperbolischen Diskontierung sprechen, bleibt dieses<br />
Konzept generell nicht ohne Widerspruch.<br />
Es traten Zweifel daran auf, daß diese spezielle funktionale Form<br />
tatsächlich, als eine akkurate Beschreibung menschlichen<br />
Diskontierungsverhaltens taugt. So zeigt zum Beispiel Daniel Read (2001), daß<br />
der allgemeine Beweis für abnehmende Diskontierungsraten über die Zeit,<br />
genauso gut mit Subadditiver Diskontierung erklärt werden kann. Weiters stellt<br />
er in seinen Untersuchungen überraschender Weise fest, daß selbst die generelle<br />
Annahme abnehmender Diskontierungsarten über die Zeit, zumindest in Frage<br />
gestellt werden muß.<br />
Ariel Rubinstein (2003) andererseits hinterfragt die Methode von<br />
„Psychologie und Ökonomie“ im allgemeinen, und in Bezug auf die<br />
Hyperbolische Diskontierung im speziellen. Er argumentiert, daß dieselben<br />
Evidenzen, die zur Zurückweisung des Standardmodells führten, genauso gut<br />
zur Zurückweisung der Hyperbolischen Diskontierung gebraucht werden<br />
können. Anhand eines <strong>Entscheidung</strong>sprozesses, der als Ähnlichkeitsheuristik<br />
bezeichnet wird, demonstriert er, daß es andere Möglichkeiten gibt<br />
menschliches Wahlverhalten darzustellen.<br />
Bevor ich mich diesen beiden Kritiken, die dann gleichzeitig den<br />
Übergang zum nächsten Kapitel darstellen, widme, möchte ich mit einer<br />
allgemeiner gehaltenen Kritik beginnen.<br />
Die Schwächen des Hyperbolischen Diskontierungsmodells, vor allem in Bezug<br />
auf das Problem sich verkehrender Präferenzen und der Thematik der<br />
Selbstkontrolle, werden selbst von ihren Proponenten anerkannt. So notieren<br />
zum Beispiel Loewenstein und Prelec (1992, S. 595), in Bezug auf ihr<br />
spezielles Modell:<br />
72
Our model by no means incorporates all important psychological factors<br />
that influence intertemporal choice. […] Intertemporal choice often<br />
seems to involve an internal struggle for self-command. […] Mathematical<br />
models of choice do not shed much light on such patterns of cognition<br />
and behaviour.<br />
Die größte Schwäche des Hyperbolischen Diskontierungsmodells liegt, so<br />
meine ich als auch andere, aber sicherlich in der Tatsache begründet, daß es für<br />
gewöhnlich nicht zwischen verschiednen Arten von Gütern unterscheiden kann.<br />
Dieser Umstand führt speziell im Problembereich der Präferenzenverkehrung zu<br />
gravierenden Schwierigkeiten, wie zum Beispiel von Hoch und Loewenstein<br />
(1991, S. 494) bemerkt (vgl. auch Loewenstein, 1996, S. 279):<br />
The discounting perspective is accurate as far as it goes, but it leaves basic<br />
questions unanswered. Why are certain types of goods (e.g. dessert)<br />
associated with impulsivity and not others (e.g. gasoline)? Discounting<br />
also fails to explain why other factors, such as physical proximity, are<br />
commonly associated with time-inconsistency.<br />
Eine Verkehrung der Präferenzen, im Sinne dieser Arbeit, findet meist dann<br />
statt, wenn man zwischen Erfahrungen zu wählen hat, die unmittelbare oder<br />
verzögerte Freude und Schmerz bringen. Diese Erfahrungen scheinen zu einem<br />
Großteil von der unmittelbaren zeitlichen, körperlichen und sinnlichen Nähe<br />
beeinflußt, die Hoch und Loewenstein (1991) als „Unmittelbarkeitseffekt“<br />
(Immediacy Effect) bezeichnen (vgl. auch Loewenstein, 1996, S. 279f).<br />
2.5.1 Subadditive Diskontierung<br />
Eine Fundamentalkritik am Konzept der Hyperbolischen Diskontierung, als<br />
akkurater Beschreibung menschlichen Diskontierungsverhaltens, stellt das<br />
Modell der Subadditiven Diskontierung dar (Read, 2001; sowie Read und<br />
Roelofsma, 2003). Unter „Subadditiver Diskontierung“ versteht man, daß die<br />
Gesamtdiskontierung über einen Zeitraum größer ist, wenn dieser Zeitraum<br />
73
zuerst in Subintervalle unterteilt, dann jedes dieser Subintervalle für sich allein<br />
diskontiert und in Folge summiert wird, als wenn dieser Zeitraum als Ganzes<br />
diskontiert wird. 71 Dieses Verhältnis läßt sich graphisch, wie in Abbildung 2-10<br />
gezeigt, verdeutlichen.<br />
Abbildung 2-10: Subadditive Diskontierung nach Read<br />
Quelle: Read und Roelofsma (2003, S. 144, Fig. 3). Der Diskontierungsfaktor<br />
δ , der die Summe der Subintervalle T .3<br />
T .3.1 , T .3.2 und T .3.3<br />
größer als der Diskontierungsfaktor T .1<br />
74<br />
δ δ δ bildet, ist<br />
δ , des ungeteilten Zeitraums.<br />
Die Forschung auf dem Gebiet der Subadditiven Diskontierung zeigt, daß eine<br />
Vielzahl, der in den vorangegangenen Abschnitten dieser Arbeit (siehe Abs.<br />
2.3.1 idA.) präsentierten, experimentell und empirisch gewonnenen Hinweise<br />
für die Abnahme der Diskontierungsrate über die Zeit, durch Subadditive<br />
Diskontierung erklärt werden können. Die zentrale Aussage der Subadditiven<br />
Diskontierung ist, daß Menschen pro Zeiteinheit über kürzere Intervalle<br />
generell weniger geduldig sind, egal wann diese Intervalle betrachtet werden.<br />
Daniel Read (2001) kann in einer ersten experimentellen Untersuchung anhand<br />
dreier Wahlexperimente, die die Anzahl der Subintervalle variierten,<br />
71 Die Summe der Teile ist größer als das Ganze. „Subadditive discounting means that the total<br />
discounting is greater when the year is divided into months “ (Read, 2001, S. 6).
nachweisen, daß menschliches Diskontierungsverhalten, entgegen der Annahme<br />
der Hyperbolischen Diskontierung, 72 tatsächlich subadditiv ist. 73 Im Zuge dieser<br />
Untersuchung testet er auch die zentrale Annahme der Hyperbolischen<br />
Diskontierung auf abnehmende Ungeduld, gleich einer sinkenden<br />
Diskontierungsrate über die Zeit, oder einem zunehmendem<br />
Diskontierungsfaktor. 74 Die von ihm erzielten Ergebnisse, meint er (ebd., S.<br />
24), sind klar:<br />
First, subadditive intertemporal choice was observed in every experiment:<br />
when a delay was divided into three, the total discounting over that delay<br />
was increased by an average of 40%. Second, there was no evidence of<br />
declining impatience: the amount of discounting was equal or lower for<br />
earlier intervals than for later intervals.<br />
In überzeugender Art und Weise demonstriert Read dann, wie Subadditive<br />
Diskontierung dafür verantwortlich sein kann, daß Diskontierungsverhalten den<br />
Anschein erwecken mag hyperbolisch zu sein. Für ihn spielt die, bisher nicht<br />
beachtete, Vermengung von Zeithorizont (die Länge zwischen der Gegenwart<br />
und dem Eintritt der Optionen) und Zeitspanne (das Intervall zwischen dem<br />
Eintritt der ersten und zweiten Option) die Schlüsselrolle. Read argumentiert<br />
seine Erkenntnisse in folgender Weise (vgl. Read, 2001, S. 11f; sowie Read und<br />
Roelofsma, 2003, S. 141f):<br />
Der Hauptbeweis für zunehmende Geduld, so Read, stammt aus Studien, in<br />
denen Teilnehmer Indifferenzpunkte zwischen einer Option UB, die sofort<br />
verfügbar oder mit kurzer Verzögerung eintritt, und einer Option LW, die<br />
verschiedene verzögerte Ausmaße annimmt, bestimmen (vgl. Abs. 2.3.1 idA.).<br />
Zum Beispiel müssen Teilnehmer den Gegenwartswert für einen Betrag, der in<br />
einem Jahr verfügbar sein wird und dann dem Wert 100 Euro entspricht,<br />
72 “[Additive intertemporal choice] means that the total discounting over an interval is independent of<br />
how the interval is divided.” (Read, 2001, S. 7)<br />
73 Read und Roelofsma (2003) wiederholten die Untersuchungen um nachzuweisen, daß Subadditive<br />
Diskontierung auch dann gezeigt werden kann, wenn den Teilnehmern ‚Matching Aufgaben’ gestellt<br />
wurden.<br />
74<br />
Abnehmende Ungeduld würde in diesem Fall heißen, daß T .3.1 T .3.2 T .3.3<br />
75<br />
δ < δ < δ .
estimmen, dasselbe wiederholt sich für einen Betrag, der in zwei Jahren<br />
verfügbar sein wird und so fort. Geringe Variationen dieser Methoden finden<br />
sich in unzähligen Studien (vgl. Abs. 2.3.1.2 idA.). Das gemeinsame Ergebnis<br />
dieser Studien ist es, daß der Wert von δ mit der Zeit bis zum Eintritt von LW<br />
zunimmt. Die Schlußfolgerung lautet schließlich, daß der Mensch im Zeitablauf<br />
geduldiger wird (vgl. auch die Abb. 2-3 idA.).<br />
Mit dieser Schlußfolgerung, so meint Read, gibt es ein ernsthaftes<br />
Problem. Um das zu zeigen, unterscheidet er zwischen zwei temporalen<br />
Konstrukten, die, wie er meint, gemein hin fälschlicherweise vermischt werden.<br />
Dabei handelt es sich um den Zeithorizont, das ist die Zeitspanne zwischen der<br />
Gegenwart und dem Eintritt der Option LW ( t2 − 0) , und dem Zeitintervall,<br />
gleich der Zeitspanne zwischen den verfügbaren Optionen UB und LW ( t2 − t1)<br />
.<br />
Abbildung 2-11 illustriert diese Unterscheidung für drei mögliche<br />
experimentelle Aufgaben.<br />
Abbildung 2-11: Zeithorizont versa Zeitspanne<br />
Quelle: Read und Roelofsma (2003, S. 142, Fig. 2). In Aufgabe A wird eine<br />
sofort verfügbare UB verglichen mit dem LW in sechs Monaten ( t =0 1<br />
Monate, t =6 Monate). Sowohl der Zeithorizont 2<br />
2<br />
Intervall t2 t1<br />
76<br />
( t − 0) , als auch das<br />
( − ) sind sechs Monate. In Aufgabe B, UB ist sofort<br />
verfügbar und LW in zwölf Monaten, sind der Zeithorizont und das<br />
Intervall wiederum gleich. Allein in Aufgabe C differieren der<br />
Zeithorizont und das Intervall. Der Zeithorizont beträgt zwölf Monate,<br />
wie in Aufgabe B, das Intervall ist sechs Monate, wie in Aufgabe A.
Read führt nun aus, daß die meisten Studien, wie die oben (Abs. 2.3.1 idA.)<br />
erwähnten, sich darauf beschränken das Äquivalent zwischen Aufgabe A und B<br />
zu vergleichen. Darum finden sie im allgemeinen, daß der durchschnittliche δ<br />
Wert für Aufgabe A geringer ist, denn für Aufgabe B. Dieses Ergebnis wird in<br />
Folge als Beweis für zunehmende Geduld interpretiert. Die Vermengung des<br />
Zeithorizonts mit dem Intervall, aber meint Read, heißt tatsächlich, daß δ<br />
sowohl von jeweils einem der beiden Faktoren, als auch von beiden gemeinsam<br />
beeinflußt sein kann. Der korrekte Weg um ihren Einfluß zu separieren, so Read<br />
weiter, ist daher ein Vergleich zwischen Aufgabe A und C. Eine unterstellte<br />
zunehmende Geduld müßte für diesen Fall bedeuten, daß für die gegebene<br />
Länge eines Intervalls, zum Beispiel sechs Monate, der Diskontierungsfaktor δ<br />
um so größer ist, je später das Intervall eintritt.<br />
Read (2001) selbst nahm drei Experimente vor, die die Vermengung der<br />
Länge des Intervalls mit dem Zeithorizont entwirren sollten, indem er Aufgaben<br />
der Art A und C miteinander verglich. 75 Keines dieser Experimente (12<br />
Versuchsanordnungen) zeigte einen Hinweis auf zunehmende Geduld. Zur<br />
gleichen Zeit aber enthüllten diese Studien starke Hinweise darauf, was bisher<br />
als zunehmende Geduld interpretiert worden war. Wenn Verzögerung und<br />
Intervall vermengt werden, so Read, kann das den Anschein zunehmender<br />
Geduld erwecken. 76<br />
Dieser Intervalleffekt wurde von Read als „Subadditive Diskontierung“<br />
bezeichnet. Es drückt den Umstand aus, daß für eine gegebene Zeitspanne, die<br />
Gesamtdiskontierung größer ist, wenn sie in Intervalle unterteilt wird und die<br />
Diskontierung für jedes Intervall separat gemessen wird, denn wenn die<br />
Zeitspanne ungeteilt bleibt. Somit könnte die Subadditive Diskontierung<br />
möglicherweise die Begründung für viele Beobachtungen sein, die bisher der<br />
Hyperbolischen Diskontierung zugerechnet wurden. 77<br />
75 Read und Roelofsma (2003) wiederholten die Untersuchungen mit Matching-Aufgaben und kamen zu<br />
identischen Ergebnissen.<br />
76 “Subadditive discounting can look like declining impatience.” (Read und Roelofsma, 2003, S. 142)<br />
77 „Subadditive discounting predicts that the shorter the delay, the greater the discount rate over that<br />
delay. It may, therefore, be the sole cause of many observations consistent with hyperbolic<br />
77
Read findet vorderhand zwei explizite Gründe für subadditives<br />
Diskontierungsverhalten (ebd., S. 9f):<br />
The first is based on cognitive processes such as attention and memory,<br />
while the second is ‚non-psychological’ and suggests that subadditivity<br />
will occur whenever judgement and evaluations contain errors.<br />
Erstens, wird eine Zeitspanne in Subintervalle unterteilt, so erhält jeder Teil<br />
eine größere Aufmerksamkeit, denn wenn er Teil eines Ganzen ist. 78<br />
Zweitens, subjektive Schätzungen aller Art werden typischerweise in<br />
Richtung der Mitte des zu schätzenden Bereichs verzerrt, das führt zu einer<br />
Überschätzung kleiner und einer Unterschätzung großer Quantitäten. Diese<br />
Verzerrung firmiert in der Statistik unter der Bezeichnung „Regression to the<br />
Mean“.<br />
Der von Read vorgebrachten Kritik entgegnen Frederick, Loewenstein und<br />
O’Donoghue (2002, S. 361) auf ihre Art. Sie meinen: „daß auch wenn er mit<br />
seinem Modell Subadditiver Diskontierung Recht behält, die<br />
Hauptschlußfolgerung für die ökonomische Anwendung eine alternative<br />
psychologische Unterfütterung für die Hyperbolische Diskontierung liefern<br />
mag, da die meisten intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>en vor allem von der<br />
Gegenwart aus diskontiert werden“.<br />
discounting, in which case the discount fraction for an interval of given length would be independent<br />
of when the interval begins” (Read, 2001, S. 12).<br />
78 Diese Wahrnehmungsverzerrung wird im Ansatz der sozialen Kognition als Salienz bezeichnet. Die<br />
Salienz ist die Unterschiedlichkeit eines Stimulus in Relation zum Kontext (vgl. Fiedler und Bless,<br />
2002, S. 137).<br />
78
2.5.2 Rubinstein<br />
Eine äußerst überzeugende Kritik in Bezug auf die Hyperbolische<br />
Diskontierung im besonderen, und am methodologischen Vorgehen von<br />
verhaltenswissenschaftlichen Ökonomen überhaupt, denke ich, stammt von<br />
Ariel Rubinstein (2003). Er stößt sich nicht nur an der Geschwindigkeit mit der<br />
die Hyperbolische Diskontierung von manchen als Faktum akzeptiert wurde,<br />
oder an ihrer Ableitung, die teilweise auf tierischem Verhalten beruht; seine<br />
Kritik geht weit tiefer, wenn er festhält, daß es für den Anspruch Ökonomie mit<br />
Psychologie zu betreiben nicht genügen kann alleinig an der funktionalen Form<br />
einer Diskontierungsfunktion zu drehen.<br />
Rubinstein argumentiert seine Skepsis gegenüber der Hyperbolischen<br />
Diskontierung in folgender Art (vgl. Rubinstein, 2003, 1208–1211):<br />
Die Hauptrechtfertigungen für die Zurückweisung des Standardmodells<br />
und zur Verwendung der Hyperbolischen Diskontierung liefern, wie Rubinstein<br />
meint, empirische Untersuchungen. Anhand eigener Studien zeigt er, daß<br />
ähnlich gestaltete Experimente, die zu einer Zurückweisung des DU-Modells<br />
gebraucht wurden, ebenso gut zu einer Zurückweisung der Hyperbolischen<br />
Diskontierung führen können. Er zeigt, daß ein <strong>Entscheidung</strong>sprozeß, der eine<br />
Ähnlichkeitsheuristik des Entscheidenden annimmt, für ihn, besser geeignet ist<br />
menschliches Wahlverhalten zu begründen:<br />
Die Optionen im Kontext intertemporaler <strong>Entscheidung</strong>en sind, nach<br />
Rubinstein, in der Form ( x, t ) , sowie ( y , s) gegeben, wobei € x oder € y nach<br />
einer Zeitspanne t , beziehungsweise s zur Verfügung stehen. Rubinstein<br />
vermutet nun, daß wenn ein Individuum zwischen den zwei Optionen ( x, t ) und<br />
( y , s) zu wählen hat, er folgende dreistufige Prozedur, die auf zwei<br />
Ähnlichkeitsbeziehungen beruht, verfolgt.<br />
Erstens wird er nach Dominanz in den Optionen Ausschau halten. Wenn<br />
x > y und t < s gibt es kein Problem und die Option ( x, t ) wird gegenüber<br />
( y , s) präferiert.<br />
Zweitens wird der Entscheider nach Ähnlichkeiten zwischen x und y ,<br />
79
und zwischen t und s suchen. Findet er Ähnlichkeiten in einer Dimension<br />
allein, so wird er seine Präferenz aufgrund jener Dimension treffen, in der keine<br />
Ähnlichkeit gegeben ist. Ist zum Beispiel t ähnlich s , x aber nicht ähnlich y ,<br />
und ist x > y , dann wird er die Option ( x, t ) gegenüber der Option ( y , s)<br />
präferieren.<br />
Sollten die ersten zwei Stufen zu keinem Ergebnis führen wird er ein<br />
anderes Kriterium suchen.<br />
Tatsächlich kann er in den von ihm durchgeführten Untersuchungen<br />
nachweisen, daß eine solche Ähnlichkeitsheuristik geeignet ist<br />
Präferenzenverkehrung zu beschreiben, was der Hyperbolischen Diskontierung<br />
in dieser experimentellen Anordnung nicht gelingt (ebd., S. 1209–1214).<br />
Er kommt daher zu dem Schluß, der in den folgenden Sätzen zusammengefaßt,<br />
seine Kritik zum Ausdruck bringt (Rubinstein, 2003, 1215; Hervorhebung durch<br />
den Autor):<br />
Doing ‚economics and psychology’ requires much more than citing<br />
experimental results and marginally modifying our models. We need to<br />
open the black box of decision making, and come up with some<br />
completely new and fresh modelling devices.<br />
80
3 Integrativer Ansatz<br />
K a p i t e l 3<br />
D A D AS M ENSCHLIC HE N ERVENS YS TEM E TWA 1 0 HOCH 1 3<br />
SYN AP SEN, ABER DER M ENSCH IN S GESAM T NUR ETWA 1 0<br />
HOCH 8 NERVENZE LLE N H AT, S IN D W IR GE GENÜBER<br />
ÄND ERUN GEN U NSERER INNEREN UM WE LT 1 0 0 .000 M AL<br />
EMPFÄN G LIC HER A LS GE GENÜBER ÄNDER UN GEN IN<br />
UNSERER ÄUß EREN UM WE LT. D IES HE Iß T AUC H, WENN M AN<br />
LIN E AR E X TR AP O LIER T, D AS S D IE WAHRSCHE IN LIC H KE IT<br />
1 0 0 .00 0 M AL GR Öß ER IS T, D AS S D IE IM<br />
ZE N TR ALN ERVENSY S TEM PROZESSIER TE N IN FORM AT IO NE N<br />
AUS D IESEM SE LBST S TAM M EN, U ND N ICHT AUS DER<br />
UM WE LT.<br />
3.1 Einführende Erläuterungen<br />
81<br />
HE LM U T W ILKE 79<br />
In den beiden vorahnhergehenden Kapiteln habe ich versucht die Forschung<br />
zum Thema der „<strong>Intertemporale</strong>n <strong>Entscheidung</strong>stheorie“ bis hin zur Gegenwart<br />
aufzuarbeiten. Diese Vorgehensweise habe ich erstens gewählt, um einen<br />
Überblick über den Stand der Dinge zu bieten und zweitens, um eine Basis für<br />
einen integrativen Ansatz zu legen. Vorausschicken möchte ich, daß es sich<br />
hierbei allein um den Versuch eines groben Modellaufriß handelt, um<br />
intertemporales <strong>Entscheidung</strong>sverhalten in einer größeren Vielfalt darzustellen<br />
vermag. Viele der Ideen und Erkenntnisse aus Kapitel Eins und Zwei sollen hier<br />
zusammenfließen, um ein vollständigeres Bild von dem zu geben, was ich im<br />
folgendem als „Menschliche Wahlhandlungen zwischen unmittelbarer<br />
Bedürfnisbefriedigung und langfristigem Wohlergehen“ zu bezeichnen gedenke.<br />
Das einzig qualitativ neue an diesem Ansatz ist eine systemische<br />
Herangehensweise, die ich in einer ersten Annäherung verständlich zu machen<br />
probiere. Vorab möchte ich allerdings einige einleitende Gedanken zum<br />
Ausdruck bringen.<br />
79 Wilke (1996, S. 26).
Es ist nun meine Meinung, daß keines der vorgestellten Modelle, die in Kapitel<br />
Zwei betrachtet wurden, und die ich als funktionalistisch-objektiv<br />
charakterisieren möchte, den <strong>Entscheidung</strong>sprozeß in seiner ganzen<br />
Komplexität ausreichend genau darzustellen im Stande sind. Folglich bieten sie,<br />
so glaube ich, auch keine adäquate Basis für eine tiefgründige Analyse der<br />
Wirtschaft, dessen zentrales Element, daß ist meine feste Überzeugung, der<br />
Mensch nun einmal ist.<br />
Es sind immer Menschen die <strong>Entscheidung</strong>en treffen, es sind immer<br />
Menschen die handeln, es sind immer Menschen die denken und sich<br />
Vorstellungen über die Zukunft machen – auch wenn sie sich meistens dieser<br />
Tatsache nicht bewußt sind und vieles davon bloß als eine Konstruktion ihres<br />
inneren Selbst erleben. Es ist vordergründig daher nicht die soziale Umgebung,<br />
es ist nicht die soziale Klasse, es ist nicht irgendeine Institution und es ist nicht<br />
die Gesellschaft, die entscheiden - sie sind bloß Produkte - wenn auch nicht in<br />
dem Sinn, daß sie gezielt geplant worden wären, sondern in einem<br />
evolutionärem; aber sie wären nicht das was sie sind ohne den Menschen, und<br />
sie dienen in ihrer gegenständlichen Form alleinig als äußere Anregung, die der<br />
Mensch annehmen kann, wenn er dies will. Natürlich bin ich mir auch der<br />
Tatsache bewußt, daß der Mensch nicht in einem luftleeren Raum – dem<br />
Vakuum - sein Dasein fristet, und daß sie soziale Situation in der er sich<br />
befindet einen Einfluß darauf ausübt, wie er sich verhält. Natürlich reagiert er<br />
auf seine Umwelt, aber behält er doch seine Autonomie und Unabhängigkeit<br />
aufrecht.<br />
Der Mensch ist daher, so meine ich, als ein autonomes und in seiner<br />
Operationslogik geschlossenes System zu betrachten, daß nur auf sich selbst<br />
und auf seine Systemzustände Bezug nimmt (vgl. Strunk, 2003 a). Die Umwelt<br />
wird von ihm nur indirekt und unspezifisch erschlossen. Eine Analyse, so bin<br />
ich überzeugt, muß daher anhand eines einzelnen Individuums begonnen<br />
werden. Die Erweiterung der Analyse erfolgt danach schrittweise nach außen<br />
hin. Es ist daher meine Ansicht, daß eine entsprechende Darstellung nur dann<br />
gelingen kann, wenn es möglich ist, den menschlichen <strong>Entscheidung</strong>sprozeß als<br />
ein komplexes Wechselspiel verschiedener Systeme, Subsysteme oder<br />
Systemelemente zu betrachten. Auch wenn möglicherweise sehr vermessen,<br />
könnte das der Forderung von Rubinstein im letzten Zitat aus Kapitel Zwei nahe<br />
82
kommen - es dient mir zumindest als Inspiration.<br />
Das zentrale System in meiner Sichtweise ist der einzelne Mensch, der<br />
aus Subsystemen konstituiert, sich einbettet in das System einer Sozialen<br />
Umwelt. Die folgende Analyse beschäftigt sich mit der Beziehung des<br />
Individuums und seiner ihn bildenden und umgebenen Systeme.<br />
3.2 Erste Annäherung - Systemische Betrachtung<br />
Die auftretende Frage nach dem Warum einer systemischen Betrachtung,<br />
möchte ich folgendermaßen beantworten (vgl. Strunk, 2003a–d, 2004 und<br />
2005). 80<br />
Die in Kapitel Zwei betrachteten Modelle folgen von ihrer<br />
Methodologie 81 und ihrem Aufbau her der klassischen Maschinenmetapher (vgl.<br />
Strunk, 2003 b), die in der orthodoxen Ökonomie insbesondere in Form des<br />
„Allgemeinen Gleichgewichtsmodells“ in Erscheinung tritt. 82 Diese Modelle<br />
entsprechen dem linealen Denken, im Sinne von kausalen Ursache-<br />
Wirkungszusammenhängen, und sind damit verfangen in einer endlosen<br />
Determiniertheit. Der Mensch ist, gegeben diese Sichtweise, in seinen<br />
<strong>Entscheidung</strong>en unfrei. 83 Die Zukunft ergibt sich gesetzmäßig zwingend aus den<br />
Bedingungen der Gegenwart, die sich ihrerseits zwingend aus der<br />
80 Zu einer Einführung in die „Systemtheorie“ siehe z.B. Wilke (1996). Für eine spezielle Annäherung<br />
an komplexe dynamische Systeme siehe Briggs und Peat (1993).<br />
81 Die Frage nach der Methodologie in eine Fußnot zu verbannen ist schlimm genug, hier bleibt nur<br />
anzumerken, daß die Modelle des Kapitels Zwei als konventionalistisch und/oder instrumentalistisch<br />
zu bewerten sind (vgl. Boland, 2003).<br />
82 Das AGM ist als ein Globalmodell zu verstehen. Ein solches System kann dann zwar theoretisch<br />
exakt vorhersagbar sein, indem zum Beispiel alle Relationen zwischen allen beteiligten<br />
Systemkomponenten gesetzmäßig bekannt und mit einbezogen werden, sich aber empirisch entgegen<br />
der Vorhersage verhalten. Dabei sind nicht etwa die Vorhersagen grundsätzlich fehlerhaft, sie sind<br />
nur nicht in der Lage, Meßungenauigkeiten und kleinste Störungen zu kontrollieren. (vgl. z.B.<br />
Strunk, 2003 d, S. 16).<br />
83 Vgl. Boland (2003, S. 54): „Anyone facing the same continuum of options […] and has the same<br />
profile of levels of satisfaction associated with the profile of all of these options will choose the<br />
same point. The explanation is thus both universal (it applies to everyone) and unique (all such<br />
individuals will choose exact same point).”<br />
83
Vergangenheit ergibt. Sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft sind<br />
miteinander kausal gekoppelt, sodaß eine Vorhersage der Zukunft und eine<br />
Ermittlung der Vergangenheit nur ein Problem der Verfügbarkeit der nötigen<br />
Informationen ist. Beispielsweise schreibt Strunk (2003 b, S. 12), daß: 84<br />
…[die] konsequente Anwendung des klassisch mechanischen Weltbildes<br />
auf alle Naturvorgänge zu unendlichen Ursache-Wirkungsketten führt, aus<br />
denen logisch der Laplacesche Dämon folgen muss, der wen es ihn gebe,<br />
Zukunft und Vergangenheit des Universums kennte.<br />
Da den mechanistisch inspirierten Modellen darüber hinaus jegliche<br />
Rückkoppelungsschleifen fehlen, können sie weder auf interne noch externe<br />
Ereignisse entsprechend reagieren. Der Wissenschaftler in dieser Denkweise<br />
verhaftet, akzeptiert die Komplexität als gottgegeben und versucht nur sie zu<br />
analysieren und zu verstehen. Lineal kausale Modelle enthalten in diesem<br />
Sinne immer nur soviel Erklärungspotenz, wie ihnen von ihrem Schöpfer<br />
mitgegeben wird. Sie eignen sich daher gut, um bekanntes nachträglich<br />
nachzuzeichnen (vgl. Strunk, 2003 b).<br />
Die folgende Abbildung 3-1 soll die Linealität 85 , sowohl der Modelle als auch<br />
des Denkens verdeutlichen - das Universum als unendliches Räderwerk.<br />
84 Laplace, zitiert nach Breuer (1989, S. 8) in Strunk (2003 b, S. 12): „Der momentane Zustand des<br />
Systems Natur ist offensichtlich eine Folge dessen, was er im vorherigen Moment war, und wenn wir<br />
uns eine Intelligenz vorstellen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt alle Beziehungen zwischen den<br />
Teilen des Universums verarbeiten kann, so könnte sie Orte, Bewegungen und allgemeine<br />
Beziehungen zwischen all diesen Teilchen für alle Zeitpunkte in Vergangenheit und Zukunft<br />
vorhersagen.“<br />
85 Das Konzept der „Linealität“ (lineal) (vgl. Strunk, 2003 b, S. 12) ist scharf zu differenzieren vom<br />
mathematischen Begriff der „Linerarität“, der die Art der Weitergabe von einzelnen Ursachen an<br />
bestimmte Wirkungen kennzeichnet. Der Begriff der Linealität bezieht sich auf die Struktur des<br />
Systems, die für klassisch mechanische Systeme als eine endlose vorwärts gerichtete Kette ohne<br />
Rückkoppelungsschleifen erscheint.<br />
84
Abbildung 3-1: Das Universum als unendliches Räderwerk<br />
Quelle: Strunk (2003 b, S. 10, Abb. 8). Die Struktur des klassisch mechanischen<br />
Systems ist eine endlose vorwärts gerichtet Kette ohne<br />
Rückkoppelungsschleifen, und damit in ihren Verhaltensmöglichkeiten<br />
stark beschränkt.<br />
Ich glaube daher, daß eine Betrachtung, die sich der Komplexität bewußt ist<br />
und sie nicht als gottgegeben annimmt, eine bessere Ausgangsbasis bietet und<br />
dem Menschen seine Freiheit zurückgeben kann. Auch wenn das Verhalten nur<br />
beschränkt oder musterhaft und, wenn überhaupt, nur für kleinste Zeitspannen<br />
vorhersagbar ist, handelt der Mensch nicht zufällig, aber er handelt frei und<br />
nicht von äußeren Einflüssen determiniert. Determiniert ist er allein durch seine<br />
innere Systemstruktur. Sie diktiert wie auf kleinste Verstörungen aus der<br />
Umwelt reagiert wird, und bildet eine ihr eigene Dynamik emergent aus. Der<br />
Verlust an Vorhersagbarkeit entspricht hier nichts anderem als dem Verlust der<br />
Kausalität, bei gleichzeitiger Beibehaltung des systemimmanenten<br />
Determinismus. Das Individuum ist in dieser Hinsicht als ein hochkomplexes<br />
nichtlineares dynamisches System anzusehen, das energetisch der Umwelt<br />
gegenüber offen, in seiner Operationslogik aber geschlossen ist. Das System<br />
operiert über gemischte Rückkoppelungsschleifen, die in der Lage sind ein<br />
einfaches homöostatisches Fixpunktverhalten zu generieren, bleibt darauf aber<br />
nicht beschränkt. Die komplexe Form der hier angesprochenen<br />
Selbstorganisation, beziehungsweise die Vorgänge und Prozesse in einem<br />
85
solchen System lassen sich jedoch nur selten ohne eine konkrete mathematische<br />
Formulierung verstehen (vgl. Strunk, 2005). 86<br />
Abbildung 3-2 zeigt ein einfaches nichtlineares dynamisches System mit<br />
gemischten Rückkoppelungsschleifen, das im Gegensatz zum Maschinenmodell<br />
der Nichtlinealität gehorcht und die Kausalität durchbricht.<br />
Abbildung 3-2: Ein nichtlineares dynamisches System<br />
Quelle Strunk (2004, S. 19): Ein nichtlineares dynamisches System ist<br />
gekennzeichnet durch gemischte Rückkoppelungsschleifen und<br />
Nichtlinealität.<br />
c<br />
a b<br />
Ich definiere daher für die folgende Betrachtung das einzelne Individuum als<br />
ein System. 87 Dieses System Individuum A, wie in Abbildung 3-3 dargestellt,<br />
86 Nichtlineare dynamische Systeme sind als eine geordnete Menge variabler quantitativer Größen zu<br />
verstehen, die durch mathematisch beschreibbare Differentialgleichungssysteme miteinander in<br />
Beziehung stehen und enthalten mindestens eine nichtlineare Funktion und sind, wie gesagt, als<br />
dissipipative Systeme aufzufassen (vgl. Strunk 2005, S. 5).<br />
87 Unter einem System wird eine von der Umwelt abgegrenzte, funktional geschlossene Entität<br />
verstanden, die aus Elementen besteht, die miteinander in Wechselwirkungen stehen. Die Vorgänge<br />
innerhalb der Systemgrenzen sind qualitativ produktiver und quantitativ intensiverer Natur, als die<br />
außerhalb der Systemgrenzen. Systeme können offen sein für Austauschprozesse mit ihrer Umwelt.<br />
86
setzt sich aus verschiedenen Elementen oder Subsystemen, je nach Definition,<br />
zusammen. In einem ersten Schritt nehme ich zwei dieser Subsysteme<br />
(Elemente) als entscheidungskonstituierend an.<br />
Das erste bezeichne ich als kognitiv-exekutives System a, das zweite<br />
als affektiv-emotionales System b. Diese beiden Systeme treten in Form der<br />
Elemente Kognition, Handlung und Willensstärke, beziehungsweise Affekt und<br />
Emotion in Erscheinung (vgl. Abs. 1.5.1. idA.).<br />
Das System Individuum grenzt sich entsprechend den einführenden<br />
Annahmen scharf von seiner Umwelt – den individuellen Systemen B und C -<br />
ab, ist aber energetisch offen und empfänglich für sozial-situative Umweltreize,<br />
die in Form von Verstörungen (Wechselwirkungen)- an das System herantreten.<br />
Abbildung 3-3: System Individuum in hierarchischer und heterarchischer<br />
Annordnung<br />
Quelle: Strunk (2003a, S. 5, Abb. 3). Das System Individuum A wird gebildet aus<br />
den Subsystemen a und b, die ihrerseits wiederum, so zum Beispiel im<br />
Falle von a, aus α, β und z gebildet werden (hierarchische Anordnung).<br />
Das System Individuum A steht aber auch in Wechselwirkung zu den<br />
Individuen B und C, die seine Umwelt bilden (heterarchische<br />
Annordnung). Im speziellen Fall dieser Arbeit bezeichne ich das<br />
Subsystem a als kognitiv-exekutives System und b als affektiv-<br />
emotionales System.<br />
Je nach Tiefe der Systemanalyse können verschiedene hierarchische Ebenen innerhalb eines Systems<br />
und heterarchische Wechselwirkungen zwischen Systemen unterschieden werden (vgl. Strunk 2003a).<br />
87
3.3 Zweite Annäherung - Die Dichotomie des menschlichen Selbst<br />
Die Annäherung über vorerst zwei dem <strong>Entscheidung</strong>sprozeß zugrunde liegende<br />
Subsysteme, beziehungsweise Systemelemente begründe ich in folgender<br />
Weise.<br />
Die Vorlagen für diesen, dem Menschen innewohnenden Dualismus sind<br />
augenscheinlich. Er zieht sich durch die Ansichten von Philosophen beginnend<br />
in der Antike, von Ökonomen und Psychologen bis zu Neurobiologen der<br />
Gegenwart. Eine selektive Auswahl soll das verdeutlichen.<br />
In der Rhetorik beschreibt Plato den Menschen als Lenker eines<br />
Streitwagens, der von zwei Pferden gezogen wird, dem Verstand und der<br />
Leidenschaft (vgl. Camerer, Loewenstein und Prelec, 2004b, S. 12). In der<br />
Republik kontrastiert er die unmittelbaren Begierden für kurzsichtiges<br />
Vergnügen mit der Vernunft, deren Funktion es ist mit Weißheit und Vorsicht<br />
zu walten, im Dienste des Selbst (vgl. Loewenstein und O’Donoghue, 2004, S.<br />
3).<br />
Adam Smith beschreibt in seiner „Theory of Moral Sentiments“ das<br />
menschliche Verhalten als determiniert durch den Kampf zwischen der Passion<br />
und einem unparteiischen Beobachter (vgl. Ashraf, Camerer und Loewenstein,<br />
2005). 88<br />
Die angenommene Dichotomie zieht sich ebenfalls durch die<br />
Argumentation von zahlreichen klassischen Ökonomen. In der Begründung der<br />
Zeitpräferenz (vgl. 1.3.2. idA.) zum Beispiel, wird diese teilweise implizit als<br />
auch explizit als Erklärung beachtet.<br />
88 "The pleasure which we are to enjoy ten years hence," he observed, " interests us so little in<br />
comparison with that which we may enjoy today, the passion which the first excites, is naturally so<br />
weak in comparison with that violent emotion which the second is apt to give occasion to, that the<br />
one could never be any balance to the other, unless it was supported by the sense of propriety [i.e.,<br />
the impartial spectator]." (1759, IV, ii, 273). For the impartial spectator, in contrast, the "present<br />
and what is likely to be their future situation are very nearly the same: he sees them nearly at the<br />
same distance, and is affected by them very nearly in the same manner…The spectator does not feel<br />
the solicitations of our present appetites. To him the pleasure which we are to enjoy a week hence, or<br />
a year hence, is just as interesting as that which we are to enjoy this moment (IV, ii, 272)" (Adam<br />
Smith zitiert nach Ashraf, Camerer und Loewenstein, 2005, S. 193).<br />
88
Für Sigmund Freud ist der Mensch gekennzeichnet durch einen<br />
doppelten Dualismus, der seinen Ausdruck einerseits im topographischen<br />
Modell, als Differenz zwischen Bewußten und Unbewußten, andererseits im<br />
Strukturmodell, als Kampf zwischen Es und Ich findet (vgl. z.B. Kutter, 2000).<br />
Für verhaltenswissenschaftlich orientierte Ökonomen ist die Bedeutung<br />
psychologischer Faktoren, die in Opposition zu den grundlegenden Annahmen<br />
der neoklassischen Ökonomie stehen, grundlegende Basis für die Entwicklung<br />
ihrer Modelle. Sie erkennen in ihren empirischen und experimentellen<br />
Untersuchungen, daß menschliches Rationalverhalten durch eine Vielzahl von<br />
affektiv-emotionalen Prozessen verstört wird (vgl. Abs. 1.4, Abs. 2.3 und Abs.<br />
2.4 idA.). Das Hyperbolische Diskontierungsmodell ist ein Ausdruck dieser<br />
Überzeugung, indem es in einer funktionalen Form, diesen Dualismus zu<br />
verbinden versucht.<br />
Besonders augenscheinlich wird die hier angenommene Sichtweise in<br />
den Arbeiten von Thaler und Shefrin (1981) und Schelling (1984), die sich mit<br />
dem Thema intrapersoneller Konflikte und Selbstkontrolle in intertemporalen<br />
Problemstellungen beschäftigen. Beide Ansätze arbeiten mit dem Konzept<br />
Multipler-Selbst, um den hier verfolgten Dualismus zu operationalisieren.<br />
Thaler und Shefrin entwickeln einen weitblickenden Planer, der<br />
langfristiges Wohlergehen verfolgt, und eine Serie kurzfristigen Macher, die<br />
allein an der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung interessiert sind. Ihr Ansatz<br />
steht in der Tradition der „Principal-Agent Theorie“.<br />
Schelling unterscheidet zwischen zwei Serien des Selbst, die eine<br />
wiederum langfristig denkend, die andere kurzsichtig. Abwechselnd übernimmt<br />
eine der beiden die Verhaltenskontrolle. Schelling zeigt in Folge Techniken der<br />
Selbstverpflichtung, die dem langfristigen Selbst dabei helfen können seinen<br />
Widerpart unter Kontrolle zu halten.<br />
In allen Überlegungen bis zu diesem Punkt kommt der von mir angenommene<br />
Dualismus zum Ausdruck. Zu beachten allerdings ist, daß in all diesen<br />
Exempeln eine mehr oder weniger strikte Trennung zwischen Verstand auf der<br />
einen, und Gefühl auf der anderen Seite vorausgesetzt wird. Diese Sichtweise<br />
gilt es ab hier zu überwinden, und auf eine Wechselwirkung der beiden<br />
Elemente hinzuarbeiten.<br />
89
Hinweise für die Überwindung der traditionellen Sichtweise bietet das<br />
Forschungsprogramm der Neurowissenschaften (vgl. Abs. 1.5 idA). Die<br />
Erkenntnisse auf dem Gebiet der Neurowissenschaft lassen, wie ich meine,<br />
sowohl eine Rechfertigung für die vorerst verfolgte Zweiteilung, als auch für<br />
deren Überwindung zu. Neurowissenschaftler unterscheiden einerseits zwischen<br />
kognitiv-exekutiven und affektiv-emotionalen Prozessen, um andererseits in<br />
einem nächsten Schritt die beiden miteinander in Kommunikation zu setzen.<br />
Der doppelte Dualismus, der durch die Ergänzung mit kontrollierten und<br />
automatischen Prozessen generiert wird, bildet schließlich weitere<br />
Entwicklungsmöglichkeiten für entsprechende Modelle, die hier vorerst nur<br />
angedeutet werden können.<br />
3.4 Dritte Annäherung – Kognition, Affekt und Emotion<br />
Der in der letzten Annäherung skizzierte Dualismus findet, in dem hier<br />
verfolgten Ansatz, seine Entsprechung in Form des kognitiv-exekutiven und<br />
affektiv-emotionalen Systems. Die besondere Rolle dieser beiden Subsysteme,<br />
soll anhand ihrer Ausprägungen in Form von Kognition, Handlung und<br />
Willensstärke, beziehungsweise Affekt und Emotion verdeutlicht werden. 89<br />
Entsprechend einer dem menschlichen Verstand, der sich als Herr im eigenen<br />
Haus sieht zuwiderlaufenden Annahme, gehe ich davon aus, daß Affekte und<br />
Emotionen in der Regel der Kognition vorangehen (vgl. z.B. Loewenstein und<br />
O’Donoghue, 2004, S. 11f). 90<br />
89 Die Begriffe Affekt und Emotion werden sowohl im Deutschen, wie auch im Englischen häufig<br />
synonym gebraucht, trotzdem möchte ich für die hier vorliegende Arbeit eine Differenzierung<br />
vornehmen. Als „Affekte“ definiere ich ursprüngliche Triebbedürfnisse, die einer unmittelbaren<br />
Befriedigung bedürfen. Affekte treten in der Regel unbewußt in Erscheinung, können aber durch<br />
Übung kontrollierbar werden. Zu ihnen zählen Hunger und Durst, das Bedürfnis nach Schlaf,<br />
Wärmeregulierung und Sex, des weiteren Aggression und Wut, sowie Schmerz und das Bedürfnis<br />
nach sozialen Kontakten. Unter „Emotionen“ verstehe ich bewußte, wie unbewußte Erlebniszustände,<br />
die durch positive oder negative Erfahrungen in stärkerem Maße als bei Affekten veränderbar sind.<br />
Zu den Emotionen zählen Scham, Furcht und Angst, weiters Freude und Glück, sowie Verachtung<br />
und Ekel und schließlich Neugierde, Hoffnung, Enttäuschung und Erwartung (vgl. Roth, 2003, S.<br />
292f).<br />
90 “[A]ffective reactions tend to occur first, temporally, with deliberation typically playing a<br />
secondary, corrective role” (Loewenstein und O`Donoghue, 2004, S. 11)<br />
90
3.4.1 Affekte und Emotionen<br />
Wie in der Kritik zur Hyperbolischen Diskontierung festgehalten (vgl. Abs. 2.5<br />
idA.), ist eine ihrer zentralen Schwächen, in Fragen der Diskontierung nicht<br />
zwischen verschiedenen Arten von Gütern unterscheiden zu können. Die Frage<br />
warum zum Beispiel gewisse Arten von Gütern mit dem Phänomene der<br />
Impulsivität in Verbindung gebracht werden, andere aber nicht, bleibt<br />
ungeklärt. Loewenstein (1996) nähert sich dieser Fragestellung und weißt<br />
darauf hin, daß das Phänomen der Impulsivität beim Menschen mit visceral<br />
factors, das sind Affekte und unmittelbar erfahrene oder erwartete Emotionen<br />
(vgl. auch Loewenstein und Lerner, 2003), in Verbindung gebracht werden<br />
kann. 91 So zeigen Menschen besonders dann impulsives oder ein auf<br />
kurzfristige Ziele gerichtetes Verhalten, wenn sie in hohem Maße hungrig,<br />
durstig oder sexuell erregt, beziehungsweise in hohem Maß emotional<br />
beeinflußt sind. Diese intensiven affektiven und emotionalen Stadien führen,<br />
nach Meinung von Loewenstein, zu Verhaltensweisen, die dem Selbstinteresse<br />
vollkommen zuwiderlaufen können, und daß obwohl sich die Betroffenen ihres<br />
Verhaltens oft völlig bewußt sind (vgl. Loewenstein, 1996, S. 272). Fehlen<br />
diese Erregungen, oder sind sie von geringer Intensität ist es dem Individuum<br />
meist möglich völlig objektiv, daß heißt rational zwischen langfristigen und<br />
kurzfristigen Zielen zu wählen. In diesen Fällen können Emotionen oft der<br />
Kognition hilfreich zur Seite stehen.<br />
91 Loewenstein (1996, S. 272) geht in seiner Arbeit von zwei Prämissen aus: „First, immediately<br />
experienced visceral factors have a disproportionate effect on behavior and to ‚crowd out’ virtually<br />
all goals other than that of mitigating the visceral factor. Second, people underweigh, or even ignore<br />
visceral factors that they will experience in the future, have experienced in the past, or that are<br />
experienced by other people.” Während Prämisse Eins eine Basis für das hier verfolgte Thema des<br />
impulsiven Verhaltens bietet, stellt die zweite Voraussetzung überwiegend einen Vorgriff auf das<br />
Thema der Selbstkontrolle dar. Die Schwierigkeit ein geeignetes Mittel zur Selbstkontrolle zu<br />
implementieren hängt nicht zuletzt davon ab, sich eine adäquate Vorstellung oder mentale<br />
Repräsentation des bereits Geschehene oder künftig zu Erwartenden und der damit verbundenen<br />
Stadien von Affekt und Emotion zu machen. Herausragendes Beispiel in diesem Zusammenhang ist<br />
das Thema der Sucht. Im nüchternen Zustand oder mit gegebener zeitlicher Entfernung werden akute<br />
Suchtmuster unterschätzt oder vollkommen ignoriert (vgl. ebd. S. 278 und 285, sowie Präpositionen<br />
5, 6, und 7 S. 281 und 285).<br />
91
Für die Hyperbolische Diskontierung ist darüber hinaus, wie gezeigt<br />
wurde, alleinig die zeitliche Nähe Auslöser für impulsives Verhalten. Diese<br />
Annahme ist in einer umfassenden Sichtweise intertemporaler <strong>Entscheidung</strong>en<br />
um die Faktoren körperliche und sinnliche Nähe zum begehrten Objekt zu<br />
ergänzen (vgl. Hoch und Loewenstein, 1991). Ihren Ausdruck findet diese<br />
Ergänzung im spezifischen Einfluß dieser Arten von Nähe (zeitlich, körperlich<br />
und sinnlich) auf Affekte und Emotionen, die ihrerseits wieder in ein<br />
Wechselspiel mit der Kognition treten.<br />
Affekte, oder ursprüngliche Triebbedürfnisse, sind unser evolutionäres<br />
Erbe. In Hinsicht auf die Affekte unterscheidet sich der Mensch vorderhand<br />
nicht vom Tier. 92 Affekte, wie Hunger und Durst oder die sexuelle Erregung<br />
spielen eine wesentliche Rolle in der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung und<br />
dienen gemeinhin, als eine Erklärung für Impulsivität und aller Arten von<br />
irrationalem Verhalten. Die Auslösung von Affekten hängt neben der inneren<br />
Disposition, aber auch von einer Vielzahl anderer Einflüsse ab. Zu ihnen zählen<br />
die vorhin angesprochenen Arten von Nähe, die als Umweltstimuli wirksam<br />
werden, oder auch die zeitliche Distanz zur letztmaligen Befriedigung 93 . Ihre<br />
Rolle im <strong>Entscheidung</strong>sprozeß wird im Zusammenhang mit der Rolle von<br />
Emotionen im Anschluß aufgezeigt.<br />
Emotionen, wie zum Beispiel Freude, Furcht oder Scham (vgl. Elster, 1996 und<br />
1998; siehe auch Fußnote 88 ) sind zum Teil unbewußt, aber auch bewußt in<br />
Erscheinung tretende mentale Erlebniszustände, beziehungsweise die<br />
Veranlagung für das Eintreten dieser Zustände. Sie werden mit physiologischer<br />
Erregung in Verbindung gebracht, charakterisiert durch hormonelle<br />
Veränderungen und Veränderungen im vegetativen Nervensystem. Ihre<br />
Auslösung hängt daneben von der inneren Bereitschaft, in Form von<br />
konstruktivistischen Prozessen in Verbindung mit situativen Faktoren ab. Sie<br />
sind vorsätzlich, daß heißt sie haben in der Regel ein Zielobjekt auf das sie<br />
gerichtet sind, sei es ein Mensch oder ein Zustand. Emotionen besitzen eine<br />
92 Die vielen möglichen Strategien, die der Mensch im Laufe der Zeit entwickelt hat, um diese<br />
ursprünglichen Triebe kontrollierbar zu machen sind Thema der Selbstkontrolle (siehe Abs. 4 idA.)<br />
93 Vgl. Frederick, Loewenstein und O’Donoghue (2002, S. 357) bezüglich der Annahme der<br />
Konsumationsunabhängigkeit im DU-Modell.<br />
92
kognitive Vorstufe, sie werden durch Glauben ausgelöst. Sie haben positive<br />
oder negative Valenz und können entlang einer Freude-Schmerz Skala<br />
abgetragen werden, mit einem neutralen Nullpunkt emotionaler Indifferenz.<br />
Beispielsweise geht hohe Erregung in der Regel mit hoher Valenz einher. Die<br />
meisten Emotionen werden mit einer charakteristischen Aktionstendenz<br />
verbunden, gekennzeichnet durch den Impuls. Die Aktionstendenz der Scham<br />
zum Beispiel ist das sich Verstecken, daß der Angst und vor Freude der Tanz.<br />
Emotionen werden ebenfalls mit einem sichtbaren physiologischen Ausdruck<br />
verbunden - man wird rot, oder fahl, lacht oder fletscht die Zähne. 94<br />
Während Affekte und Emotionen seit jeher den negativen Ruf einer gewissen<br />
Irrationalität genossen, den es galt durch Verstand und Vernunft zu überwinden,<br />
zeigt die moderne sozio-kognitive, wie auch neurobiologische Forschung,<br />
ebenso die positiven Seiten, die ihnen innewohnen. Ein Entscheiden ohne die<br />
Beteiligung von Emotionen kann, so zeigt zum Beispiel ein Bericht von<br />
Damasio (vgl. Elster, 1998, S. 61; siehe auch Roth, 2003, S. 283f) über einen<br />
Patienten mit Läsion des emotionalen Gehirns, zu suboptimalen <strong>Entscheidung</strong>en<br />
oder infiniten <strong>Entscheidung</strong>sprozessen führen. Affekte und Emotionen werden<br />
daher nicht mehr nur als Quelle von Problemen der Selbstkontrolle und als dem<br />
Selbstinteresse zuwiderlaufende Instanzen, sondern als etwas, daß entscheidend<br />
zur Güte der zu treffenden Wahl beitragen kann angesehen (vgl. Elster, 1998, S.<br />
59–63)<br />
Die Rolle von Affekten und Emotionen im <strong>Entscheidung</strong>sprozeß wird vor allem<br />
durch ihre Intensität bestimmt, die ihrerseits wiederum teilweise auf den<br />
angesprochenen Arten von Nähe beruht (vgl. Loewenstein, 1996, S. 274–276).<br />
Auf geringen oder mäßigen Intensitätsniveau nehmen sie eine beratende<br />
Funktion ein. So befähigen sie uns nicht nur dazu ein unendliches Verschieben<br />
rationaler <strong>Entscheidung</strong> zu verhindern, sondern können in gewissen Fällen<br />
tatsächlich zu einer optimalen <strong>Entscheidung</strong> beitragen. In diesen Formen treten<br />
94 Für eine Diskussion inwieweit Emotionen rational verhindert oder hervorgerufen werden können<br />
siehe Elster (1998, S. 51–59).<br />
93
sie als Somatic-markers oder Tie-breakers in Erscheinung. 95 In beiden Fällen<br />
wird angenommen, daß <strong>Entscheidung</strong>en, die von Emotionen und Kognition<br />
zusammen gefällt werden, besser sind, als wenn sie vom Verstand allein<br />
getroffen würden (vgl. z.B. Elster, 1998, S. 59–63).<br />
Mit zunehmender Intensität, nimmt aber auch der Einfluß auf das<br />
Verhalten zu. Auf ausreichendem Niveau können Emotionen tatsächlich<br />
kognitive Prozesse und überlegtes Entscheiden überwältigen. Unter dem<br />
Einfluß dieser intensiven Emotionen kommt es nicht selten vor, daß Menschen<br />
vollkommen außer Kontrolle geraten und gegen ihre eigenen Interessen<br />
handeln, oder in tragischen Fällen völlig gelähmt sich der Situation ergeben<br />
(vgl. Loewenstein und Lerner, 2003, S. 627).<br />
Unmittelbar erfahrene Emotionen (vgl. ebd., S. 626-633) können sowohl einen<br />
direkten, wie auch indirekten Einfluß auf <strong>Entscheidung</strong>en nehmen. Sie können<br />
etwa die Aufmerksamkeit auf wichtige Situationen lenken, oder moralische und<br />
ästhetische Bewertung liefern, die der Kognition nicht zugänglich sind. Sie<br />
können ebenfalls die vielfältigen Abarten von Nähe, die aus kognitiver Sicht<br />
keine Rolle spielen dürften, in den <strong>Entscheidung</strong>sprozeß mit einbinden.<br />
Der direkte Einfluß von Emotionen kommt vor allem in Form von so<br />
genannten Aktionstendenzen zum tragen. Diese Aktionstendenzen werden mit<br />
spezifischen Emotionen und deren Valenz assoziiert und stellen mitunter eine<br />
Motivation für die Implementierung einer einmal gewählte Aktionen dar (vgl.<br />
auch Elster, 1998).<br />
Indirekt beeinflußt durch Emotionen wird das <strong>Entscheidung</strong>sverhalten<br />
durch Veränderungen in der mentalen Repräsentation des zukünftig zu<br />
Erwartenden, daß sind die bei der <strong>Entscheidung</strong> gemachten Vorstellung über die<br />
Zukunft. Weiters wird das Verhalten beeinflußt durch Veränderungen in der<br />
selektiven Informationsverarbeitung und Veränderungen in der Tiefe und<br />
Qualität der Prozessierung.<br />
95 Vgl. Elster (1998, S. 1996): “[I]n order to make up our minds in largely indeterminate situations we<br />
use somatic markers (gut feelings) that are not available to the emotionally disabled, who for that<br />
reason tend to procrastinate indefinitely.”<br />
94
3.4.2 Kognition, Handlung und Willensstärke<br />
Denken gilt als Krone menschlicher Fähigkeiten. Es ist in traditioneller<br />
Sicht identisch mit dem Besitz von Verstand und Vernunft und stellt<br />
damit dasjenige Merkmal dar, welches uns neben der Sprache am<br />
eindeutigsten von den Tieren unterscheidet (Roth, 2003, S. 177).<br />
In einem rationalen Verständnis sind Wahrnehmung, Denken und Vorstellung<br />
essentiell und dienen als Grundlage für die Planung, Ausführung und Kontrolle<br />
von Handlungen, als auch für abwägendes Entscheiden zwischen<br />
Handlungsalternativen. 96 Die kontrollierten kognitiv-exekutiven Funktionen, die<br />
diese Leistung zu vollbringen haben, sind aber aufgrund ihres immensen<br />
Energieumsatzes und der Enge des Arbeitsgedächtnisses (vgl. Roth; 2003, S.<br />
158f) auch eine begrenzte Ressource. Viele, wenn nicht die meisten<br />
Handlungen und <strong>Entscheidung</strong>en laufen daher völlig automatisch, in Form von<br />
Routinen oder Heuristiken ab (vgl. Abs. 1.5.1 idA.). 97<br />
Die Hauptaufgabe der Kognition in intertemporalen<br />
<strong>Entscheidung</strong>sprozeßen ist die mentale Repräsentation des in der Zukunft<br />
liegenden Zieles. Diese Aufgabe wird erschwert durch den Umstand, daß die<br />
unmittelbar verfügbare Option den Vorteil der Salienz genießt. Die zukünftige<br />
Option kann damit nur dann konkurrieren, wenn sich der Mensch ein genaue<br />
Vorstellung oder Bild von ihr machen kann. Variationen in der Güte der<br />
Vorstellung können einen substantiellen Einfluß auf die Wirksamkeit im Kampf<br />
mit der unmittelbaren Versuchung haben (vgl. Baumeister und Vohs, 2003, S.<br />
210). Allein die genaueste Vorstellung hilft wenig, wenn der Glaube fehlt. Der<br />
Glaube und die Hoffnung das Ziel zu erreichen sind daher ebenso von<br />
Bedeutung, wie die weiter unten dargestellte Willensstärke.<br />
96 Zu den wissenschaftlichen Forschungsgebieten die sich explizit den Fragen von Kognition,<br />
Handlung und Wille widmen, zählen die Kognitive Psychologie, sowie die Handlungs- und<br />
Volitionspsychologie. Für eine Einführung in diese Themengebiete siehe z.B. Fiedler und Bless<br />
(2002) oder Roth (2003).<br />
97 Für diese Annäherung muß eine Analyse kontrollierter Prozesse als hinreichend angenommen<br />
werden. Diese entspricht weitestgehend der Annahme der strikten Rationalität, die dem<br />
neoklassischen Paradigma zu Grunde liegt<br />
95
Die Hauptaufgabe des exekutiven Systems ist die Organisation der<br />
<strong>Entscheidung</strong>shandlung in Hinsicht auf das repräsentierte Ziel, das heißt die<br />
Planung und Durchführung des Verhaltens auf das gerichtete Ziel muß von<br />
diesem realisiert werden. Die Verfolgung eines in der Zukunft liegenden Ziels<br />
ist jedoch mehr als die einmalige <strong>Entscheidung</strong>. Vielmehr ist eine Serie von<br />
<strong>Entscheidung</strong>en von Nöten, die aufeinander aufbauen, um so die lange Frist<br />
überbrücken zu können. Auch hier spielt der Glaube, vor allem der an sich<br />
selbst, eine entscheidende Rolle, wie Baumeister und Vohs (ebd., S. 211)<br />
notieren:<br />
Each may require some faith that one will have the consistency to make<br />
all the others.<br />
Die Willensstärke (vgl. Baumeister und Vohs, 2003) gepaart mit dem Glauben<br />
bildet schließlich das Bindeglied zwischen Vorstellung und Handlung. 98<br />
Willensstärke ist unabdingbar sowohl für die Durchsetzung einmal getroffener<br />
<strong>Entscheidung</strong>en, als auch für die dauerhafte Verfolgung derselben, sowohl<br />
gegen innere, wie auch äußere Widerstände. In dieser Form dient sie als<br />
herausragendes Mittel der Impuls- und Selbstkontrolle. Baumeister und Vohs<br />
(ebd., S. 201) schreiben zur Thematik der Impulskontrolle:<br />
The capacity of the human self to override its initial responses is one of<br />
the most important, powerful, and adaptive aspects of human nature. The<br />
immense flexibility and variety of human behavior can be directly<br />
attributed to people’s ability to alter their responses – the essence of self-<br />
regulation.<br />
Zu den generellen Aufgaben der Willensstärke im intertemporalen<br />
<strong>Entscheidung</strong>sprozeß zählen die Emotions- und Affektregulierung, sowie die<br />
Stärkung des physischen und psychischen Durchhaltevermögens. Im speziellen<br />
dient die Willensstärke dazu den aktuell auftretenden Impuls zu unterdrücken.<br />
Sie dient ebenfalls der Aufgabe, sich über akute Verschiebungstendenzen<br />
98 Für eine ausführliche Darstellung der Erkenntnisse der Volitionspsychologie siehe Roth (2003, S.<br />
472–493). Für die grundsätzliche Frage nach dem freien Willen des Menschen und der aktuell<br />
stattfindenden Diskussion diesbezüglich siehe ebenfalls Roth (S. 494-544).<br />
96
hinwegzusetzen und schleichende Suchttendenzen zu unterdrücken. Sie dient<br />
generell dem Bestreben Versuchung aller Art zu widerstehen.<br />
Ähnlich den begrenzten Ressourcen des kognitiv-exekutiven Systems<br />
ist auch die Leistungsfähigkeit der Willensstärke limitiert. In einer Reihe von<br />
Experimenten (vgl. ebd., S. 204–206) konnte gezeigt werden, daß sie sich bei<br />
dauerhafter Beanspruchung (meist reicht schon eine Wiederholung) 99 , oder bei<br />
gleichzeitiger Aktivierung anderer kognitiver Funktionen 100 allmählich<br />
erschöpft. Die Erschöpfung dieser Stärke führt auch zu einer Erschöpfung des<br />
Selbst, beziehungsweise der Selbst-Regulierung. Ihren Ausdruck findet diese<br />
zunehmende Schwäche in einer verstärkten Gegenwartskonzentration, einer<br />
Zentrierung des Geistes auf das Unmittelbare, ähnlich dem Tunnelblick.<br />
Zukünftiges verliert seine Deutlichkeit, die Salienz des Unmittelbaren gewinnt<br />
die Oberhand. Langfristige Ziele werden der kurzfristigen<br />
Bedürfnisbefriedigung geopfert. 101 Die Analogie zu einem müde werdenden<br />
Muskel ist gegeben. Allein so wie ein Muskel sich trainieren läßt und an<br />
Ausdauer gewinnt, läßt sich auch die Willenstärke, wie eine Reihe weiterer<br />
Experimente (vgl. S. 206) zeigte, gezielt fördern. 102<br />
3.5 Vierte Annäherung – Sozio-kognitive und neuroökonomische<br />
Fundierung<br />
Die nun folgende vierte Annäherung ist dazu gedacht, die bisher verfolgte<br />
Sichtweise empirisch zu fundieren. Dies geschieht einerseits über ein sozio-<br />
kognitives Modell intertemporaler <strong>Entscheidung</strong>en, und andererseits über<br />
Forschungsergebnisse aus dem Bereich der ökonomisch orientierten<br />
99 „[P]erforming a first act of self-regulation weakened people’s ability to regulate themselves<br />
subsequently” (Baumeister und Vohs, 2004, S. 203).<br />
100 Man spricht in diesem Zusammenhang von Streß, oder Streßfaktoren.<br />
101 Entsprechendes gilt für akute Suchtstadien, wie der Alkoholintoxikation. Auch hier verliert die<br />
Zukunft vollkommen an Bedeutung, nur das hier und jetzt ist von Bedeutung.<br />
102 „[R]egular exertion of self-regulation can strengthen the individual’s capacity“ (Baumeister und<br />
Vohs, 2004, S. 206).<br />
97
Neurowissenschaften. Beiden gemein ist sowohl die systemische Betrachtung,<br />
als auch die dualistische Auffassung des menschlichen Selbst.<br />
3.5.1 Hot-affective and Cool-deliberative Model<br />
Die psychologischen Mechanismen, die der Verfolgung langfristiger<br />
Zielerreichung, beziehungsweise dem Überkommen unmittelbarer<br />
Bedürfnisbefriedigung zugrunde liegen, operationalisieren Metcalfe und<br />
Mischel (vgl. Mischel, Ayduk und Mendoza-Danton, 2003) in ihrem Modell<br />
eines „Hot-Cold-System“. Das Modell schlägt eine Brücke zwischen der sozial<br />
psychologischen Perspektive, mit dem Hauptaugenmerk auf sozio-kognitiven<br />
Prozessen und individuellen Unterschieden der Selbstregulation, auf der einen<br />
Seite, und kognitiven Annäherungen, die Aufmerksamkeitsprozesse,<br />
Gedächtnisfunktionen und Mechanismen der Informationsverarbeitung<br />
untersuchen, auf der anderen Seite. Ihrem Modell, das sie anhand von Studien<br />
an Kleinkindern entwickelten, zentral ist das Konzept der Willensstärke, als<br />
Ausdruck der Motivation auf Zukünftiges warten zu können. Das „Hot-Cool<br />
Modell“ bietet, so meinen die Autoren, einen heuristischen Rahmen um<br />
intertemporale <strong>Entscheidung</strong>en zu verstehen. Das Hot-Cool Modell erlaubt, so<br />
argumentieren sie weiter, eine Analyse der Prozesse, die für oder entgegen eine<br />
erfolgreiche Anwendung der Willensstärke im Kontext intertemporaler<br />
<strong>Entscheidung</strong>en arbeiten, und sagt diese Erkenntnisse auf theoretischer Basis<br />
voraus.<br />
Gedanklich aufgebaut ist das Modell auf einem parallel prozessierenden<br />
neuronalen Netzwerk, daß in der Sprache des Konnektionismus 103 formuliert<br />
wird. Das heiße affektive System arbeitet dabei nach einem hier-und-jetzt<br />
Prinzip, daß vor allem auf biologisch signifikant-affektiven Auslösern beruht.<br />
Dieses System ist spezialisiert auf schnelle, emotionale Prozesse, es ist einfach<br />
und reagiert reflexiv auf Stimuli, wie zum Beispiel bei Vermeidungs- oder<br />
Fluchtverhalten Das kühle kognitive System andererseits ist gekennzeichnet<br />
103 Der Konnektionismus ist ein Problemlösungsansatz in der Kybernetik, der ein System als<br />
Wechselwirkungen vieler vernetzter, einfacher Einheiten versteht.<br />
98
von Überlegtheit und Planung, es verfolgt dabei eine langfristige Perspektive.<br />
Es ist emotional neutral, kognitiv, komplex und bedächtig, dabei generiert es<br />
rationales, reflektives, strategisches und geplantes Verhalten.<br />
Das Hot-Cool Modell nimmt nun an, daß Kognition und Affekt in einem<br />
kontinuierlichen Wechselspiel, sowohl phänomenologische Erfahrungen, wie<br />
auch Verhaltensweisen produzieren können. Dabei können sie sich kreuzweise<br />
beeinflussen, sodaß zum Beispiel das kühle System die Möglichkeit hat das<br />
heiße System zu regulieren.<br />
In der hier bedeutenden Frage der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>en und<br />
Möglichkeiten der Impulskontrolle kommt dem Konzept der Willenstärke eine<br />
entscheidende Rolle zu. Willenstärke, als Repräsentation des kühlen Systems,<br />
ist eine Funktion des Alters und der kognitiven Belastung. Es wird<br />
angenommen, daß das heiße System bereits ab der Geburt aktiv ist, während<br />
sich das kühle System erst im Laufe der Zeit bildet. Das heißt, daß kleine<br />
Kinder schwer, wenn überhaupt, bestimmten Verlockungen widerstehen<br />
können. Erst die Erfahrung, gekennzeichnet durch den menschlichen<br />
Lernprozeß, versetz es in die Lage Verzicht zu üben. Der zweite Faktor, die<br />
kognitive Belastung, oder umgangssprachlich der Streß, beeinflußt die beiden<br />
Systeme unterschiedlich. Während die Aktivierung des heißen Systems unter<br />
Streß ansteigt, ist die Beziehung zwischen Streß und der Aktivierung des<br />
kühlen Systems kurvlinear, sie steigt bei mäßigem Grad an, schaltet jedoch bei<br />
hohem Grad vollkommen ab. Das heißt, daß das kühle System bei einem<br />
geringen Streßniveau die Reaktion des heißen Systems modulieren oder<br />
verhindern kann, während das heiße System bei hohem Streß umgekehrt das<br />
kühle System dominiert. Das entspricht genau der Sichtweise von Loewenstein<br />
(siehe Abs. 3.1.3.1 idA.), der den Unterschied in der Intensität des Affektes<br />
(hier eine hohe Aktivierung des heißen Systems) für Impulsivverhalten<br />
verantwortlich macht.<br />
Die Herauforderung, die im Verzicht auf die unmittelbare<br />
Bedürfnisbefriedigung zugunsten der Zukunft liegt, ist nach dieser Sichtweise,<br />
die Aktivierung des heißen Systems durch das kühle System zu verhindern.<br />
Verschiedene Möglichkeiten der Selbstregulierung und Selbstkontrolle werden<br />
daher abschließend in diesem Ansatz propagiert. Dabei handelt es sich erstens<br />
um die Vorstellung der künftigen Belohnung in Form einer mentalen<br />
99
Repräsentation, zweitens um Formen der Ablenkung und drittens um eine<br />
vollkommene Abstraktion von den akuten heißen Stimuli.<br />
3.5.2 Neuronale Systeme im intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sprozeß<br />
McClure, Laibson, Loewenstein und Cohen (2004) fanden in ihrer<br />
Untersuchung Hinweise für die Beteiligung zweier unterscheidbarer neuronaler<br />
Systeme im intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sprozeß (vgl. auch Abs. 1.5 idA.).<br />
Unter Verwendung der Methode funktioneller Bildgebung (fMRI; siehe Abs.<br />
1.5.1 idA. ) maßen sie die Gehirnaktivität von Versuchsteilnehmern, wenn diese<br />
in einer Serie von intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>en, zwischen kurzfristig und<br />
langfristig verfügbaren Geldbeträgen zu wählen hatten. Ihre Analyse der<br />
Ergebnisse zeigt, daß in <strong>Entscheidung</strong>en in denen kurzfristig verfügbare<br />
Beträge involviert sind, präferentiell Teile des limbischen Systems aktiviert<br />
werden. 104 Diese Strukturen werden übereinstimmend mit impulsiven Verhalten<br />
in Verbindung gebracht. Hinsichtlich der Funktion des limbischen Systems im<br />
intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sprozeß schreiben die Autoren (ebd., S. 506):<br />
Our results help to explain why many factors other than temporal<br />
proximity, such as the sight or smell or touch of a desired object, are<br />
associated with impulsive behavior. If impatient behavior is driven by<br />
limbic activation, it follows that any factor that produces such activation<br />
may have effects similar to that of immediacy.<br />
Im Gegensatz zum limbischen System werden Bereiche des lateralen<br />
präfrontalen und des hinteren parietalen Cortex konstant aktiviert, wenn immer<br />
intertemporale <strong>Entscheidung</strong>en gefällt werden, ungeachtet des zeitlichen<br />
Aspektes. Diese Bereiche werden gemeinhin mit höheren bewußten und<br />
104 Das limbische System ist der Ort der Entstehung von Affekten, von positiven und negativen<br />
Emotionen und der Kontrolle vegetativer Funktionen. Zu den zentralen Elementen des limbischen<br />
Systems zählt die Amygdala, die als Speicher vergangener erfahrender Emotionen angesehen werden<br />
kann, und die im aktuellen <strong>Entscheidung</strong>sprozeß diese für die gegebene Situation aufbereitet. Eine<br />
besondere Rolle kommt ihr in der Konstellation Angst-Fluchtverhalten zu. (vgl. Abs. 1.5 idA.; vgl.<br />
auch Roth, 2003, S. 256–284, für eine ausführliche Darstellung des limbisch-emotionalen Gehirns).<br />
100
kognitiv-exekutiven Prozessen in Verbindung gesetzt. 105 Diese Prozesse sind<br />
vor allem an der quantitativen Analyse ökonomisch relevanter Optionen und der<br />
Bewertung möglicher zukünftiger Alternativen beteiligt. Die Intensität ihrer<br />
Aktivierung ermöglicht Rückschlüsse auf einen möglichen Verzicht zugunsten<br />
der Zukunft.<br />
Manuck, Flory, Muldoon und Ferrell (2003) bereiten in ihrer Arbeit zur<br />
Neurobiologie der intertemporalen <strong>Entscheidung</strong> vor allem diejenigen Bereiche<br />
und Funktionen des Gehirns auf, die für die Impuls- und Selbstkontrolle von<br />
Bedeutung sind. Die grundsätzlichen Erkenntnisse in Hinsicht auf zwei<br />
neuronale Systeme können von ihnen bestätigt werden. Auch sie weisen dabei<br />
auf die diffizile Interaktionen zwischen präfrontalen Cortex und limbischen<br />
System hin. In diesem Zusammenhang sprechen sie von koordinierten<br />
Schaltungen zwischen kortikalen Prozessen, die von kontrollierender Natur sind<br />
und subkortikalen Strukturen, die die Aspekte von Motivation und Emotion<br />
vermitteln.<br />
Ein Hauptaugenmerk legen sie auf die Beteiligung des Neurotransmitter<br />
Serotonin, der tief in die Regulierung impulsiven Verhaltens involviert ist. Er<br />
spielt daher, nach ihrer Ansicht, eine zentrale Rolle in zeitlich abhängigen<br />
<strong>Entscheidung</strong>ssituationen. Serotonin übt dabei eine auf das menschliche<br />
Verhalten stabilisierende Wirkung aus. Eine reduzierte serotonerge<br />
Neurotransmission verstärkt die Verfolgung kurzfristiger Ziele und<br />
beeinträchtigt die Regulierung des Verhaltens, ein Umstand der sich<br />
entsprechend negativ auf die Impulskontrolle auswirkt. Zusammenfassend<br />
105 Der präfrontale Cortex hat ganz allgemein mit zeitlich-räumlicher Strukturierung von<br />
Sinneswahrnehmungen und entsprechenden Gedächtnisleistungen zu tun, und zwar bei der Planung<br />
und Vorbereitung von Handlungen sowie beim Lösen von Problemen und in diesem Zusammenhang<br />
mit Funktionen des Erinnerns, Vorstellens und Denkens (vgl. Roth, 2003, S. 147–152). Erste<br />
Rückschlüsse auf die Rolle des präfrontalen Cortexes im intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sprozeß<br />
lieferte die Geschichte von Phineas Gage (siehe z.B. Manuck, Flory, Muldoon und Ferrell, 2003,<br />
S.143.): „Nach einer Läsion des präfrontalen Cortexes wurde aus dem zuvor maßvollen, überlegten<br />
und fleißigen, ein ungeduldiger, impulsiver und launenhafter Mann.“ Daraus kann geschlossen<br />
werden, daß dem präfrontalen Cortex die Funktion eines Modulators in der Impulskontrolle<br />
zukommt, und daß er als Sitz der Selbst-Kontrolle anzusehen ist. Eine der zentralen Aufgaben des<br />
parietalen Cortex ist die Verarbeitung symbolisch-analytischer Informationen, etwa Rechnen,<br />
Arithmetik und die Deutung von Abbildungen und Symbolen (vgl. Roth, 2003, 142–145).<br />
101
würdigen Manuck, Flory, Muldoon und Ferrell (ebd, S. 153) die Rolle von<br />
Serotonin in Bezug auf das menschliche Verhalten demgemäß:<br />
„[P]ersons who exhibit low serotonergic activity are thought to have a<br />
diminished capacity to restrain impulses, a disinhibition of otherwise<br />
constrained behavior reflecting impaired learning, a disregard for future<br />
consequences, or insensitivity to cues for punishment.“<br />
3.6 Fünfte Annäherung – „Zwei-Systeme Modell des Verhaltens“<br />
Sinngemäß den dargestellten Annäherungen Zwei bis Vier, so meine ich,<br />
entwickelten Loewenstein und O’Donoghue (2004) ein „Zwei Systeme Modell<br />
des Verhaltens“. Das menschliche Verhalten ist in ihrem Modell das Ergebnis<br />
zweier, auf sich gegenseitig einwirkender Systeme. In ihrer Terminologie<br />
handelt es sich dabei um das Deliberative System, langfristig denkend und<br />
zielorientiert, und das Affective System, emotional und motivationstreibend. 106<br />
Dieses Modell stellt, soweit mir bekannt ist, die weitestgehende Annäherung<br />
des in dieser Arbeit verfolgten integrativen Ansatzes dar. Es berücksichtigt<br />
sowohl die duale Auffassung als auch die Interaktivität der beiden Subsysteme.<br />
Einzig die Auffassung als komplexes System, wie in Annäherung Eins<br />
entwickelt, das auf sich selbst Bezug nimmt und durch eine innere Zirkularität<br />
charakterisiert wird, fehlt. Dafür wird die Bedeutung äußerer Stimuli auf das<br />
Verhalten höher geschätzt.<br />
Ich werde im folgendem die grundlegende Struktur dieses Modells darstellen.<br />
Daran anschließend werde ich das Hauptaugenmerk auf den Umgang des<br />
Modells mit der Problematik der <strong>Entscheidung</strong>en über die Zeit konzentrieren.<br />
106 Die von ihnen verwendeten Termini umfassen weitestgehend die Funktionen des Kognitiv-<br />
exekutiven Systems und Affektiv-emotionalen Systems. Die Ausnahme stellt die, hier als zentral<br />
gesehene, verhaltensmotivierenden Funktion des Affective Systems dar.<br />
102
3.6.1 Annahmen und grundlegende Struktur des Zwei-Systeme Modells<br />
Abbildung 3-4 zeigt die graphische Repräsentation der Annahmen, wie sie von<br />
den Autoren getroffen wurden.<br />
Abbildung 3-4: Zwei-Systeme Modell menschlichen Verhaltens<br />
Stimuli<br />
Affective System<br />
Deliberative<br />
System<br />
Quelle: Loewenstein und O’Donoghue (2004, S. 8, Fig. 1): Menschliches<br />
Verhalten ist das Ergebnis zweier zueinander in Beziehung stehender<br />
Systeme, das von verschiedenen Stimuli ausgelöst wird.<br />
Die grundlegende Annahme des Zwei-Systeme Modells ist, daß menschliches<br />
Verhalten das Ergebnis zweier miteinander in Beziehung stehender Systeme,<br />
des „Affective Systems“ (AS) und des „Deliberative Systems“ (DS), ist. 107<br />
Diese beiden Systeme werden von externen oder internen Stimuli angeregt und<br />
erzeugen nach erfolgter Interaktion ein gewisses Verhalten. Es wird<br />
angenommen, daß jedes der beiden Systeme eine Zielfunktion besitzt. Weiters<br />
wird angenommen, daß keines der beiden Systeme die absolute Kontrolle über<br />
das Verhalten besitzt. Um die Interaktion der beiden Systeme zu formalisieren<br />
107 Für die folgende Darstellung verwende ich die, von mir gewählten, Abkürzungen „AS“ für das<br />
Affective System und entsprechend „DS“ für das Deliberative System.<br />
103<br />
Behavior
wird angenommen, daß das AS die ursprüngliche Kontrolle über das Verhalten<br />
innehat, während das DS die <strong>Entscheidung</strong>en des AS mittels kognitiver<br />
Anstrengung oder Willensstärke beeinflussen kann. Das DS wählt in Folge<br />
welches Verhalten ausgeführt werden soll, indem es die Wertigkeit seines<br />
Zieles mit den damit verbundenen Kosten der Anstrengung vergleicht.<br />
Das Modell endogenisiert, nach Meinung der Autoren, damit den<br />
relativen Einfluß der beiden Systeme im Wege von Faktoren, die die Kosten der<br />
Willensanstrengung beeinflussen und Faktoren, die die Ziele der beiden<br />
Systeme beeinflussen.<br />
Unter diesen Annahmen besonders zu beachten ist die Rolle des AS,<br />
beziehungsweise des Affektes, der hier sämtliche Emotionen mit einschließt<br />
(vgl. dagegen Abs. 3.1.3.1 idA.). Das zentrale Merkmal des Affektes, wie er<br />
von den Autoren gebraucht wird, liegt in dessen Rolle als Motivator, in Form<br />
einer Aktionstendenz für das ursprüngliche Verhalten. 108<br />
Das Verhalten, das durch die Wechselwirkung der beiden Systeme<br />
generiert wird, findet seine Auslösung in externen oder internen Stimuli. Der<br />
Einfluß der Stimuli operiert in beiden Systemen. So mag ein externer Stimulus<br />
das AS aktivieren, oder auch das DS. Tatsächlich aktivieren Stimuli meist beide<br />
Systeme. Solche bilateralen Einflüsse sind oft von komplementärer und<br />
beidseitig verstärkender Art. In manchen Fällen aber aktiviert ein Stimulus die<br />
beiden Systeme in konkurrierender Weise. Gerade diese Fälle sind es, die eine<br />
duale Prozeßperspektive von Vorteil sein lassen, meinen die Autoren. Der<br />
Einfluß eines externen Stimulus hängt von dessen spezifischer Nähe und von<br />
der Intensität, des darauf reagierenden Affektes ab. Dieser Prozeß läuft oft<br />
unbewußt ab. Das AS und das DS mögen darauf hin miteinander interagieren,<br />
wobei das AS meist im Vorteil ist und auch den ersten Zug besitzt. Das AS<br />
kann das DS bei <strong>Entscheidung</strong>en entweder unterstützen, oder setzt es außer<br />
Betrieb. Das DS wiederum erzeugt im AS Emotionen, versucht die Motivation<br />
jenes zu überschreiben oder auch es zu kontrollieren. Die beiden letzteren Fälle<br />
sind mit dem Aufbringen von Willensstärke verbunden.<br />
108 „All affects have ‚valence’ – they are either positive or negative – and many care ‚action<br />
tendencies’ – e.g., anger motivates us to aggress, pain to take steps to ease the pain, and fear to<br />
escape (or in some cases to freeze)” Loewenstein und O`Donoghue (2004, S. 8).<br />
104
3.6.2 Formalisierung des Modells<br />
Das Modell wird zuerst statisch formalisiert, daß heißt, ein Individuum trifft zu<br />
einem gewissen Zeitpunkt eine einzige <strong>Entscheidung</strong> (vgl. ebd., S. 14–23).<br />
Angenommen ein Individuum muß eine Option x aus einer Wahlmenge<br />
X wählen. Wenn es diese <strong>Entscheidung</strong> trifft, so wird weiter angenommen, ist<br />
es einem Vektor von Umweltreizen s ausgesetzt. Diese Stimuli können im<br />
Individuum affektive Zustände auslösen. Der Vektor affektiver Zustände, die<br />
durch den Vektor der Stimuli s ausgelöst werden, wird durch a( s ) beschrieben.<br />
Dieselben Stimuli können auch kognitive Zustände aktivieren. Der Vektor c( s )<br />
repräsentiert den Vektor kognitiver Zustände, die durch den Vektor der<br />
Umweltreize s ausgelöst werden.<br />
Das AS ist nun motiviert ein bestimmtes Verhalten zu veranlassen,<br />
dabei wird es vor allem von jenen Affektzuständen getrieben, die gerade<br />
aktiviert sind. Diese Motivation wird durch eine Motivationsfunktion M ( x, a )<br />
beschrieben. Wäre das affektive System vollkommen allein für das Verhalten<br />
verantwortlich, und der allgemeine Vektor affektiver Zustände wäre a , würde<br />
A<br />
das affektive System x ≡ arg max M ( x, a)<br />
wählen, wobei<br />
Optimum bezeichnet wird.<br />
x∈X 105<br />
A<br />
x als affektives<br />
Das DS evaluiert das Verhalten entsprechend einer langfristigen und<br />
zielorientierten Perspektive. Die Erwünschtheit einer Handlung wie sie vom<br />
DS wahrgenommen wird, wird durch eine Nutzenfunktion U ( x, c, a ) gefaßt.<br />
Diese Formulierung beschreibt das DS als beeinflußt sowohl von kognitiven als<br />
auch affektiven Zuständen. Wäre das DS vollkommen alleine für das Verhalten<br />
verantwortlich, und wären die allgemeinen Vektoren der kognitiven und<br />
D<br />
affektiven Zustände c und a , würde das DS x ≡ arg max M ( x, c, a)<br />
wählen,<br />
wobei D<br />
x als ‚deliberatives’ Optimum bezeichnet wird.<br />
Das Verhalten des Individuums ist nun, laut Annahme, bestimmt durch<br />
die Interaktion der beiden Systeme. Um die Interaktion zu formalisieren, wird<br />
angenommen, daß zuerst das AS im Besitz der Verhaltenskontrolle ist. Das DS<br />
kann die Wahl des AS jedoch durch die Beanspruchung kognitiver Leistungen,<br />
oder den Einsatz der Willenstärke beeinflussen. Um diese kognitive Leistung,<br />
x∈X
eziehungsweise die Willensstärke zu fassen, wird angenommen, daß um ein<br />
Verhalten<br />
M<br />
x ≠ x zu bewirken, das DS Anstrengungskosten aufbringen muß.<br />
Diese Anstrengungskosten werden durch Nutzeneinheiten in Form von<br />
A<br />
h( W , σ ) ∗[ M ( x , a) − M ( x, a)]<br />
repräsentiert. Diese Formulierung beschreibt<br />
folgenden Umstand: Je weiter weg das Verhalten vom affektiven Optimum<br />
A<br />
bewegt werden soll – daß heißt, je größer [ M ( x , a) − M ( x, a)]<br />
ist – desto mehr<br />
Willensstärke muß vom DS investiert werden. Der Skalarfaktor h( W , σ )<br />
repräsentiert dabei die gegenwärtigen Kosten des DS, um die Willensstärke zu<br />
mobilisieren – zum Beispiel: Je größer h( W , σ ) ist, desto mehr kognitive<br />
Leistung wird gebraucht, um eine gegebene Abweichung vom affektiven<br />
Optimum zu bewirken. Des weiteren wird angenommen, daß h( W , σ ) >0 für alle<br />
W und σ . Die Kosten der Willensstärke hängen dabei einerseits von der<br />
gegenwärtigen Kraft der Willensstärke der Person ab, die durch W beschrieben<br />
wird, und andererseits von anderen Faktoren, die das DS entweder<br />
unterminieren oder unterstützen, und werden mit σ bezeichnet. 109<br />
In der <strong>Entscheidung</strong> inwieweit das AS beeinflußt werden soll,<br />
vergleicht das DS nun die Erwünschtheit der Handlung (wie durch die<br />
Nutzenfunktion wiedergegeben) mit dem Aufwand für die Willensstärke, die<br />
gebraucht wird, um diese Handlung durchzuführen. Definition: Wenn der<br />
allgemeine Vektor der Umweltreize s ist, wird das DS jene Handlung x ∈ X<br />
wählen, die:<br />
≡ − σ ∗ − ,<br />
A<br />
(Formel 3-1) V ( x, s) U ( x, c( s), a( s)) h( W , ) [ M ( x , a( s)) M ( x, a( s))]<br />
maximiert.<br />
Diese hier wiedergegebene Formulierung ist motiviert durch die Evidenz, daß<br />
das AS die ursprüngliche Verhaltenskontrolle besitzt, und daß das DS in Folge<br />
Willensstärke aufbringen muß, um das Verhalten zu beeinflussen.<br />
Dieses hier präsentierte Modell stellt, nach Meinung der Autoren, in<br />
einem gewissen Sinn ein Principal-Agent Problem dar. Das DS (der Prinzipal)<br />
109<br />
Zu den spezifischen Annahmen, die den beiden Faktoren W und σ unterliegen siehe (ebd., S. 17–<br />
19).<br />
106
entscheidet welches Verhalten bewirkt werden soll. Die Bedingung hierfür ist,<br />
daß es dafür Kosten aufbringen muß, um das AS (der Agent) dazu zu bewegen,<br />
dieses Verhalten auch auszuführen. 110<br />
Welche Schlüsse können aus diesem Modell, nach Ansicht der Autoren, vorerst<br />
gezogen werden. Es bietet erstens vor allem einen konzeptuellen Rahmen, um<br />
die vielen beobachteten Anomalien (vgl. Abs. 2.3 idA.) greifbar zu machen. Die<br />
Standardmodelle, im speziellen das DU-Modell, können dabei als Spezialfälle<br />
betrachtet werden, in denen das DS die vollkommene Verhaltenskontrolle<br />
besitzt. Zweitens entspricht das Modell der bekannten Erfahrung des zuweilen<br />
gespaltenen Selbst (vgl. Abs. 3.1.2 idA.). Drittens läßt sich in einem solchen<br />
Modell darstellen, warum ein und derselbe Mensch in scheinbar gleichen<br />
Situationen zuweilen ein konträres Verhalten zeigt. Es hängt tatsächlich von<br />
dem relativen Einfluß der beiden Systeme ab, wobei das AS dann einen<br />
größeren Einfluß besitzt, wenn es durch die Nähe der Umweltreize stärker<br />
aktiviert wird, als das DS.<br />
3.6.3 <strong>Intertemporale</strong> <strong>Entscheidung</strong>en im Zwei-Systeme Modell<br />
Für die, in dieser Arbeit vorrangige Frage, der <strong>Entscheidung</strong>en über die Zeit<br />
mag das Modell folgendermaßen instrumentalisiert werden (ebd., S. 23-28).<br />
Dem Konzept der Zeitpräferenz bietet das Modell einen natürlichen<br />
Ausgangspunkt. Das AS wird vor allem von kurzfristigen Erträgen, sprich der<br />
unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung UB, angetrieben, während das DS sowohl<br />
110 Das Modell ist aber auch konsistent mit der Annahme, daß keines der beiden Systeme die<br />
D<br />
ursprüngliche Kontrolle über das Verhalten besitzt. Definition: Da U ( x , c( s), a( s )) nicht von der<br />
gewählten <strong>Entscheidung</strong> des Individuums x berührt ist, ist die Wahl von x um V ( x, s ) zu maximieren,<br />
D<br />
gleich der Wahl x in folgender Weise zu minimieren: [ U ( x , c( s), a( s)) − U ( x, c( s), a( s))]<br />
A<br />
+ h( W , σ ) ∗[ M ( x , a( s)) − M ( x, a( s))]<br />
. In dieser Interpretation bestimmt der Skalarfaktor h( W , σ ) das<br />
relative Gewicht der beiden Systeme. Nähert er sich dem Wert null, ist das DS vollkommen in<br />
Kontrolle des Verhaltens, wird er andererseits sehr groß besitzt das AS die Kontrolle. Das Modell<br />
generiert so ein Verhalten, das irgendwo zwischen dem affektiven und deliberativen Optimum liegt<br />
D A A D<br />
(entweder x ≥ x ≥ x oder x ≥ x ≥ x ) ; wo genau das Verhalten zu liegen kommt hängt von der<br />
relativen Stärke der beiden Systeme, wie sie in den Kosten der Willensstärke h( W , σ ) gefaßt sind, ab.<br />
107
kurzfristige, aber doch vor allem langfristige Erträge, in Form des langfristigen<br />
Wohlergehens LW, im Auge behält. Gegeben diesen Annahmen, arbeitet das<br />
Modell im statischen intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>sprozeß wie folgt: 111<br />
Angenommen eine Person steht vor der Wahl einer <strong>Entscheidung</strong> x , deren UB<br />
durch 1 ( ) z x und dessen LW durch z2 ( x ) beschrieben wird. Das kurzfristig<br />
denkende AS, so wird angenommen, ist allein am unmittelbaren Ertrag z1 ( x )<br />
interessiert. Seine Motivationsfunktion ist damit gegeben mit M ( x) = z1( x)<br />
. 112<br />
Das langfristig denkende DS bewertet beide Erträge mit gleichem Interesse.<br />
Seine Nutzenfunktion ist dementsprechend U ( x) = z1( x) + z2( x)<br />
. Gegeben diese<br />
beiden Funktionen, wählt die Person jene <strong>Entscheidung</strong> x , die:<br />
A<br />
V ( x) = [ z ( x) + z ( x)] − h∗[ z ( x ) − z ( x)]<br />
,<br />
(Formel 3-2) 1 2 1 1<br />
maximiert.<br />
Da das affektive Optimum für die <strong>Entscheidung</strong> der Person exogen ist, ist das<br />
gleichbedeutend mit der Maximierung von:<br />
(Formel 3-3) V% ( x) = z1( x) + [1/(1 + h)]* z2( x)<br />
.<br />
Es kann nun für dieses Zweiperiodenbeispiel gezeigt werden, daß das hier<br />
betrachtete Modell, da 1/(1 + h)<br />
< 1,<br />
eine Diskontierung erzeugt, ohne daß<br />
angenommen wurde, daß das DS die geringste Zeitpräferenz besitzt; das heißt,<br />
obwohl das DS verschiedene Zeitperioden gleich bewertet, führt der Fokus des<br />
AS auf UB zu einem Verhalten, das kurzfristige Erträge höher bewertet werden<br />
denn langfristige; und daraus folgend zur Generierung einer positiven<br />
Zeitpräferenz.<br />
111 Für den dynamischen Fall, in dem Menschen wiederholte und abhängige intertemporale<br />
<strong>Entscheidung</strong>en treffen, siehe ebd. (S. 25–28).<br />
112 Zur Vereinfachung der Notation sind die Argumente für die affektiven und kognitiven Zustände in<br />
M und U gefaßt, die Argumente für die Willensstärke und kognitive Belastung in h.<br />
108
Dieses Modell, so fassen die Autoren, ist im Stande Voraussagen darüber zu<br />
machen, wie verschiedenen Faktoren, die die relative Stärke der beiden Systeme<br />
beeinflussen, sich auf von intertemporalen <strong>Entscheidung</strong>en hervorgebrachte<br />
Diskontierungsraten auswirken. Zum Beispiel zeigt das Modell, daß wenn sich<br />
die Willensstärke einer Person erschöpft, oder sie unter kognitiver Belastung<br />
steht, die Diskontierungsraten größer werden. Das Modell sagt ebenfalls voraus,<br />
daß die Nähe von sofort verfügbaren Erträgen einen großen Einfluß auf die<br />
gezeigten Diskontierungsraten hat. So kann zum Beispiel das Ausmaß des<br />
Sehens oder Riechens eines unmittelbaren Ertrages die Höhe der<br />
Diskontierungsraten beeinflussen. Schließlich sagt das Modell auch eine<br />
stimulusspezifische Diskontierung voraus. Der Anblick von Essen führt zu<br />
höherer Diskontierung für Essen, aber nicht für Sex, während der Anblick eines<br />
attraktiven potentiellen Sexpartners zu einer höheren Diskontierung von Sex<br />
führt, nicht aber für Essen.<br />
3.6.4 Zeitinkonsistentes Verhalten im Zwei-Systeme Modell<br />
Um das Phänomen sich verkehrender Präferenzen, beziehungsweise<br />
zeitinkonsistentes Verhalten zu würdigen (vgl. Abs. 2.3.3 idA.), muß das Zwei-<br />
Systeme Modell dynamisiert werden. Dynamische intertemporale<br />
<strong>Entscheidung</strong>en werden charakterisiert durch den Umstand, daß Menschen<br />
wiederholt und teilweise voneinander abhängig <strong>Entscheidung</strong>en zu treffen<br />
haben. Im Folgenden wird ein auf drei Perioden angelegtes Zwei-Systeme<br />
Modell formalisiert.<br />
Angenommen eine Person wählt eine <strong>Entscheidung</strong> x 1 in Periode Eins und eine<br />
<strong>Entscheidung</strong> x 2 in Periode Zwei. Diese <strong>Entscheidung</strong>en führen zu einem<br />
Periode Eins Ertrag von z1( x 1)<br />
, und zu einem Periode Zwei Ertrag von z2 ( x1, x 2)<br />
,<br />
und schließlich zu einem zukünftigen Ertrag von z3( x1, x 2)<br />
. Da das Periode Zwei<br />
Verhalten ähnlich dem statischen Fall ist, wird angenommen, daß das Verhalten<br />
in Periode Zwei wie oben determiniert ist; daß heißt, das Periode Zwei<br />
Verhalten maximiert:<br />
109
(Formel 3-4)<br />
gleichbedeutend mit:<br />
(Formel 3-5)<br />
2<br />
A<br />
V x1 x2 z2 x1 x2 z3 x1 x2 h z2 x1 x2 z2 x1 x2<br />
( , ) = [ ( , ) + ( , )] − *[ ( , ) − ( , )] ,<br />
% .<br />
2<br />
V x1 x2 = z2 x1 x2 + + h z3 x1 x2<br />
( , ) ( , ) [1/(1 )]* ( , )<br />
Diese hier gezeigte Problemstellung generiert ein Periode Zwei Verhalten, das<br />
eine Funktion des bereits gewählten, und daher fixen Periode Eins Verhaltens<br />
ist.<br />
Um nun die Periode Eins Perspektive zu analysieren müssen einige<br />
zusätzliche Aspekte berücksichtigt werden. Der interessanteste und zugleich<br />
neue Aspekt, ist die Frage, wie sich das DS um zukünftige Erträge sorgt. Im<br />
speziellen interessiert die Frage, wie das DS die zukünftige Anstrengung der<br />
Willensstärke in seine <strong>Entscheidung</strong> integriert. Angenommen das AS kümmert<br />
sich allein um kurzfristige Erträge, während sich das DS um die Erträge in allen<br />
drei Perioden sorgt: Die Erwünschtheit von Handlungen wird vom DS folgend<br />
seiner Nutzenfunktion<br />
*<br />
U x1 x2 z1 x1 z2 x1 x2 z3 x1 x2<br />
( , ) ≡ ( ) + ( , ) + ( , ) wahrgenommen.<br />
Die nun auftretende Frage ist, ob das DS einzig auf die Erwünschtheit der<br />
Handlung Rücksicht nimmt, oder ob es auch die erwartete Anstrengung der<br />
Willensstärke in Periode Zwei integriert. Spielt die Anstrengung der<br />
Willensstärke für das DS überhaupt keine Rolle, ist die Nutzenfunktion gegeben<br />
mit<br />
U ( x , x ) = U ( x , x ) . In diesem Fall, wird das DS jenes Periode Eins<br />
*<br />
1 2 1 2<br />
Verhalten wählen, das:<br />
(Formel 3-6)<br />
1<br />
A<br />
V x1 x2 z1 x z2 x1 x2 z3 x1 x2 h z1 x1 z1 x1<br />
( , ) = [ ( ) + ( , ) + ( , )] − *[ ( ) − ( )] ,<br />
maximiert; gleichbedeutend mit der Maximierung von:<br />
(Formel 3-7)<br />
% .<br />
1<br />
V x1 x2 = z1 x1 + + h z2 x1 x2 + z3 x1 x2<br />
( , ) ( ) [1/(1 )]*[ ( , ) ( , )]<br />
Ruft man sich jetzt Formel 3-5 in Erinnerung kann man sehen, daß dieses Modell,<br />
so die Autoren, sinngleich dem Modell der Hyperbolischen Diskontierung ist<br />
(vgl. Abs. 2.4.1 idA.). Im speziellen kann gezeigt werden, daß die β, δ<br />
Präferenzen in Hyperbolischen Diskontierungsmodellen, gleich den Präferenzen<br />
110
in diesem Modell sind, wenn β = 1/(1 + h)<br />
und δ = 1.<br />
Dieses Modell, so schließen Loewenstein und O’Donoghue, liefert daher eine<br />
Reinterpretation Hyperbolischer Diskontierungsmodelle. Im speziellen zeigt<br />
dieses Modell, daß der Grund für die Präferenz von UB aus der Motivation des<br />
AS stammt, während die Person gleichzeitig ebenfalls kein Gewicht in die, in<br />
der Zukunft aufzubringende, momentane Anstrengung der Willensstärke legt.<br />
Das Resultat ist Zeitinkonsistenz in den Präferenzen, die das Verhalten rational<br />
erklären.<br />
3.7 Zusammenfassender Ausblick<br />
Aufbauend auf den Überlegungen, gefaßt in den Annäherungen Eins bis Fünf,<br />
so meine ich, ist nun ein Modell „Menschlicher Wahlhandlungen zwischen<br />
unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung und langfristigem Wohlergehen“ zu<br />
formulieren, und zu formalisieren. Dieses Modell bedarf jedoch, so bin ich zum<br />
jetzigen Zeitpunkt überzeugt, eines noch genaueren Studiums der vorher<br />
dargelegten Ideen. Vor allem eine spezifischere Auseinandersetzung mit der<br />
„Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme“ scheint mir unerläßlich. Diese<br />
Aufgabe ist im Rahmen dieser Diplomarbeit nicht seriös zu lösen. Sie sollte<br />
daher in einer eigenständigen Abhandlung verfolgt werden. Zentraler<br />
Ansatzpunkt einer solchen Arbeit sollte, so denke ich, eine Beschäftigung mit<br />
der Lern- und Wachstumsfunktion des menschlichen Selbst sein. Dieses ist, so<br />
wie von mir angenommen, die emergente Form der beiden Subsysteme. Wobei<br />
das Hauptaugenmerk, so glaube ich, auf das kognitiv-exekutive System zu legen<br />
ist, da dieses in seiner angenommenen Zirkularität hauptverantwortlich für den<br />
Lern- und Wachstumsprozeß des Selbst ist.<br />
Frei nach dem Freudschen Motto: „Aus ES muß ICH werden!“, sollte das<br />
Motto hierfür lauten:<br />
„Kognitiv-exekutives System wachse und lerne und mache dir das<br />
affektiv-emotionale System dienbar! Das ist der Weg der Dich zur<br />
Selbsterkenntnis führt“<br />
111
4 Schluß<br />
Diese Arbeit thematisierte menschliche Wahlhandlungen zwischen<br />
unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung und langfristigem Wohlergehen. Diese<br />
Wahlhandlungen stehen, so hoffe ich zum Ausdruck gebracht zu haben, nicht<br />
selten im Spannungsfeld zwischen Verstand und Gefühlen, zwischen Vernunft<br />
und Emotionen, zwischen dem Bewußten und Unbewußten. Dies ist das Muster<br />
im Chaos. Diese Wahlhandlungen laufen dem objektiv Rationalen oft zuwider,<br />
und die irrationale Leidenschaft triumphiert. Doch der Mensch ist nicht hilflos<br />
– oder will er es sein? Im Laufe der Geschichte haben sich eine Vielzahl von<br />
Strategien entwickelt, um den Versuchungen der Gegenwart zu widerstehen.<br />
Verfassungen, Gesetze und Regeln; Religion, Normen und Werte; Ethik, Moral<br />
und Gewissen stehen transzendent, und werden bereichert durch profanere<br />
Methoden, wie Strategien der Selbstverpflichtung und Selbstbindung, Seit-<br />
Wetten oder Vereinigungen wie den Weight Watchern, den Anonymen<br />
Alkoholikern oder diversen Sparvereinen. Sie alle zu fassen ist an dieser Stelle<br />
nicht möglich, und so sei abschließend auf die Arbeiten von Ainslie (1975) und<br />
Elster (1987) verwiesen, die sich explizit diesen Strategien zugewendet haben.<br />
Inwieweit die dort vorgestellten Strategien rational sind ist abschließend<br />
ebensowenig zu klären, wie die Strategie die Odysseus im Angesicht der<br />
Sirenen gewählt hat (vgl. Elster, 1987, S. 67f; Kafka, 2006; sowie Wilke, 1996,<br />
S. 8-10). Die Geschichte von Odysseus und den Sirenen bildet in diesem Sinn<br />
auch den Abschluß dieser Arbeit, deren Versuch es war einen Schritt in<br />
Richtung Selbsterkenntnis zu setzten.<br />
Selbsterkenntnis – Die ultimativen Strategie der Verhaltenskontrolle.<br />
112
4.1 Odysseus und die Sirenen<br />
Abbildung 4-1: Odysseus und die Sirenen<br />
Quelle: Fehr (2002, S271, Fig. 1)<br />
Drum verkünd ich sie euch, daß jeder sie wisse, wir mögen<br />
Sterben oder entfliehen dem schrecklichen Todesverhängnis.<br />
Erst befiehlt uns die Göttin, der zauberischen Sirenen<br />
Süße Stimme zu meiden und ihre blumige Wiese.<br />
Mir erlaubt sie allein, den Gesang zu hören; doch bindet<br />
Ihr mich fest, damit ich kein Glied zu regen vermöge,<br />
Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen.<br />
Fleh ich aber euch an und befehle die Seile zu lösen:<br />
Eilend fesselt mich dann mit mehrenden Banden noch stärker!<br />
Also verkündet’ ich jetzo den Freunden unser Verhängnis.<br />
Und wie geflügelte entschwebte, vom freundlichen Winde getrieben,<br />
Unser gerüstetes Schiff zu der Insel der beiden Sirenen.<br />
Plötzlich ruhte der Wind; von heiterer Bläue des Himmels<br />
Glänzte die stille See; ein Himmlischer senkte die Wasser.<br />
113
Meine Gefährten gingen und falteten eilig die Segel,<br />
Legten sie nieder im Schiff und setzten sich hin an die Ruder;<br />
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen.<br />
Aber ich schnitt mit dem Schwert aus der großen Scheibe des Wachses<br />
Kleine Kugeln, knetete sie mit nervichten Händen,<br />
Und bald weicht das Wachs, vom starken Drucke bezwungen<br />
Und dem Strahle des hochhinwandelnden Sonnenbeherrschers.<br />
Hierauf ging ich umher und verklebte die Ohren der Freunde.<br />
Jene banden mich jetzo an Händen und Füßen im Schiffe,<br />
Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen,<br />
Setzten sich dann und schlugen die graue Woge mit Rudern.<br />
Als wir jetzo so weit, wie die Stimme des Rufenden schallet,<br />
Kamen im eilenden Lauf, da erblickten jene das nahe<br />
Meerdurchgleitende Schiff und huben den hellen Gesang an:<br />
Komm, besungener Odysseus, du großer Ruhm der Achaier!<br />
Lenke dein Schiff ans Land und horche unserer Stimme.<br />
Denn hier steuerte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,<br />
Eh er dem Gesang aus unserem Munde gelauschet.<br />
Und dann ging er von hinnen, vergnügt und weiser wie vormals.<br />
Uns ist alles bekannt, was ihr Argeier und Troer<br />
Durch der Götter Verhängnis in Trojas Fluren geduldet:<br />
Alles, was irgend geschieht auf der lebenschenkenden Erde!<br />
Also sangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen<br />
Fühlt ich, weiter zu hören, und winkte den Freunden Befehle,<br />
Und es erhuben sich schnell Eurylochos und Perimedes,<br />
Legten noch mehrere Fesseln mir an und banden mich stärker.<br />
Also steuerten wir den Sirenen vorüber; und leiser,<br />
Immer leiser verhallte der Singenden Lied und Stimme.<br />
Eilend nahmen sich nun die teuren Genossen des Schiffes<br />
Von den Ohren das Wachs und lösten mich wieder vom Mastbaum.<br />
114<br />
Homers Odyssee<br />
XII. Gesang 105 - 200
Literaturverzeichnis<br />
Ahlbrecht, Martin und Martin Weber (1995): „Hyperbolic Discounting Models<br />
in Prescriptive Theory of Intertemporal Choice“. In: Zeitschrift für<br />
Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 115, S. 535–568.<br />
Ainslie, George (1975): „Specious Reward: A Behavioral Theory of<br />
Impulsiveness and Impulse Control”. In: Psychological Bulletin 82<br />
(4), S. 463-496.<br />
Ainslie, George und Nick Haslam (1992): „Hyperbolic Discounting“. In: Elster,<br />
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